Bernstein, Aaron, Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 12/16, 1897

Bibliographic information

Author: Bernstein, Aaron
Title: Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 12/16
Year: 1897
City: Berlin
Publisher: Dümmler
Series Volume: 12-16

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Document ID: MPIWG:1RUQG5RM
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Copyright: Max Planck Institute for the History of Science (unless stated otherwise)
License: CC-BY-SA (unless stated otherwise)
Table of contents
1. Page: 0
2. Paturwissenschaftliche Volksbücher von A. Bennstein. Page: 1
3. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Zwölfter Teil. Page: 5
4. Berſin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 5
5. Inhaltsverzeichnis. Page: 7
6. Dom Jeben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. III. I. Die Neigungen der Menſchen. Page: 9
7. II. Neigung und Geiſt. Page: 12
8. III. Urſprung und Sitz der Neigungen. Page: 15
9. IV. Die Entwickelung der Neigungen. Page: 18
10. V. Die Freiheit des Menſchen und die Neigungen der Menſchheit. Page: 20
11. VI. Die Welt der Neigungen. Page: 23
12. VII. Geiſtige Neigungen. Page: 27
13. VIII. Eine ungelöſte Frage. Page: 30
14. IX. Die Entſtehung der Denkformen. Page: 33
15. X. Die Moral. Page: 41
16. XI. Die Kunſt. Page: 44
17. XII. Die mannigfaltigen Einwirkungen des Geiſtes. Page: 47
18. XIII. Leib und Geiſt. Page: 51
19. XIV. Geiſt und Leib. Page: 54
20. XV. Charakter und Temperament. Page: 57
21. XVI. Das ſanguiniſche und das choleriſche Temperament. Page: 60
22. XVII. Das Phlegma und die Melancholie. Page: 63
23. XVIII. Das Rätſel des Todes. Page: 66
24. XIX. Entſtehen und Vergehen. Page: 70
25. XX. Wie Leib und Geiſt ſtirbt. Page: 73
26. XXI. Wie alt eine neue Erfindung iſt. Page: 77
27. XXII. Wie wenig das Herz die Wahrheit ahut, und wie blind man mit ſehendem Auge iſt. Page: 81
28. XXIII. Die Kunſtſtücke der Hände, der Füße und der Nerven. Page: 85
29. XXIV. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen. Page: 88
30. XXV. Die Lunge im Bruſtkaſten. Page: 92
31. XXVI. Wie wir atmen. Page: 95
32. XXVII. Das Luftrohr der Lunge. Page: 99
33. XXVIII. Die Lunge, wie ſie wirklich iſt. Page: 102
34. XXIX. Art und Zweck der Lungenthätigkeit. Page: 106
35. XXX. Die ſinnreiche Einrichtung. Page: 108
36. XXXI. Die regulierte Thätigkeit und die Nebengeſchäfte der Lunge. Page: 112
37. XXXII. Die Lunge als Heizapparat. Page: 115
38. XXXIII. Die Regulierung der Leibeswärme. Page: 118
39. XXXIV. Wie ſparſam die Natur iſt. Page: 121
40. XXXV. Ein Baum, eine Tonne und eine Lunge. Page: 124
41. Druck von G. Beruſtein in Berlin. Page: 128
42. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Jünfte, reich illuſtrierte Aufſage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Dotonié und R. Hennig. Dreizehnter Teil. Page: 129
43. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 129
44. Inhaltsverzeichnis. Page: 131
45. Dom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. IV. I. Ein menſchliches Herz vor einem Menſchenherzen. Page: 133
46. II. Der kleine und der große Kreislauf des Blutes. Page: 137
47. III. Der große Kreislauf. Page: 141
48. IV. Einige Haupt- und Nebenumſtände bei der Arbeit des Herzens. Page: 144
49. V. Eine Waſſerleitung und die Blutleitung im Körper. Page: 148
50. VI. Weitere Vergleichung der Waſſer- mit der Blut-Leitung. Page: 151
51. VII. Verſchiedenheit der Adern und ihrer Lagen. Page: 155
52. VIII. Die Klappen oder Ventile. Page: 159
53. IX. Wie ſtark das Herz iſt. Page: 162
54. X. Die ſogenannten mechaniſchen Fehler des Herzens. Page: 166
55. XI. Das Auge und die Kamera-Obſcura. Page: 169
56. XII. Die Kamera-Obſcura. Page: 173
57. XIII. Die Mäugel der Kamera-Obſcura. Page: 178
58. XIV. Die Kamera-Obſcura der Photographen. Page: 182
59. XV. Wir beſehen uns den Bau eines Auges. Page: 186
60. XVI. Die Durchſichtigkeit des Innern unſeres Auges. Page: 190
61. XVII. Wir gehen ins Auge hinein. Page: 193
62. XVIII. Der ſogenannte Glaskörper im Auge. Page: 197
63. XIX. Die Vorzüge des Auges. Page: 200
64. XX. Die Lichtblende. Page: 203
65. XXI. Die Augenlider. Page: 206
66. XXII. Die Beweglichkeit des Auges. Page: 210
67. XXIII. Die Lenkung und Richtung der Augen. Page: 214
68. XXIV. Die Stellung der Augen. Page: 217
69. XXV. Die Nerventapete. Page: 220
70. XXVI. Die Feinheit der Nerventapete. Page: 223
71. XXVII. Die Beſchaffenheit der Nerven-Tapete. Page: 227
72. XXVIII. Einige Verſuche. Page: 229
73. XXIX. Weshalb wir nicht verkehrt ſehen. Page: 233
74. XXX. Zwei Augen und ein Bild. Page: 236
75. XXXI. Der Menſch wie er iſt — und was er erfindet. Page: 241
76. XXXII. Schlußbetrachtung. Page: 244
77. Kleine Kräfte und große Wirkungen. I. Page: 247
78. II. Page: 251
79. III. Page: 255
80. IV. Page: 259
81. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 263
82. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Jünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Wotonié und R. Hennig. Vierzehnter Teil. Page: 265
83. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 265
84. Inhaltsverzeichnis. Page: 267
85. Anleitung zu chemiſchen Grperimenten für Anfänger. Page: 269
86. I. Wie man Glasrohr gut brechen kann. Page: 270
87. II. Wie man Glasrohr biegt. Page: 272
88. III. Ein drittes Kunſtſtück, Page: 274
89. IV. Probiergläschen. Page: 275
90. V. Eine Kochflaſche. Page: 276
91. VI. Gute Pfropfen und deren Vorrichtung. Page: 279
92. VII. Die pneumatiſche Wanne. Page: 280
93. VIII. Wie man ſich Waſſerſtoffgas machen kann. Page: 281
94. IX. Wie man Gas in einem Gefäß auffangen kann. Page: 284
95. X. Wie man einen kleinen Luftballon füllen kann. Page: 285
96. XI. Wie man Sauerſtoff macht und auffängt. Page: 286
97. XII. Einige Verſuche mit Waſſerſtoff. Page: 288
98. XIII. Einige Verſuche mit Sauerſtoff. Page: 290
99. XIV. Sauerſtoff mit Schwefel und Phosphor. Page: 290
100. XV. Sauerſtoff und Eiſen. Page: 292
101. XVI. Die Hitze, in welcher ſich Waſſerſtoff und Sauerſtoff verbinden. Page: 293
102. XVII. Etwas vom Stickſtoff. Page: 295
103. XVIII. Etwas vom Kohlenſtoff. Page: 297
104. XIX. Wie man Kohlenſtoff mit Sauerſtoff chemiſch verbindet. Page: 299
105. XX. Einige Verſuche mit Silber. Page: 301
106. XXI. Einige Verſuche mit reinem Silber und mit Höllenſtein. Page: 304
107. Praktiſche Heizung. I. Die Wiſſenſchaft und die Praxis. Page: 307
108. II. Verbrennung und Erwärmung. Page: 311
109. III. Wir brennen ein Stück Kien an. Page: 314
110. IV. Der Zug und das Feuer. Page: 318
111. V. Der Zug im Oſen. Page: 321
112. VI. Lufttransport und Ofen-Kouzert. Page: 325
113. VII. Ofen und Kamin. Page: 328
114. VIII. Der Kachelofen. Page: 332
115. IX. Material, Farbe und Glaſur des Ofens. Page: 335
116. X. Der Ofen innerlich. Page: 338
117. XI. Die Züge im Ofen. Page: 342
118. XII. Die Züge und das Brennmaterial. Page: 345
119. XIII. Die Schornſtein-Frage. Page: 348
120. XIV. Die verſchiedenen Brennmaterialien. Page: 351
121. XV. Die Unterſuchungen der Brennmaterialien. Page: 354
122. XVI. Die Verſuche über die Heizkraft. Page: 357
123. XVII. Über den Wert des Kien- und Büchen- holzes. Page: 360
124. XVIII. Der Brennwert des Eichenholzes. Page: 364
125. XIX. Der Heiz- und der Geldwert. Page: 366
126. XX. Der Torf. Page: 369
127. XXI. Der Heizwert des Torfes. Page: 372
128. XXII. Für und gegen den Torf. Page: 375
129. XXIII. Der Koks. Page: 378
130. XXIV. Tie Heizkraft des Koks. Page: 381
131. XXV. Der Koks wiſſenſchaftlich und wirt- ſchaftlich. Page: 384
132. XXVI. Die Steinkohle. Page: 387
133. XXVII. Gegen die Steinkohlen. Page: 391
134. XXVIII. Die Braunkohle. Page: 393
135. XXIX. Die Heizung und die Geſundheit. Page: 398
136. XXX. Die Nebenumſtände der Erwärmung. Page: 401
137. XXXI. Wände, Stubendecke und Schornſtein- Öffnung. Page: 404
138. XXXII. Die einmalige Heizung. Page: 407
139. XXXIII. Der zu ſchnell heizende Ofen. Page: 410
140. XXXIV. Der eiſerne Ofen. Page: 414
141. XXXV. Schädlichkeit des eiſernen Ofens. Page: 417
142. XXXVI. Anwendbarkeit und Unanwendbarkeit des eiſernen Ofens. Page: 420
143. XXXVII. Wie man den Torf praktiſcher macht. Page: 423
144. XXXVIII. Die luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren. Page: 425
145. XXXIX. Eine Erklärung. Page: 427
146. XL. Das Kochen im Ofen. Page: 430
147. XLI. Heizgas, ein Ausblick in die Zukunft. Page: 433
148. Die Heisung im Großen. Page: 437
149. XLII. Die Warm-Waſſerheizung. Page: 437
150. XLIII. Die Niederdruck-Dampfheizung. Page: 449
151. * * * Page: 454
152. Naturwiſſenſchaftliche Volkshücher von A. Bernſtein. Iünfte, reich iſſuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. @otonié und R. Hennig. fünfzehnter Teil. Page: 457
153. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 457
154. Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 458
155. Inhaltsoerzeichnis. Page: 459
156. Etwas aus der Volkswirtſchaft. I. Verlorene Nähuadeln. Page: 461
157. II. Verſchwendung von Streichhölzern. Page: 464
158. III. Der Wert von Verſchwendungen. Page: 467
159. IV. Die Verallgemeinerung der Bedürfuiſſe. Page: 471
160. V. Etwas vom Schreibe-, Kunſt- und Leſebedürfnis. Page: 475
161. Naturkraft und Geiſteswalten. I. Die Legung des erſten transatlantiſchen Kabels. Page: 484
162. II. Ein alltägliches Geſpräch. Page: 502
163. III. Die Entzifferung der aſſyriſch-babyloniſchen Keilſchrift. Page: 523
164. IV. Einige Geheimniſſe der Zahlen. I. Page: 568
165. II. Page: 573
166. Vom Spiritismus. I. Einleitende Betrachtungen. Page: 578
167. II. Das Tiſchrücken. Page: 581
168. III. Das Tiſchklopfen. Page: 588
169. IV. Die Klopfgeiſter und der eigentliche Spiritismus. Page: 593
170. V. Die Schreibmedien. Page: 599
171. VI. Sonſtige Geiſterkundgebungen. Page: 601
172. VII. Von den ſpiritiſtiſchen Medien. Page: 605
173. VIII. Die Geiſtererſcheinungen und Geiſter- photographieen. Page: 609
174. IX. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen. Page: 613
175. X. Die Urſachen der ſpiritiſtiſchen Bewegung. Page: 617
176. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 619
177. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Dotonié und R. Hennig. Sechzehnter Teil. Page: 621
178. Berſin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 621
179. Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 622
180. Inhaltsverzeichnis. Page: 623
181. Die Bewegung im Sonnenſyſtem. I. Von der Ebene des Planetenſyſtems. Page: 625
182. II. Eine Vorſtellung vom Sonnenſyſtem. Page: 627
183. III. Wie die Planetenbewegung uns erſcheint und wie ſie wirklich iſt. Page: 631
184. IV. Ein Beiſpiel für den ſcheinbaren Lauf des Planeten Veuus. Page: 638
185. V. Ein Beiſpiel von der Bewegung des Planeten Mars. Page: 643
186. VI. Die Bewegungen von Weſt nach Oſt. Page: 647
187. VII. Verſuch einer Geſamtüberſicht. Page: 651
188. VIII. Die Erde und der Mond. Page: 654
189. IX. Merkwürdiger Lauf des Mondes. Page: 657
190. X. Von Mars und den kleinen Planeten. Page: 659
191. XI. Von Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Page: 662
192. XII. Zur Erklärung einer wunderbaren Entdeckung. Page: 667
193. XIII. Die Hauptſtütze der Leverrierſchen Entdeckung. Page: 670
194. XIV. Die großartige Entdeckung. Page: 672
195. Eine Phantaſie-Reiſe im Weltall. I. Die Abreiſe. Page: 678
196. II. Auf der Station zwiſchen Erde und Mond. Page: 681
197. III. Wir langen auf dem Monde an. Page: 685
198. IV. Auf dem Monde. Page: 688
199. V. Was beginnen wir auf dem Monde? Page: 692
200. VI. Etwas wiſſenſchaftliche Schwärmerei. Page: 695
201. VII. Ein paar Reiſegedanken. Page: 697
202. VIII. Kleine Reiſe-Begegnungen. Page: 700
203. IX. Weitere Reiſe-Abenteuer. Page: 703
204. X. Die Oberfläche der Sonne. Page: 706
205. XI. Wir ſuchen uns ein Abſteige-Quartier. Page: 709
206. XII. Die Größe der Sonne. Page: 712
207. XIII. Allen Reſpekt vor einer Kubik-Meile. Page: 715
208. XIV. Wir bekommen noch mehr Reſpekt vor der Sonne. Page: 718
209. XV. Die Raumverſchwendung im Sonnen-Syſtem. Page: 722
210. XVI. Ein Sonnenſyſtem im Kleinen. Page: 725
211. XVII. Wie das Modell ſtimmt. Page: 728
212. XVIII. Was wir zuweilen am Himmel ſehen können. Page: 731
213. XIX. Auf dem Mars. Page: 734
214. XX. Die kleinen Planeten. Page: 738
215. XXI. Die Bahnen der kleinen Rundläufer. Page: 740
216. XXII. Zwei eigentümliche Kometen. Page: 743
217. XXIII. Ein wenig Kometen-Furcht. Page: 746
218. XXIV. Jupiter, der gewichtigſte der Planeten. Page: 748
219. XXV. Wie ſich’s auf Jupiter lebt. Page: 751
220. XXVI. Die Jupiters-Monde. Page: 753
221. XXVII. Saturn und ſein Ring. Page: 755
222. XXVIII. Wie Saturn zu ſeinem Ring gekommen. Page: 759
223. XXIX. Das Wohnen auf dem Saturn. Page: 763
224. XXX. Die etwaigen Bewohner des Saturn- Ringes. Page: 767
225. XXXI. Das Schickſal des Saturn-Ringes. Page: 770
226. XXXII. Uranus. Page: 773
227. XXXIII. Neptun. Page: 777
228. XXXIV. Die Stellung der Kometen im Sonnenſyſtem. Page: 780
229. XXXV. Die berechneten und unberechneten Kometen. Page: 783
230. XXXVI. Die ſonderbare Beſchaffenheit der Kometen. Page: 786
231. XXXVII. Der Komet vom Jahre 1680. Page: 790
232. XXXVIII. Kometen aus den Jahren 1729 bis 1759. Page: 793
233. XXXIX. Kometen aus den Jahren 1769 und 1770. Page: 797
234. XL. Kometen aus den Jahren 1807 bis 1811. Page: 801
235. XLI. Was im Halley’ſchen Kometen im Jahre 1835 vorging. Page: 804
236. XLII. Die Kometen von 1843 und 1858. Page: 807
237. XLIII. Die Kometen von 1880 und 1882. Page: 809
238. XLIV. Sternſchnuppen und Meteore. Page: 811
239. XLV. Aërolithenfälle. Page: 815
240. XLVI. Höhe und Maſſe der Meteore. Page: 828
241. XLVII. Was wir heimbringen. Page: 832
242. Über die Grötze der Erdbahn. I. Der Zollſtock der Aſtronomie. Page: 837
243. II. Die Venus-Durchgänge. Page: 840
244. III. Ergebniſſe der Beobachtungen der Venus- durchgänge. Page: 844
245. IV. Die Störungen des Mondlaufs. Page: 847
246. V. Wie die Erde und der Moud um die Sonne wandern. Page: 851
247. VI. Der Schwerpunkt der Erd- und Mondmaſſe. Page: 855
248. VII. Die Störungen der Planeten-Bahnen. Page: 858
249. VIII. Beobachtungen des Planeten Mars im Jahre 1862. Page: 862
250. IX. Die Geſchwindigkeit des Lichts. Page: 865
251. X. Bradley’s Entdeckung. Page: 869
252. XI. Die Geſchwindigkeit des Lichts und die Größe der Erdbahn. Page: 873
253. XII. Wie man größte Räume durch kleinſte Zeitteilchen meſſen kann. Page: 876
254. XIII. Fizeau’s Meſſungen der Geſchwindigkeit des Lichtes. Page: 880
255. XIV. Genauere Beſtimmung der Licht- Geſchwindigkeit. Page: 884
256. XV. Schlußbetrachtung. Page: 887
257. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 891
1 1[Figure 1]
Paturwissenschaftliche
Volksbücher
von

A
. Bennstein.
2
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3
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4
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5
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Zwölfter Teil.
2[Figure 2]
Berſin.
Ferd
. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
611[Handwritten note 1]
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
MAX-PLANCK-INBTITUT
FÜR
WI@@EN@C@AFTS@E@@MICHTE
Biblioth@k
22[Handwritten note 2]
7
Inhaltsverzeichnis.
11
## Seite
## Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. III.
I
. # Die Neigungen der Menſchen . . . . . . . . . # 1
II
. # Neigung und Geiſt . . . . . . . . . . . . . # 4
III
. # Urſprung und Sitz der Neigungen . . . . . . . # 7
IV
. # Die Entwickelung der Neigungen . . . . . . . . # 10
V
. # Die Freiheit des Menſchen und die Neigungen der
# Menſchheit . . . . . . . . . . . . . . # 12
VI
. # Die Welt der Neigungen . . . . . . . . . . # 15
VII
. # Geiſtige Neigungen . . . . . . . . . . . . # 19
VIII
. # Eine ungelöſte Frage . . . . . . . . . . . . # 22
IX
. # Die Entſtehung der Denkſormen . . . . . . . . # 25
X
. # Die Moral . . . . . . . . . . . . . . . # 33
XI
. # Die Kunſt . . . . . . . . . . . . . . . # 36
XII
. # Die mannigfaltigen Einwirkungen des Geiſtes . . . . # 39
XIII
. # Leib und Geiſt . . . . . . . . . . . . . . # 43
XIV
. # Geiſt und Leib . . . . . . . . . . . . . . # 46
XV
. # Charakter und Temperament . . . . . . . . . . # 49
XVI
. # Das ſanguiniſche und das choleriſche Temperament . . # 52
XVII
. # Das Phlegma und die Melancholie . . . . . . . # 55
XVIII
. # Das Rätſel des Todes . . . . . . . . . . # 58
XIX
. # Entſtehen und Vergehen . . . . . . . . . . # 62
XX
. # Wie Leib und Geiſt ſtirbt . . . . . . . . . . # 65
XXI
. # Wie alt eine neue Erfindung iſt . . . . . . . . # 69
XXII
. # Wie wenig das Herz die Wahrheit ahnt und wie blind
# man mit ſehendem Auge iſt . . . . . . . . . # 73
XXIII
. # Die Kunſtſtücke der Hände, der Füße und der Nerven . # 77
XXIV
. # Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen . . . . . #
118IV XXV. # Die Lunge im Bruſtkaſten . . . . . . . . . . # 84
XXVI
. # Wie wir atmen . . . . . . . . . . . . . . # 87
XXVII
. # Das Luftrohr der Lunge . . . . . . . . # 91
XXVIII
. # Die Lunge, wie ſie wirklich iſt . . . . . . . . # 94
XXIX
. # Art und Zweck der Lungenthätigkeit . . . . . . . # 98
XXX
. # Die ſinnreiche Einrichtung . . . . . . . . . . # 100
XXXI
. # Die regulierte Thätigkeit und die Nebengeſchäfte der
# Lunge . . . . . . . . . . . . . . . # 104
XXXII
. # Die Lunge als Heizapparat . . . . . . . . . # 107
XXXIII
. # Die Regulierung der Leibeswärme . . . . . . . # 110
XXXIV
. # Wie ſparſam die Natur iſt . . . . . . . . . # 113
XXXV
. # Ein Baum, eine Tonne und eine Lunge . . . . . # 116
91
Dom Jeben der Pflanzen, der Tiere und
der Menſchen. III.
I. Die Neigungen der Menſchen.
Das Gehirn beſitzt außer der ſchon behandelten Fähigkeit
zum
Denken noch gewiſſe dunkle Neigungen und Abneigungen,
die
faſt eine größere Rolle im Menſchenleben ſpielen als das
klare
Denken.
Man hat für dieſe Neigungen und Abneigungen kein voll-
kommen
treffendes Wort, um ſie zu benennen.
Die Worte
Trieb” undInſtinkt” ſind nicht die richtigen dafür;
man
hat
daher in der Wiſſenſchaft das WortStrebungen” er-
funden
, um dieſe Zuſtände, die wir nunmehr beſprechen wollen,
zu
bezeichnen;
da wir jedoch gern Worte meiden, welche nicht
im
allgemeinen Volksgebrauch ſind, wollen wir lieber von den
Neigungen” undAbneigungen” ſprechen, obgleich wir wohl
wiſſen
, daß dieſe Worte nur in ſehr beſchränktem Sinne das
bezeichnen
, was wir damit bezeichnen wollen.
Schon Jeder wird die Beobachtung gemacht haben, daß
das
Menſchenleben bei weitem mehr von Neigungen und Ab-
neigungen
regiert wird, als von bewußten Gedanken.
Um
von
den vielen tauſend Beiſpielen nur an einige zu erinnern,
die
jedermann nahe liegen, wollen wir hier nur die Neigung
der
Menſchen nach Beſitz und Reichtum hervorheben.
Man
frage
den Reichen, der ſo viel Vermögen beſitzt, daß er
102 und ſeiner Familie ein ruhiges, genußreiches Daſein bereiten
kann
, weshalb er ſo ruhelos fortfährt nach einem Reichtum zu
ſtreben
?
Er wird, wenn er aufrichtig iſt, antworten, daß er es
wohl
einſieht, wie außerordentliche Reichtümer Tand ſind, wie
er
mit der Hälfte ſeines Vermögens vielleicht ruhiger leben
würde
als jetzt, wo er es durchaus zu verdoppeln ſtrebt.
Allein
er
wird eingeſtehen, daß er in dieſer Beziehung von einer ihm
durchaus
nicht klar werdenden Neigung beherrſcht wird, die
ihn
ſogar im Lebensgenuß ſtört und ihn antreibt, in ganz
maßloſer
Weiſe immer mehr Reichtümer zu ſammeln.
Dieſe Neigung ſcheint für den erſten Augenblick freilich
nur
bei wenigen Menſchen vollkommen ausgeprägt zu ſein;
allein wenn man ſich in der Welt nur ein wenig umſieht, ſo
wird
man finden, daß faſt alle Menſchen von dieſer Neigung
geleitet
werden und aus ihr die meiſten und großartigſten
Unternehmungen
der Menſchen hervorgehen.
Die Schiffahrt,
die
Eiſenbahnen, die Fabrikunternehmungen, die Handelsverbin-
dungen
, die Auswanderungen, die Fortſchritte in Gewerben
und
Künſten, ja ſogar die Auszeichnungen in der Wiſſenſchaft
ſind
von dieſem Trieb geleitet.
Freilich knüpft ſich an dieſe
Neigung
bei jedem Menſchen ein eigenes und anderes Inter-
eſſe
;
es iſt dieſe Neigung, reich zu werden, wiederum verknüpft
mit
anderen Neigungen, z.
B. zum Wohlthun, zum Vornehm-
ſein
, zum Luxus, zur Ehre, zur Macht, zur Unabhängigkeit,
zur
Bildung, zur Herrſchſucht und zu ſonſt anderen Neigungen,
die
bald ein Laſter, bald eine Tugend genannt werden können.

Bedenkt
man aber, daß doch die Neigung zum Reichtum im
Hintergrund
all’ der Wünſche mehr oder minder ſchlummert,
ſo
wird man dieſe Neigung als eine ungeheuer mächtige an-
erkennen
und ſagen müſſen, daß ſie es iſt, welche faſt aus-
ſchließlich
das Thun und Laſſen der Menſchen regiert.
Betrachtet man dieſer Neigung gegenüber, die zu einem
hohen
Laſter auſarten kann, wiederum die Rolle, welche
113 Aufopferung ſpielt, ſo wird man finden, daß ſie nicht minder
einen
großen Teil der Weltregierung ausmacht.
Man kann
durchſchnittlich
annehmen, daß ſich nur der fünfte Teil der
Menſchen
eines gebildeten Staates mit dem Erwerben abgiebt
und
vier Fünftel nur ernährt werden.
Die Familienväter ſind
meiſtens
die Ernährer, Frauen und Kinder die Verzehrer.
Das
Familienleben
, das ſo eigentlich das wahre Leben der Menſch-
heit
ausmacht, iſt ein Bild einer großartigen Aufopferung.
Der
erwerbende
Mann, wenn er Junggeſelle bliebe, würde im ſtande
ſein
, all’ ſeinen eigenen Neigungen zu leben;
aber er opfert
dieſe
ſeine Neigungen, er gründet ein Familienleben, macht ſich
die
ſchwerſten Sorgen für Haus und Herd und Weib und
Kind
, verurſacht ſich ſchlafloſe Nächte und arbeitsvolle Tage,
nur
um das Wohlgefühl der Familie zu begründen, ſcheut
weder
Gefahr noch Mühen, nur um des Weibes, der Kinder
willen
, und verwebt ſo ganz ſein Schickſal mit dem eines jeden
Familiengliedes
, daß ſein Opfermut kaum mehr eine Grenze
kennt
.
Beobachten wir aber, wie die Neigung nach Reichtum
gerade
mit der Neigung zum Familienleben Hand in Hand
geht
.
Wie gerade der Familienvater nach Beſitz ſtrebt, um
dies
ſeiner Familie zum Opfer zu bringen, betrachten wir, wie
hier
Neigung an Neigung geknüpft iſt, und aus dieſer ſich
eben
das Leben in der Geſellſchaft und in der Familie ge-
ſtaltet
, ſo wird man nach dieſen ſehr ſchlichten Beiſpielen ſchon
eingeſtehen
, daß das ganze Menſchendaſein durch Neigungen
geleitet
wird, und daß Neigungen die größte Rolle in der Ent-
wickelung
des Menſchengeſchlechts ſpielen.
Darum eben wollen wir einmal von dieſen Neigungen ein
Näheres
unſern Leſern vorführen, ſoweit ſie in das Bereich der
Naturwiſſenſchaft
gehören.
124
II. Neigung und Geiſt.
Das, was wir die Neigungen oder Abneigungen der
Menſchen
nennen, hat Ähnlichkeit mit dem, was man Trieb
oder
Inſtinkt nennt, iſt aber weſentlich verſchieden von der
Triebkraft
der Pflanze und dem Inſtinkt der Tiere.
Der Menſch
beſitzt
Neigungen höherer Art;
Neigungen, auf die ſein Wille
und
ſein Geiſt Einfluß haben, und die deshalb den Menſchen
zu
einem Weſen machen, das für ſein Thun und Laſſen ver-
antwortlicher
wird, als die Weſen, die unter ihm ſtehen.
Will man dieſe Neigungen näher kennen lernen, ſo muß
man
ſie vorerſt in drei Gattungen teilen und ſie in der Weiſe
geſondert
betrachten, wie wir das Leben des Menſchen ſelber
betrachtet
haben.
Der Menſch führt ein pflanzliches Leben. Die innere
Maſchinerie
des Menſchen, ſeine Verdauung, ſein Blutlauf,
ſeine
Ernährung, ſeine Ausſcheidung wie ſein Stoffwechſel
überhaupt
ſind inſoweit den gleichen Erſcheinungen der Pflanze
ähnlich
, daß all’ dies ohne ſein Wiſſen und Wollen geſchieht.

Der
Menſch führt auch ein Leben, das dem des Tieres ähnlich
iſt
.
Er nimmt durch ſeine Sinne Eindrücke von der Außenwelt
auf
und vermag durch Bewegungen mit der Welt außer ſich
in
Beziehung zu treten.
Der Menſch führt aber auch ein
geiſtiges
Daſein, inſoweit er imſtande iſt, Vorſtellungen zu
verbinden
, durch dieſe Gedanken ſich über Natur-Erſcheinungen
Aufſchluß
zu verſchaffen, wodurch es möglich wird, eine gewiſſe
Herrſchaft
über die Natur auszuüben, ſich von derſelben un-
abhangiger
zu machen und in ſich Fähigkeiten zu entwickeln, die
ihm
urſprünglich nicht angeboren ſind.
Dieſe Höhe in der Stufenleiter der lebenden Weſen, welche
die
Menſchheit zu dem herausgebildet hat, was ſie gegenwärtig
iſt
, erreichte ſie aber nicht durch die Kraft ihres Geiſtes
135 ſondern in der Menſchheit ſind noch Neigungen und Abnei-
gungen
thätig, welche in enger Verbindung mit dem Geiſte des
Menſchen
ſtehen und teils ihm eine Richtung geben, teils von
dem
Geiſte eine Richtung empfangen.
In der Pflanze iſt ein Lebenstrieb thätig, der ganz be-
wußtlos
wirkt;
in dem Menſchen iſt das Gleiche der Fall. Im
Tier
iſt ein Inſtinkt wirkſam, der ſein Thun und Laſſen zweck-
entſprechend
leitet;
dieſer iſt auch im Menſchen vorhanden.
Aber Triebkraft und Inſtinkt ſind in Pflanze und Tier die
Leiter
dieſer Weſen.
Sie folgen und müſſen befolgen, was der
Leiter
vorſchreibt;
ſie handeln zweckentſprechend, ohne ſich des
Zweckes
bewußt zu werden;
ſie können von der Vorſchrift nicht
abweichen
und nichts thun, um ihren Zweck ſchneller und voll-
kommener
zu erreichen.
Der Menſch dagegen hat im Geiſte
eine
gewiſſe Herrſchaft über ſeine Triebe und Inſtinkte;
er
vermag
bis zu einer gewiſſen Grenze ihnen zu folgen und auch
ihnen
entgegenzutreten.
Er vermag ſie zu ordnen und zu
richten
und hat eine gewiſſe Freiheit in der Wahl der Mittel,
um
die Triebkraft und den Inſtinkt zu modeln und zu geſtalten.
Dadurch hört auch Triebkraft und Inſtinkt im Menſchen
eigentlich
auf das zu ſein, was ſie in Pflanze und Tier ſind.
In
Pflanze
und Tier ſind ſie die abſoluten Herrſcher des Lebens;
im Menſchen ſind ſie nur in Form von Neigungen und ſehr
unbeſtimmten
, allgemeinen Richtungen thätig und der Herrſchaft
des
Geiſtes zum Teil unterworfen.
Um das, was wir hiermit ſagen, recht deutlich zu machen,
wollen
wir den bedeutendſten, den allerſtärkſten Trieb hervor-
heben
, den Lebenstrieb.
In der Pflanze iſt er ganz bewußtlos
vorhanden
, ja ſo bewußtlos, daß die Pflanze nicht einmal
etwas
davon weiß, wenn man ſie vernichtet und den Lebens-
trieb
alſo aufhebt.
Im Tier iſt der Lebenstrieb ſchon bewußter.
Das Tier will daher leben oder richtiger muß leben wollen und
wehrt
den Tod von ſich mit aller Gewalt ab.
Im
146 iſt dieſer Lebenstrieb der unbändigſte aller Triebe; aber er
regt
ſich in ihm ſchon als Neigung, als Liebe.
Der Menſch
hat
Lebensluſt;
er iſt ſich des Gefühls ſeines Lebens bewußt;
er liebt es, und wird von dieſer Liebe geleitet und zu Hand-
lungen
getrieben, die zu den energiſchſten und kräftigſten des
Lebens
gehören.
Und doch iſt dieſer höchſte aller Triebe
oder
dieſe tiefſte aller Neigungen nicht das mächtigſte im
Menſchenleben
.
Sein Geiſt lehrt ihn, ja treibt ihn oft das
Leben
zu opfern um eines geiſtigen Gutes willen!
Man nennt diejenigen mit Recht die geiſtig freieſten
Menſchen
, die imſtande ſind, um einer Idee, eines Gedankens
willen
das Leben zu opfern, in den unvermeidlichen Tod zu
gehen
, die Richtſtätte zu beſteigen.
Es thut dieſer That durchaus keinen Eintrag, wenn dieſe
Idee
auch nicht richtig, dieſer Gedanke ſogar ein Irrtum iſt.
Der Märtyrer-Tod des Verſolgten, der für ſeine Überzeugung
ſtirbt
, giebt durchaus keine Überzeugung, daß ſeine Gedanken
die
richtigen geweſen.
Der Märtyrer-Tod lehrt nur, daß der
Märtyrer
ein Menſch war, bei dem der Trieb für geiſtige
Wahrheit
höher ſtand als der Lebenstrieb, die Liebe zum
geiſtigen
Leben größer war als die Liebe zum Leben ſelbſt.
Wir haben in ſolchen Fällen alſo Beiſpiele, wie die
mächtigſten
Tricbe, Inſtinkte, oder richtiger Neigungen des
Menſchen
überwunden werden können von der Neigung zu rein
geiſtigen
Gedanken;
wie das Leben einem Menſchen wertlos
werden
kann um eines geiſtigen Gutes willen, wie alſo das, was
man
Geiſt nennt, nicht nur der Neigung eine Richtung zu
geben
vermag, ſondern ſie ganz und gar umzukehren imſtande
iſt
und den Tod vorziehen lehrt dem Leben.
157
III. Urſprung und Sitz der Neigungen.
Bevor wir von demjenigen ſprechen wollen, was wir die
Neigungen
und Abneigungen der Menſchen nennen, müſſen wir
uns
den Urſprung und auch den Sitz derſelben im Menſchen
klar
zu machen ſuchen.
Leider iſt man über den Urſprung der Neigungen ebenſo
im
Dunkel wie über den Urſprung des Inſtinkts.
Man weiß
es
nicht, wer das Huhn lehrt ein Neſt bauen, die Eier darin
ſammeln
und mit der Aufopferung aller ſeiner gewohnten Be-
wegungen
wochenlang darüber brütend zuzubringen.
Ebenſo-
wenig
weiß es eine Mutter zu ſagen, wie ihr die tiefe Zu-
neigung
zu dem Kinde von der Stunde an gekommen, in
welcher
ſie deſſen Bewegungen unter ihrem Herzen geſpürt hat.
Man nennt dieſe Neigung Liebe und glaubt, es könne wohl
Einſicht
, Gewöhnung, Erfahrung anderer zärtlicher Gefühle
ſolche
Mutterliebe angeregt haben.
Allein, wer dem Gefühl
der
mütterlichen Liebe näher nachſpürt und die Entſtehung
derſelben
mit ernſtlichem Blick prüft, der wird durch wahr-
heitsgetreue
Frauen das Geſtändnis vernehmen, daß, bevor ſie
jene
Kindesbewegungen geſpürt, eher eine Gleichgültigkeit als
cine
Vorliebe für das Kind ſie beherrſchte;
daß ſie aber von
dieſem
Moment ab, wo ſieLeben” geſpürt, von einem bis
dahin
ihr ganz fremden Gefühl der Liebe erfüllt wurden.

Erſtgebärende
, züchtige Frauen verheimlichen ſogar zuweilen
ihren
Zuſtand ſelbſt vor dem Gatten bis zu dieſem Momente
oder
meiden mindeſtens das Geſpräch und Geſtändnis hierüber.

Mit
dieſem Moment aber erfüllt ſie ein niegeahnter Strom der
Liebe
, den ſie unter herzlichſter Erregung dem Mann ihrer Liebe
eröffnen
müſſen.
Bei näherer Betrachtung wird man dieſe Erſcheinung der
des
Inſtinkts, welcher im Huhn waltet, gleich finden:
168 ſtens inſoweit gleich, daß man ihnen gleichen Urſprung wird
zuſchreiben
müſſen.
Der Unterſchied liegt nur darin, daß der
Inſtinkt
ohne das iſt, was wir Liebe, bewußte Liebe nennen,
daß
der Inſtinkt ferner nicht frei iſt, ſondern von einem Natur-
zwang
geleitet wird, während beim Weibe ein nicht näher zu
beſchreibendes
Gefühl, Liebe, hierbei waltet, und ſoviel Frei-
heit
des Geiſtes im Weibe herrſcht, daß ſie dieſes Gefühl ſogar
überwinden
und jene Liebe zu verleugnen oder gar nicht auf-
kommen
zu laſſen vermag.
Der Urſprung des Inſtinkts und der menſchlichen Neigun-
gen
iſt wahrſcheinlich gleich;
und wie der Urſprung des In-
ſtinkts
uns unbekannt iſt, iſt es auch der Urſprung der Nei-
gungen
.
Aus dem Beiſpiel aber, das wir angeführt haben,
läßt
ſich entnehmen, daß auch der Streit, ob die Neigungen
angeboren
ſind oder nicht, eigentlich ein müßiger iſt, ſo lange
man
nicht näher beſtimmt, was man mit dem Worteange-
boren”
ſagen will.
Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kinde iſt der Mutter
nicht
angeboren, denn dies Gefühl bleibt ihr in ſeiner Wahr-
heit
fremd, bis ſie ſelbſt Mutter wird.
Aber es iſt dann auch
der
Inſtinkt des Huhnes dieſem nicht angeboren, denn das
Huhn
muß auch erſt ein beſtimmtes Alter erreichen, bevor
dieſer
Inſtinkt zum Neſterbau und zur Brütung hervortritt.
Nimmt man aber an, daß er dem Huhn angeboren ſei, weil
dasſelbe
hierin nicht durch Erfahrungen unterwieſen zu werden
braucht
, daß der Inſtinkt bisher geſchlummert habe, und jetzt erſt
erwache
, ſo kann man mit vollem Rechte ganz dasſelbe auch vom
Weibe
ſagen.
Ja, es giebt ähnliche Erſcheinungen, die auf ſolches
Schlummern
der Neigungen hindeuten, bis zur Stunde, wo
die
Gelegenheit das Erwachen derſelben möglich macht.
Züchtige
Jungfrauen
empfinden das dunkle Gefühl oft durch lange Zeiten
eines
keuſcheſten Lebens, daß ſie einen Mann ganz zu
179 vermöchten; ein entſprechendes Gefühl belebt die Phantaſie der
reinen
, ſittlichen, männlichen Iugend.
Es ſind dies ſchlummernde
Gefühle
, die dem Erwachen entgegenharren, und die auch in
vollſter
Stärke zu einer erhabenen Liebe emporflammen können,
wenn
das dunkel Erſehnte gefunden wird;
zu jener Liebe, die
mit
Recht von Dichtern als des Lebens beſeligendſte Zeit ge-
ſchildert
wird.
Auch hier iſt ohne Zweifel der Urſprung
der
Neigung dem des tieriſchen Inſtinkts gleich, und nennt
man
jenen angeboren und ſchlummernd bis zu den reifern
Jahren
, ſo kann man auch dieſen ſo nennen.
Allein wie
himmelweit
dieſe Neigung von dem tieriſchen Inſtinkt iſt, das
brauchen
wir wohl denen nicht zu ſagen, die je im Leben des
Glückes
teilhaft waren oder ſich auch nur erhoben fühlten im
Anſchauen
einer ehelichen Liebe, die ſelbſt der Tod oft nicht zu
löſen
vermag.
So dunkel auch der Urſprung der Neigungen, ſo ſicher
iſt
man jetzt darüber, daß der Sitz derſelben ebenfalls im Ge-
hirn
iſt.
Ehedem hegte man gerade hierüber die falſcheſten Mei-
nungen
, man gab dem, was man Empfindungen, Gefühle,
Leidenſchaften
u.
ſ. w. nannte, ſeinen Sitz in verſchiedenen
Teilen
des Körpers.
Liebe, Haß, Mitleid, Sorge ſollten im
Herzen
wohnen;
dem Zorn ſchrieb man ſeinen Sitz in der
Leber
zu und meinte, daß der Ärger nur durch Erguß der
Galle
entſtehe.
Ähnlich ſchrieb man viele andere natürliche
Neigungen
und Abneigungen beſtimmten Organen zu, ſo daß
man
ſo weit ging, nicht nur den Stolz in der Bruſt zu ſehen,
ſondern
aus dem gewölbten oder flachen Bau der Bruſthöhle
auf
das zu ſchließen, was man in derſelben wohnend vermutete.
Die Wiſſenſchaft der neuen Zeit hat dieſe Irrtümer von
ſich
abgethan und nachgewieſen, daß die verſchiedenen Neigungen
wohl
verſchieden einwirken auf die Thätigkeit des Herzens, daß
die
Nervenverbindung aller Organe des Leibes mit dem
1810 hirn einen Einfluß der Neigungen, die im Gehirn exiſtieren,
auf
die Organe hervorruft.
Auch iſt es keinem Zweifel unter-
worfen
, daß die Organe wiederum auf das Gehirn rückwirken
und
wie bei bekannten Vorgängen wollüſtige Vorſtellungen
ſelbſt
im halbſchlummernden Gehirn erwecken.
So erzeugen rege
Vorſtellungen
einen heftigern Herzſchlag, und ein aufgeregtes
Blut
ſchafft phantaſtiſche Vorſtellungen.
Verſtimmung und Ärger
hindern
die Leber-Thätigkeit und ſtören die Ausſcheidung der
Galle
aus dem Blute, und Leberkrankheiten rufen tiefe Verſtim-
mungen
des Gehirns hervor.
Ähnlich iſt es mit andern Organen
und
andern Neigungen;
gleichwohl iſt der Sitz der Neigungen
im
Gehirn, und hat man ehedem dieſe nur deshalb in andern
Organen
des Leibes geſucht, weil in dieſen Organen die nächſte
Einwirkung
der Neigungen verſpürt wird.
IV. Die Entwickelung der Neigungen.
Iſt man auch über den Urſprung der Neigungen, die dem
Menſchenleben
ſeinen Charakter geben, im Dunkeln, ſo vermag
man
doch einigen Aufſchluß zu geben über die Art, wie dieſe
Neigungen
auftreten.
Die mächtigſte dieſer Neigungen tritt erſt als Lebenstrieb
auf
, ſpäter wird ſie Lebens-Inſtinkt, und noch ſpäter, wo erſt
der
Geiſt des Menſchen erwacht iſt, wird ſie Lebens-Liebe.
Eine Steigerung des Triebes liegt in dem, was man In-
ſtinkt
nennt.
Dieſe Steigerung beſteht darin, daß der Inſtinkt
ſchon
die äußern Zuſtände richtig zu benutzen lehrt, während
der
Trieb dieſes wunderbare Kunſtück nicht kann.
Der Trieb
eines
Kindes zum Saugen iſt dem Inſtinkt eines Kalbes nicht
gleich
.
Das Kind ſaugt alles an, das ihm an den
1911 kommt, auch Dinge, aus denen ihm keine Milch zufließt. Das
Kalb
thut dies nicht, ſondern geht auf die Kuh zu und ſaugt
an
der richtigen Stelle.
Der Trieb läßt alſo das Kind etwas
thun
, was ſo lange zwecklos iſt, ſo lange es nicht von Andern
oder
durch den Zufall an die Mutterbruſt gebracht wird.
Der
Trieb
lehrt alſo nicht die äußern Umſtände richtig benutzen;
der Inſtinkt des Kalbes thut dies vollſtändig.
Der Trieb des Kindes zum Saugen würde daher voll-
kommen
nutzlos ſein, wenn ihm nicht etwas entgegenkäme, das
wiederum
mit der Neigung der Menſchen verknüpft iſt.
In
der
Mutter hat ſich ſchon während der Schwangerſchaft die
Bruſt
zu einem Organ ausgebildet, das es im jungfräulichen
Zuſtand
nicht war.
Mit der Geburt des Kindes hat die Mutter
gewiſſermaßen
in ihrer Bruſt ein neues Organ erhalten.

Eine
tiefere, innere Neigung läßt ſie mit Luſt, mit einem der
Mutter
ganz neuen Gefühl das Kind an ihrer Bruſt ſaugen.
Der Trieb des Kindes alſo, der ſo unwiſſend iſt, begegnet einer
bewußten
Neigung, der Mutterliebe, und erreicht durch dieſe
erſt
ſeinen Zweck.
Der Trieb iſt nicht Inſtinkt, ſonſt würde er die äußeren
Umſtände
ſelber benutzen lehren, und die Neigung, die als
Mutterliebe
erſcheint, iſt wiederum mehr als Inſtinkt, denn
ſonſt
würde keine Mutter imſtande ſein, ihrem Kinde die
Mutterbruſt
zu verſagen.
Der Inſtinkt bildet die Mittelſtufe
zwiſchen
Trieb und Neigung, wie die Tierwelt eine Mittelſtufe
zwiſchen
Pflanze und Menſch iſt.
Der Trieb iſt ohne Be-
wußtſein
;
der Inſtinkt iſt ſchon mit Bewußtſein verknüpft, aber
ohne
die geiſtige Freiheit, von ihm abweichen zu können.
Die
Neigung
dagegen iſt Trieb, Inſtinkt, Bewußtſein und freies
Schalten
zugleich.
Das Kind, das anfaugs nur triebartig thätig iſt, erhebt
ſich
auch bald zur höheren Stufe, die dem Inſtinkt nahe
verwandt
iſt;
aber hiermit iſt das Heranreifen des
2012 verbunden, und äußerſt ſchnell wird die Fähigkeit des Kindes
zur
Neigung.
Es iſt ſchwer, den Moment zu erkennen, wo
das
Kind die Mutterbruſt kennen lernt und nun inſtinktartig
ſie
findet, weil mit dieſem Zeitpunkt auch ſchon die Neigung
des
Kindes erwacht und als Liebe auftritt.
Sie reift auch
bald
zur Elternliebe und überhaupt zur Menſchenliebe heran,
die
Hand in Hand mit der Entwickelung der Erkenntnis wächſt.
Das erſte Lebensjahr eines Kindes zeigt überhaupt ein Auf-
ſtreben
der Menſchennatur, die alles, was wir Aufſtrebendes
kennen
, weit überragt.
Charakteriſtiſch iſt dieſes Wachſen der
Erkenntnis
zu vergleichen mit dem Wachstum des Leibes.

Ein
Kind von einem Jahre iſt an dreimal ſo ſchwer als ein
neugeborenes
Kind;
es iſt aber in unendlichem Maße an Er-
kenntnis
gewachſen.
Es iſt dem Bereich des Triebes entrückt
und
in das Bereich der Neigungen hineingetreten, und dieſe
treten
bald in ſo vollem Maße auf, daß die Mittelſtufe zwiſchen
beiden
, die Stufe des Inſtinkts, kaum ſicher angegeben werden
kann
.
V. Die Freiheit des Menſchen und die Neigungen
der Menſchheit.
Wir haben den Unterſchied zwiſchen dem, was in Pflanze,
Tier
und Menſchen waltet, darin gefunden, daß die Pflanze
ihrer
Triebkraft, das Tier ſeinem Inſtinkt keinen freien Willen
entgegenſetzen
kann, während der Menſch ſeine Neigung, die
mit
Triebkraft und Inſtinkt nahe verwandt iſt, wohl zu be-
wältigen
vermag.
Wir brauchen nicht uralte Beiſpiele hierfür anzuführen.
Der Menſch vermag ſeinem Hunger zu gebieten und ihn ſo-
lange
zu bewältigen, bis der Mangel an Nahrung ſeinen
2113 ſchwächt und alſo deſſen Entſchluß ſchwankend macht. Der Menſch
kann
jenen Verhältniſſen ſich entziehen, die dem Tiere inſtinkt-
mäßig
geboten ſind.
Der Menſch in gutem und ſchlechtem Sinne
kann
ſich von der Liebe zu den Neugeborenen frei machen, ſich
der
Sorge für ihre Erhaltung entſchlagen.
Der Menſch kann
ſeinen
Geſchlechtstrieb völlig unterdrücken und ein geſchlecht-
loſes
Leben führen.
Das alles ſind Beiſpiele, die niemandem
fremd
ſind und die den Beweis liefern, daß er freier und
unabhängiger
von jenen Gewalten iſt, welche die Natur auf die
Weſen
unter ihm ausübt.
Iſt das aber ſchon in ſolchen
Umſtänden
der Fall, wo offenbar das Menſchenleben dem der
Pflanze
und des Tieres gleicht, ſo läßt ſich vernünftigerweiſe
nicht
zweifeln, daß in dem geiſtigen Leben des Menſchen ein
noch
höherer Grad der Freiheit des Willens herrſcht.
Obgleich aber dieſe Freiheit des Menſchen über das, was
wir
natürliche Neigungen nennen, nicht zu leugnen iſt, ergiebt
doch
ein Blick auf das ganze Menſchengeſchlecht, daß es von
dieſen
Neigungen wirklich geleitet wird.
Faſt möchte man
ſagen
, die natürlichen Neigungen der Menſchen ſind in dem
ganzen
Menſchengeſchlecht nicht minder mächtig als die Inſtinkte
in
den Tieren.
Die einzelne Mutter beſitzt eine Freiheit, ſich ihrer Pflicht
gegen
den Säugling zu entziehen;
aber in den Müttern im
allgemeinen
iſt die Neigung zu dieſer Pflichterfüllung ſo groß,
daß
ſie dieſelbe mit Luſt erfüllen.
Nur ausnahmsweiſe Um-
ſtände
und vorangegangene geiſtige Abirrung vermögen eine
Mutter
grauſam oder gleichgültig zu machen gegen ihr Kind.
In ſolchem Falle iſt oft die Neigung zur Liebe von andern
Neigungen
verdrängt, die unnatürlicherweiſe die Übermacht
über
die Mutter gewonnen haben.
In der ganzen Menſchheit
aber
ſind faktiſch weder Umſtände noch Abirrungen ſolcher Art
möglich
, und die Mutterliebe kommt als Naturgeſetz zur vollſten
Geltung
.
2214
Der Menſch teilt mit vielen Tieren die Neigung, ein
geſelliges
Leben zu führen.
Bei den Tieren iſt dies Inſtinkt,
der
keine Abweichung geſtattet.
Eine Biene, eine Ameiſe kann
nicht
ein einſames Leben führen, ſie bilden Geſellſchaften und
abgeſchloſſene
Kolonien, die gemeinſame Zwecke haben.
Die
Geſellſchaft
der Menſchen, ja ſogar der Staat der Menſchen
hat
große Ähnlichkeit damit, und man könnte den Geſelligkeits-
trieb
der Menſchen hiernach dem Inſtinkt gleichſtellen.
Aber
er
iſt doch nicht Inſtinkt, ſondern Neigung.
Es giebt
Menſchen
, die ſich der Neigung der Geſelligkeit entziehen und
ſich
in einen durch Umſtände oder andere Neigungen hervor-
gerufenen
Zuſtand der Einſamkeit für das ganze Leben verſetzen.
Wäre das geſellige Beiſammenleben der Menſchen, wäre
das
Staatsleben ein Ergebnis des Inſtinkts, ſo würden die
Menſchen
ebenſowenig imſtande ſein, von der Form der Ge-
ſellſchaft
abzuweichen, wie die Bienen.
Gleichwohl iſt unver-
kennbar
etwas in dem Menſchengeſchlecht vorhanden, das es
zur
Geſelligkeit anhält, ohne dieſer ein unabänderliches Gepräge
zu
geben und ohne dem Einzelnen ſeine Freiheit, ſich los-
zuſagen
, zu benehmen.
Selbſt die Wilden leben unter ſehr
verſchiedenen
geſellſchaftlichen Formen;
die Staaten, dieſe
größeren
Geſellſchaften, ſind von einander ſehr verſchieden.
Sie entwickeln ſich, bilden ſich aus, nehmen weiteren Umfang,
andere
Geſtalt, verſchiedene Grundſätze an, und erheben ſich
gerade
mit der reiferen Geiſtesbildung der Menſchen zu immer
freieren
Schöpfungen.
Oft beobachtet man in Völkern einen Wandertrieb, der
mit
dem Wander-Inſtinkt der Tiere eine Ähnlichkeit verrät.
Ein Zug, dem die Menſchheit im ganzen nicht Widerſtand zu
leiſten
vermag, treibt ſie über Meere hinweg, zu Wanderungen
nach
fremden Gebieten und zur Anlage neuer Wohnſtätten,
die
nicht ſelten mit Entbehrungen vieler gewohnter Zuſtände
verknüpft
iſt.
Ja, wer die Menſchengeſchichte beobachtet,
2315 gelangt zu der Einſicht, daß mindeſtens ſeit den Zeiten, die
näher
gekannt ſind, dieſe Wanderzüge einen regelmäßigen Gang
nehmen
, und zwar von Oſten nach Weſten.
Auch dieſen Zug
könnte
man dem Inſtinkt gleichſtellen;
aber er iſt es keines-
wegs
.
Es herrſcht auch hier das, was wir Neigung nennen,
die
zwar viele, aber nicht alle ergreift und leitet, und zwar
auch
dieſe vielen nicht durch einen Zwang, ſondern mit einem
bewußten
Streben, das die Freiheit der einzelnen nicht beſchränkt.
So himmelweit verſchieden der Bau eines Hauſes, einer
Hütte
, eines Zeltes u.
ſ. w. vom Bau eines Neſtes der Tiere
iſt
, ſo kann man dieſe Erſcheinungen doch vergleichsweiſe
nebeneinander
ſtellen.
Aber auch hier zeigt ſich der Unterſchied
zwiſchen
dem, was das Tier zu thun gezwungen iſt, und dem,
was
der Menſch nach freier Überlegung thut, ſo deutlich, daß
wir
nicht weiter davon zu ſprechen brauchen.
Dort herrſcht
Zwang
und hier Freiheit, aber eine Freiheit, die wiederum
von
einer Neigung geleitet wird, der ſich die Menſchenmaſſe
nimmermehr
gänzlich entzieht.
So ſehen wir denn die Neigungen in den Menſchen ähnlich
wie
die Inſtinkte in den Tieren wirken.
Die Neigungen leiten
die
Geſamtheit, ſchreiben ihr Geſetze vor, bilden Regeln aus
und
üben eine Gewalt über die Menſchheit, die dieſe faſt
unfreiwillig
im ganzen erſcheinen läßt.
Gleichwohl liegt es
in
der Natur dieſer Neigungen, daß ſie die Freiheit des
einzelnen
nicht benehmen und ihn keineswegs zum Sklaven
einer
Naturnotwendigkeit machen, die etwa blind über ihm
waltet
.
VI. Die Welt der Neigungen.
Vergleicht man nach dem Geſagten Handlungen, die aus
den
Neigungen der Menſchen hervorgehen, mit den
2416 der Tiere, die vom Inſtinkt geleitet werden, ſo ergiebt ſich die
Ähnlichkeit
und der Unterſchied ſehr auffallend.
Zu den Beiſpielen, die wir bereits angeführt haben,
wollen
wir hier noch einige im Zuſammenhang aufführen, um
das
Geſagte beſſer überſchaulich zu machen.
Das neugeborene Kind wird von der Mutter naturgemäß
geliebt
.
Das iſt etwas, was beim Tier in ähnlicher Weiſe
vorkommt
;
aber beim Tier hält auch dieſer Inſtinkt nur ſo
lange
an, als das Junge der Mutter bedarf, ſo lange, bis
das
junge Tier ſelbſtändig iſt und für ſich ſelber ſorgen kann.
Beim Menſchen, wo es bewußte Liebe iſt, geht ſie mächtig
durch
das ganze Leben.
An der Hand dieſes Gefühls, des Gefühls der Kindes-
und
der Mutterliebe knüpft ſich beim Menſchen ein reiches
Leben
der Liebe an die beglückenden Bande der Angehörigkeit,
die
weit über ſolche, wie ſie bei Tieren gefunden werden,
hinausragen
.
Das Band zwiſchen Vätern und Kindern findet bei Tieren
nicht
ſtatt.
Nur die Vögel zeigen ein Verhältnis, das hiermit
Ähnlichkeit
hat.
Das Männchen hilft das Neſt bauen und
ſetzt
ſich zuweilen auf die Brüteier, um ſie nicht erkalten zu
laſſen
, wenn das Weibchen ausfliegt, um ſich durch einen Trunk
zu
erquicken.
Die Geſchwiſter-Ähnlichkeit iſt ganz und gar
den
Tieren fremd;
beim Menſchen iſt ſie ſo ausgeprägt, daß
ſie
die Stütze des Familien-Lebens iſt.
Das Familien-Leben iſt wiederum in der Tierwelt vor-
gebildet
und kommt als Inſtinkt im Leben derjenigen Tiere
zum
Vorſchein, die ein geſelliges Daſein führen.
Höchſt merk-
würdig
iſt es, wahrzunehmen, wie nur ſolche Tiere dem
Menſchen
ſich anſchließen und eine Kultur annehmen, die in
der
Wildnis in großen Geſellſchaften leben.
Der Hund, das
Pferd
, der Affe, das Rind, das Schaf und viele Vögelſorten,
die
man in Haustiere umwandeln kann, ſcheinen dieſe
2517 fähigung nur durch denſelben Trieb zu erlangen, durch welchen
ſie
inſtinktmäßig in der Wildnis genötigt ſind, in großen Ge-
meinſchaften
zu leben.
Tiere, die in der Wildnis ein ein-
ſames
Leben führen, kann man zwar zähmen und mehr oder
weniger
unſchädlich machen;
aber zum Haustier ſind ſie nicht
umzuwandeln
.
Die Katze iſt gezähmt, aber nicht zum Haus-
tier
geworden.
Sie führt ſtets ein halbwildes, den Menſchen
ſich
nie ganz unterwerfendes Leben.
Erwägt man dies, ſo hat man Urſache, die Kulturfähigkeit
überhaupt
mit dem Geſelligkeitstrieb in nahe Verbindung zu
bringen
, und bedenkt man, daß die Familie die Grundlage der
Geſellſchaft
und der Gemeinſamkeit iſt, ſo läßt ſich die Neigung
des
Menſchen zu einem Familienleben überhaupt als Grund-
bedingung
der Fähigkeit und Neigung des Menſchen zur Aus-
bildung
annehmen.
In der That iſt die Familie die Grund-
lage
der menſchlichen Bildung, und wenn man auf einzelne
hinweiſt
, die, ohne ſich je eines Familienlebens im gewöhn-
lichen
Sinne erfreut zu haben, hohe Stufen der Bildung er-
ſtiegen
, ſo beweiſt dies nur, daß der Menſch nicht ein vom
Inſtinkt
regiertes Weſen iſt, ſondern die Freiheit und die
Fähigkeit
beſitzt, auf eigenem Wege ſeiner Beſtimmung teil-
haftig
zu werden.
Bei den Tieren zeigt ſich ein Staatsleben, das heißt, ein
Leben
in geſchloſſener Geſellſchaft, wo alle Einzelnen zum
Wohl
des Ganzen thätig ſind.
Der Inſtinkt der Bienen, der
Ameiſen
iſt in dieſer Beziehung bekannt genug.
Merkwürdiger-
weiſe
zeigt es ſich, daß gerade ſolche Tiere Staaten bilden,
welche
ein geſchlechtsloſes Leben führen.
Im Bienenkorb, im
Ameiſenhaufen
ſind es weder die Männchen noch die Weibchen,
welche
die Arbeiten für die Geſamtheit verrichten, ſondern die
Arbeiter
, die weder erzeugen noch gebären können.
Der
menſchlichen
Geſellſchaft fehlen ſolche Geſchlechtsloſen;
aber
gleichwohl
iſt die Staatenbildung eine innere Neigung
2618 Menſchen. Der Staat iſt nicht ein bloßes Rechenexempel,
ſondern
ein Naturprodukt, dem man ſich nur entziehen kann,
weil
überhaupt die menſchliche Natur nicht gefeſſelt iſt in
Inſtinkten
, ſondern in mehr freieren Neigungen wurzelt.
Die Liebe zur Heimat, zur Geburtsſtätte, zur Vaterſtadt,
zum
Vaterland ſind nicht bloße leere Angewöhnungen und
ſind
ebenſowenig Inſtinkte, die blind walten.
Die Taube hat
einen
mächtigen Inſtinkt zur Stätte ihrer Brütung, und dieſer
führt
ſie heim und lehrt ſie den Weg über meilenweite Strecken
kennen
.
Beim Menſchen iſt dieſer Inſtinkt nicht vorhanden;
aber er giebt ſich in der Heimatsliebe als Neigung zu erkennen,
als
Neigung, der man allerdings wiederum Widerſtand leiſten
und
der man ſich durch Willenskraft entziehen kann.
Ja, die Neigung der Menſchen giebt ſich ſogar in der
Mode
kund;
in einer Nachahmungsſucht, in dem Wohlgefallen
an
dem Geſchmack, wenn er einmal von ſehr vielen angenommen
iſt
.
Die Mode iſt eine Neigung; man kann ſich ihr entziehen,
wenn
man will;
aber man findet ſich nicht wohl in dem Be-
ſtreben
, eine Ausnahme zu ſein, und verläßt eine längſt ge-
wohnte
Tracht, die man einſt ſehr geſchmackvoll fand, als eine
Geſchmackloſigkeit
, wie man eine zu oft genoſſene Speiſe mit
einem
Gefühl des Widerwillens verläßt.
Die Neigungen ſind nicht unverbrüchliche Inſtinkte und
nicht
leere Willkürlichkeiten, ſondern ſtehen auf einer Stufe der
Naturnotwendigkeit
, die zugleich eine Freiheit des Wollens
zuläßt
.
Es iſt dies ein Zuſtand, welchen unſer Verſtand ſehr
ſchwierig
aufzufaſſen vermag;
aber es iſt ſo, und hiermit muß
ſich
die Naturwiſſenſchaft, die nur aus Thatſachen lernen ſoll,
begnügen
.
2719
VII. Geiſtige Neigungen.
Wir haben bisher nur diejenigen Neigungen der Menſchen
in
Betracht gezogen, die in gewiſſem Sinne dem Inſtinkt der
Tiere
ähnlich ſind, und haben dieſe Neigungen dahin erklärt,
daß
ſie zwar im allgemeinen von einer eben ſolchen Natur-
notwendigkeit
herrühren wie die Inſtinkte der Tiere, jedoch
geregelt
werden durch etwas, das den Tieren mangelt, nämlich
durch
den Geiſt der Menſchen, der auf die Neigungen einen
freien
Einfluß ausübt.
Jetzt jedoch müſſen wir noch einen Schritt weiter gehen
und
darthun, daß auch der Geiſt ſelbſt gewiſſen Neigungen
unterworfen
iſt.
Es iſt höchſt merkwürdig wahrzunehmen, daß der Trieb zum
Denken
ſchon in den allerälteſten Menſchen der verfloſſenen
Jahrtauſende
lebendig und regſam geweſen iſt, wichtiger noch
iſt
es zu ſehen, wie ſie im Denken ganz denſelben Geſetzen ge-
folgt
ſind, denen wir auch folgen müſſen.
Die Geſetze des
Denkens
, das was man wiſſenſchaftlich die Logik nennt, ſind
ſo
alt wie die Menſchheit, mindeſtens ſo alt wie irgend ein
Denkmal
menſchlichen Daſeins überhaupt.
Die Weiſen der
älteſten
Nationen haben zwar in den meiſten Dingen irrige
Vorſtellungen
gehabt.
Ihre Erfahrung war aber ärmer als
die
unſrige.
Sie wußten von den Naturerſcheinungen weniger,
waren
nicht ſo ausgebildet in der Beobachtungsgabe und nicht
ſo
gut ausgerüſtet mit den Mitteln, die Natur zu beobachten
wie
wir.
Sie haben ſich daher falſche Vorſtellungen von
wirklichen
Dingen gemacht, und waren nicht imſtande Dinge
zu
durchforſchen, zu denen genaue Kenntnis des Materials nötig
war
.
Aber ſie waren ſo geſcheit, ſo weiſe, ſo ſcharfſinnig,
ſo
tief vernünftig, wie nur die Weiſeſten des jetzt lebenden
Geſchlechts
.
2820
Prüft man ihre Gedanken und Ideen, ſo ſieht man, daß
ſie
nur deshalb falſche Reſultate erhielten, weil ſie in vielen
Dingen
dem Augenſchein trauten und nicht die vorzüglichſten
Mittel
in Händen hatten, durch welche wir die Natur der
Dinge
beſſer kennen gelernt haben;
aber ihr Geiſt war im
Denken
ebenſo geübt, ebenſo geſchärft, ebenſo klar, ebenſo fein,
wie
nur irgend ein Geiſt in der jetzigen Zeit iſt.
Daher kommt es auch, daß in all’ den Wiſſenſchaften, wo
uns
die Mittel der gründlichen Erfahrung und genaueren
Beobachtung
fehlen, in all’ den Dingen, die man nicht mathe-
matiſch
meſſen, die man nicht mit dem Barometer und Thermo-
meter
unterſuchen, die man weder mit einem Mikroſkop noch
mit
einem Fernrohre ſehen, weder mit einem Hörrohr hören
noch
mit einer Magnetnadel, noch mit einem Elektrizitäts-
Meſſer
prüfen kann, daß in all’ ſolchen Dingen der Fortſchritt
unſerer
Erkenntnis geringer iſt.
Die Geſchichte jener Wiſſenſchaften, welche die Grundlagen
unſerer
Naturforſchung geworden ſind, die Geſchichte der
Mathematik
und Mechanik, die außerordentlich erweitert und
fortgebildet
worden, beweiſt uns, daß ſchon vor zweitauſend
Jahren
Menſchen gelebt haben, die an Scharfſinn und Geiſtes-
klarheit
noch heute als Muſter denkender Menſchen daſtehen
würden
.
Ein Euklid, ein Pythagoras, ein Archimedes werden
zuverſichtlich
noch nach Jahrtauſenden die Bewunderung aller
Denker
auf ſich ziehen.
Nicht minder als dieſe Wiſſenſchaften giebt die Geſchichte
der
Kunſt ein ſprechendes Zeugnis von der höchſten Begabung
der
Nationen, die lange, lange vor uns gelebt haben.
Die
religiöſen
Dichtungen der Hebräer, die darſtellenden Dichter-
und
Bildhauer-Werke der Griechen, das merkwürdige Liebes-
Drama
Sakuntala” eines Indiers ſprechen unwiderleglich
dafür
, daß der Menſchengeiſt zwar mit den
2921 reicher an Material der Erkenntnis wird; aber der Geiſt ſelbſt
iſt
keineswegs ſchärfer und fähiger geworden.
All’ dies giebt den Beweis, daß es nicht nur feſte Geſetze
des
Denkens, ſondern auch gewiſſe, feſtſtehende, allgemeine
Regeln
der Geiſtesanſchauungen giebt, die ſeit Jahrtauſenden
in
dem Menſchengeſchlechte nicht wechſeln, ſondern ihm eigen-
tümlich
ſind und bleiben.
All’ dies deutet darauf hin, daß die
Natur
dem Menſchengeiſt eine gewiſſe Richtung der Denkweiſe
gegeben
hat, von der er nicht imſtande iſt abzuweichen.
Es giebt daher Überzeugungen, die der Menſch als
unumſtößliche
, als ewige Wahrheiten anerkennt.
Jeder Menſch,
der
z.
B. einmal den mathematiſchen Lehrſatz erkannt, daß
die
drei Winkel eines Dreiecks gleich zweien rechten Winkeln
ſind
, der wird in ſich fühlen, wie es unmöglich iſt, daß jemals
ein
Menſchenverſtand dies als einen Irrtum wird darthun
können
.
Die Wahrheit dieſes Satzes iſt ihm ſo feſt eingeprägt
und
entſpricht ſo ganz und gar dem Denkvermögen des Geiſtes,
daß
man ſich ganz unmöglich eine Vorſtellung machen kann
von
Weſen, deren Geiſt andere Regeln des Denkens, mit anderen
Worten
andere Denkformen habe und deshalb auf ein anderes
Reſultat
des Denkens gelangen könne.
Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß es ebenſo natur-
gemäße
Regeln des Denkens giebt, wie es naturgemäße Regeln
für
das Wachstum des menſchlichen Leibes giebt.
Dieſelbe Geſetz-
lichkeit
, die es macht, daß das Gehirn des Menſchen ſo und
nicht
anders gebaut iſt, dieſelbe Geſetzlichkeit zwingt das Gehirn,
ſo
und nicht in anderer, in willkürlicher Weiſe zu denken.
Da
aber
trotzdem die Gedanken der Menſchen außerordentlich von
einander
abweichen, ſo iſt es klar, daß die Natur ihnen auch
in
dieſer Beziehung nur die Neigung zum Richtigen gegeben,
jedoch
eine Freiheit gelaſſen hat, innerhalb dieſer Neigungen
ihre
Denkergabe zu benutzen.
3022
VIII. Eine ungelöſte Frage.
Die Geſetze des Denkens hier aufzuführen, würde uns zu
weit
von unſerem eigentlichen Thema abbringen, obwohl ſie
demſelben
keineswegs fremd ſind.
In der Lehre vom Leben
der
Menſchen kann nur die eine Frage nicht umgangen werden,
ob
es gewiſſe Denkgeſetze oder richtiger Denkanſchauungen giebt,
die
dem Menſchen angeboren ſind?
oder ob alles, was der
Menſch
von richtigen Anſchauungen beſitzt, ihm erſt durch Er-
fahrung
zugekommen iſt?
Dieſe Frage iſt bisher nur eine Aufgabe der Philoſophie
geweſen
.
Eine unparteiiſche Betrachtung der hauptſächlichſten
philoſophiſchen
Syſteme von Ariſtoteles bis auf Kant lehrt, daß
gerade
dieſe Frage von den Philoſophen mit außerordentlichem
Scharfſinn
behandelt worden iſt und die Beobachtung jedes
denkenden
Menſchen verdient.
Wenn wir uns in dieſer Frage eine Bemerkung erlauben
dürfen
, ſo iſt ſie folgende.
Es ſcheint uns, als wenn bei allen Beantwortungen dieſer
Frage
auf das Wortangeboren” viel zu viel Wert gelegt,
mindeſtens
ihm eine zu weit gehende Bedeutung gegeben worden
ſei
.
Es giebt eine Reihe von Anſchauungen, deren Ent-
ſtehung
ſich unſern Beobachtungen nicht ſo ſehr entzieht, von
denen
wir aber weder ſagen können, ſie ſeien angeboren, noch
zu
behaupten vermögen, ſie ſeien durch Erfahrung allein ent-
ſtanden
.
In den Zeiten, wo der Knabe zum Jüngling, das
Mädchen
zur Jungfrau wird, treten neue Anſchauungen über
das
Geſchlechtsverhältnis auf, ſelbſt wo ſie niemand hierüber
belehrt
hat.
Bei einer ſittlichen Erziehung kann man durchaus
nicht
ſagen, daß ſie von außen her mehr erfahren, als ſie zur
Zeit
der Unreife erfahren haben.
Gleichwohl wird ihre Phan-
taſie
, das heißt die Denk- und Vorſtellungskraft ihres
3123 angeregt mit der Entwickelung ihrer Organe, und ſie beginnen
jetzt
erſt dieſelben Erfahrungen, die ſie längſt ſchon gemacht
haben
, die Erfahrungen, daß es ein eheliches Geſchlechtsver-
hältnis
giebt, zu verſtehen.
Wir ſehen alſo hier innere Ent-
wickelungszuſtände
, die erſt lange nach der Geburt eintreten,
und
äußerliche Erfahrungen, welche früher unerkannt den
Kindern
vorübergingen, zuſammenwirken, um richtige Anſchau-
ungen
hervorzurufen.
Würde man ein Kind bis zur vollkommenen Geſchlechts-
reife
in ſolcher Einſamkeit erziehen, wo es niemals ein Weſen
andern
Geſchlechts geſehen hat, ſo würde unzweifelhaft ſeine
Phantaſie
von einem Geſchlechtsleben zu ganz falſchen Bildern
und
Vorſtellungen und Anſchauungen geleitet werden.
Umge-
kehrt
würde eine völlige Verſtümmelung der Organe jede Art
von
Vorſtellungen unterdrücken und ſelbſt die augenſcheinlichſten
Erfahrungen
keine richtigen Anſchauungen vom Geſchlechtsleben
erzeugen
.
Beides zugleich alſo, die leibliche Entwickelung und
innere
Anregung und mit ihr die Hand in Hand gehende Er-
fahrung
regen die richtige Anſchauung erſt an.
Es tritt hier
Inneres
und Äußeres zuſammen und bringt das hervor, was
man
weder bloß angeboren noch bloß durch Erfahrung hervor-
gebracht
nennen kann.
Unſerer Anſicht nach kann es mit den einfachſten Denk-
Anſchauungen
ebenſo ſein.
Die Entwickelungen des Gehirns
ohne
alle äußerlichen Wahrnehmungen würden ebenſowenig
dieſe
Anſchauungen möglich machen, ſo wenig es dieſe äußern
Wahrnehmungen
allein dahin bringen könnten.
Es tritt Beides
zu
einander und bringt gemeinſam das hervor, was man als
die
einfachſten Denkanſchauungen aufſtellt.
Wir meinen überhaupt, daß man in den Beantwortungen
dieſer
intereſſanten Fragen den Fehler beging, den denkenden
Menſchen
als ein Weſen zu betrachten, das außerhalb der
Natur
denkbar oder möglich iſt.
Man überſah hierbei,
3224 alle Organe des Menſchen für dieſe ſeine Außenwelt paſſend
eingerichtet
ſind.
Kein Menſch kann zweifeln, daß das
Auge
nur im Mutterleibe ſich gebildet hat, weil die Welt zum
Sehen
eingerichtet iſt.
Gäbe es kein Licht, ſo gäbe es ſicher-
lich
kein Auge;
gäbe es keine Luft, ſo gäbe es keine Lunge,
keine
Flügel.
Licht und Auge, die Einrichtung der Außen-
welt
und der Bau des Auges im Innern gehören alſo zu ein-
ander
;
und aus beiden geht erſt hervor, was wir Sehen
nennen
.
Ganz in demſelben Sinne aber ſcheint es uns
klar
, daß das Denkvermögen des Gehirns und die Wahr-
nehmungen
der Außenwelt zuſammengehören, daß Eines ohne
das
Andere unmöglich iſt und nur im Zuſammenwirken beider
das
hervorgerufen wird, was wir Denken oder Anſchauungen
nennen
.
Das Gehirn iſt mit einer Fähigkeit und einer Neigung
zum
Denken ausgerüſtet;
aber mit einer Fähigkeit und Neigung,
die
erſt verwirklicht werden kann, wenn die Außenwelt die
Anregung
dazu giebt.
Der Menſch bringt dieſes mit zur Welt,
weil
die Welt und der Menſch zuſammengehören, wie beide
aus
einem Geſetze, aus einem Gedanken wenn man ſo ſagen
will
entſpringen.
Die Frage alſo, welche Gedanken hätte
ein
Menſch, wenn er ohne alle Wahrnehmungen in der Welt
bliebe
?
iſt daher der Frage gleichzuſtellen: was würde das Auge
des
Menſchen ſehen, wenn es kein Licht in der Welt gäbe?
Ebenſo wie man auf dieſe Frage mit Recht antworten kann:
wenn
es kein Licht gäbe, wäre auch kein Auge vorhanden,
ebenſo
kann man ſagen, daß, wenn es keine Welt der Wahrneh-
mungen
gäbe, auch der Menſch kein Organ zur Welt brächte,
um
wahrzunehmen oder zu denken.
3325
IX. Die Entſtehung der Denkformen.
Wenn wir nun auch ſehen, daß, ſo weit die menſchliche
Geſchichte
bekannt und ein Urteil möglich iſt, die Denkformen
die
gleichen geblieben ſind, ſo kann dennoch nicht angenommen
werden
, daß ſie von vornherein in derſelben hohen Ausbildung
aufgetreten
und vorhanden geweſen ſind wie heute.
Vielmehr
3[Figure 3]Fig. 1.y a w x A
y
a w x B
gebietet die Annahme der Abſtammungslehre,
nach
der ſich die höheren, verwickelter gebauten
Lebeweſen
allmählich aus niederen, einfacher
gebauten
entwickelt haben, die gleichzeitige
Annahme
, daß auch die Denkformen erſt allmählich ihre hohe
Ausbildung
erhalten haben.
Das Denken, oder ſagen wir ganz allgemein, die geiſtigen
(ſeeliſchen) Werte ſind von Bewegungen abhängig, die ſich im
Gehirn
vollziehen.
Die Bewegungen im Gehirn kann man
daher
alsUnabhängige”, die ſeeliſchen Werte alsAbhängige”
bezeichnen
.
Um die Art der Abhängigkeit einigermaßen zu verbildlichen,
ſei
auf die Abhängigkeit der von einem Winkel eingeſchloſſenen
geraden
Strecke von der Größe dieſes Winkels hingewieſen.
3426 Das heißt, wenn der Winkel w in Fig. 1 A größer gemacht
wird
, etwa durch Bewegung der Linie x y, ſo wird auch die
Linie
a größer und umgekehrt.
Die Länge der Linie a iſt alſo
in
beſtimmter Weiſe abhängig von der Größe des Winkels w,
oder
wie der Mathematiker ſagen würde:
die Länge der Linie a
iſt
eine Funktion des Winkels w.
In Funktional-Beziehung zueinander ſtehen auch die Be-
wegungen
des Gehirns und die ſeeliſchen Werte, welche zu-
ſammengenommen
dieGeele” ausmachen, derenEinheitlich-
keit”
durch die Fähigkeit, ſich früherer ſeeliſcher Werke zu er-
innern
, zu ſtande kommt.
Da nun das Gehirn als Teil des Geſamtkörpers im Ver-
laufe
der Generation der Lebeweſen ſich ebenſo geändert, im-
mer
höhere kompliziertere Geſtaltungen angenommen hat, ſo
müſſen
natürlich auch die ſeeliſchen Werte, insbeſondere die
Denkformen
ſich geändert, ſich entwickelt haben.
Über die Art dieſer Entwickelung hat H. Potonié 1891
eine
Anſchauung geäußert, die wir im Folgenden wiedergeben.
Wie die körperlichen Eigentümlichkeiten der Lebeweſen ſich
mit
Hilfe der Prinzipien der Abſtammungslehre aus den Einflüſſen
der
Außenwelt auf die gegebenen Körper erklären laſſen, näm-
lich
durch Auswahl im Kampfe ums Daſein, genau ebenſo
laſſen
ſich die Eigentümlichkeiten des Geiſtes in leichteſter Weiſe
durch
Anpaſſung erklären.
Wie die organiſchen Weſen in ihren
Geſtaltungsverhältniſſen
nach allen Richtungen abändern (vari-
ieren
) und von den Abänderungen (Variationen) nur die paſſen-
den
, nur die lebenfördernden, oder doch die nicht lebenſtörenden
erhalten
bleiben und ſich daher ſchließlich vererben können,
genau
ebenſo können von den zunächſt nach allen Richtungen
hin
zielenden Denkregungen nur diejenigen erhalten bleiben, im
Kampfe
ums Daſein ausgeleſen und infolgedeſſen vererbt werden,
die
nicht zu lebengefährdenden Handlungen führen.
Nicht nur der organiſche Körper hat die Fähigkeit
3527 variiren und neu entſtandene Eigentümlichkeiten zu vererben,
ſondern
es müſſen ſich ja wie wir ſahen mit der Ver-
änderung
ſpeziell des Gehirns auch die ſeeliſchen Werte ändern.
Es iſt nur nötig daran zu erinnern (z. B. an die Vererbbarkeit
krankhafter
Geiſtesbildung), einer näheren Ausführung bedarf
es
kaum, da das tägliche Leben dieſe Einſicht jedem leicht ver-
ſchafft
.
Hat daher eine Vorfahrenreihe lebenerhaltende Erfahrungen
erworben
, ſo wird ſie auch dieſe auf die Nachkommen vererben,
die
ſie unbewußt anwenden, bei denen ſich das Handeln nach
dieſen
Erfahrungen ſchließlich als Trieb äußert.
Die genannten beiden Haupteigenſchaften alſo Varia-
tions-
und Vererbungsfähigkeit ſind vollkommen ausreichend,
auch
die Entwickelung des Geiſtes aus einfachſten Anfängen
heraus
zu begreifen.
Und wie bei der Beurteilung der Ge-
ſtaltung
der Organismen die durch Darwin’s Betrachtungen
gewonnene
Erkenntnis der Urſachen der zweckmäßig ſcheinenden,
der
den Außenverhältniſſen durchaus angepaßten Eigentümlich-
keiten
des Baues und Lebens der Organismen einen tiefen Ein-
blick
in die organiſche Natur gewährt und uns einen mächtigen
Schritt
dem Verſtändnis der Lebewelt näher geführt hat, ſo
können
wir hoffen, mit Anwendung der gleichen Methode auch
die
ohne Betrachtung ihrer Entwickelung uns ebenfalls wunder-
bar
erſcheinenden, mit den Weltverhältniſſen in Einklang ſtehen-
den
normalen Denkformen ihrer Entſtehung nach zu begreifen.
Die Parallelen, die wir bis jetzt zwiſchen Körper und Geiſt
gezogen
haben, ſind nicht die einzig zuläſſigen:
es finden ſich
deren
noch mehr, und ſie können wie wir gleich ſehen werden
auch
fernerhin Dienſte leiſten.
Wir ſagten, daß die Organe den Außenverhältniſſen durch-
aus
entſprechen, ganz vorſichtig ausgedrückt, hätten wir hinzu-
fügen
müſſenim allgemeinen”.
Denn weiteres Eindringen
in
den Gegenſtand zeigt bald, daß es auch
3628 keiten giebt, die keineswegs als zweckmäßige bezeichnet werden
können
, die aber dennoch nicht lebengefährdend ſind, weil ſie,
wenn
auch nicht den Außenverhältniſſen angepaßt, ſo doch auch
nicht
in Widerſpruch mit ihnen ſtehen.
Solche Organe dürfen
daher
auch nicht als unzweckmäßig bezeichnet werden:
ſie ſind
indifferent
.
In ihrem Daſein, in ihrem Auftreten äußert ſich
eben
die Variationsfähigkeit der Organismen.
Würde ſich in
dem
Vorhandenſein eines ſolchen indifferenten Organes eine
Unzweckmäßigkeit
herausbilden, ſo würde der Beſitzer dieſes
Organes
darunter leiden, eventuell darüber zu Grunde gehen,
und
die Vererbung der ſchädlichen Organiſation würde allmäh-
lich
ausgemerzt werden.
Es giebt ſehr viele Organeigentümlichkeiten, die wie
wir
uns ausdrückten indifferent und zwar ganz indifferent
für
das Leben ſind, deren Vorhandenſein oder Fehlen von
keinerlei
Bedeutung für das Lebeweſen iſt, und ferner ſei an
die
jedem Naturforſcher geläufige Thatſache, daß viele Organe
gleicher
Verrichtung bei den verſchiedenen Lebeweſen ver-
ſchiedenen
Bau aufweiſen können, erinnert.
Dieſe Thatſachen
ſeien
mit dem Geiſtesleben verglichen, um weitere Parallelen
nachzuweiſen
.
Wir bitten dabei feſtzuhalten, daß für den Be-
ſtand
oder das Verſchwinden körperlicher Eigentümlichkeiten
einzig
und allein Förderung oder Behinderung im Leben aus-
ſchlaggebend
iſt und ſich gleichzeitig die Übereinſtimmung hiermit
im
Verhalten des Geiſtes klar zu machen, indem Äußerungen
desſelben
, die auf das Leben Einfluß haben, alſo Handlungen
veranlaſſen
, naturgemäß ebenfalls nur dann erhalten bleiben
und
ſich vererben können, wenn die aus ihnen hervorgegangenen
Handlungen
nicht lebenſchädigend auftreten.
Hieraus ergiebt
ſich
ſchon ohne weiteres die aufzuweiſende Parallele, mit der
vor
allen Dingen ausgedrückt werden ſollte, daß auch geiſtige
Äußerungen
beſtehen bleiben und ſich vererben können, ſofern ſie
nicht
lebenſtörend ſind, und ferner, daß geiſtige
3729 die gleiche lebenfördernde Ziele haben, doch verſchieden ſein
können
.
Wie alſo viele Organe in ihrer Geſtaltung ein Pendeln
vertragen
, ohne deshalb in ihrer Verrichtung eine Änderung
zu
erfahren, ſo giebt es auch im Gebiete des Gedankens ſolche
Vorſtellungsweiſen
, die von einander abweichen können, ohne
daß
deshalb die aus ihnen eventuell folgenden Handlungen
lebenſtörend
wirken.
Anders iſt es für die Erreichung vieler Ziele der Lebens-
verrichtung
in beſtimmten andern Fällen;
ſo iſt auf den
Gebieten
, wo Zahl und Maß herrſchen, ein Pendeln meiſtens
nicht
möglich:
es iſt nicht gleichgültig für das Leben eines
Tieres
, ob es die Breite einer zu überſpringenden tiefen
Felſenkluft
richtig ſchätzt, oder ob es infolge falſcher Schätzung
die
Füße auch nur um ein ganz Geringes zu früh aufſetzt, um in
dieſem
Falle notwendig in die Tiefe zu ſtürzen.
Die Sinne
müſſen
hier, ſoll das Leben keinen Nachteil erleiden, die
Außenverhältuiſſe
richtig beurteilen, denn falſche Beurteilungen
führen
in ſolchen Fällen zum Verderben.
Die Verſtandeskräfte aber werden durch die Sinne gebildet,
und
es müſſen Verſtaudesäußerungen bei allen Weſen dort
übereinſtimmen
, wo eine falſche Beurteilung lebengefährdend
wirkt
.
Letzteres trifft aber u. a. bei einer Nichtbefolgung
mathematiſcher
Geſetze ſofern ſie mit Handlungen in Bezie-
hung
ſtehen zu.
Die Mathematik iſt eine Erfahrungswiſſenſchaft: ſie benutzt
von Thatſachen und einfachſten Handlungen (Bewegungen)
ausgehend
lange Gedankenketten (Schlüſſe), deren einzelne
Glieder
einfache Erfahrungsgedanken ſind, und ſie kann eventuell
zum
Schluſſe an der Natur experimentell prüfen, ob ſie richtig
gedacht
(gerechnet) hat.
Scheinen uns die mathematiſchen Geſetze in unſerem Denken
auch
ſelbſtverſtändlich, ſo ſind ſie wie die Denkformen
3830 Anſchauungen doch erſt durch Reibung mit der Natur erworben
worden
, während es für die Erhaltung des einzelnen Menſchen
nicht
in Betracht kommt, ob er als Philoſoph Materialiſt,
Realiſt
oder Idealiſt iſt, da es ſich bei den Anſichten dieſer
nur
um Gedanken handelt, die keinen entſcheidenden Einfluß
auf
das alltägliche Benehmen ausüben:
ſobald der Materialiſt
oder
Idealiſt mit derrauhen” Wirklichkeit zu thun hat, ſieht
man
beide übereinſtimmend ſich gleichmäßig verhalten, und es
entſpringt
das übereinſtimmende Verhalten aus übereinſtimmen-
dem
Denken, wenigſtens dann, ſobald es ſich um die Alltäglich-
keit
handelt.
Auch die Mathematik alſo gründet ſich auf Erfahrungen.
Erfahrungen der Raumverhältniſſe liegen ſpeziell der Geometrie
zu
Grunde, die aus ihnen entnommenen grundlegenden An-
ſchauungen
ſind die einzigen, die in geometriſchen Erörterungen
zur
Anwendung kommen, und wenn wir mit Zuhilfenahme
dieſer
eine Rechnung ausführen und zu einem Reſultat gelangen,
das
wir wieder mit dem Auſchauungsſinn zu erfaſſen vermögen
und
es ſo beſtätigt finden, ſo zeigt uns dies, daß das in der
angedeuteten
Weiſe gewonnene Reſultat der Wahrheit entſpricht.
Dasjenige, deſſen Wahrheit uns ohne Weiteres bewußt,
klar
iſt, nennen wir eineewige Wahrheit” (ein Axiom).
Andere Wahrheiten ſind uns nicht ohne Weiteres bewußt, wir
müſſen
ſie beweiſen, d.
h. ſie uns als wahr durch Zuhilfe-
nahme
der Axiome ins Bewußtſein führen.
Demnach iſt es
eine
Unklarheit, oder, ſagen wir direkt, durchaus falſch, für
Axiome
Beweiſe” zu ſuchen.
Auch unſere logiſchen Denk-
formen
ſind aus der Erfahrung gewonnene Axiome, Beziehungen,
die
uns ohne Weiteres einleuchten.
Daß uns nun die mathe-
matiſchen
Begriffe und die logiſchen Denkformen ſo zwingend
erſcheinen
, hat alſo ſeinen Grund darin, daß eine Nichtbefolgung
derſelben
, z.
B. eine Nichtberückſichtigung der Axiome der
Geometrie
in ſolche Kolliſionen bringt, die das Leben
3931 lich machen, wie dies durch das oben erwähnte Beiſpiel des
ſpringenden
Tieres bereits angedeutet wurde.
Würde dieſes
Tier
z.
B. nicht die Einſicht beſitzen, daß zwiſchen zwei Punkten
die
grade Linie die kürzeſte iſt, ſo läge die Gefahr, daß es bei
Ausführung
des Sprunges zu Grunde ginge, begreiflicher Weiſe
noch
näher.
Werden demnach die Denkweiſen im allgemeinen not-
wendig
übereinſtimmen, wenn Handlungen aus ihnen folgen,
die
das Leben hindern oder gefährden, ſo werden ſie anderer-
ſeits
oft dann bei den verſchiedenen Individuen keine Überein-
ſtimmung
zeigen, wenn der Kampf ums Daſein keine Veran-
laſſung
hatte, klärend zu wirken, weil dieſe Denkweiſe nicht zu
lebengefährdenden
Handlungen führen, anders ausgedrückt weil
der Irrtum in praktiſch gleichgültigen Dingen unſchädlich”
(E.
Dühring) iſt.
Es iſt das muß immer wieder betont werden die
Rückſicht
auf die Erhaltung des Lebens das einzig Ausſchlag-
gebende
für den Beſtand körperlicher oder geiſtiger Eigen-
tümlichkeiten
, abgeſehen, wenn es ſich in beiden Fällen um in
der
genannten Beziehung gleichgültige Erſcheinungen handelt.
Dieſer Satz iſt deshalb ſo wichtig, weil wir wie ſchon
angedeutet
aus ihm heraus verſtehen lernen, woran es
liegt
, daß die Menſchen bei ihren geiſtigen Beurteilungen in
gewiſſen
Punkten alle zu dem gleichen, in anderen zu ver-
ſchiedenen
Reſultaten gelangen.
Es iſt hierbei ſehr bemerkenswert, daß einmal gewonnene
Denk-Anſchauungen
mit außerordentlicher Zähigkeit feſtgehalten
werden
.
Die Macht der Gewohnheit ſpielt hier eine gewaltige
und
man muß wohl auch ſagen berechtigte Rolle;
denn
hat
ſich eine Denkrichtung im Leben bewährt, oder hat ſie doch
keinen
Anſtoß gefunden, ſo liegt ja keine äußere Urſache vor,
ſie
aufzugeben oder verſchwinden zu machen.
Folgen wir einer erſt durch Denken erworbenen,
4032 gefundenen Gewohnheit, ſo ſchwindet uns allmählich das
Bewußtſein
des aus der Erfahrung geſchöpften Grundes,
warum
wir ihr folgen.
Ihr zu folgen erſcheint uns dann in
unſerem
Handeln und Denken ohne weiteres ſelbſtverſtändlich.
Werden nun auch die Laien in vielen Dingen in ihren
Denkrichtungen
von einander abweichen, ſo iſt doch erſichtlich,
daß
die Naturforſcher ſpeziell ſchließlich im Ganzen deshalb zu
denſelben
Reſultaten gelangen müſſen, weil ſie das gleiche Ziel
mit
den gleichen Mitteln verfolgen:
die reine Wahrheit zu er-
kennen
und zwar alle mit dem einzigen Mittel, das es giebt, um
dies
zu erreichen, nämlich durch Sammlung von Erfahrungen,
durch
Anſtellung von Experimenten dort, wo die Natur nicht
ohne
weiteres Aufſchluß giebt, durch kritiſche Prüfung der All-
tagsanſchauungen
, die ſich dann in ſo vielem als falſch ergeben.
Die erſt mit Hilfe der Wiſſenſchaft erkannten Wahrheiten
ſind
naturgemäß ſolche, deren Kenntniß für das Leben gleich-
gültig
iſt, da ſie ſonſt notgedrungen bereits vor der Wiſſenſchaft
bekannt
ſein müßten.
Man kann ſomit unterſcheiden: 1. Lebens-
wahrheiten
, 2.
Wiſſenſchaftliche Wahrheiten.
Der zu weit gehende Schillerſche AusſpruchNur der
Irrtum
iſt das Leben und das Wiſſen iſt der Tod” (Kaſſandra)
fließt
aus einer Einſicht, die Byron beſſer ſo ausdrückt:
Der
Baum
des Wiſſens iſt nicht der des Lebens” (Manfred).
Denn man mache ſich nochmals klar, daß die erſt durch
die
Wiſſenſchaft gewonnenen Wahrheiten niemals Lebenswahr-
heiten
und die Lebenswahrheiten außerordentlich häufig keine
wiſſenſchaftlichen
Wahrheiten ſind.
Sind nun alſo unſere Denkformen die Folge der gewon-
nenen
Erfahrungen, anders ausgedrückt die Erfahrungen die
Urſachen
der Logik, ſo erhellt ohne weiteres, daß die Natur
ſelbſt
das Denken regelt, ſie zwingt uns logiſch zu bleiben,
wenigſtens
dort, wo es ſich um das wahre Wohl und Wehe
der
Organismen handelt.
4133
X. Die Moral.
Ebenſo gleich wie die Menſchen ſich in hiſtoriſcher Zeit in
Bezug
auf die Art und Weiſe des Denkens geblieben ſind, ebenſo
gleich
bleiben ſie ſich im weſentlichen in dem, was man Moral
nennt
.
Wir haben angedeutet, daß die Menſchheit ſeit faſt vier-
tauſend
Jahren in immer gleicher Weiſe dieſelben Geſetze des
Denkens
angewendet.
Die Menſchen ſind reicher an Erfahrungen
und
deshalb auch reicher an richtigen Urteilen über die Dinge
in
der Welt geworden;
allein im Denken ſelbſt waren die
älteſten
Menſchen von Bedeutung ebenſo ſcharfſinnig und klar
wie
die bedeutendſten der jetzigen Zeit.
In ganz gleichem Maße iſt dies mit der Moral der Fall.
Die Moral der älteſten Völker, von denen Nachrichten auf
uns
gelangt ſind, iſt der Moral der jetzigen Zeit ziemlich
gleich
.
Das Unterſcheiden zwiſchen dem, was man das Gute
und
dem, was man das Böſe nennt, iſt ſo alt, daß die
älteſten
Sagen die Entſtehung dieſer Erkenntnis ſchon in die
Zeit
des allererſten Menſchenpaares verlegen.
Es haben
zwar
verſchiedene Sitten und verſchiedene Verhältniſſe bei den
Völkern
geherrſcht, durch welche die allgemeine Moral nicht
immer
verwirklicht wurde, und auch jetzt iſt dies nicht der
Fall
;
desgleichen iſt oft ein Unterſchied zwiſchen Völkern und
Völkern
vorhanden in Bezug auf die Art und Weiſe, wie
ihre
Sprache ihrer Moral einen Ausdruck verleiht.
Allein im
Grundton
und Weſen iſt die Moral aller Zeiten dieſelbe,
und
die Menſchheit hat wohl mit der Entwickelung der ge-
bildeteren
Zeiten der Moral mehr Geltung im wirklichen Leben
zu
verſchaffen gewußt;
die Moralität der Maſſen iſt mit der
Bildung
gewachſen;
die Moral ſelber aber, ihre Lehren und
Vorſchriften
und Forderungen an den Menſchen ſind von den
4234 älteſten Zeiten bis auf die heutigen Tage doch ſtets dieſelben.
In ihrem Urſprung hat die Moral große Ähnlichkeit mit
dem
Inſtinkt, der in Tieren waltet, welche in Gemeinſchaft leben.
Bei dieſen Tieren herrſcht eine Ordnung, welche es verhindert,
daß
eins aus der Geſellſchaft das Zuſammenleben ſtört.
Der
Unterſchied
zwiſchen dieſer Ordnung und der menſchlichen
Moral
beſteht darin, daß jener Inſtinkt alſo Naturzwaug iſt,
dem
ſich das Tier unterwerfen muß, während die Moral eine
geiſtige
Neigung der Menſchen iſt, die, wie alle Neigungen
der
Menſchen, eine Freiheit des Willens zuläßt.
Wie ſehr die Moral ein Naturgeſetz des Menſchengeiſtes
iſt
, das ergiebt ſich aus dem Wohlgefallen, das moraliſche,
edle
Handlungen auch bei denen erwecken, die ſolcher Hand-
lungen
nicht fähig ſind, ja ſelbſt bei denjenigen, die ſich grund-
ſätzlich
von den Geſetzen der Moral losgeſagt haben.
Selbſt
in
Dichtungen, Erzählungen und Schauſpielen erweckt der
moraliſche
Held ein inniges Intereſſe, dem ſich ſogar der ver-
dorbenſte
Menſch nicht entziehen kann.
Die unverdorbene
Jugend
weint Thränen des Mitleids über ein Märchen, in
welchem
ein Unſchuldiger leidet, und jauchzt in Freuden auf,
wenn
das Ende die Tugend belohnt und das Laſter beſtraft.
Selbſt Diebe und Räuber ſind oft nicht imſtande, ſich des
mächtigen
Eindrucks zu erwehren, den ein edler Menſch auf
ſie
macht.
Wo ſie unbeteiligt ſind und der menſchlichen Neigung
folgen
, werden ſie unbedingt dem Guten ihren Beifall zollen
und
das Schlechte verachten.
Wer eine ſchlechte Handlung
begangen
hat, fühlt oft zeitig genug in ſich eine innere Ab-
neigung
gegen ſein eigenes Thun;
es iſt dies, was man die
Stimme
des Gewiſſens nennt.
Das Gewiſſen, die Reue, der
Wunſch
, die Handlung nicht begangen zu haben, das ſind
nicht
Einbildungen der Menſchen, und ſtammen nicht aus bloßer
Furcht
vor Strafe oder aus dem Glauben oder dem
4335 glauben; ſondern die Quelle des Gewiſſens iſt die natur-
gemäße
, moraliſche Neigung, von der der Menſch ſich zwar,
wie
von allen Neigungen, auf Zeiten frei machen kann, die
aber
unter Umſtänden mächtig genug erwacht, um ihr Recht
geltend
zu machen.
Wir halten daher die Moral für eine dem Menſchen-
geſchlecht
natürliche Neigung, für eine naturgemäße Richtung
ſeines
Geiſtes, und finden es deshalb erklärlich, weshalb die
Moral-Lehren
zwar ſich mehr oder weniger ausgebildet vorfinden
in
verſchiedenen Völkern und Zeiten, jedoch das moraliſche Thun
und
Laſſen eine ziemlich gleiche Stufe im geſamten Menſchen-
geſchlecht
innehält.
Der Einzelne kann ſich wohl von dieſem
Naturgeſetz
ſeiner geiſtigen Neigung ebenſo mehr oder minder
losſagen
, wie die einzelne Mutter es mit der natürlichen
Liebe
zu ihrem Kinde vermag.
Der Einzelne vermag wohl
mit
einer höheren Bildung des Geiſtes eine klarere, ausdrucks-
vollere
Moral an den Tag zu legen, wie es der gebildeten
Mutter
leichter möglich iſt, ihrem Gefühl für ihr Kind Worte
zu
geben.
Im allgemeinen aber ſagt ſich die Menſchheit
ebenſowenig
von der Moral los, ſo wenig ſich die Mütter im
allgemeinen
von der Liebe zu den Kindern loszuſagen ver-
mögen
.
Beides ſind Neigungen, die der Natur des Menſchen
angehören
, und die Menſchheit iſt nie ſo naturwidrig, ſich von
der
Natur zu entfernen.
Wie wir in Kapitel IX geſehen haben, daß die ewig er-
ſcheinenden
Denkformen ſich dennoch leicht als allmählich ent-
wickelt
ergeben, ſo iſt es auch mit den Forderungen der Moral.
Es iſt wieder die Lebenserhaltung oder Lebensſtörung, die
für
die Entſtehung und Erhaltung des moraliſchen Verhaltens
maßgebend
ſind, nur daß es ſich hier nicht um die Lebens-
Erhaltung
und -Störung der Einzelweſen handelt, ſondern viel-
mehr
um diejenigen von Verbänden, Gemeinden.
Der Menſch lebt geſellig, alſo in Verbänden, um
4436 aufrecht erhalten zu können, kann nicht jeder einzelne mit
ſeinen
verſchiedenen Neigungen ganz und gar thun, was ihm
beliebt
:
da ginge eben das geſellige Leben in die Brüche.
Die moraliſchen Forderungen haben ſich alſo durch das Zu-
ſammenleben
entwickelt;
es iſt klar, daß es beſtimmte moraliſche
Geſetze
giebt, ohne die ein dauerndes Zuſammenleben ganz
ausgeſchloſſen
iſt, und dieſe erſcheinen uns, gefeſtigt durch
lange
Vererbung, beſonders unbedingt (kategoriſch) undewig”.
XI. Die Kunſt.
In ähnlicher Weiſe, wie wir den Inſtinkt der Ordnung,
der
unter geſellig lebenden Tieren herrſcht, in eine freie Neigung
verwandelt
ſehen, die im Menſchengeſchlecht als geſellige Moral
auftritt
, ebenſo finden wir andere Inſtinkte der Tierwelt als
freie
Neigungen ausgebildet bei dem Menſchengeſchlecht.
Viele, ja faſt alle Tiere bringen inſtinktmäßig äußerſt
künſtliche
Dinge hervor.
Nicht nur Gewebe einer Spinne, die
Zellenwohnungen
der Bienen, die Neſter faſt aller Vögel,
ſondern
auch die Höhlen faſt aller Tiere ſind mehr oder
weniger
nach einem Plan gebaut, den wir künſtlich nennen.
Man hat daher von einem Kunſttrieb der Tiere geſprochen,
obwohl
man im gewöhnlichen Sinne des Wortes unter Kunſt
etwas
verſteht, was die Natur nicht herzuſtellen imſtande iſt,
obwohl
niemand andererſeits es bezweifelt, daß nicht die Tiere
die
Kunſt frei ausüben, ſondern von der Natur zur Ausübung
dieſer
Kunſt angehalten ſind.
Wir haben Grund zur Vermutung, daß das, was man
im
menſchlichen Sinne und im menſchlichen Thun und Laſſen
Kunſt
nennt, aus gleichem Urſprung ſtammt, wie das, was
wir
bei den Tieren ſehen;
nur mit dem Unterſchied, daß
4537 Kunſt der Menſchen eine Neigung, eine geiſtige Richtung iſt,
deren
Schöpfungen den Stempel der Freiheit des Menſchen-
Geiſtes
tragen.
Was das Tier Kunſtähnliches hervorbringt, bringt es ge-
zwungen
hervor, jede Gattung des Tieres ſchafft dasſelbe in
ganz
gleicher Form, ohne es zu lernen und auch ohne es je
geſehen
zu haben.
Die Menſchen dagegen bringen ihre
Werke
mit freier Einſicht, freiem Willen hervor, und deshalb
in
ſehr veränderlicher Geſtalt und Form, und erſt nach Sinnen,
Verſuchen
und Lehren in einer würdigen Vollendung.
Man kann in vollem Sinne des Wortes ſagen, daß der Menſch
nur
ein Daſein und Leben im Bereich der Kunſt lebt.
Wir
ſind
ſo gewöhnt an ein kunſtvolles Leben, daß wir kaum daran
denken
, daß alle unſere Speiſen einer äußerſt künſtlichen Zu-
bereitung
bedürfen.
Außer dem wenigen Obſt, das wir roh
verzehren
, wie es die Natur ſchafft, iſt all unſere Koſt ver-
arbeitetes
Naturprodukt.
Um einen einzigen Biſſen Brot her-
zuſtellen
, iſt ein unendlich ſtarker Aufwand von künſtlichen
Vorrichtungen
nötig, von denen das Tier nichts verſteht.
Zu
einer
Mahlzeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes gehört eine
Fülle
von Kunſt, die kaum zu berechnen iſt.
Es iſt ein ſchon
oft
ausgeſprochener Gedanke, daß zu einer einzigen Mittags-
mahlzeit
, wie man ſie gedankenlos alle Tage verzehrt, mehr als
tauſend
Menſchenhände nötig waren, um alles, was drum und
dran
hängt, ſo wie ſie iſt, herzuſtellen.
Das Tiſchtuch iſt eine
Leinen-Pflanze
, das Meſſer, die Gabel, Holz und Eiſen, der
Teller
eine Erdart, der Löffel ein Stück Metall.
Durch
wie
viele Menſchenhände hat die Leinen-Pflanze wandern
müſſen
, um zu einem Tiſchtuch zu werden?
Durch wie viele
das
Eiſen in Meſſer und Gabel, um von dem Eiſenerz,
wie
es vom Bergwerk gebrochen wird, bis zu dieſer Geſtalt
gebildet
zu werden?
Was hat ein Teller für Kunſtſinn, was
hat
ein Löffel für Aufwand von künſtlichen
4638 nötig gehabt, um dem Menſchen dienſtbar zu ſein, wie es jetzt
der
Fall iſt?
Geht man gar zurück auf die Werkzeuge, die
nötig
waren, um all das herzuſtellen, ſo häuft- ſich die Zahl
künſtlicher
Vorrichtungen und Zuſtände, die nur die aller-
gewöhnlichſten
Dinge erfordern, ins Unberechenbare.
Bedenkt man aber, daß all’ dies uns ſchon ſo natürlich
vorkommt
, daß man kaum mehr dieſes Kunſtdaſein als ein
ſolches
betrachtet, bedenkt man, daß unſere Kleidung, unſere
Wohnung
über- und übervoll iſt von künſtlichen Erzeugniſſen,
zu
der die Natur die rohen Stoffe geliefert hat, ſo wird man
es
recht inne, wie die Kunſt, das Element des Menſchenlebens,
ja
, wie das Kunſtleben des Menſchen eigentlich ſein natürliches
Leben
iſt.
Da man aber ſelbſt bei den wildeſten und fernſten Völkern
mehr
oder weniger den Trieb ausgebildet findet, ſich vom rohen
Naturzuſtand
zu entfernen und eine künſtliche Umgebung ſich zu
ſchaffen
, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß der Kunſt-
ſinn
eine natürliche Neigung des Menſchen iſt, eine Neigung
ſeines
Geiſtes, die urſprünglich mit dem Kunſtwerke ſchaffenden
Inſtinkt
der Tiere verwandt iſt, der aber der Natur des Menſchen
entſprechend
ein mannigfaltiges und freies Walten zeigt.
Der Kunſtſinn iſt ſo ſchöpferiſch im Menſchen, daß er
alles
im Leben durch die Kunſt zu verſchönern den Trieb hat,
und
ein inneres Wohlbehagen empfindet und erweckt durch
Genüſſe
höherer Art, die zum Bereich der höheren Künſte ge-
hören
.
Hierbei wird der Menſch durch eine Eigentümlichkeit
ſeines
Geiſtes unterſtützt, der von einem gewiſſen Schönheits-
Gefühl
beherrſcht wird, und dem namentlich Auge und Ohr
unterworfen
ſind.
Das Schönheits-Gefühl des Auges beruht
auf
Naturgeſetzen, in denen vorzüglich eine Gleichmäßigkeit,
die
man Symmetrie nennt, eine Hauptrolle ſpielt.
Ganz ſo
wie
die Natur Pflanzen-Zweige ſo bildet, daß ſie gleichmäßig
nach
beiden Seiten eine Reihe Blätter zeigen, ganz ſo
4739 eine Blüte nach jeder Seite hin ein gleiches Blättchen ſtreckt
und
ſo eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Ordnung zeigt;
ganz
ſo
wie höhere Tiere und Menſchen ſo geformt ſind, daß ſie
zu
beiden Seiten des Körpers gleiche Glieder beſitzen, die
doppelt
vorhanden ſind, während die einfach exiſtierenden
Glieder
in der Mittellinie des Körpers ihre Stelle haben, ſo
hat
auch der Geiſt des Menſchen ein Wohlgefallen an einer
gleichmäßig
geſtalteten Figur.
Das Schönheitsgefühl des
Ohres
beruht auf der Wellenbewegung der Luft, die den Ton
erzeugt
;
der Naturwiſſenſchaft iſt es gelungen zu beweiſen,
daß
ſolche Töne, deren Wellen in gewiſſen, mathematiſch be-
ſtimmten
Verhältniſſen erfolgen, dem Ohr harmoniſch klingen,
während
Abweichungen hiervon als Mißklänge vernommen
werden
.
Es läßt ſich hieraus zeigen, daß unſerm Ohr nach
beſtimmten
Naturgeſetzen ſein Geſchmack vorgeſchrieben iſt und
demnach
die Schönheitsgeſetze der Muſik nicht Willkürlichkeiten,
ſondern
Naturergebniſſe ſind, die im Menſchen als Neigungen
zum
Vorſchein kommen.
XII. Die mannigfaltigen Einwirkungen des
Geiſtes.
Wir fühlen ſehr wohl, wie das, was wir von den Nei-
gungen
der Menſchen geſprochen, nur ſehr flüchtig auf natur-
wiſſenſchaftlichem
Grunde aufgebaut iſt;
bedenkt man aber,
daß
eine mit den Neigungen ſo nahe verwandte Erſcheinung
wie
der Inſtinkt der Tiere noch ſo außerordentlich dunkel iſt,
bedenkt
man, daß es wiſſenſchaftlich kaum gelungen iſt, eine
genügend
begründete Vermutung über den Inſtinkt darzulegen, ſo
wird
man ſich mit flüchtigen Grundlagen über die Natur der
menſchlichen
Neigungen begnügen müſſen.
4840
Wir wollen hier nur noch den leichten Umriſſen, die wir
bereits
gegeben haben, einige Bemerkungen hinzufügen, die in
kurzem
unſern Leſern den Beweis liefern ſollen, wie ſchwierig
es
iſt, in dem eigentlichſten Leben der Menſchen die natur-
wiſſenſchaftlichen
Grundlagen aufzufinden.
Was den Menſchen zum Menſchen macht, iſt der Geiſt
desſelben
.
Nun aber iſt man in der Naturwiſſenſchaft noch
nicht
einmal ſo weit, die innerſte Natur jener Kräfte, die in
der
toten Natur wirkſam ſind, ſich klar zu machen.
Man kennt
dieſe
Kräfte durch ihre Wirkungen, man weiß, daß z.
B. die
Erde
eine Anziehungskraft hat, weil man dieſe Kraft in jedem
Augenblicke
wirkſam ſieht.
Man hat nun die Geſetze dieſer
Kraft
ſo genau wie keine andere kennen gelernt, iſt imſtande,
im
Voraus zu berechnen, wo der Mond durch die Wirkung
dieſer
Kraft nach tauſend Jahren an jedem beliebigen Tage,
nach
Stunde, Minute und Sekunde am Himmel ſichtbar ſein
wird
.
Der rechnende Aſtronom kann das Fernrohr hinſtellen
und
mit vollſter Sicherheit vorausſagen, wann, zu welcher Minute
und
Sekunde man durch dasſelbe nur zu blicken braucht, um dieſe
und
jene Erſcheinung am Monde beobachten zu können.
Trotz-
dem
aber, daß dieſe Kraft der Anziehung ſo genau in ihren
Geſetzen
gekannt iſt, wird der Naturforſcher die Achſeln zucken,
wenn
man ihn nach dem Grund, nach der Natur, nach dem
innerſten
Weſen dieſer Kraft fragt:
er wird eingeſtehen, daß wir
hierüber
noch im Dunkeln ſind.
Keine von allen andern Naturkräften iſt aber ſo genau
ſtudiert
und erkannt wie dieſe Anziehungskraft, und doch iſt
man
nicht imſtande zu ſagen, was eigentlich Kraft iſt;
wie will
man
ſich wundern, wenn man vom Geiſt, deſſen Erſcheinungen
ſelbſt
im Tiere noch äußerſt dunkel ſind, deſſen Geſetze man
nur
äußerſt bruchſtückweiſe kennt, deſſen Wirken im höchſten
Grade
mannigfaltig iſt, wenn man vom Geiſt ſelber nur
4941 mutungsweiſe ſprechen und über ſeine Natur nur ſehr unvoll-
ſtändige
Vorſtellungen haben kann?
Die Wiſſenſchaft vom Geiſte des Menſchen iſt und muß
für
jetzt noch ſehr unvollkommen ſein.
Nur ſolche von ihnen
haben
einen Wert, die nicht den Anſpruch machen, alle Rätſel
zu
löſen, ſondern ſich begnügen, die mannigfaltigen Erſchei-
nungen
unter gewiſſe Gruppen zu bringen, ſie für weitere
Forſchungen
zu ordnen und durch Beiſpiele aus dem Leben
ein
reichhaltiges Material zum ferneren Nachdenken zu bieten.
Die Erſcheinungen des geiſtigen Wirkens ſind ſo mannig-
faltig
, ſo außerordentlich zuſammengeſetzt, daß man oft kein
richtiges
Wort für das hat, was man im eignen Leben fühlt,
empfindet
oder denkt.
Wie ſchwierig iſt es z. B. , den Unter-
ſchied
zwiſchen Heiterkeit und Freude klar zu machen! und doch
iſt
dieſer Unterſchied nicht im bloßen Worte vorhanden, ſondern
er
liegt unzweifelhaft in der Natur unſeres Geiſtes.
Ent-
rüſtung
, Zorn und Ärger ſind nicht bloß im Wort unterſchieden,
ſondern
auch im Weſen;
wer aber vermag dieſen Unterſchied
in
naturwiſſenſchaftlicher Weiſe genau darzulegen?
Manche Vorſtellungen wirken auf unſere Atmungsorgaue
ein
.
Dieſe Vorſtellungen ſpielen ganz unzweifelhaft nur im
großen
Gehirn ihre Rolle, und ſie verſetzen, wie man vermuten
darf
, dieſes Großhirn in einen ſolchen Zuſtand, daß irgend
etwas
, was wir nicht kennen, von dem Gehirn auf das ver-
längerte
Mark wirkt und von hier aus die Nerven anregt,
daß
dieſe eine ganz eigentümliche Erſchütterung auf die Atmungs-
muskeln
ausüben.
Etwas Komiſches z. B. , das nur auf das
Großhirn
einen Eindruck machen kann, reizt uns zum Lachen,
zu
einer Thätigkeit, die alle Atmungsmuskeln in Anſpruch nimmt,
und
zugleich die Geſichtsmuskeln in eigner Weiſe zuſammen-
zieht
.
Etwas Trauriges wirkt in ganz ähnlicher Weiſe; die
Geſichtsmuskeln
werden in einer andern Art bewegt, und wir
müſſen
tief aufatmen, und die eingezogene Luft mit
5042 aus den Lungen entfernen, was wir im gewöhnlichen Leben
ſeufzen
nennen.
Ein rührender Gedanke, der ebenfalls nur im
großen
Gehirn Eingang findet, kann uns Thränen entpreſſen,
kann
uns zu lautem Schluchzen zwingen.
Eine freudige Über-
raſchung
wirkt ähnlich wie ein entſetzlicher Schrecken und kann
in
Ausnahmefällen ſogar tödlich und lähmend wirken.
Über
all’
das herrſcht immer noch keine wiſſenſchaftliche Klarheit,
wenn
man auch imſtande iſt, einige Wahrſcheinlichkeiten und
Vermutungen
hierüber auszuſprechen.
Wie unterſcheidet ſich Furcht von Zaghaftigkeit und Feig-
heit
?
Wir meinen nicht, wie ſie ſich im Sprachgebrauch unter-
ſcheiden
, ſondern welch’ ein eigentümliches naturgemäßes Ver-
halten
ruft bald dieſe, bald jene Erſcheinung im Geiſte hervor?
Wie verhält ſich hierzu das Gehirn in einer dieſer Erſchei-
nungen
?
Und nun gar die Neigungen, die Begierden, die Wünſche,
die
Hoffnungen, die Erwartungen, die Leidenſchaften der
Menſchen
! Wie außerordentlich mannigfaltig und doch ver-
wandt
ſind all’ dieſe Regungen, die gleichwohl verſchiedener
Natur
ſind! Selbſtbewußtſein, Stolz, Hochmut, Ehrſucht, Herrſch-
ſucht
, Rachſucht entſtehen ohne Zweifel durch ſehr verſchiedene
Zuſtände
des Geiſtes, und doch iſt es wiſſenſchaftlich nicht
möglich
anzugeben, wie ſie ſich entwickeln und oft in einander
übergehen
!
Wir ſehen, daß zu einer wirklichen Wiſſenſchaft hierin noch
ſehr
viel fehlt, und deshalb müſſen wir uns mit leichten Um-
riſſen
und Vermutungen und mit Betrachtung ſolcher Erſchei-
nungen
begnügen, die im ganzen und großen auftreten, und auf
das
Leben und Daſein der ganzen Menſchheit beſtimmend ein-
wirken
.
5143
XIII. Leib und Geiſt.
Wir haben ſchon mehrfach von dem Einfluß des körper-
lichen
Zuſtandes auf den Geiſt des Menſchen geſprochen, wie
auch
den Einfluß des Geiſtes auf das körperliche Befinden
erwähnt
;
nunmehr müſſen wir ein wenig näher auf dieſes
Thema
eingehen, weil wir deutlich machen wollen, wie der
körperliche
Zuſtand auf die Neigungen der Menſchen und
wieder
die Neigungen auf die körperlichen Zuſtände von Ein-
fluß
ſind.
Schon die Wirkungen der Speiſen und Getränke auf den
Geiſt
beweiſen den innigen Zuſammenhang und die Wechſel-
wirkung
zwiſchen Geiſt und Stoff.
Es iſt eine bekannte Er-
fahrung
, daß der Hunger zornig macht, daß die Sättigung be-
ſänftigend
auf den Geiſt wirkt, aber ihm auch zugleich eine
gewiſſe
Trägheit giebt, welche die Urſache des ſo gebräuchlichen
Mittagsſchläfchens
iſt.
Ein wenig Wein ermutigt und er-
freut
, wie die Bibel ſagt, des Menſchen Herz;
in Übermaß
genoſſen
bringt er thörichte Vorſtellungen im Gehirn hervor
und
regt dies derart auf, daß eine Abgeſpanntheit darauf er-
folgt
, welche das Gehirn zum Denken unfähig macht und es
zum
Schlaf zwingt.
Die Erklärung dieſer Zuſtände iſt im ganzen nicht ſchwierig.
Man weiß es ſicher, daß das Gehirn ſtets ſauerſtoffhaltiges
Blut
braucht, um thätig ſein zu können.
Unterbindet man die
Schlagadern
am Halſe, die ſolches Blut zum Gehirn führen,
ſo
entſteht Ohnmacht und erfolgt ſehr ſchnell der Tod durch
Blutmangel
.
Beim Hungern tritt Blutmangel ein, und ob-
gleich
man das Gefühl des Hungerns nur vom Magen aus er-
hält
, ſo befinden ſich doch alle Glieder des Körpers in einem
mangelhaften
, unbefriedigten Zuſtand.
In dieſem Zuſtande leidet
auch
das Gehirn und wird in einen gereizten Zuſtand
5244 der den Gedanken bei leichter Veranlaſſung jene heftige Rich-
tung
verleiht, die als Zorn erſcheint.
Bei der Sättigung
ſchwindet
dieſer krankhafte, gereizte Zuſtand des Gehirns, und
es
tritt in den Gedanken ein richtiges Verhalten ein, das ſich
als
Beſänftigung kundgiebt.
Da aber nach einer ſtarken Mahlzeit nicht ſofort aller
Speiſeſaft
des Darmes in wirklich vollendetes Blut ſich ver-
wandeln
kann, ſo zirkuliert mit dem Blute noch unfertiges
Blut
im Körper, und da dieſes nicht die volle Einwirkung auf
das
Gehirn auszuüben vermag, ſo entſteht nach der Anſicht
einiger
Naturforſcher hieraus jene Ermüdung, die unauf-
gelegt
zum Denken macht, und das Schläfchen herbeiführt, das
nach
dem Mittagseſſen für Viele ſo angenehm iſt.
Gewiſſe Flüſſigkeiten aber, die, wie Wein, Alkohol enthalten,
oder
, wie Kaffee und Thee, einen eigentümlichen Stoff in ſich haben,
welcher
ſich dem Blut beimiſcht und auf das Gehirn anregend
wirkt
(Theobromin), bringen infolge dieſer Anregung bei mäßigem
Genuß
eine erhöhte Thätigkeit des Gehirns, alſo auch eine
leichtere
Erzeugung der Gedanken und Vorſtellungen hervor.
Bei ſtärkerm Genuß, namentlich der Getränke, die Alkohol ent-
halten
, iſt die Thätigkeit des Gehirns ſo ſehr angeregt, daß
die
Gedanken und Vorſtellungen zu ſchnell aufeinanderfolgen,
und
deshalb der einzelne Gedanke nicht feſtgehalten werden
kann
.
Es entſteht jene Verwirrung im Kopfe, die dem Rauſche
vorangeht
, bis dieſer vollſtändig wird und in Tobſucht aus-
artet
, worauf dann jene Abſpannung folgt, die allenthalben in
den
lebenden Organen eintritt, wo eine zu ſtarke Thätigkeit
vorangegangen
iſt.
Aus dieſen Beiſpielen ſieht man, wie Stoffe auf den Geiſt
wirken
;
in dieſen Fällen kommt die Einwirkung von äußern
Stoffen
, die in den Körper eingebracht werden und ins Blut
übergehen
.
Es giebt aber auch Fälle, wo dieſe Einwirkung
eine
mehr innerliche iſt, und dieſe tritt ein, wenn irgend
5345 Organ des Leibes in einem krankhaften oder heftig errregten
Zuſtand
iſt.
Das Gehirn ſteht nämlich in dreifacher Verbindung mit
jedem
Organ des Leibes.
Erſtens gehen Nervenfäden vom
Gehirn
nach jedem Teil des Leibes, die einesteils die Bewe-
gung
des Gliedes, andernteils die Ernährung und innere
Thätigkeit
desſelben veranlaſſen.
Zweitens gehen andere Nerven-
fäden
zurück von allen Teilen des Leibes zum Gehirn, welche
die
Empfindung und das Gefühl dorthin leiten.
Drittens
zirkuliert
alles Blut durch den ganzen Körper, und es kommen
alſo
Blutteilchen nach dem Gehirn, die vor kurzem ſich in den
verſchiedenen
Teilen des Körpers befunden haben.
Auf dem Wege dieſer dreifachen Verbindung geſchieht die
Einwirkung
des leiblichen Zuſtandes auf das Gehirn, auf die
Gedanken
, die Vorſtellungen derſelben oder einfacher:
auf den
Geiſt
.
Es kann ſich ein Glied in einem krankhaften Zuſtand durch
irgend
welche innerliche oder äußerliche Urſache befinden;
dieſer Zuſtand kann die Ernährung dieſes Teiles unterdrücken,
und
ſomit die Ernährungsuerven lähmen oder außer Thätig-
keit
ſetzen.
Dieſe Nerven wirken auf das Gehirn zurück und
verurſachen
hier Störungen der geſunden Thätigkeit, und alſo
auch
Veränderungen auf den Geiſt.
Es kann auch anderer-
ſeits
in einem Gliede eine Partie Gefühlsnerven krankhaft er-
griffen
ſein, und dies wird Schmerz im Gehirn verurſachen,
der
, wie aller Welt bekannt, einen ſehr ſtarken Einfluß auf
den
Geiſt hat.
Es kann aber auch bei Eiterungen oder Ent-
zündungen
das Blut, das durch das kranke Glied wandert, ſo
verändert
werden, daß es ſtörend auf das Gehirn einwirkt,
wenn
es auf ſeiner Rundreiſe durch den Körper dort ankommt,
und
kann ſonach Erregung und Abſpannung verurſachen, eine
Einwirkung
auf die Vorſtellungen und Gedanken ausüben,
die
Phantaſien, Fieberträume und Beſinnungsloſigkeit zur
5446 haben können. In den meiſten Fällen wirken die kranken Or-
gane
durch alle drei Wege auf das Gehirn und rufen hier
einen
Zuſtand hervor, der zu dem Ausſpruch berechtigt, daß
ein
kranker Leib auch kranken Geiſtes iſt.
So wirkt der Leib auf den Geiſt; wir wollen nunmehr
ſehen
, wie der Geiſt auf den Leib wirkt.
XIV. Geiſt und Leib.
In vereinzelten Beiſpielen haben wir bereits gezeigt, wie
oft
und wie entſchieden der Geiſt auf den Leib einwirkt;
hier
jedoch
wollen wir die nähere Beziehung zwiſchen beiden feſtzu-
ſtellen
ſuchen, um zu dem zu gelangen, was wir eigentlich
deutlich
zu machen haben, zu der merkwürdigen Erſcheinung
der
Charaktere und der Temperamente.
Der entſchiedene Einfluß des Gehirns auf den ganzen
Körper
iſt allbekannt.
Das Gehirn iſt der Sitz all’ unſerer
Sinnesempfindungen
;
es iſt zugleich die Quelle, von welcher
unſere
willkürlichen Bewegungen ausgehen.
Da es aber auch
das
Organ unſerer Vorſtellungen und Gedanken iſt, ſo liegt
ſchon
in dieſem Umſtand hinlänglicher Grund zu der Annahme,
daß
, wenn das Gehirn mit Gedanken und Vorſtellungen ſehr
beſchäftigt
iſt, es gewiſſermaſſen nicht recht Zeit hat, um ſeine
anderweitigen
Arbeiten zu verrichten und ſomit in ſeiner Ein-
wirkung
auf den Leib gehemmt iſt.
Allein dies wäre noch
keineswegs
eine wirkliche Einwirkung des Geiſtes auf den Leib;
es wäre nur eine Störung der leiblichen Thätigkeit des Gehirns,
wenn
dies geiſtig angeſtrengt oder heftig ergriffen iſt.
Wenn
wir
mitten auf der Straße plötzlich ſtill ſtehen, weil uns ein
neuer
Gedanke durch den Kopf geht;
wenn wir vor Verwunde-
rung
oder vor Schreck einen Augenblick ſtarr ſtehen
5547 und ſelbſt zu atmen vergeſſen, ſo iſt hierzu nicht nötig, die
direkte
Einwirkung des Geiſtes auf den Leib anzunehmen,
ſondern
wir können dies dem Umſtand zuſchreiben, daß das
Gehirn
in ſolchen Momenten ſo eingenommen iſt von ſeiner
Gedankenfabrikation
, daß es in ſeinem Leibesregiment eine
Pauſe
machen muß.
In gleicher Weiſe läßt ſich’s erklären,
weshalb
Verliebte keinen Hunger verſpüren, weshalb auch
Traurige
körperlichen Schmerz nicht empfinden, weshalb eine
heitere
Stunde ein leibliches Unwohlſein vergeſſen machen kann.
Anderer Art aber iſt das, was wir jetzt darzulegen haben,
denn
hier iſt eine direkte Einwirkung des Geiſtes auf den Leib
unverkennbar
, wenngleich auch dies höchſt wahrſcheinlich durch
Vermittelung
des Gehirns und der Nerven geſchieht.
Wir haben in dem Abſchnitt über den Hypnotismus ge-
ſehen
, daß Einbildungen Menſchen krank und auch wiederum
von
wirklichen Übeln geſund machen können.
Einbildungen ſind
aber
unbegründete Vorſtellungen im Gehirn;
wie und in welcher
Weiſe
ſolche Vorſtellungen die leibliche Gehirnthätigkeit und
die
Nervenzuſtände beherrſchen und ſelbſt auf Organe einwirken
können
, die dem Willen der Menſchen gar nicht unterworfen
ſind
, das iſt eine Frage, die noch keineswegs ganz klar be-
antwortet
werden kann.
Man kann von den Medikamenten vieler einſichtigen Ärzte
ohne
Übertreibung ſagen, daß mehr als Zweidrittel derſelben
durch
bloße Einbildung wirken.
Der Ausſpruch eines berühmten
Berliner
Klinikers iſt bekannt, daß ein Arzt ſeine ſämtlichen
wirklichen
Medikamente in der Weſtentaſche tragen könnte.
Die
Einbildung
reicher Patienten geht oft ſo weit, daß ſie wirklich
nur
nach einer teuern Medizin geſund werden, und ſelbſt Arme
fühlen
eine Beſſerung, wenn ſie für mehrere Groſchen ein ganz
beliebiges
Tränkchen aus der Apotheke erhalten, das ſie ſich
womöglich
zu Hauſe für ein paar Pfennige hätten ſelbſt zu-
ſammenſtellen
können.
5648
Aber nicht nur hierin, ſondern auch in andern Erſcheinungen
giebt
ſich die Einwirkung des Geiſtes auf den Leib, und zwar
in
noch entſchiedenerem Maße kund.
Von dem ſogenauntenVerſehen” der Schwangern wollen
wir
hier nicht ſprechen.
Das Urteil der berühmteſten Natur-
forſcher
ſteht hierüber feſt, daß dies nur ein Aberglaube iſt.
Es ſtehen jedoch andere Thatſachen ganz außer Zweifel, die
es
beweiſen, wie der geiſtige Zuſtand der Mutter auf das
Kind
ihres Schoßes von leiblichem Einfluß iſt;
wie Gram
und
tiefe Beſorgnis, Ärger und geiſtiger Schmerz ſchädlich
auf
die Entwickelung des Kindes einwirken.
Schreck, Augſt
und
Zank kann die Milch der Amme derart verändern, daß
das
Kind ſie nicht verträgt.
Heiterkeit und Zufriedenheit macht
nicht
nur die Amme geſund, ſondern auch das Kind.
Noch ausgeſprochner iſt die Wirkung des Geiſtes auf das
leibliche
Befinden beſtimmter Organe in anderen Fällen.
Die Vorſtellung einer angenehmen Speiſe wirkt ſchon auf
die
Speicheldrüſen und läßt den Speichel reichlicher abſondern.
Es giebt wenige Menſchen, die an Zitronenſäure denken köunen,
ohne
daß ihnen ſozuſagen das Waſſer im Munde zuſammen-
läuft
.
Sehr empfindliche Frauen bekommen leicht Zahnweh,
wenn
ſie über Zahnweh klagen hören.
Liebende Mütter fühlen
die
Milch heftiger zur Bruſt ſtrömen, wenn ſie das Kind ver-
langend
nach der Bruſt ſuchen ſehen.
Wollüſtige, unzüchtige
Vorſtellungen
und Erzählungen vermehren Abſonderungen.

Perſonen
, die im allgemeinen an Nervenverſtimmung leiden,
können
ſich wirkliche Leber- und Herz-Krankheiten zuziehen
wenn
ſie an dieſe Krankheiten denken und ſich gewiſſe Vor-
ſtellungen
davon machen.
Junge Studenten der Medizin
auch
wenn ſie nicht ſehr phantaſtiſcher Natur ſind, leiden oft
gerade
an den innern Organen, mit welchen ſie ſich in der
Anatomie
beſchäftigen.
Ja ein berühmter Arzt, der über
Herzkrankheiten
ſchrieb, fing an, an Pulsunterbrechungen
5749 leiden, als er zu innig über dieſen Krankheitszuſtand nach-
dachte
.
Das Alles ſind unzweifelhafte Thatſachen, die dar-
thun
, wie reine Vorſtellungen auf den Leib einwirken.
Wir ſehen: der Geiſt wirkt auf den Leib und der Leib
auf
den Geiſt, und aus beiden werden wir das entſtehen ſehen,
was
man Charakter und Temperament nennt.
XV. Charakter und Temperament.
Es iſt nach dem bereits Geſagten natürlich, daß die
Menſchen
weit verſchiedener im Charakter und Weſen ſein
müſſen
, als irgend welche einzelnen Tiere einer und derſelben
Gattung
.
Würden bei dem Menſchen die Neigungen die
Natur
der Inſtinkte haben, ſo würden die Menſchen ſamt und
ſonders
nur einen beſtimmten Charakter beſitzen.
Die Freiheit
der
Neigungen bringt es beim Menſchen mit ſich, daß das,
was
er thut, erſtrebt oder wünſcht, in ſehr gemiſchten Gefühlen
der
Luſt, in ſehr verſchiedenem Grade der Heftigkeit bei ihm
vorgeht
.
Der Menſch kann durch freien Willen ſeinen Nei-
gungen
, ſie mögen gut oder übel geartet ſein, Schranken auf-
erlegen
, und in ſolcher Weiſe geiſtig auf ſich einwirken, daß
ſelbſt
ſeine leiblichen Naturanlagen ſich ſeinem Willen unter-
werfen
.
Aus dieſer Einwirkung des Geiſtes auf die Neigungen und
Beſtrebungen
der Menſchen bilden ſich wiederholte Lebensregeln
für
den Einzelnen aus, entſtehen Grundſätze, die oft für die
Dauer
ſeines Lebens gültig bleiben, und ſo treten Charakter-
züge
hervor, die einem beſtimmten Menſchen ein Gepräge geben.
Wer ſeinen Freund oder Feind genau beobachtet und Ge-
legenheit
gehabt hat, die Züge ſeines Charakters kennen zu
lernen
, der kann faſt mit Sicherheit vorausſagen, wie
5850 ſich in einer fraglichen Angelegenheit benehmen wird. Der
Charakter
entſteht eben aus dem beſtimmten Einfluß, den der
Geiſt
eines Menſchen auf ſein ganzes Leben ausübt;
wer dieſen
Geiſt
eines charakterfeſten Menſchen beurteilt, der wird wiſſen,
was
er ihm Gutes oder Übles zutrauen kann;
denn beim Cha-
rakter
herrſcht der Geiſt vor, und meiſt in ſolchem Maße, daß
er
beſtimmend auf die Neigungen einwirkt.
Bei den Temperamenten ſcheint uns das Gegenteil der
Fall
zu ſein.
Charaktere bilden ſich aus Geiſtesſtärke, aus Entſchieden-
heit
des Willens heraus;
Temperamente haben einen Urſprung
in
dunkleren Neigungen und dieſe, die Neigungen, überwiegen
dann
die Geiſteskraft.
Daher giebt es gute und böſe Cha-
raktere
, wie es einen guten und einen böſen Willen giebt;
aber
keine
böſen oder guten Temperamente, ſondern angenehme oder
widerſtrebende
.
Das Temperament kann man ſich kaum an-
gewöhnen
und mit Willen geben;
es liegt in dem Gebiet der
dunklen
Neigungen, die oft in der Leibesbeſchaffenheit ihren
Grund
haben, und von denen man ſich ſonſt gar nicht losſagen
kann
.
Die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Menſchen in
Bezug
auf Geiſtesſtärke macht es, daß es außerordentlich viel
verſchiedene
Charaktere giebt, und bei weitem mehr noch
gemiſchte
Charaktere, ſo daß die meiſten Menſchen kein be-
ſtimmtes
charakteriſtiſches Gepräge beſitzen.
Ein Gleiches iſt
bei
den Temperamenten nicht der Fall.
Bei den Tempera-
menten
, wo der Geiſt von geringem gebieteriſchen Einfluß iſt und
meiſt
von den Neigungen unwiderſtehlich beherrſcht wird, fehlt
jene
Mannigfaltigkeit, ſo daß man Temperamente in vier Haupt-
gattungen
einzuteilen imſtande war und man fa ſt von jedem
Menſchen
ſagen kann, welchem Temperamente er ſich zuneigt.

Über
den Charakter eines und desſelben Menſchen iſt man
nicht
ſelten in Zweifel und in heftigem Streit mit vielen
5951 Beurteilern; über das Temperament eines Menſchen einigen
ſich
die Urteile ſehr leicht.
Freilich wird man vielfach finden,
daß
bei einem Menſchen auch 2 Temperamente gemiſcht auf-
treten
können.
Man darf ſich daher auch nicht wundern, daß man ſchon
in
alten Zeiten die vier Temperamente erkannte und ſie in
ſanguiniſche
, phlegmatiſche, choleriſche und melancholiſche ein-
geteilt
hat;
eine Einteilung, die von den vorzüglichſten Natur-
forſchern
noch heutigen Tages beihehalten wird und die
Johannes Müllervortrefflich”, jaunverbeſſerlich” nennt.
Es läßt ſich zwar nicht mit Sicherheit ſagen, daß die
Temperamente
aus der leiblichen Beſchaffenheit der Menſchen
herrühren
;
aber man darf vermuten, daß die leibliche Be-
ſchaffenheit
dennoch in einem noch nicht näher gekannten Ver-
hältnis
zum Temperament ſteht und auf dieſes Einfluß ausübt.
Es fehlt nicht an heitern Sanguinikern, die fett und drall
werden
, ohne ihre Leichtigkeit in Bewegung und Weſen zu
verlieren
;
gleichwohl werden die meiſten Sanguiniker eher mager
als
fett ſein.
Es fehlt nicht an magern Menſchen von entſetz-
lichem
Phlegma;
aber die bei weitem meiſten Phlegmatiker ſind
zum
Fettwerden angelegt.
Choleriſche Menſchen ſind nicht
immer
knochig, ſtarkſehnig und von gelblicher Hautfarbe;
aber
gleichwohl
hat der auffahrende, heftige, herrſchſüchtige und
rachgierige
Menſch wenig Anlage zum geſunden Ausſehen.
Der melancholiſche Menſch hat oft ein ganz geſundes Ausſehen,
gleichwohl
tragen die Züge die Kennzeichen eines Unterleibs-
oder
Gehirnleidens, das in der Regel auch wirklich vorhanden iſt.
Möglich iſt nun, daß die Temperamente nicht direkt von
den
Leibesbeſchaffenheiten, die wir angeführt haben, herrühren,
ſondern
daß umgekehrt die Leibesbeſchaffenheit in dem vor-
herrſchenden
Temperament ihren Grund hat.
Es iſt daher
zweifelhaft
anzugeben, wo die Quelle der Temperamente iſt,
wenn
man auch zugeben muß, daß ein Zuſammenhang
6052 Erſcheinungen mit der körperlichen Beſchaffenheit wahrſchein-
lich
iſt.
Da aber in den Temperamenten ganz entſchiedene Nei-
gungen
zum Vorſchein kommen, ſo wollen wir zu einer nähern
Betrachtung
der einzelnen Temperamente ſchreiten.
XVI. Das ſanguiniſche und das choleriſche
Temperament.
Nach den Reſultaten der gründlichſten Naturforſcher beruhen
die
Temperamente auf zwei Eigentümlichkeiten:
auf der Energie
des
Nervenſyſtems überhaupt und den Einflüſſen der leiblichen
Beſchaffenheit
auf die Neigungen insbeſondere.
Menſchen, in deren Nervenſyſtem eine heftige Energie
vorhanden
iſt, haben Anlage entweder zum ſanguiniſchen oder
zum
choleriſchen Temperament.
Sind bei einem ſolchen Menſchen
die
Neigungen ſehr mannigfaltig, ſo wechſeln ſie ſchnell ab, und
der
Menſch wird ein ſanguiniſches Temperament beſitzen;
haben
jedoch
bei einem ſolchen Menſchen die Neigungen nur einen
kleinern
Kreis, ſo wird der Menſch ſeine heftige Energie nur
auf
einzelne ausgeprägte Neigungen richten, und er iſt in dieſen
heftig
und rückſichtslos:
er wird ein Choleriker.
Mangelt es indeſſen dem Nervenſyſtem an Energie, ſo iſt
die
Anlage entweder zum Phlegma oder zur Melancholie
vorhanden
.
Das Phlegma entſteht, wenn die leibliche Be-
ſchaffenheit
geſund iſt, und deshalb die Neigungen nicht aus-
geprägt
und heftig nach einer Richtung vorhanden ſind.
Die
Melancholie
entſteht, wenn zum Mangel an Energie eine
krankhafte
Anlage im Körper vorhanden iſt, die den Neigungen
einen
ſelbſtſüchtigen, nach Zufriedenheit ringenden
6153 verleiht, und dadurch das Streben erweckt wird, in einen
zufriedenſtellenden
Zuſtand zu gelangen, ohne daß die Energie
da
iſt, ſich dieſen zu ſchaffen.
Der ſanguiniſche Menſch beſitzt eine Energie bei wechſelnden
Neigungen
.
Er wird daher durch eine ſchnell eintretende Neigung
leicht
erregt, aber nur auf kurze Dauer.
Er iſt zu keiner guten,
nur
mit Anſtrengung und Konſequenz durchzuführenden Thätig-
keit
ſähig;
aber auch zu keiner ſchlechten Handlung geeignet,
wenn
ſie eine dauernde Konſequenz erfordert.
Der Sanguiniker
wird
von einer Neigung leicht hingeriſſen und iſt imſtande,
eine
plötzliche Energie zu entwickeln, die das Maß der ge-
wöhnlichen
Kräfte überſchreitet;
aber nach der erſten geſtillten
Energie
kann die entgegengeſetzte Neigung Platz greifen, und er
wird
mit demſelben Eifer das Gegenteil von dem thun, was
er
eben vorher gethan.
Er iſt heftig in ſeinen Hoffnungen;
wendet ſich aber ebenſo ſchnell davon ab, wenn ihm ein Hinder-
nis
in den Weg tritt, ſo daß er ſie nur durch anhaltendes
Streben
verwirklichen kann.
Er iſt gutmütig und leicht zu
großen
Opfern geneigt, verſpricht daher mit großer Leichtigkeit
ſeine
Mithilfe dem, der ſeiner Neigung eine beſtimmte Richtung
zu
geben vermag.
Iſt das, was er verſprochen, ſchnell aus-
zuführen
, ſo wird er auch ſein Verſprechen ſofort erfüllen.
Muß
man
ihm aber Zeit laſſen, ſo bemächtigen ſich ſeiner neue
Neigungen
, und er wird ſein Wort zurücknehmen oder umzu-
deuten
ſuchen oder nur mit Unluſt dasſelbe erfüllen.
Der Sanguiniker ſchließt leicht Freundſchaft, giebt ſie aber
auch
leicht auf.
Er wallt leicht auf, aber bereut auch ſehr
leicht
.
Er vertraut ſehr leicht, fühlt ſich aber auch eben
ſo
ſchnell zum Mißtrauen geneigt.
Er faßt leicht Pläne und
traut
ſich Ausdauer zu, ſie auszuführen;
aber er entzückt ſich
ſelber
derart mit dem Plan, daß er ſeinen Genuß in dem
Gedanken
ſchon halb befriedigt hat und ſchlaff wird, wenn er
zur
Ausführung kommt.
Er iſt. nachſichtig gegen die
6254 Anderer; nimmt aber auch für ſeine Fehler die Nachſicht
Anderer
in Anſpruch.
Er entzweit ſich leicht, aber verſöhnt
ſich
auch leicht.
Er iſt ein liebenswürdiger Geſellſchafter, aber
ein
unzuverläſſiger Freund.
Er iſt ein zärtlicher Gatte, macht
ſich
aber der Untreue ſchuldig, wenn die Verhältniſſe ihn nicht
feſſeln
.
Er iſt oft ſcharfſinnig im Entwurf, aber fahrläſſig im
Vollbringen
.
Er macht gern alle Menſchen glücklich, aber
ſtürzt
ſie, weil er ſich zu viel aufbürdet, leicht ins Unglück.
Er iſt dichteriſch in ſeiner Anlage, aber ſtößt zu oſt an die
Proſa
des Lebens, die ihm den Mut lähmt.
Die Energie iſt in ſanguiniſchen Menſchen vorherrſchend:
er wechſelt nur mit den Gegenſtänden derſelben und ſpringt
oft
in das Gegenteil deſſen über, was er eben erſt erſtrebt hat.
Anders iſt es bei dem choleriſchen Menſchen der Fall.
Zum Glück für die Menſchheit giebt es wenige Menſchen, die
ausgebildete
, vollendete Choleriker ſind, denn Menſchen mit großer
Energie
und ganz vollendeten, beſtimmt ausgeprägten Neigungen
ſind
für die Freiheit der Nebenmenſchen in hohem Grade
gefährlich
.
In unziviliſierten Zuſtänden ſind es meiſt nicht die
klaren
, einſichtsvollen Köpfe, die die Menſchen hinreißen und
beherrſchen
, ſondern die Naturen, die ihrer eigenen Leidenſchaft
nicht
gebieten und mit Ausdauer und Thatkraft zur Verwirk-
lichung
ihrer Neigungen ſchreiten, jedes Hindernis hinweg-
räumend
, das ſich ihnen in den Weg ſtellt.
Der choleriſche
Menſch
hat oft viel zur Rettung einer ganzen Nation gethan;

aber
bei weitem öfter iſt aus dem Befreier einer Nation ein
Tyrann
derſelben geworden.
Faſt alle großen Kriegshelden
waren
choleriſchen Temperaments und haben, um ihren Zweck
zu
erreichen, Alles niedergetreten, was ſie auf ihrem Wege
ſtörte
.
Faſt immer reißen Menſchen dieſer Art ganze Maſſen
mit
ſich fort und führen ſie zum Sieg oder zum Verderben,
je
nach dem Ziel, das den choleriſchen Menſchen vorſchwebt.

Im Privatleben iſt er zu Zorn gereizt, und weil er
6355 viel überlegt, ſondern ſchnell handelt, wirkt er auch oft zum
eignen
und Anderer Nachteil haſtig und verderblich.
Dabei
jedoch
iſt ſeine Neigung ſo konſequent und ſtachelt ſeine Energie
derart
an, daß er ſelbſt beim Scheitern all’ ſeines Strebens
nicht
belehrt wird, ſondern, mit neuem Zorn und unauslöſchlicher
Rache
erfüllt, jede Gelegenheit benutzt, um ſeinem Plan noch-
mals
nachzugehen.
Im ganzen kann man alſo ſagen, daß die Energie des
ſanguiniſchen
und des choleriſchen Temperaments ſich auf
gleicher
Höhe erhalten können;
nur wechſelt beim ſanguiniſchen
Menſchen
die Neigung, und ſomit erhält ſeine Energie eine
neue
Richtung, während beim choleriſchen Menſchen die Neigung
beharrt
und die Energie nur nach einer ſich gleichbleibenden
Richtung
hinlenkt.
XVII. Das Phlegma und die Melancholie.
Das Phlegma beruht, wie bereits angedeutet, auf einer
im
Nervenſyſtem herrſchenden gemäßigten Energie, wobei
zugleich
die leibliche Beſchaffenheit geſund und die Neigungen
und
Beſtrebungen nicht eine ausſchließliche beſondere Richtung
haben
.
Der phlegmatiſche Menſch iſt ſelten ein Genie, ein Künſtler;
aber er kann in wiſſenſchaftlicher Beziehung Ausgezeichnetes
leiſten
.
Ja, es giebt gewiſſe Gebiete der Wiſſenſchaft, wo es
hauptſächlich
auf Beobachtungen und zwar ſehr ſorgfältig
wiederholte
und mit ungemeiner Geduld und Ruhe behandelte
Beobachtungen
ankommt;
in dieſen Zweigen können Phlegma-
tiker
Ausgezeichnetes leiſten und ſich vorzügliche Verdienſte er-
werben
.
Für Alles, wobei es auf Sorgfalt, ausdauernde
Berechnung
ankommt, und wozu nicht ein energiſches
6456 paßt, wird der Phlegmatiker der zuverläſſigſte Menſch ſein;
und weil er eben ſeine Neigungen nicht leicht wechſelt, ſo wird
er
durch Zeit und Ruhe ſicherer zu ſeinem Ziel kommen als
derjenige
, der ſeinen Zweck auf kürzeſtem und ſchnellſtem Wege
zu
erreichen ſtrebt.
Der Phlegmatiſche bleibt im Privatleben ohne heftige
Begierden
und Leidenſchaften;
ſeine Gemütsbewegungen wie
ſeine
Neigungen tragen ein mäßiges Gepräge;
er bleibt kalt
und
läßt ſich nicht zu Handlungen hinreißen, die er morgen
bereut
.
Er iſt alſo ſicherer, zuverläſſiger für Andere und iſt
für
ſich ſelbſt imſtande, ſeine Erfolge ſicherer zu berechnen.

In
Gefahr und in entſcheidenden Momenten, wo es auf einen
ſchnellen
Entſchluß ankommt, wird der Phlegmatiſche freilich
einen
Augenblick verdutzt ſtehen bleiben, und wenn dann Energie
nötig
iſt, ſo wird er ſich weniger zu helfen wiſſen als der
ſanguiniſche
und noch weniger entſchieden ſein als der choleriſche.
Aber er meidet ſchon vorher meiſt ſolche Gelegenheiten, die ihm
dergleichen
Verlegenheiten bereiten, und wird ſeine Berechnungen
längſt
gemacht haben, um nicht plötzlich überraſcht zu werden.
Der Phlegmatiſche erträgt ſeine Leiden und die Unbill
anderer
Menſchen mit Ruhe.
Er läßt ſich weder von Feind-
ſeligkeit
noch von Liebe allzu ſchnell fortreißen;
er wird aber
die
Treue bewahren und in Not des Freundes ein hilfreicher
Freund
ſein.
Wo es auf Eile ankommt, überholen ihn die
Andern
;
aber er wird ſie darum nicht beneiden, ſondern lang-
ſam
ſeine Pläne und langſam ſeine Saaten reifen laſſen, und
er
kommt in den meiſten Fällen beſſer und erfolgreicher zum
Ziel
.
Der phlegmatiſche Menſch giebt ſich wenig eignen und
fremden
Täuſchungen hin, weshalb er auch eine zufriedene
Stimmung
bewahrt und in Genüſſen ohne Stürme, aber auch
ohne
tiefes Leid dahinlebt.
Sehr merkwürdig iſt es, von ſolchen Temperamenten
ganze
Nationalitäten ergriffen zu ſehen.
Zwei der
6557 Nationen Europas, Frankreich und England, tragen das Ge-
präge
der zwei Haupt-Temperamente.
Frankreich iſt ſanguiniſch;
England iſt phlegmatiſch. Frankreich macht lauter geniale
Streiche
in ſeiner Politik;
aber es iſt nach kurzer Zeit ſchon
genötigt
, ſie in ihr Gegenteil umzuwandeln.
Mit jedem Jahr-
zehnt
faſt kann man in Frankreich eine neue Richtung im
Aufſchwung
ſehen, die die Nation hinreißt.
Aber kaum erreicht
dieſes
Streben einen entſcheidenden Höhepunkt, und es wird
ſofort
von einem Teil bis in alle Überſpanntheit hinaus über-
trieben
, während es ſchon in einem andern Teil verblaßt und
mit
eben ſolcher Energie als ein Verderben gehaßt wird.
Frank-
reich
will ſtets etwas Neues, und wer es ihm nicht bietet, über
den
geht es mit einer Verachtung hinweg, die der Vergötterung
gleicht
, mit welcher ein anderer neuer Götze des Tages ver-
herrlicht
wird.
Das iſt die Natur des Sanguiniſchen.
England iſt phlegmatiſch. Genialitäten und Sonderbar-
keiten
kommen freilich vor, aber ſie erregen niemals einen ſchnell
um
ſich greifenden Enthuſiasmus;
dafür aber iſt die kluge
Vorausſicht
und Berechnung das Erbe dieſer großen Nation,
und
alles, was Fleiß, Ausdauer und ruhiger Scharſſinn nur
Großes
zu ſchaffen vermag, findet in England ſeine Anwendung
und
Ausführung.
Während Deutſchland ſehr gemiſchten Temperaments iſt,
beſitzt
Holland ein noch ausgeprägteres phlegmatiſches Tempe-
rament
;
daher denn das große Handelstalent dieſes kleinen
Volkes
, daher ſeine Selbſtändigkeit und Ruhe, ſeine Mäßigung
und
Leiſtungsfähigkeit, ſeine Sicherheit und Zuverläſſigkeit.
Der Melancholiſche leidet an einer Verſtimmung, weil er
mit
ſeinem eigenen Zuſtand nicht zufrieden iſt.
Er findet nur
Beruhigung
, wenn er an ſein eigenes Mißgeſchick denkt und
ſich
einbil@et, daß es einmal ſein Los iſt, vom Unglück ver-
folgt
zu werden.
In allem, was ihm und andern begegnet,
ſieht
er nur das Trübe, was geeignet iſt, ſeinem Hang
6658 zu geben. Er iſt daher gleich dem Phlegmatiſchen unempfindlich
für
flüchtige Freuden und verſinkt gleich dem Choleriſchen
immer
ſchnell in ſeine Neigung zurück, ſich als ein Weſen zu
betrachten
, das zur Freude nicht geſchaffen iſt.
Er mißtraut
daher
jeder angenehmen Begegnung und ahnt, daß Unheil da-
hinter
für ihn lauert.
Er empfindet die Beleidigung, wo ſie
ihm
gar nicht galt, ſieht ſich zurückgeſetzt, gekränkt und wird
mutlos
, zaghaft, verzweifelnd und gefällt ſich derart in ſeinem
Mißgeſchick
, daß es ihn ärgert, wenn er eine freudige Über-
raſchung
erfährt, und er ſich einbildet, daß man ihn nur habe
freudig
anregen wollen, um ihn durch das Gegenteil zu erinnern,
wie
unglücklich er ſei.
Ob die Melancholie wirklich ein Temperament oder nur
eine
krankhafte Erſcheinung iſt, läßt ſich ſchwer entſcheiden.
Für unſer Thema muß es genügen zu erkennen, wie die geiſtigen
Richtungen
der Menſchen in gewiſſe Klaſſen zu bringen ſind,
und
in dieſe Klaſſen gehören jedenfalls die zwei Haupt-Tempe-
ramente
, das ſanguiniſche und phlegmatiſche, welche wir als
Gepräge
ganzer Nationen wahrnehmen, während das choleriſche
und
melancholiſche nur vereinzelt und möglicherweiſe nur als
krankhafte
Abarten auftreten.
XVIII. Das Rätſel des Todes.
Wir haben vom Leben und ſeinen wichtigſten Erſcheinungen
in
Pflanze, Tier und Menſch geſprochen und wollen nun vom
Ende
, vom letzten Rätſel des Lebens, dem Tode, ein Wort
ſagen
.
Freilich ſpricht man vom Leben lieber, weil das Leben
ſelbſt
den Unglücklichſten mit tiefen, geheimnisvollen Banden
der
Liebe umſchlingt;
vom Gedanken des Todes wendet
6759 ſich gern ab, wie man ſich abwendet von der Erſcheinung des
Todes
.
Wie man es für eine Liebespflicht hält, das Auge der
Leiche
, den Mund, der den letzten Atemzug, den letzten Seufzer
ausgehaucht
, mit ſanfter Hand zu ſchließen, ſo deckt auch der
Unglücklichſte
der Lebenden das eigene Auge vor den Tiefen,
die
der Tod ahnen läßt, und verſchließt ſeinen Mund, um
nicht
von dem zu ſprechen, was das ſicherſte und unver-
meidlichſte
Geſchick alles Lebens iſt.
Gleichwohl jedoch müſſen wir vom Tode ſprechen!
Von den älteſten Zeiten her hat ſich ein Ausſpruch auf
die
Menſchheit vererbt, der noch jetzt als letzte Weisheit des
Lebens
gilt, es iſt der Spruch:
Vom Staube ſtammſt Du,
zum
Staube ſollſt Du zurückkehren! Obwohl jedoch dieſer
Spruch
ſich durch Jahrtauſende erhalten hat, ſo iſt er doch das
nicht
, was man verſucht hat, naturwiſſenſchaftlich aus ihm zu
machen
.
Auch naturwiſſenſchaftlich hat man gemeint, daß der Tod
nur
darum erfolge und erfolgen müſſe, weil die Stoffe, die
den
Leib des Menſchen bilden, zurückzukehren beſtimmt ſind in
das
Reich einer ewig wandernden und wandelnden Natur.
Man ſtelle ſich vor, daß der Menſch während ſeines Lebens
ſeinen
Leib geliehen habe von den Stoffen der Erde, und daß
die
Erde dieſes Darlehen zurückfordere, und dem Leben ſein
Ziel
und Ende ſetze.
In Wahrheit jedoch iſt dieſe Auffaſſung eine falſche
Sollte
der Menſch nur deshalb ſterben müſſen, weil der Staub
zum
Staube, weil der Stoff nach einer unwiderſtehlichen Ge-
ſetzlichkeit
wieder zum lebloſen Stoffe werden muß, ſo müßte
das
Leben gerade nicht aufhören, denn jene Schuld, jenes
Darlehen
zahlen wir in jedem Augenblick des Lebens ab und
verſagen
unſere Abzahlung vom erſten Moment des Daſeins
bis
zum letzten der Atemzüge nicht, weil wir eben leben wollen
und
müſſen
6860
Der Menſch braucht nicht zu ſterben, um die Stoffe wieder
der
lebloſen Natur zurückzuerſtatten, denn er ſtattet ſie mit jedem
Aushauchen
ſeines Atems, mit jedem Tröpfchen Schweiß, mit
jeder
Ausſcheidung ſeines Leibes zurück;
der Stoff wechſelt
fortwährend
in ihm, und er vermag auch lebend nicht der
Natur
zu verſagen, was ſie von ihm zu fordern hat.
Der Tod iſt auf ein anderes Geſetz gegründet; er liegt in
der
Natur des Lebens ſelber.
Vom erſten Moment ab, wo ein Keim im Mutterſchoß
zum
Leben befruchtet wird, iſt ihm der einſtige Tod ſchon mit
eingeboren
.
Leben und Tod ſind nicht zwei entgegengeſetzte
Erſcheinungen
des Stoffes, ſondern ihr Zuſammenwirken iſt
zum
Leben gerade notwendig.
Der zarte Keim im Mutterſchoße, der von dem Blute der
Mutter
ernährt wird, erhält von dieſem den Stoff, um ſich
auszubilden
;
aber der Keim giebt auch ſofort einen verbrauchten
Teil
des Stoffes dem Blute der Mutter zurück.
Schon im
Beginn
des Lebens ſtirbt ein Blutteilchen, das eben erſt gelebt
hat
, ſchnell wieder ab.
Es weilt nur kurze, vielleicht nur
außerordentlich
kurze Zeit lebend im Körper, und kaum hat es
den
Stoff zum leiblichen belebten Weſen gebildet, ſo kehrt es
ſofort
zurück, um als tot aus dem Körper ausgeſchieden zu
werden
.
Das, was wirbelebt ſein” nennen, findet nur in
der
äußerſt kurzen Zeit ſtatt, die zwiſchen der unaufhörlichen
Bildung
des Leibes und der unaufhörlichen Rückbildung des-
ſelben
liegt.
Was wir in dieſem Augenblick eſſen, iſt ſchon
bei
der Berührung mit dem Speichel chemiſch verändert worden.
Es ſendet vom Magen aus ſchon den flüſſigen Teil ins Blut.
Es
verwandelt ſich im Darm ſchon in Speiſeſaft, der, als
Blut
verwandelt, zum Herzen wandert.
Es zirkuliert von hier
aus
nach den Lungen, um einen Teil, der ſchon abgeſtorben iſt,
auszuatmen
, und einen Teil, der noch weitere Verwandlungen
zu
machen imſtande iſt, mit Sauerſtoff zu ſättigen.
Von
6961 Lungen kehrt das Blut, lebensfähiger geworden, zum Herzen
zurück
, um in den Adern durch den ganzen Körper ohne Ruhe
getrieben
zu werden.
Ein Teil davon bildet Nerven, Knochen,
Muskeln
, Sehnen und andere Dinge des Leibes, und ein
anderer
Teil iſt wiederum ſchon im Begriff als Schweiß, als
Atem
und ſonſtige Ausſcheidung tot aus dem Körper zu
wandern
.
Selbſt derjenige Teil, der leiblich belebten Stoff
bildet
, ruht hier nicht, denn ſchon eilt ein neues Blutteilchen
hinzu
, um dieſes eben erſt entſtandene Leben zu verdrängen, als
tot
zu beſeitigen, und ſich ſelbſt als lebendes Gebilde an die
Stelle
zu ſetzen.
So findet denn ein ewiges Entſtehen und
Vergehen
, ein ewiges Bilden und Abſterben, ein fortwährendes
Wandern
, ein fortwährendes Wandeln, ein unausgeſetztes Be-
leben
, ein unausgeſetztes Töten im Körper ſtatt, ein ununter-
brochenes
Wechſeln des Stoffes, ein Wechſeln, das, ſo lange
es
ſtattfindet, eben als Erſcheinung des Lebens hervortritt.
Von dieſen erſt in der neueren Zeit genauer erkannten
Zuſtänden
geleitet, haben berühmte Männer der Wiſſenſchaft
das
Leben ſelber nur als Stoffwechſel betrachtet und in dieſem
Stoffwechſel
das große Geheimnis des Lebens zu finden ge-
glaubt
.
Allein ſo beliebt dieſe Lehre in der jünſten Zeit geworden
iſt
, ſo wenig haltbar iſt ſie, wenn wir auf den Vorgang des
Lebens
den Blick richten.
Wäre das Leben nichts als ein
Wechſel
des Stoffes, ſo wäre Ausgabe und Einnahme ſtets
gleich
;
es wäre das nicht möglich, was wir Wachstum nennen;
es wäre auch das nicht vorhanden, was wir als Rückbildung
des
ganzen Leibes kennen lernen werden;
es wäre endlich auch
der
Tod des ganzen Körpers nicht vorhanden;
denn es giebt
keinen
Grund, weshalb der Stoffwechſel naturgemäß mit einem
Male
unterbrochen wird, den man als Leben anſieht und ein
chemiſches
Zerfallen ſtatt hat, das eben ſo gut ein Stoffwechſel
genannt
werden kann.
7062
Der Stoffwechſel iſt nicht das gelöſte Rätſel des Lebens,
das
lehrt uns das Rätſel des Todes, von dem wir nunmehr
zu
ſprechen haben.
XIX. Entſtehen und Vergehen.
Der Stoffwechſel iſt nicht das ganze Leben; es ſpielt
vielmehr
hierbei noch etwas eine Rolle, für welches man noch
keine
genügende Erklärung gefunden hat.
Der Leib macht ein fortwährendes Tauſchgeſchäft; er
nimmt
in Speiſe und Atem neuen Stoff ein, und giebt in
Atem
, Schweiß, Ausdünſtung und Ausſcheidung abgenutzten,
abgelebten
Stoff aus.
Allein das Tauſchgeſchäft iſt natur-
geſetzlich
während der Lebenszeit ſehr ungleich.
Es wird in
der
erſten Zeit mit großem Vorteil betrieben, indem die Ein-
nahme
größer iſt als die Ausgabe.
Sodann kommt eine Zeit,
wo
wenigſtens Einnahme und Ausgabe nicht merklich verſchieden
groß
ſind, und man von einem Gleichgewicht des Stoffwechſels
ſprechen
kann.
Endlich kommt eine Zeit, in welcher das Tauſch-
geſchäft
merklich ſchlechter wird.
Der Körper nimmt wenig
auf
, aber giebt doch mehr aus, als er einnimmt.
Er zehrt ab
und
verkümmert bis zur beſtimmten Stunde der Stoff-
wechſel
des Lebens ſtockt und eine andere Stoffveränderung
eintritt
, von der ſich der Lebende mit tief innerſter Er-
ſchütterung
abwendet.
Es iſt deutlich, daß wir unter der Verſchiedenheit des
Tauſchgeſchäftes
nichts anderes gemeint haben, als die Ver-
ſchiedenheit
des Lebens in der Iugend, dem reifen Alter und
im
Greiſentum.
In der Iugend iſt der Stoffwechſel lebhaft,
und
er iſt naturgemäß ſo eingerichtet, daß der Körper in allen
ſeinen
einzelnen Teilen zunimmt.
Wäre das Leben nur
7163 wechſel und nichts weiter, ſo würde der kleine Keim beim
Überſchuß
der Einnahme auch wachſen, aber ſich nicht ver-
ändern
, und zu einem ganz andern Dinge ausbilden.
Nach
einem
Naturgeſetz aber, das durchaus unbekannt iſt, wächſt
nicht
nur der Keim, ſondern es wird ein lebendes Weſen
daraus
, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem Keime hat.
Es
wächſt
nun das lebende Weſen in allen ſeinen Gliedern nach
beſtimmten
Geſetzen, bis zu einer gewiſſen Zeit, und es tritt
ſodann
eineRückbildung” ein;
aber nicht etwa eine ſolche
Rückbildung
, daß aus dem Weſen nach und nach wieder das
wird
, was es früher war, ein bloßer Keim, ſondern eine
Rückbildung
, die man auch eine Fortbildung nennen kann;
denn es iſt ein Fortbilden, ein Reifen in dem Greiſenalter
vorhanden
:
ein Reifwerden für den Tod.
Es iſt bekannt, daß der Tod durch äußere Urſachen auch
während
der Kindheit und der Iugend erfolgen kann.
Wahr-
ſcheinlich
iſt alle Krankheit oder innere Mißbildung nur die
Folge
äußerer Einflüſſe.
Selbſt wo eine Krankheit oder eine
Mißbildung
bereits bei der Geburt an einem Weſen haftet,
kann
man dies immer noch äußeren Einflüſſen zuſchreiben, die
bereits
im Mutterleibe eingewirkt haben.
Sogar die Vererbung
gewiſſer
Krankheiten kann als äußerlich angeſehen werden.
Von dieſen Todesurſachen, die das Leben abkürzen und vor-
zeitig
beenden, ſprechen wir hier nicht.
Wir ſprechen nur von
jener
Todesurſache, die naturgemäß eintritt, ſelbſt wenn wir
die
Möglichkeit, jede äußere Störung des Lebens meiden zu
zu
können, vorausſetzen, von jener Urſache, die uns die Über-
zeugung
gewährt, daß nichts ſicherer iſt im Leben als der Tod.
Dieſer Tod hat ganz unzweifelhaft ſeine innere Urſache.
Es liegt dieſes Ende des Lebens bereits im erſten Moment,
in
welchem das Leben beginnt.
Ein Naturgeſetz, das wir
nicht
kennen, beherrſcht jeden Keim, daß er ſich unter günſtigen
Umſtänden
zu einer Leibesfrucht entwickele.
Dasſelbe
7264 geſetz iſt es höchſt wahrſcheinlich, welches in der entwickelten
Frucht
den Lebenstrieb anfacht, im Tiere als Inſtinkt zur
Erſcheinung
kommt, im Menſchengeiſt als Lebensliebe auftritt.
Dasſelbe Naturgeſetz teilt auch die ganze Lebenzeit in drei
ziemlich
deutliche Abteilungen und verleiht jedem dieſer Lebens-
abſchnitte
ſein ganz beſtimmtes Gepräge, ſeine ganz beſtimmte
Aufgabe
und bereitet ſo das Ende ſchon im erſten Anfang vor.
Iugend, Reiſheit und Alter giebt ſich in der lebloſen
Natur
nicht zu erkennen.
Wir wiſſen zwar, daß die Erde
ſelber
verſchiedene Zuſtände bereits durchgemacht hat;
allein
nichts
läßt mit Sicherheit darauf ſchließen, daß die Erde
deshalb
gealtert ſei, daß ſie nicht in ewiger Entwickelung und
Veränderung
ihrer Zuſtände verbleiben wird, ohne jemals ab-
zuſterben
.
Anders iſt es in den Weſen, die lebend auf der
Oberſtäche
der Erde ihr Daſein haben.
Die Pflanze hat eine
Iugend
, ſie hat eine Zeit der Blüte, eine Zeit der Reife ihres
Samens
, eine Zeit des Abfallens, des Melkens, des Sterbens;
das Tier und ganz in gleicher Weiſe der Menſch hat ſein
Entſtehen
und ſein Vergehen;
ja in ihrem Entſtehen zu einer
beſtimmten
Zeit liegt auch das Geſetz des Vergehens in einer
beſtimmten
Zeit.
Die Naturwiſſenſchaft vermag es nicht anzugeben, woher
die
eine Pflanze nur eine kurze, die andere eine lange Lebens-
dauer
hat;
weshalb es Pflänzchen giebt, die im erſten warmen
Sonnenſtrahl
entſtehen und inmitten des Frühlings, wo andere
Gattungen
erſt zu einem langen Daſein erwachen, ſchon ver-
gehen
.
Nur ſoviel hat die Beobachtung gelehrt, daß die
Pflanze
an Kraft und Fülle zunimmt bis zu der Zeit, wo ſie
befruchtet
iſt und neuen Samen für eine Nachkommenſchaft
ausſtreut
, und daß ſie erſt dann verdorrt und abſtirbt, wenn
ſie
durch ihr Leben das Daſein künftiger Geſchlechter ge-
ſichert
hat.
Es iſt mit dem Tier nicht minder ſo. Die Zeit des
7365 lebens, ſo verſchieden die Dauer jeder einzelnen Gattung auch
iſt
, läßt ſich in jene drei Abſchnitte einteilen, von denen der
erſte
die Vorbereitung zur Fortpflanzung ſeiner Gattung, die
zweite
die Zeit iſt, in welcher das Tier ſich fortpflanzt, und
die
dritte, in welcher es hinwelkt, ſobald das Daſein der
künftigen
Gattung geſichert iſt.
Der größte Teil der Inſekten,
der
im Frühling aus den Eiern kriecht, hat zwar nie die
Eltern
geſehen, die bereits im verwichenen Herbſt geſtorben
ſind
;
und ſie legen noch im Lauf desſelben Sommers neue
Eier
und ſterben ſelbſt im Herbſte, ohne die Jungen, für die
ſie
gelebt, geſehen zu haben.
Aber doch iſt es unverkennbar,
daß
ein und dasſelbe Geſetz dieſes erziehungsloſen Lebens
durch
alle Geſchlechter dieſer Gattung thätig iſt, daß Entſtehen,
Wachstum
, Reife, Fortpflanzung, Hinwelken und Sterben nach
denſelben
Naturgeſetzen erfolgen, wenn auch Geſchöpfe ſolcher
Art
nie erfahren können, daß ſie Eltern gehabt, und daß ſie
Junge
zu erzeugen da ſind.
Auch im Menſchenleben und was dasſelbe iſt auch
im
Tode der Menſchen waltet ein gleiches Geſetz.
Die Vor-
bereitung
zur Fortpflanzung des Geſchlechts iſt die Iugend, in
der
Zeit des Geſchlechtslebens iſt die Reife, und nach dieſer folgt
naturgemäß
das Alter, das ein Heranreifen für den Tod iſt.
Und doch iſt es mit dem Menſchen ganz eigentümlich; die
leibliche
Fortpflanzung geht mit einer geiſtigen Hand in Hand
und
beweiſt auch hierin, daß der Menſch ein geiſtiges Weſen
iſt
und ſein Leben zugleich eine geiſtige Geſchichte in ſich birgt.
XX. Wie Leib und Geiſt ſtirbt.
Wenn es richtig iſt, daß das Leben in Pflanze und Tier
in
dem Zeitabſchnitt ſeine Hauptbeſtimmung erfüllt, wo die
Fortpflanzung
ſtattfindet, wenn es wahr iſt, daß die Iugend
7466 Pflanzen und Tiere nur eine Vorbereitung zur Reife iſt, in
welche
die Befruchtungszeit fällt, daß der nachfolgende Lebens-
abſchnitt
des Alters nur das langſame Vergehen des Lebens
iſt
, ſobald dieſes ſeinen Zweck erfüllt hat, wenn dies richtig
iſt
, ſo muß man anerkennen, daß ein Gleiches im Menſchen
ebenfalls
ſtattfindet.
Allein es iſt ein Beweis der höheren
Natur
des Menſchen, ein Beweis ſeines geiſtigen Lebens, daß
im
Leben der Menſchengeſchlechter eine geiſtige Fortpflanzung
ſtattſindet
, von der wir ſonſt im Tier- und Pflanzenleben nichts
vorfinden
.
Nicht der Leib des Menſchen allein entwickelt ſich und
zeigt
ein Wachstum bis zur Reife, nicht der Leib des Menſchen
allein
hält nach Entwickelung der Neife im Wachstum inne
und
erfüllt ſeine Naturbeſtimmung in Fruchtbarkeit und Ver-
mehrung
, ſondern auch der Geiſt zeigt dieſelben Lebensgeſetze.
Nicht bloß das leibliche Geſchlecht der Menſchen pflanzt ſich
fort
, ſondern auch das geiſtige Leben iſt in einer Fortpflanzung
begriffen
.
Ganz wie der Körper in dem Iugendalter, welcher ge-
fügiger
und empfänglicher iſt für äußere Einflüſſe und Ein-
drücke
, ganz ſo iſt es mit dem Geiſte im Iugendalter der
Fall
.
Das Kind nimmt im Mutterleibe von der Größe
eines
zu Anfang kaum ſichtbaren Bläschens bis zu der Größe
des
neugeborenen Kindes in ungeheurem Maße zu, ſo daß es
faſt
ſieben Pfund ſchwer auf die Welt kommt.
In dem erſten
Jahre
ſchon wird es an dreimal ſo ſchwer und wiegt an
zwanzig
Pfund.
Hätten wir eine Wagſchale, auf welcher man
die
geiſtige Fähigkeit ebenſo wiegen könnte als die leibliche
Größe
, es würde ohne Zweifel das geiſtige Wachstum des
erſten
Jahres noch bedeutender in die Wagſchale fallen.
Dieſes
geiſtige
Wachstum iſt nur dem menſchlichen Körper eigen;
das
junge
Tier hat eine Portion von Fähigkeiten bei der Geburt
erhalten
, die ſich weiterhin nicht oder nur wenig verſtärkt.
7567
Während im erſten Jahre die Körperzunahme ſo ſtark iſt,
beginnt
ſie ſich in den weitern Jahren der Kindheit zu
verlangſamen
.
Aus einem Kinde von ſieben Pfund Gewicht
iſt
in einem Jahre ein Kind von einundzwanzig Pfund ge-
worden
.
Würde dies ſo fortgehen, ſo müßte ein Kind im
dritten
Jahre wieder dreimal ſo ſchwer, alſo etwa ſechszig Pfund
an
Gewicht werden.
Allein die Erfahrung lehrt, daß es bis
zum
vierzehnten Jahre etwa dauert, bevor ein Kind ſolches
Gewicht
erhält;
es war alſo das Wachstum im erſten Jahre
am
kräftigſten und wurde in den weiteren Jahren des Kindes-
alters
ſchwächer.
Jetzt jedoch während der heranwachſenden Reife und ge-
ſchlechtlichen
Ausbildung des Körpers tritt wiederum ein kräftiger
Anſatz
zur körperlichen Entwickelung hervor.
Vom fünfzehnten
bis
zum zwanzigſten Jahre hat ſich das Gewicht des Menſchen
verdoppelt
, er hat in den fünf Jahren wiederum an ſechszig
Pfund
zugenommen, und wiegt nun etwa 120 Pfund;
es war
dieſes
kräftige Wachstum der zweite Aufſchwung der leiblichen
Entwickelung
.
Demſelben jedoch folgt nun wiederum nur ein
ſchwächeres
Wachstum;
denn in den nächſten zwanzig Jahren
nimmt
er im gewöhnlichen Zuſtand kaum mehr als zehn Pfund
zu
, und mit dieſer Zunahme iſt das Wachstum beendet und
nimmt
wahrſcheinlich ſchon die Rückbildung ihren unmerklichen
Anfang
.
Während der Menſch im fünfzigſten Jahre noch
etwa
ſo ſchwer iſt wie im vierzigſten, zeigen doch ſchon die
Hautfalten
, die bleichenden Haare, die Lückenhaftigkeit der
Zähne
, die Steifheit der Glieder, daß die Fülle der Kraft im
Schwinden
begriffen iſt.
In den folgenden Jahrzehnten nimmt
der
Körper merklich an Gewicht ab;
aber die Abnahme iſt an
ſich
geringfügig:
der neunzigjährige Greis iſt ungefähr noch ſo
ſchwer
wie der zwanzigjährige Iüngling.
Allein am Greis iſt
alle
Weichheit und Fülle geſchwunden.
Die Häute verdicken
ſich
.
Die Adern werden in ihren feinen Gezweigen unwegſam.
7668 Die Muskeln ſind ſchlaff geworden. Die Knorpel verknöchern.
Die Lager zwiſchen den Knochen verlieren ihre Fettigkeit, ſo
daß
ſelbſt die Körperlänge des Greiſes abnimmt.
Das Knochen-
gerüſte
tritt aus der Umhüllung kenntlicher als ſonſt im Leben
hervor
.
Der Blick iſt erſtarrt, das Ohr iſt ſtumpf, das Haupt
iſt
gebeugt, der Unterkiefer ſinkt unwillkürlich nieder.
Der
ſeltener
werdende Atem dehnt kaum mehr die eingeſunkene
Bruſt
.
Das Blut ſtrömt ſchwach und langſam durch ſeine
Bahn
, bis die letzte Stunde naht, in welcher der Menſch
aufhört
ein Bürger dieſer Welt zu ſein.
Gleicht der Menſch in dieſem Punkte der Pflanze und dem
Tiere
, ſo unterſcheidet er ſich doch darin von dieſen Weſen,
daß
auch ſein Geiſt eine Lebensgeſchichte hat, eine Geſchichte
des
Aufſchwunges, der Ausdehnung, der Entfaltung und des
Wachstums
während der Kindheit und der Jugend.
Wie der
Leib
in dieſem Lebensabſchnitt mit ungemeiner Kraft ſich ſtärkt
und
zunimmt, ebenſo iſt es mit dem Geiſte der Fall.
Wenn
der
Leib der Jugend am lieblichſten iſt, iſt auch der Geiſt am
ſchönſten
und poetiſchſten.
Mit dem Mannesalter iſt die Leibes-
kraft
am ſtärkſten, und ſie erfüllt ihre Beſtimmung in der Fort-
pflanzung
;
und ganz in gleichem Maße iſt auch die Geiſtes-
kraft
hier am reichſten vorhanden, und hat das Beſtreben,
auch
andere zu belehren, zu erziehen und geiſtig reifer zu
machen
.
In der Jugend lernt der Menſch; im Mannesalter
erzieht
und lehrt er.
Dies thut der Wilde ebenſo wie der
Gebildete
, der Vater, die Mutter nicht minder wie der Lehrer,
die
Lehrerin.
Nur ſelten iſt der fertige Mann empfänglich
für
neue Lehren, die die Jugend entzücken und begeiſtern, wie
der
Leib des Mannes nicht mehr fähig iſt für neue, ungewohnte
Bewegungen
und Anſtrengungen.
Mit dem Herannahen des
Alters
endlich entfremdet ſich der Geiſt des Menſchen von dem
Geiſte
der fortgeſchrittenen Zeit.
Er wird unfruchtbar, wie der
Leib
unfruchtbar wird.
Er fühlt ſich bald nur noch als
7769 verſpäteter Gaſt im geiſtigen Kreiſe, der die junge Welt in Be-
wegung
ſetzt.
Er paßt zur kommenden Welt nicht mehr und
verſenkt
ſich gern in die Vergangenheit, wie er in der Jugend
ſich
gern in die Zukunft verſenkt hatte.
Seine Anſchauungen
werden
ſtarr und verknöchern wie ſeine Knorpel.
Sein Scharf-
blick
wird träge wie ſein Auge, ſeine Auffaſſung ſchwer wie
ſein
Ohr.
Veraltete Bilder, veraltete Erinnerungen, veraltete
Ideen
umſchweben ihn, bis der Geiſt ſich nach ſeiner Ruhe
ſehnt
, wie der Leib.
Und dies eben iſt der Vorzug des Menſchengeſchlechtes
vor
allen andern Weſen.
Und dennoch werden wir finden, daß alles, was der
Menſchen
Geiſt in immer fortſchreitender Entwickelung erfunden
und
erdacht, nur Flickwerk iſt gegen das, was die Natur ſelbſt
in
ihm geſchaffen und vorgebildet hat.
Indem wir dem Leſer
in
den nachſolgenden Abſchnitten die innern Einrichtungen des
lebenden
Menſchen vorführen werden, wird uns der Nachweis
leicht
gelingen, daß die ſinnreichſten Erfindungen der Menſchen
weit
, unendlich weit an Einfachheit und Zweckmäßigkeit von
den
Anordnungen unſerer eigenen Orgaue übertroffen werden.
XXI. Wie alt eine neue Erfindung iſt.
Wie jeder einzelne Menſch ſich gar zu gern bewundern
ſieht
, ſo iſt es auch mit der ganzen Menſchheit der Fall.

Gar
zu gern hört das Menſchengeſchlecht ſeine Weisheit rühmen,
ſeine
Einſicht preiſen und die Vorzüge anſtaunen, die den
Menſchen
hoch über die andern Weſen der Erde erheben.
Macht man inmitten eines ſolchen Lobes den Einwand,
daß
all’ dies gar herrlich, aber eigentlich doch nicht ein eigen
Verdienſt
des Menſchengeſchlechts, ſondern ein
7870 ſei, das ihm von unbekannter Hand ſchon im Mutterleibe als
Befähigung
geworden, ſo flüchtet der ſich ſelbſt bewundernde
Menſch
gar zu gern in das Gebiet ſeiner reichen Erfindungen,
um
darzuthun:
wie Tauſende von Geſchlechtern vor uns ge-
lebt
, welche mit gleichen Befähigungen dem Mutterſchoß ent-
ſprungen
, gar tief unter uns geſtanden haben, und wie es alſo
ein
eignes Verdienſt der Entwickelung der Menſchheit ſein muß,
der
wir unſere ſchönen Einrichtungen, unſere naturbeherrſchen-
den
Erfindungen, unſere weltbezwingenden Maſchinen ver-
danken
.
Haben wir aber wirklich Urſache, hierauf ſo ſtolz zu
ſein
?
Nun das eben wollen wir einmal in Betracht ziehen; und
zu
dieſem Zweck wollen wir den Blick auf den Menſchen und
auf
ſeine Erfindungen richten.
Was hat der Menſch nicht im Lauf der Zeit erfunden,
wovon
die Menſchengeſchlechter vor ihm nicht die geringſte
Ahnung
hatten! Wir brauchen gar nicht weit zu ſuchen, wenn
wir
uns von Bewunderung wollen fortreißen laſſen.
Überall
in
unſerer Umgebung iſt der Naturzuſtand bereits verſchwunden,
und
alles, was wir um uns ſehen, iſt ein Werk menſchlicher
Kunſt
, menſchlicher Erfindungsgabe;
ja es iſt bereits ſo weit,
daß
wir in eine ferne Wildnis hinausfliehen müſſen, wenn
wir
die Natur ſo erblicken wollen, wie ſie war, als der Menſch
in
ſie hinein verſetzt wurde.
Wie anders aber ſieht es um unſere großen Erfindungen
aus
, wenn wir uns die Dinge von einer andern Seite be-
trachten
! und zu dieſem Zweck ſtellen wir die folgende Frage
auf
:
Was erfindet der Menſch, und was brachte er ſchon vor
Jahrtauſenden
mit zur Welt?
Wahrlich, auf dieſe Frage
müſſen
wir kleinmütig zuſammenſinken, wenn wir ſie uns ernſt-
lich
beantworten wollen;
denn die Antwort lehrt uns, daß wir
mit
all’ unſern Erfindungen weit, weit zurückſtehen gegen
7971 großen Schatz unübertrefflicher Erfindungen, mit welchen wir
ſchon
die Welt betreten.
Als vor mehreren Jahrtauſenden ein denkender Menſch
den
Blaſebalg erfunden hatte, da war er ſicherlich ſo überaus
weiſe
in ſeinen Augen, daß er mit Stolz oder Mitleid auf die
ganze
Menſchheit herabſah, die vor ihm gelebt hatte, und er
rief
gewiß jubelnd aus:
ich habe Neues geſchaffen, Niedage-
weſenes
erfunden! Wie, wenn ihm jemand geſagt hätte:
Thörichtes Menſchenkind, was du da erfunden haſt, kennſt du
ſelber
nicht! Jahrtauſende nach dir wird die Menſchheit den
von
dir erfundenen Blaſebalg benutzen, ohne zu verſtehen,
welchen
Dienſt er ihr leiſtet.
Erſt ſpät, ſehr ſpät wird man
dahinter
kommen, daß die Luft Sauerſtoff in ſich habe, daß
dieſer
Sauerſtoff eine chemiſche Verbindung eingehe mit der
glühenden
Kohle, daß dieſe chemiſche Verbindung es eben iſt,
die
man Verbrennung nennt, und erſt dann, wenn die Menſch-
heit
zu dieſer Entdeckung kommt, wird ſie wiſſen, was du nicht
weißt
, wird ſie wiſſen, was ein Blaſebalg eigentlich bedeutet!
Wie, ſagen wir, wenn jemand dem Erfinder vor Jahr-
tauſenden
dies hätte zurufen können, gewiß der Erfinder würde
ihn
nicht verſtanden oder würde ſchmerzlich eingeſehen haben,
daß
das, was er ein neues nennt, erſt ſehr, ſehr alt werden
muß
, um eine wirkliche verſtandene Erfindung genannt werden
zu
können.
Wie aber gar, wenn jemand dem Erfinder einen Blick
in
die ihm ſehr fern liegende Zukunft hätte öffnen können,
und
hätte ihm zu zeigen vermocht, daß nach der Entdeckung
des
Sauerſtoffs noch ein halbes Jahrhundert vergehen wird,
bis
ein Naturforſcher dahinter kommt, zu zeigen, daß jeder
Menſch
einen Blaſebalg mit auf die Welt bringt;
daß die
Lungen
, wenn ſie Atem ſchöpfen, nichts anderes thun, als daß
ſie
eine Verbrennung der Kohle des Blutes bewirken, daß ſie
alſo
den Dienſt eines Blaſebalges in nie geahntem,
8072 netſten Maße verſehen, wahrlich, es würde ſich jener Er-
finder
haben ſagen müſſen:
Nein! ich habe nicht neues er-
funden
, ich habe nur ohne Einſicht in den wahren Zuſammen-
hang
ein äußerſt kleines, unbedeutendes Teilchen einer merk-
würdigen
Maſchinerie hergeſtellt, mit der ich, ohne es zu wiſſen,
ſchon
in die Welt gekommen bin! einer Maſchinerie, ohne die
ich
nicht einen Augenblick zu leben vermocht hätte, eine Ma-
ſchinerie
, die alt, ſehr alt iſt!
Und hätte nur dieſer unbekannte Erfinder, der vor Jahr-
tauſenden
gelebt hat, Urſache alſo zu ſprechen?
Wir ſagen: Nein! Wir behaupten, daß die erſindungs-
ſtolze
Menſchheit vielleicht noch nicht eine einzige Erfindung
gemacht
hat, von der nicht nachgewieſen werden kann, daß ſie
in
weit vorzüglicherem, unvergleichlich vollendeteren Maße
ſchon
mit dem erſten Weſen auf die Welt gekommen iſt, als
es
lebend das Licht der Welt erblickt hat.
Ein Blaſebalg iſt eine ſehr unbedeutende Erfindung, zumal
jetzt
, wo man vortreffliche rotierende Gebläſe eingerichtet hat.
Eine menſchliche Lunge aber iſt, wie die Wiſſenſchaft der neueſten
Zeit
erſt gelehrt hat, mehr, weit mehr noch als ein Gebläſe,
ſie
iſt zugleich ein Heiz-Apparat, ein Filtrier-Apparat und eine
chemiſche
Fabrik und iſt, wie wir ſehen werden, ſo merkwürdig
gebaut
, daß man durch Rechnung Folgendes feſtſtellen kann:
Wenn ein vorzüglicher Mechaniker durch eine von ihm
aufzuſtellende
Maſchinerie all’ diejenigen Summen von ver-
ſchiedenen
Arbeiten verrichten laſſen ſoll, die eine Lunge während
der
Lebensdauer eines Menſchen verrichtet, ſo wird er mindeſtens
einen
Raum gebrauchen, in welchem zur Not drei Familien
leben
können, dabei wird er Keſſel, Räder, Stangen, Hebel,
Zangen
, Schrauben, Zapfen, Kurbeln, Riemen und Nägel ge-
brauchen
, mit denen man eine kleine Welt zertrümmern kann,
und
zu all’ dem wird er einen Maſchinenmeiſter noch hinſtellen
müſſen
, der die Maſchinerie in Gang erhält.
8173
Die Lunge dagegen, die all’ das gewiß vorzüglich arbeitet,
hat
Platz in einem Raum, den man mit zwei Händen bedeckt,
hat
nicht ein einziges Rädchen, ja nicht einmal ein Nägelchen
von
einer Maſchine und iſt ſo fleißig ohne ſichtbaren Ma-
ſchinenmeiſter
, daß ſie ſogar fortarbeitet, wenn wir uns
aufs
Ohr legen und im Schlafe Gott und die Welt vergeſſen.
Doch das iſt alles unbedeutend, wenn wir weiter
darüber
nachdenken, was der Menſch erfindet, und was er mit
zur
Welt bringt!
XXII. Wie wenig das Herz die Wahrheit ahut,
und wie blind man mit ſehendem Auge iſt.
Zu den alten Erfindungen der Menſchen gehört auch die
Pumpe
, die wie unſere Straßen-Brunnen Waſſer aus der Tiefe
auſſaugen
, und es durch eine Öffnung in einem aufſteigenden
Rohr
ausfließen laſſen.
Man nennt dieſe: Saug-Pumpen.
Weit ſpäter erſt wurde die Druck-Pumpe erfunden, die in viel-
fach
verbeſſerter Form jetzt als Feuerſpritze bekannt iſt;
allein
ſie
iſt immer noch nicht ſo vollendet, daß man ſie für unver-
beſſerlich
halten darf, und fortwährend kann man die geiſt-
vollſten
Mechaniker und Maſchinenbauer mit der Aufgabe be-
ſchäftigt
finden, neue und verbeſſerte Saug- und Druck-Pumpen
herzuſtellen
.
Da ſich ſchon die griechiſchen Naturforſcher mit Erfindungen
dieſer
Art viel abgegeben haben, ſo kann man wohl ohne
Übertreibung
ſagen, daß das Menſchengeſchlecht ſchon drei
Jahrtauſende
über die Verbeſſerung dieſer ſehr nützlichen In-
ſtrumente
nachdenkt, und ſicherlich iſt jeder Fortſchritt darin
mit
großem Jubel als etwas Neues aufgenommen worden,
das
dem Erfindungsgeiſt der Menſchen unendliche Ehre macht.
8274
Wie aber, wenn man jetzt weiß, daß ſchon der erſte
Menſch
, der auf Erden lebte, eine Druckpumpe von unüber-
trefflicher
Meiſterhaftigkeit mit ſich herumtrug?
Wie, wenn
wir
bedenken, daß das Herz ein herrliches Pumpwerk iſt, das
unermüdlich
ſchon im Mutterleibe den weſentlichſten Teil ſeiner
Arbeit
beginnt, das mit einer wichtigen Abänderung im Mo-
ment
der Geburt ſeine Arbeit fortſetzt, und unausgeſetzt ſaugt
und
drückt, bis der Menſch im hohen Alter am Ende ſeines
Erdenlebens
anlangt!
So alt das Menſchengeſchlecht auf Erden iſt, und dies
Alter
iſt ſehr bedeutend, ſo lange ſchon trägt jeder Menſch
einen
der herrlichſten Apparate mit ſich in der Bruſt herum,
und
doch hob ſich dieſe Bruſt ſo ſtolz, als der Kopf auch nur
den
geringfügigſten Teil dieſes Apparates herzuſtellen und als
neue
Erfindung auszugeben vermochte! In jedem erwachſenen
Menſchen
werden circa dreißig Pfund Blut etwa 500 mal in
einem
Tage vom Herzen aufgenommen und mit einer kräftigen
Druckbewegung
durch ein unendlich verzweigtes Röhrenſyſtem,
das
man Adern nennt, getrieben.
Was iſt alle künſtliche
Waſſerleitung
gegen dieſen feinen Mechanismus, der das Blut
durch
Wege hindurchzwängt, die ſo zart ſind, daß man die
Röhrchen
nicht einmal mit dem Auge mehr ſehen kann! An
ſiebzig
bis achtzigmal iſt das Herz in jeder Minute des Lebens
mit
dieſer Arbeit beſchäftigt, und verſetzt dem Menſchen von
innen
ebenſo oft einen ſanften Rippenſtoß, als wollte es ihn
aufmerkſam
machen auf ſeine Wirkſamkeit und ihn auffordern,
darüber
nachzuſinnen.
Wie lange aber hat es gedauert,
ehe
der Menſch, der alles erfindende Menſch, auf die Ahnung
kam
, was das Herz iſt, das er im Leibe trägt?
Die Antwort hierauf iſt wirklich ſehr beſchämend!
Von den dunkeln Zeiten vor Erfindung der Pump-Werke
wollen
wir gar nicht ſprechen;
aber in den drei Jahrtauſenden,
die
ſeit dieſer Erfindung etwa verfloſſen, in dieſen Zeiten,
8375 man meinen, hätte jeder Pulsſchlag den Menſchen lehren müſſen,
welch’
eine bekannte Maſchine er mit ſich herumträgt.
Allein dem
war
leider nicht im mindeſten ſo.
Erſt im Jahre 1619 hat ein
engliſcher
Arzt und ſinniger Naturforſcher William Harvey
(1578—1657) die Thätigkeit des Herzens und die Bewegung des
Blutes
richtig erkannt, ſo daß es demnach mehr als zwei Jahr-
tauſende
nach Erfindung der Pump-Werke gedauert hatte, bis
ein
ausgezeichneter Menſch auf ſolche Gedanken kam.
Das
iſt
wahrlich ſchon ſehr demütigend! Wie aber nahmen ſeine
Zeitgenoſſen
und ſeine Mitgelehrten dieſe Wahrheit auf?
Es
iſt
noch demütigender, es zu erzählen, daß Harvey mit Schimpf
und
Spott verfolgt wurde, daß ſeine Kollegen ihn anfeindeten
und
die Patienten ſich von ihm, als einem Barbaren, der
das
Herz wie eine Pumpe behandelt wiſſen wolle, zurückzogen.
Zum Glück nahm ſich’s Harvey nicht ſehr zu Herzen,
denn
er erreichte ein hohes Alter, und hatte die Freude, daß
er
als Greis die Auerkennung fand, die man dem verdienſt-
vollen
Manne verſagte.
Wir werden dieſe vortreffliche Maſchinerie unſern Leſern
noch
näher vorführen und wollen hier nur vorübergehend
bemerken
, daß die wundervollſte Einrichtung derſelben vor-
nehmlich
in den Ventilen beſteht, die für ihren Zweck nicht
vorzüglicher
ausgeſonnen werden können;
wir erwähnen dies
nur
, weil gute Ventile zu denjenigen Maſchinenteilen gehören,
die
noch gegenwärtig jedem ſinnenden Mechaniker als eine
wichtige
Aufgabe gelten.
Vielleicht macht man uns den Einwand, daß Lunge und
Herz
von der Bruſthöhle eingeſchloſſen, alſo der Wahrnehmung
der
Menſchen zu ſehr verborgen ſind.
Lunge und Herz kann
man
nur an Leichen offen darlegen, und alſo nur ſehen, wenn
ſie
nicht mehr wirkſam ſind.
Lunge und Herz ſind auch in
ihrer
Thätigkeit unabhängig von unſerm Willen und Wiſſen,
und
deshalb gerade käme es, daß ſie ſich der Kenntnis
8476 Menſchen entzogen haben. Lägen ſie offen im Leben dar,
würde
man Gelegenheit gehabt haben, ihre Geſchäftigkeit zu
beobachten
, ſo wären die klugen Menſchen gewiß weit, weit
früher
hinter all’ dieſe ſinnreichen Mechanismen gekommen.
Leider jedoch können wir dieſe beſchönigende Ausrede nicht
gelten
laſſen.
Was liegt in ſeiner Wirkſamkeit offener als das menſchliche
Auge
?
Merkt nicht jedes Kind, daß man mit dem Auge
ſieht
?
Bietet nicht jedes Tier, das man ſchlachtet und zer-
ſtückelt
, um den leiblichen Hunger zu ſtillen, die leichteſte Ge-
legenheit
, ein Auge näher zu unterſuchen und den geiſtigen
Hunger
zu ſtillen?
Und doch dauerte es Tauſende und aber
Tauſende
von Jahren, bevor der erfindungsreiche Menſch
dahinter
kam, was das Licht im Auge für eine Rolle ſpiele!
Und wie kam er dahinter?
Wiederum durch eine neue, nagelneue Erfindung, die vor
dreihundert
Jahren (1558) ein Italiener Namens Porta machte.
und die maneine dunkele Kammer” oderCamera obſcura”
nennt
, das Ding, vor das man ſich jetzt hinſetzt, wenn man
ſich
photographieren laſſen will.
Als Porta das erfunden und
die
überraſchenden Erſcheinungen ſah, die es darbietet, war er
gewiß
außer ſich vor Erfindungsſtolz und mochte ausgerufen
haben
:
Wo im Himmel und auf Erden iſt jemand, der der-
gleichen
aufweiſen kann!
Armer Porta! Wo iſt jemand, der nicht dergleichen ſchon
vom
Mutterleibe aus hat! Hundert Jahre nach Porta wußte
man
erſt, daß die optiſche Einrichtung des Auges ganz und
gar
die einer Camera obſcura iſt! Hatten die Menſchen
vor
Porta’s Erfindung keine Augen?
Sie hatten ſie wie
wir
;
aber leider muß man von den erfindungsſtolzen Menſchen
ſagen
:
ſie haben Augen, und ſie ſehen nicht!
Doch wir müſſen noch ein paar Schritte weiter gehen, um
das
, was wir eigentlich wollen, noch deutlicher ſagen zu können.
8577
XXIII. Die Kunſtſtücke der Hände, der Füße
und der Nerven.
In unſern Zeiten, wo Hunderttauſende von Menſchen, die
als
Fabrikarbeiter leben, eigentlich als nichts betrachtet werden
wie
als Diener der Maſchine, die unermüdlich ein gewiſſes
Fabrikat
ſchafft, in unſern Zeiten, wo man Maſchinen nach
Pferdekräften
und Pferdekräfte nach dem Preis abſchätzt, um
wie
vielmal ſie billiger ſind als Menſchenkräfte;
in ſolchen
Zeiten
nimmt es uns nicht Wunder, daß man die Maſchine
höher
hält als den Menſchen und es oft vergißt, daß die
Maſchine
nur ein Werk des Menſchen iſt.
Aber ein wenig
ernſteres
Nachdenken über den mechaniſchen Wert der wert-
vollſten
Maſchine verglichen mit der mechaniſchen Fertigkeit der
unbeholfenſten
Menſchenhand lehrt hinreichend, daß die vor-
züglichſte
Maſchine doch nur ein Stümperwerk iſt und die
unfertigſte
Menſchenhand alle kunſtvollſten Erfindungen über-
ragt
, die man gegenwärtig als den Stolz der Menſchheit be-
trachtet
.
Es iſt wahr, eine Maſchine arbeitet oft mit fünfhundert
Menſchen
um die Wette.
Eine Maſchine ſtrickt, webt, druckt,
preßt
, hämmert, bohrt, hobelt, feilt, ſchleift, ſägt, mahlt, drechſelt
und
verrichtet wer weiß was für Arbeiten mit einer Pünkt-
lichkeit
, einer Schnelligkeit, einer Genauigkeit, wie es die
Menſchenhand
zu machen ermüdet;
aber giebt es einen
Mechaniker
, der ſchon eine Maſchine aufgeſtellt hat, welche auch
nur
zu zwei von den verſchiedenen genannten Arbeiten tauglich
iſt
?
Kann man mit einer Strickmaſchine weben? mit einer
Webemaſchine
drucken?
mit einer Druckmaſchine hämmern? mit
einer
Hämmermaſchine bohren?
mit einer Bohrmaſchine
hobeln
?
Keineswegs! Welch’ eine wundervolle Maſchine
iſt
dagegen eine Menſchenhand, die, wenn man ſie nur
8678 dirigiert, all’ das und noch viel mehr macht, und abwechſelnd
macht
, und doch bei all’ dem ein Werkzeug iſt am lebenden
Leibe
, welches eigentlich auch ſeinen Wert nicht einbüßt, wenn
es
ruht!
Zwei Kinder-Händchen mit vier Stricknadeln bringen
einen
Strumpf zu ſtande.
Nun aber halte man einmal dieſe
zarten
Kinder-Händchen gegen eine Strickmaſchine und frage
ſich
, welcher Mechanismus vorzüglicher iſt?
Liegt ſchon die
Vorzüglichkeit
der Kinder-Händchen darin, daß ſie an tauſend-
mal
kleiner ſind als ſolche Maſchine, daß ſie keine Spur von
Rädern
und Tritt-Kurbeln und Stangen und Schrauben und
Riemen
und Hebeln und dergleichen eiſernen und meſſingenen
Gliedmaßen
an ſich haben, die größer ſind als zwei Kinder
ganz
und gar, liegt ſchon darin die Vorzüglichkeit einer Hand,
ſo
übertriſſt ſie noch alle Maſchinen der Welt ohne Ausnahme
dadurch
, daß die Menſchenhand zu allem in der Welt zu ge-
brauchen
iſt, eine Maſchine aber ausſchließlich nur zu dem einen
einzigen
Werk, zu welchem man ſie urſprünglich eingerichtet
hat
.
Die Menſchenhand iſt nicht ſo ſtark wie die Maſchine,
iſt
nicht ſo ſchnell, iſt nicht ſo ſicher, iſt nicht ſo pünktlich, nicht
ſo
unermüdlich, nicht ſo leicht zu reparieren wie die Maſchine;
will man nur Ein Werk, ein beſtimmtes Werk verrichtet haben,
nun
ſo muß man der Maſchine den Vorzug geben;
will man
aber
den Wert des Mechanismus abſchätzen, ſo muß man
ſagen
, daß die ungeübteſte Menſchenhand zehntauſendmal
mehr
mechaniſchen Wert beſitzt, als die künſtlichſte aller
Maſchinen
.
Wir wollen den Mechanismus der Menſchenhand einmal
gelegentlich
unſern Leſern noch näher vorführen;
für jetzt
jedoch
iſt es Zeit, daß wir zwei gewaltigen Einwendungen be-
gegnen
, die ſicherlich ſchon einem großen Teil unſerer Leſer
auf
der Zunge ſchweben.
Dieſe Einwendungen ſind mit zwei
Worten
ausgeſprochen, die in der That gewichtvoll in
8779 Wage unſerer Zeit und Verhältniſſe fallen, mit den zwei
Worten
:
Eiſenbahnen! Telegraphen!
Wir aber entgegnen Folgendes:
Wer uns für Verächter der menſchlichen Erfindungen hält,
iſt
ſicherlich im ſchwerſten Irrtum.
Wir ſind wahrlich nach
Kräften
bemüht, die Kenntnis der Naturzuſtände dem Volke
zu
erleichtern, und zwar deshalb zu erleichtern, weil wir es
unſererſeits
der Menſchenwürde angemeſſen halten, ſich zum
Herrn
der Natur emporzuſchwingen, und weil wir andererſeits
die
Zeit nahen fühlen, wo die Naturwiſſenſchaft ein unum-
gängliches
Mittel zum leiblichen Wohl des Volkes iſt.
Aber
die
menſchlichen Erfindungen der jetzigen Zeit ſo ganz und gar
über
alles zu erheben, was wir in und an uns haben, das
können
wir ſchon darum nicht, weil wir die tief innerſte Über-
zeugung
in uns tragen, daß noch das jetzt lebende Geſchlecht
viel
weiter wird fortſchreiten in den kommenden Zeiten als wir
ſelbſt
in den jüngſten Zeiten der Vergangenheit, und daß
unſere
Kinder uns belächeln werden, wie wir noch immer voll
ſind
von den Wundern der Eiſenbahn und der Telegraphen,
wie
wir die Väter belächeln, daß ſie ihrer Zeit die Chauſſee
als
ein Wunder uud die optiſchen Telegraphen als eine un-
übertreffliche
Erfindung anſtaunten.
Aber, wird man uns einwenden, die Lokomotive, der
Telegraph
, ſind ſie nicht neu, ſind dies nicht ganz eigene
Schöpfungen
des Menſchengeiſtes?
Nun, man halte uns nicht ſür griesgrämlich, wenn wir
auch
hierauf mit nein! antworten.
So lange man einer Lokomotive nicht einen Mechanismus
giebt
, durch den man ſie mindeſtens ebenſo eine Treppe hinauf
dirigieren
kann, wie ein vierjähriges Kind ſeine Beinchen, ſo
lange
wird man uns geſtatten müſſen zu ſagen, daß die zwei
Stangen
, welche der Menſch mit auf die Welt bringt, und die
man
die Beine nennt, eine Lokomotive der vorzüglichſten
8880 ſind, ſo vorzüglich, daß es ſich lohnt, ſie etwas näher kennen
zu
lernen.
Die Telegraphen aber; ja, das iſt eigentlich das Komiſche
an
unſerm Thema! Die Telegraphen, dieſe neueſte, allerneueſte
Erfindung
es iſt zum Erſchrecken, wie alt ſie iſt! denn die
neueſten
Forſchungen über die Wirkſamkeit der Nerven im
menſchlichen
Körper laufen, wie wir früher ſahen, einſtimmig
darauf
hinaus, daß ſie wie elektriſche Telegraphendrähte ſind,
und
ſchon in alten, alten, ſehr alten Zeiten ihre Depeſchen
nach
dem Gehirn des erſten Menſchen brachten, deſſen Ur-Ur-
Ur-Nachkommen
nach wer weiß wie viel Tauſenden von Jahren
jetzt
erſt dahinter kommen, ſie neu zu erfinden!
Darum eben meinen wir, iſt es gut, daß wir, ſoweit es
eben
geht, den Menſchen kennen lernen, wie er iſt, und in
möglichſt
beſcheidener Erwartung anſehen was er erfindet.
Und nun zur Sache.
XXIV. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen.
Indem wir nunmehr zur Betrachtung einzelner Organe
im
menſchlichen Körper kommen, um einen Vergleich derſelben
mit
einzelnen Erfindungen anzuſtellen, welche auf gleichem
Prinzip
gebaut ſind, müſſen wir eine weſentliche Bemerkung
vorausſchicken
, die viel dazu beitragen wird, daß man uns
nicht
mißverſtehe.
Wir ſind weit davon entfernt, eine Vergleichung anzu-
ſtellen
zwiſchen wirklichen Produkten lebender Weſen und den
Produkten
toter Maſchinen.
Wollten wir dies, ſo wäre es
ſehr
leicht zu zeigen, wie von lebenden Weſen, mögen ſie ein
Pflanzen-
oder Tierleben beſitzen, weit künſtlichere
8981 hergeſtellt werden als von toten Maſchinen. Die künſtlichſte
chemiſche
Fabrik kann nicht eine Kartoffel machen, wenn man
ihr
auch die einzelnen Stoffe dazu giebt, während jeder Kar-
toffelkeim
dies Kunſtſtück verſteht, den man dem Erdboden
anvertraut
und ihn der Einwirkung des Waſſers, des Lichtes
und
der Wärme überläßt.
Es kommt uns noch weniger in den
Sinn
, von einer noch ſo künſtlichen, toten Maſchine zu ver-
langen
, daß ſie z.
B. Milch erzeuge, ein Kunſtſtück, das be-
kanntlich
jede Mutterbruſt wie jedes Euter eines weiblichen
Säugetiers
vortrefflich zu produzieren verſteht.
Ein Verlangen
der
Art wäre müßig und thöricht und wäre nicht geſcheiter, wie
wenn
wir verlangten, daß ein Kaninchen einen Häring ge-
bären
ſolle.
Was wir aber vergleichend neben einander ſtellen wollen,
iſt
ganz etwas Anderes.
Wir ſtellen nur ſolche Teile der
menſchlichen
Maſchinerie mit Maſchinen menſchlicher Erfindung
zuſammen
, die beide gleiche Produkte zu Wege bringen oder
wenigſtens
zu Wege bringen können.
Wir ſtellen die Lunge
und
den Blaſebalg zum gegenſeitigen Vergleich miteinander
hin
.
Was die Lunge thut, kann oder könnte wenigſtens auch
ein
künſtlicher Blaſebalg thun, und wir betrachten ſie beider-
ſeits
, damit man den mechaniſchen, vorteilhaften Bau vergleiche.
Wir ſehen hierbei ganz davon ab, daß die Lunge zu ihrer
Thätigkeit
von andern Kräften angetrieben wird, als irgend
ein
künſtliches Gebläſe, daß die Lunge durch einen lebendigen
Mechanismus
, ein Gebläſe dagegen durch einen Menſchenfuß,
eine
Hand, eine Windmühle, ein Waſſerrad, ein Pferd oder
durch
Dampf in Betrieb geſetzt wird.
Es ſoll uns gleich ſein,
was
die betrachtete Maſchine in Gang bringt, denn wir wollen
nicht
die Betriebskraft, ſondern die Einrichtung, den Bau und
die
daraus folgende Fähigkeit der Maſchine zu ihrer Leiſtung
betrachten
.
In gleichem Sinne werden wir das Herz mit einer
9082 pumpe vergleichen. Wir wiſſen ſehr wohl, daß manches zarte
Herz
bei dieſem Vergleich ſchaudern und ſich ſträuben wird,
auch
nur einen Augenblick anzunehmen, daß man ſtatt eines
Herzens
eine vortreffliche Feuerſpritze zwiſchen den Rippen
haben
könnte.
Wir legen in der That zu viel Wert auf das,
was
man ein edles Herz nennt, um nicht zu wiſſen, daß es
eine
Beleidigung wäre, wollte man es ſelbſt als alleredelſte
Pumpe
anſehen.
Was ein Menſchenherz erregt und lebhafter
bewegt
, iſt auch in unſern Augen zu zarter Natur, um es bloß
nach
Pferdekräften zu meſſen;
obgleich es wirklich und wahr-
haftig
Inſtrumente giebt, mit welchen man, wie wir ſehen
werden
, genau meſſen kann, wie kräftig die Blutwelle iſt, welche
durch
den Druck des Herzens erregt wird, und es infolgedeſſen
von
ſehr großem wiſſenſchaftlichen Wert geweſen iſt, die Ge-
ſamtkraft
des Herzens nach ſehr üblicher, aber auch ſehr un-
zarter
Schätzungsmethode:
nach Pferdekraft abzumeſſen. Eine
Welt
, in welcher man das ganze Leben ſoweit als bloße Me-
chanik
anſehen wollte, daß man einen ſolchen Blutwellen-
Meſſer
an alle Gefühle und Empfindungen anlegen möchte, die
als
Liebe oder Haß, als Jubel oder Schmerz ein Menſchen-
herz
hoch aufſchlagen laſſen, wäre auch uns ein Greuel, und
des
Lebens innerſte Geheimniſſe ſind auch für uns, ſelbſt im
Augenblick
unſerer naturwiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen, die
tiefſten
und innigſten Lebensbeziehungen.
Gleichwohl jedoch wird
es
ſelbſt das liebevollſte Frauenherz eingeſtehen müſſen, daß der
Arzt
, wenn er in wärmſter Teilnahme nach dem Pulſe greift und
deſſen
Schläge zählt und deſſen Fülle durch leiſen Druck probiert,
am
Ende doch nichts anderes thut, wie ſolch’ ein Blutwell-
Meſſer
, der ſo roh die Stärke der innerſten Maſchinerie abmißt.
In Behandlung unſeres Themas indeſſen wollen wir gern
noch
zarter als der zärtlichſte Damenarzt ſein, und wenn wir
trotzdem
das Herz neben eine Druckpumpe ſtellen, wollen wir
damit
nur Folgendes ausdrücken und darthun.
9183
Geſetzt, wir laſſen das, was ein Menſchenherz regt und
bewegt
, einmal ganz unbetrachtet und halten uns nur an die
Arbeit
, die es verrichtet und an die Vorteilhaftigkeit ſeines
Baues
, an die Zweckmäßigkeit ſeiner mechaniſchen Einrichtung,
ſo
finden wir an demſelben nicht nur die vollſte Ähnlichkeit,
ſondern
die abſolute Gleichheit mit einer künſtlichen Druck-
pumpe
, und von dieſem Geſichtspunkte aus wollen wir den
Bau
und die mechaniſche Vorrichtung ſchildern und die merk-
würdigen
Vorzüge kennen lernen, die es vor allen Maſchinen
gleicher
Wirkung beſitzt, welche Menſchen erfunden haben.
In ähnlicher Weiſe wird auch das gemeint ſein, was wir zum
Vergleich
des menſchlichen Auges mit einer Camera obſkura zu
ſageu
haben.
Die ſeelenvolle Tiefe, die im Blick des menſchlichen
Auges
liegt, ſteht auch uns zu hoch, um von einer toten Cumera
obſkura
auch nur entfernt ein Gleiches zu verlangen.
Liebe
und
Abſcheu, Schmerz und Wehmut, die aus einem lebeuden
Auge
uns entgegenſtrahlen, wollen wir nicht im mindeſten in
einem
Menſchenkunſtwerk ſuchen.
Auch laſſen wir ganz un-
beachtet
bei dieſem Vergleich, daß das menſchliche Auge noch
einen
Apparat hat, den Nervenapparat, der mit dem Gehirn in
Verbindung
ſteht, und durch welchen die Bilder des Auges
zum
Verſtändnis des Geiſtes kommen.
Wir wollen ver-
gleichend
nur zeigen, daß, ſelbſt wenn ein Auge nichts weiter
ſein
ſollte als eine Camera obſkura, es doch dies in einer Vor-
züglichkeit
und Meiſterhaftigkeit iſt, gegen welche jede noch ſo
kunſtvoll
gearbeitete Maſchine menſchlicher Erfindung ganz und
gar
unbedeutend wird.
Wenn wir nun verſichern, daß alle übrigen Vergleiche in
eben
ſolchem Sinne gemeint ſind, ſo wird ein Mißverſtändnis
hierüber
nicht möglich ſein, und ſomit gehen wir denn frohen
Mutes
über dieſe Vorbemerkung, wie man zu ſagen beliebt,
zur
Tagesordnung über.
9284
XXV. Die Lunge im Bruſtkaſten.
Die Maſchinerie des menſchlichen Leibes, die wir zuerſt
betrachten
wollen, iſt die Lunge, dieſes Werkzeug, welches un-
unterbrochen
bald Luft in ſich einſaugt, bald Luft von ſich aus-
ſtößt
;
die Lunge, welche wir dieſerhalb mit einem Blaſebalg
verglichen
haben.
So eigentlich paßt der Vergleich nicht recht. So ver-
ſchiedenartig
man auch jetzt Blaſebälge gemacht, und ſo viel
Sorgfalt
man auch auf Herſtellung großer, künſtlicher Gebläſe
verwendet
hat, ſo bleibt der Blaſebalg doch immer nur ein
großer
, hohler Raum, welchen man auſ der einen Seite mit
Luft
füllt, um ſie an einer andern Stelle durch einen verengten
kleinern
Raum wieder hinauszupreſſen.
Die Luft ſpielt im Blaſebalg ſelber keine Rolle; ſie wird
nur
durch eine weite Öffnung hinein getrieben und durch eine
enge
Öffnung hinausgepreßt, damit man durch den Strom ver-
dichteter
Luſt, der den Blaſebalg verläßt, eine Wirkung aus-
üben
, z.
B. Feuer zur hellern Flamme anblaſen kann. Die
Luft
hat im Blaſebalg ſelber nichts zu verrichten gehabt,
ſondern
verrichtet erſt ihre Aufgabe, wenn ſie aus dem Blaſe-
balge
hinaustritt.
Deshalb iſt auch die Luft, wenn ſie den
Blaſebalg
verlaſſen hat, nicht in anderer Beſchaffenheit als ſie
vor
dem Eintritt in denſelben war.
Mit der Lunge iſt es, wie wir ſofort ſehen werden, nicht
ſo
.
Die Lunge ſaugt die Luft ein, in welcher wir auf dem
Erdenrund
, das von Luft umgeben iſt, leben;
aber ſie giebt
ſie
verändert beim Ausatmen wieder.
In dieſer Beziehung gleicht die Lunge ſchon weit eher
einem
gewöhnlichen Zugofen, mit dem wir die Stuben heizen.
Durch die kleine Zugklappe, die in der Ofenthür angebracht iſt,
ſtrömt
die Luft aus der Stube in den Ofen, ſie bleibt
9385 nicht im Ofen, ſondern es ſtrömt in gleichem Maße wieder
durch
die Ofenröhre eine Luftart in den Schornſtein hinaus;
allein die ausſtrömende Luft iſt von anderer Beſchaffenheit,
als
die eingeſtrömte geweſen.
Die Luft iſt im Ofen und ge-
rade
durch die Verbrennung, die ſie veranlaßt hat, verändert
worden
, und wirklich ganz in demſelben Sinne verändert
worden
, wie die Luft in der Lunge.
In beiden, in Ofen und
Lunge
, wird, wie wir ſehen werden, der Sauerſtoff der Luft
in
Kohlenſäure umgewandelt.
Da die Lunge wirklich auch zugleich ein Heizapparat im
Körper
iſt, ſo hat man mit vollem Recht die Lunge mit einem
Ofen
verglichen;
und das iſt’s eben, worauf wir auch auf-
merkſam
machen wollen, um zu zeigen, wie die Lunge eine
gar
merkwürdige Maſchine iſt;
denn ſie iſt in Wahrheit Blaſe-
balg
und Ofen zugleich und noch einiges andere obenein.
Um es in Kürze einſehen zu können, was eigentlich die
Lunge
für Arbeit verrichtet und in welcher Weiſe ſie dies ver-
richtet
und wie vorteilhaft ſie gebaut iſt, um all’ das verrichten
zu
können, wollen wir uns für jetzt folgendes merken.
Die Speiſen, die wir lebenden Weſen genießen, verwandeln
ſich
in unſerm Körper in höchſt merkwürdiger Weiſe in Blut;
das Blut iſt der Stoff, aus dem ſich alle Teile unſeres Leibes
bilden
.
Allein das Blut wird hierzu nur fähig, wenn es den
Sauerſtoff
der Luft in ſich aufgenommen und dafür eine
andere
Luftart, die Kohlenſäure, ausgeſchieden.
Geſchieht dies
nicht
, vermag das Blut nicht Sauerſtoff aufzunehmen und
Kohlenſäure
auszuſcheiden, ſo erfolgt der Tod ſchon nach
wenigen
Minuten.
Zu dieſem Hauptzweck, um eben das Blut mit Sauer-
ſtoff
zu verſorgen und um die Kohlenſäure des Blutes fort-
zuſchaffen
dient die Lunge, dient ihr Atmen, und deshalb
ſagt
man im gewöhnlichen Sprachgebrauch ſtattAlles, was da
lebt”
, mit RechtAlles, was da atmet”.
9486
Allein ſo bekannt dieſes in den Hauptſachen iſt, ſo ſehr
falſch
ſind die Vorſtellungen, die man ſich im gewöhnlichen Leben
von
dem Geſchäft und der Einrichtung der Lunge macht, und
deshalb
wollen wir uns dies merkwürdige und wichtige Werkzeug
unſeres
Körpers etwas näher anſehen.
Die Lunge liegt im Bruſtkaſten, in dem Kaſten, der unter
dem
Halſe beginnt und am Bauch endet.
Dieſer Kaſten iſt
ganz
und gar geſchloſſen, denn zwiſchen ihm und dem Bauch
iſt
ein ſtarkes Fell ausgeſpannt, das beide Teile des Leibes
vollkommen
abſondert;
dies Fell heißt das Zwerchfell , deſſen Erſchütterung beim Lachen ſprichwörtlich geworden iſt, und das
auch
eine ſehr wichtige Rolle beim Atmen ſpielt.
In dieſem ringsum abgeſchloſſenen Kaſten hängt die
Lunge
an einer knorpeligen Röhre, welche die Luftröhre heißt,
und
die hinten im Munde, oder richtiger im Rachen ange-
wachſen
iſt.
Dieſe Röhre iſt hohl und läuft vom Rachen in
den
Hals, wo ſie vorn namentlich bei Männern ſehr fühlbar
iſt
.
Vom Hals geht ſie abwärts in den Bruſtkaſten, und hier
endet
ſie in den zwei Teilen der Lunge, die rechts und links
im
Bruſtkaſten liegen oder richtiger hängen.
Da beide Teile
der
Lunge von gleicher Beſchaffenheit ſind nnd nur deshalb
doppelt
vorhanden zu ſein ſcheinen, damit die eine ihr Werk zur
Not
verrichte, wenn die andere verletzt iſt oder ganz und gar
ſtirbt
, was gar nicht ſelten der Fall iſt, ſo wollen wir nicht
von
den einzelnen Teilen, ſondern von der Lunge im ganzen
ſprechen
.
Um aber vorläufig das Verſtändnis nicht zu erſchweren
und
zunächſt nur die rein mechaniſche Einrichtung des Atmens
deutlicher
zu machen, wollen wir annehmen, die Lunge ſei ein
durchweg
hohler, weicher Beutel, der ſich aufbläht, wenn man Luft
einbläſt
, und der zuſammenklappt, wenn man die Luft auspreßt.
1
11Zwerch” iſt ein altes, deutſches Wort fürQuer”. Zwerchfell
alſo
= Querfell.
9587
Die Lunge hängt aber nicht ganz nackt im Bruſtkaſten,
ſondern
iſt mit einem Hautüberzug verſehen, der ſie voll-
kommen
luftdicht macht.
Dieſer Hautüberzug gehört jedoch
nicht
der Lunge allein, ſondern iſt eigentlich die Fortſetzung
einer
Haut, mit welcher der ganze Bruſtkaſten und alles, was
in
ihm noch ſonſt Platz hat, austapeziert iſt.
Wenn man ſich
ein
ungefähres Bild von der Haut machen will, die zugleich
den
Bruſtkaſten und die in denſelben hineingehängte Lunge
umkleidet
, ſo denke man ſich, daß jemand ſeine Hand in eine
baumwollene
, doppelbeutelige Schlafmütze ſteckt und dieſe mit
doppeltem
Überzug verſehene Hand in die Rocktaſche ſteckt.
Zwiſchen Hand und Rocktaſche ſind dann zwei baumwollene
Scheidewände
, die beide die Form eines Sackes haben und
doch
nur ein in ſich ſelbſt eingeſtülpter Sack ſind.
Denkt man
ſich’s
nun mit der Haut bei Bruſtkaſten und Lungen ebenſo,
ſo
wird man es leicht einſehen, wie es eigentlich nur eine
Haut
iſt, welche den Bruſtkaſten inwendig austapeziert, und es
nur
eine Schlafmützenfalte derſelben Haut iſt, die den Beutel
bildet
, welcher die Lunge von außen tapeziert.
Und nun ſind wir vorläufig ſo weit, daß wir zum Atem
kommen
können.
XXVI. Wie wir atmen.
Durch den Bruſtkaſten, worin die Lunge aufgehängt iſt,
gehen
zwar noch, wie wir ſehen werden, wichtige Adern,
Nerven
und Röhren;
auch befindet ſich in demſelben das
wichtigſte
Organ des Leibes, das Herz und all’ dies füllt den
Bruſtkaſten
vollſtändig aus, ſo daß kein leerer Raum darin
vorhanden
iſt;
wir wollen uns jedoch für jetzt nur mit der
Lunge
und dem Kaſten, der ſie umſchließt, beſchäftigen
9688 von allem Übrigen ganz abſehen; und deshalb wollen wir
uns
auch vorerſt vorſtellen, daß die Lunge allein den ganzen
Raum
einnimmt, um unſere Aufmerkſamkeit beſſer auf den
Mechanismus
des Atmens richten zu können.
Das Atmen geſchieht nun in folgender Weiſe.
Das Zwerchfell, welches die Scheidewand zwiſchen Bauch-
und
Bruſthöhle bildet, zieht ſich durch eine eigene Kraft, von
der
wir noch ſprechen werden, zuſammen.
Dadurch wird der
Raum
der Bauchhöhle verengt und der Raum der Bruſthöhle
in
gleichem Grade vergrößert;
zu gleicher Zeit dehuen ſich die
Seitenwände
des Bruſtkaſtens, die Rippen, und erweitern gleich-
falls
die innere Höhlung.
Dadurch entſteht rings um die Lungen
ein
leerer Raum.
Da nun die Lunge hohl iſt, und ein hohles Rohr
von
ihr bis in die Mundhöhle hinauf geht, woſelbſt durch
Mund
und Naſe Luft eindringen kann, ſo ſtrömt die Luft
von
außen in die Lunge hinein und dehnt dieſe ſo aus, daß
ſie
den ganzen erweiterten Raum des Bruſtkaſtens ausfüllt.
Dies nennt man das Einatmen der Luft in die Lunge.
Sobald dies geſchehen, läßt die Kraft, welche das Zwerch-
fell
nach unten hin geſenkt hatte, nach;
zu gleicher Zeit er-
ſchlaffen
auch die Rippenwände des Bruſtkaſtens und ſinken
wieder
in ihre natürliche Lage zuſammen.
Hierdurch wird
der
innere Raum des Bruſtkaſtens wieder verengt, die aus-
gedehnte
, mit Luft angefüllte Lunge hat nicht Platz und wird
zuſammengedrückt
.
So muß denn die Luft wieder durch die
Röhre
, die Mundhöhle, und ſie ſtrömt denn auch wirklich
durch
Mund oder Naſe hinaus in die Welt.
Dies nennt
man
das Ausatmen.
Im eigentlichen Sinne iſt es demnach nicht die Lunge,
welche
beim Atmen die Arbeit verrichtet, ſondern das Zwerch-
fell
und der Bruſtkaſten ſind es, welche den Raum um die
Lunge
erweitern;
und der Druck der Luft, welche die Erde
umgiebt
und ſchwer wie jedes Ding auf der Erde laſtet,
9789 ſie von der Erde angezogen wird, dieſer Druck der Luft iſt
es
, welcher den leer gewordenen Raum ausfüllt und die Luft
in
die Lunge einpreßt.
Die Lunge giebt nur nach, weil ſie
dehnbar
iſt und füllt ſich ganz in derſelben Weiſe, wie ſich
jede
Blaſe unter gleichen Verhältniſſen füllen würde.
Eben-
ſowenig
bewirkt die Lunge das Ausatmen;
denn ſie zieht ſich
nicht
zuſammen und treibt die Luft aus, ſondern wird nur
zuſammengepreßt
durch Zwerchfell und Bruſtkaſten, die ihre
natürliche
Lage annehmen.
Soweit der Raum es geſtattet
und
die natürliche Beſchaffenheit der Lunge es zuläßt, bleibt
auch
ein Reſt von Luft in derſelben zurück.
Dies werden viele
unſerer
Leſer ſchon bemerkt haben, wenn ſie die Lunge irgend
eines
Tieres beſühlten, denn ſie fühlt ſich ſelbſt im toten
Zuſtand
luftgefüllt an, und ſie ſchwimmt auch deshalb im
Waſſer
obenauf.
Wir werden noch ſehen, wie wichtig dieſer
Umſtand
, daß ein Reſt von Luft in der Lunge zurückbleibt,
für
die Thätigkeit derſelben im Leben iſt.
Man wird geſtehen, daß dieſe mechaniſche Einrichtung der
eines
Blaſebalges ſehr ähnlich iſt.
Zwerchfell und Bruſtkaſten
erweitern
und verengen abwechſelnd den Raum, den ſie ein-
ſchließen
und laſſen deshalb die Luft abwechſeld ein- und
ausſtrömen
;
aber ſchon hierbei, bei dieſer rein mechaniſchen
Arbeit
kommen Nebenumſtände vor, die dieſe Maſchinerie vor
jeder
künſtlichen Maſchine menſchlicher Erfindung auszeichnen.
Die Bewegungen des Atems werden von einer großen
Reihe
von Muskeln bewerkſtelligt, die zugleich und in regel-
mäßigem
Tempo ihre Arbeit verrichten.
Außer dem Zwerch-
fell
, das ſelber eine muskelartige Wand iſt und das Kunſt-
ſtück
des Zuſammenziehens und Erſchlaffens verſteht, ſind noch
die
Bauchmuskeln, die Muskeln, welche die Rippen bedecken,
die
an den Schulterblättern und an den Schultern ſitzen, wie
diejenigen
, welche vom Halſe abwärts laufen, dabei in Thätig-
keit
.
Es ſind über zwei Dutzend Muskeln, die ſich
9890 zu einem gemeinſamen, gleichmäßigen Geſchäft vereinigen, und
Naſe
, Mund, Zunge, Kehlkopf und Gaumen ſind nebenher
gleichfalls
mit in dies Geſchäft verwickelt.
Es könnte nun
ſcheinen
, daß dies gar ein unnötiger Aufwand ſei, und eigent-
lich
beim Atmen ein zu großer Anſpruch an zu verſchiedene
Körperteile
gemacht werde, daß ſomit die Maſchinerie
nicht
jene Einfachheit beſitze, welche ſtets ein Zeichen der
Meiſterhaftigkeit
des Planes iſt.
Allein die Erwägung einiger
ſehr
bekannten Thatſachen wird die Zweckmäßigkeit dieſes
Mechanismus
leicht darthun und jeden Weltverbeſſerer, der’s
einfacher
haben möchte, dankbarer ſtimmen gegen jene Plan-
mäßigkeit
, die dieſe eine Arbeit ſo vielen Muskeln zutheile.
Ein künſtlicher Blaſebalg braucht in der That nur eine
bewegliche
Wand, um Luft einzuſaugen und auszuſtoßen.
Allein er iſt darum auch unthätig, wenn dieſer ein Hindernis
entgegenſteht
.
Der Mechanismus des Atems aber iſt in ſo
vielen
Muskeln verteilt, daß die Störung einer ganzen Partie
derſelben
dem Atmen keinen weſentlichen Eintrag thut, wenigſtens
das
Leben nicht gefährdet.
Daß wir beim Liegen ganz andere Atembewegungen machen
als
beim Sitzen, wird ſchon jeder bemerkt haben.
Liegt man
auf
einer Seite, ſo arbeitet die andere dafür deſto kräftiger.
Durch einen Stoß, einen Fall, einen Druck verletzt man ſich
leicht
einen der Muskeln, die das Atemgeſchäft beſorgen;
ſofort
ſetzt
er ſich außer Thätigkeit und überträgt den Genoſſen das
wichtige
Geſchäft.
Unſere jungen Damen ſchnüren ſich den
Leib
oft derart ein, daß ſie mit den Rippenmuskeln und dem
Zwerchfell
nicht hinreichend atmen können;
wer hat aber nicht
beobachtet
, wie thätig das Spiel ihrer oberen Bruſt- und
Schultermuskeln
iſt, um nur den Mechanismus im Gang zu
erhalten
.
Man kann an Tieren jeden einzelnen Muskel, der
beim
Atmen thätig iſt, durch ein Zerſchneiden des Nervs, der
ihn
bewegt, unthätig machen, und die Atmung wird
9991 von den übrigen Muskeln vollſtreckt. Wenn es nun auch
zugegeben
werden muß, daß die Maſchine ſchon einfacher
hätte
im Gang gehalten werden können, ſo wird man hoffentlich
dieſe
Mannigfaltigkeit nicht tadeln, da ſie, wie dieſe Beiſpiele
zeigen
, den wichtigen Zweck haben, den wichtigen Poſten nicht
einem
Hauptmuskel anzuvertrauen, der, wenn ihm ein Miß-
geſchick
zukommt, den ſofortigen Tod herbeiführen würde.
XXVII. Das Luftrohr der Lunge.
Nachdem wir die mechaniſche Einrichtung betrachtet haben,
welche
Bruſtkaſten und Zwerchfell derart in Bewegung ſetzt,
daß
die Lunge ſich abwechſelnd bald mit Luft füllt, bald dieſe
wieder
von ſich giebt, wollen wir nun näher auf die Beſchaffen-
heit
der Lunge und deren Thätigkeit eingehen, die wir des
leichteren
Verſtändniſſes halber bis jetzt nur als einen einfachen
Luftſack
dargeſtellt haben.
Zuerſt wollen wir uns aber das hohle Rohr anſehen, das
vom
Munde in die Lunge führt;
denn auch dieſe Einrichtung
gehört
zu den merkwürdigſten Mechanismen des menſchlichen
Körpers
, namentlich dadurch, daß es ſich in ſehr gefähr-
licher
Nachbarſchaft befindet und deshalb mit beſonderer Vor-
ſicht
gebaut iſt, damit ihm kein Ungemach zuſtoße.
Die gefährliche Nachbarſchaft beſteht darin, daß außer
dem
Luftrohr der Lunge noch ein zweiter Weg vom Mund
in
den Körper hineinführt, und der iſt die Speiſeröhre, durch
welche
alles hinunterpaſſieren muß, was wir eſſen oder trinken.
Mit Recht macht einer der geiſtreichſten Phyſiologen die
Bemerkung
, daß die Menſchen die Hände über dem Kopf vor
Verwunderung
zuſammenſchlagen würden, wenn ſie ſehen
könnten
, wie das Luftrohr ſich noch vor der Speiſeröhre be-
findet
, wie jeder Biſſen Speiſe, jeder Schluck Getränk über
10092 obere Öffnung der Luftröhre hinübergleiten muß, um in die
Speiſeröhre
zu gelangen.
Sie würden es für rein unmöglich
halten
, daß eine Mahlzeit ſo ganz ohne Ungemach ablaufen
könne
und ein ſogenanntes Verſchlucken nicht noch häufiger ſei,
als
das richtige Schlucken, das alle Welt ſo geläufig verſteht.
In der That würde Speiſe und Trank ſehr leicht in die
Luftröhre
hineinkommen und namentlich beim Einatmen un-
fehlbar
bis in die Lunge gelangen, wenn dies nicht durch
ſorgfältige
Vorrichtungen behindert würde.
Die Vorrichtungen beſtehen in Folgendem.
Das Luftrohr mündet nicht offen in die Mundhöhle, ſon-
dern
iſt ſchon ein Stück davor mit einer Haut verſchloſſen,
welche
nur eine feine Spalt-Öffnung für die ein- und aus-
ſtrömende
Luft hat.
Dieſe Öffnung nennt man die Stimm-
ritze
;
denn nur durch die Schwingung der Luft, welche durch
dieſe
aufgeſchlitzte Haut ſtreicht, entſteht die Stimme.
Über
dieſer
Stimmritze aber befindet ſich noch am Kehlkopf ein be-
ſonderer
, feiner, knorpeliger Deckel, der es vortrefflich verſteht,
denſelben
zu verſchließen.
Der Deckel iſt eine Klappe, die vorne am Kehlkopf ange-
wachſen
iſt und die ſich ſofort ſchließt, ſobald von vorne
von
der Zunge her etwas nach der Speiſeröhre geleitet wird;
außerdem legt ſich beim Schlucken auch noch der hinterſte Teil
der
Zunge über den Deckel und macht den Verſchluß noch
ſorgfältiger
.
Da nun dieſer Deckel beim jedesmaligen Atmen
geöffnet
ſein muß und man während der Mahlzeit auch das
Atmen
nicht einſtellen kann, ja, da man, wie ein jeder weiß,
bei
Tiſch oft erſt recht geſprächig wird und außer beim
Atmen
noch beim Sprechen genötigt iſt den Deckel zu öffnen,
ſo
wird man einſehen, daß dieſe Vorrichtung mit ganz be-
ſonderen
Feinheiten verſehen ſein muß, damit der Kehldeckel
einer
fröhlichen Tiſchgeſellſchaft ſeinen Dienſt ſo ausübe, daß
weder
ein Wort noch ein Biſſen einen unrichtigen Weg nimmt.
10193
Gleichwohl wird es ſchon jedem paſſiert ſein, daß ihm ein
Ungemach
begegnet, und namentlich wenn man während des
Eſſens
oder Trinkens lacht, wodurch der Kehlkopf geöffnet
wird
.
In ſolchem Falle dringt wirklich zuweilen ein Krümelchen
oder
Tröpfchen in den Kehlkopf ein, wo es einmal nicht hin-
gehört
.
Was geſchieht dann?
Nun, es iſt auch für dieſen Fall Sorge getragen.
Oberhalb der Stimmritze befindet ſich an jeder Seite eine
taſchenförmige
Vertiefung in der Wand des Kehlkopfes, und
wenn
nun ein Krümelchen ſich über den Kehldeckel in den
Kehlkopf
hinein verirrt hat, ſo bleibt es in einer dieſer
Taſchen
ſtecken und gelangt zumeiſt gar nicht bis zur Stimm-
ritze
, welche in dieſem Punkte ſehr empfindlich iſt.
Aber auch in ſolcher Taſche hat das Krümelchen nichts zu
ſuchen
und iſt deshalb keineswegs gaſtlich aufgenommen.
Es
findet
ſich vielmehr hier noch eine andere Vorrichtung, die
freilich
nicht mehr mechaniſcher Natur iſt, aber doch dazu
dient
, das Krümelchen wieder in möglichſt unſchädlicher Weiſe
hinauszubefördern
.
In den Taſchen ſitzen nämlich eine Reihe von Schleim-
drüſen
.
Es ſind dies feine Träubchen, die auf den leiſeſten
Reiz
einen eigenen Schleim abſondern, der den Kehlkopf und
die
dort ſitzenden Stimmwerkzeuge nicht trocken und heiſer
werden
läßt.
Mit ſolchen fremdartigen Krümelchen machen ſich
nun
die Drüſen ein Nebengeſchäft;
ſie hüllen es in Schleim
und
machen es dadurch ſchlüpfrig, um es ſofort hinaus ſpedieren
zu
können.
Dies Geſchäft des Hinauswerfens wird nun zunächſt von
den
Stimmbändern eingeleitet.
Sofort, wie man ſich ver-
ſchluckt
hat, ſchließen ſie den Kehlkopf zu, damit vorerſt nicht
noch
mehr Unheil angerichtet wird.
Hierauf ſtemmt ſich die
zum
Ausatmen bereite Luft gegen die verſchloſſenen
10294 bänder, und weil ſie ſich nicht willig öffnen, werden ſie von
der
gepreßten Luft gewaltſam aufgeſchleudert, wobei ſie den
bekannten
Ton von ſich geben, den man Huſten uennt.
Mit
dieſem
plötzlichen, gewaltſamen Hinausſchleudern der Luft wird
auch
das in Schleim gehüllte Krümelchen meiſt hinausgeſtoßen,
und
dann iſt es gut.
Geſchieht dies aber nicht ſogleich, wie
etwa
, wenn das Krümelchen noch zu feſt in einer Taſche ſitzt,
ſo
ſchließen ſich die Stimmbänder wieder, das vorige Stück
wiederholt
ſich, man muß nochmals huſten, bis der Zweck er-
reicht
und der fremde Körper aus der Luftröhre entferut iſt.
Aber nicht dies allein iſt Aufgabe der Stimmbänder, ſon-
dern
ſie verſchließen ſich auch in vielen Fällen, wo man im
Begriff
iſt, eine giftige Luftart einzuatmen.
Freilich ge-
ſchieht
dies nicht bei allen giftigen Luftarten, wie es denn
allbekannt
iſt, daß alljährlich Viele durch unvorſichtiges Schließen
der
Ofenklappe am giftigen Kohlendunſt ihr Leben einbüßen.
Würden ſich hier die Stimmbänder verſchließen, ſo würde ein
unwiderſtehlicher
Huſten die Unvorſichtigen vor Unglück be-
wahren
.
Dieſer Huſten erfolgt bei einigen andern Gaſen und
rührt
von dem heftigen Reiz her, den ſie auf den Kehlkopf
ausüben
.
Wir müſſen zufrieden ſein, daß uns mindeſtens in
einzelnen
Fällen ſolch’ ein Liebesdienſt erwieſen wird von einer
Maſchinerie
, die nur ſehr nebenher beim Atmen beſchäftigt
wird
, die aber hinreichend von der Sorgfalt Zeugnis ablegt,
mit
welcher dieſe Maſchine vor Schaden gewahrt iſt.
XXVIII. Die Lunge, wie ſie wirklich iſt.
Wenden wir uns nun zum Bau der Lunge, ſo werden
wir
ſogleich ſehen, wie gut es iſt, daß ſie durch die er-
wähnten
Vorrichtungen vor dem Eindringen fremder Beſtand-
teile
geſchützt iſt.
10395
Die Lunge iſt kein hohler Luftſack, ſondern ein äußerſt
merkwürdiges
Gewebe, deſſen hohle Gänge ganz eigentümlich
gebaut
ſind.
Man-wird ſich am leichteſten hiervon eine Vor-
ſtellung
verſchaffen, wenn man ſich Folgendes denkt.
Geſetzt, wir haben eine Lunge vor uns, ſo können wir
uns
denken, daß jemand geſchmolzenes Wachs hineingießen
kann
, ſo daß dies allenthalben hinfließt, wo die Luft in natür-
lichem
Zuſtand eindringt.
Stellen wir uns vor, daß man eine
ſolche
ausgefüllte Lunge erkalten und dann durch irgend
ein
künſtliches Mittel das ganze Lungengewebe ſchnell ab-
faulen
läßt, ſo würde man eine erſtarrte Wachsmaſſe zurück-
behalten
, die genau die Form der Luftwege der Lunge an-
genommen
hat.
Wie würde dieſe Wachsmaſſe ausſehen?
Ganz ſo wie ein Baum, auf welchem ſtatt der Blätter
ſehr
kleine Biruen mit höckriger Oberfläche wachſen.
Das Wachs aus der Luftröhre würde den Stamm des
Baumes
vorſtellen;
dort, wo die Luftröhre in die rechte und
linke
Lunge ſich teilend übergeht, würde der Wachsbaum zwei
Hauptäſte
zeigen.
Von jedem Aſt gingen dann kleinere Äſte,
von
jedem kleineren Aſte liefen Zweige aus, von jedem Zweige
Stengel
, und jeder Stengel würde in einer kleinen Birne enden.
Wie groß würde dieſer Wachsbaum ſein?
Ganz ſo groß wie die Lunge, wenn ſie mit Luft gefüllt
iſt
.
Die Luftwege der Lunge bilden wirklich einen hohlen
Baum
;
aber ſo fein gezweigt und vollgepfropft mit hohlen
Früchten
, daß ſie durch und durch dicht gedrängt aneinander
ſtehen
.
Die Feinheit des Gezweiges iſt ſo außerordentlich,
daß
, wenn man wirklich imſtande wäre, ſolch’ einen Wachsbaum
zu
machen, man genötigt wäre, die allerſchärfften Vergrößerungs-
gläſer
anzuwenden, um das Gezweige zu erkennen.
Wir würden
an
ſolchem Kunſtwerk nur die größern Stämme und Äſte als
ſolche
anſehen, während das überüppige, reiche, feine
10496 ſamt den Stengelchen und Früchten uns nur wie eine unent-
wirrbare
Filzmaſſe erſcheinen würde.
Das hohle Gezweige der Lunge iſt ſo außerordentlich
reich
, daß man berechnet hat, es würde die Lunge, wenn ſie
ein
Sack mit einigermaßen dicken Wänden wäre, nicht viel
mehr
Luft aufnehmen können, als es jetzt der Fall iſt.
Beim Einatmen füllt ſich nun dieſer hohle Baum mit
Luft
;
wir haben alſo in einer Minute an die zwanzig Mal,
welche
wir in dieſer Zeit einatmen, einen wirklichen Luftbaum
in
der Bruſt.
Wenn wir ausatmen, quetſchen wir den Baum
zuſammen
, und die Luft tritt aus demſelben aus.
Dieſer hohle Baum, oder richtiger, die baumartigen Luft-
wege
ſind jedoch mit einem äußerſt feinen Häutchen aus-
tapeziert
, ſo daß die Luft nicht weiter vordringen kann, als
dieſe
Tapete es erlaubt.
Ferner haben wir es uns noch zu
merken
, daß die Luftwege auch in der Beziehung einem Baume
ähnlich
ſind, daß die Äſte, Zweige, Stengel, Früchte nur von
der
Stammſeite mit einander verwachſen ſind, während die
andern
Enden frei und unverwachſen mit einander bleiben.

Hieraus
folgt, daß die Luft in der Lunge nicht zirkuliert, nicht
einen
Kreislauf macht, ſondern auf demſelben Wege zurück
muß
, wo ſie hineingedrungen iſt.
Wozu aber dient dieſe merkwürdige Einrichtung?
Nun das werden wir gleich ſehen; wir müſſen nur vorher
noch
zeigen, daß außer dieſem hohlen Baum noch ganz etwas
anderes
in der Lunge vorhanden iſt.
In dem Bruſtkaſten haben wir auch das Herz, und vom
Herzen
aus geht eine dicke Ader gleichfalls in die Lunge
hinein
.
Hier in der Lunge teilt und verzweigt ſich dieſe Ader
in
immer feinere und feinere Äderchen, bis ſie ſo fein werden,
daß
ſie ebenfalls nur mit den ſchärſſten Vergrößerungsgläſern
geſehen
werden können.
Dieſe Äderchen, die man ihrer Fein-
heit
halber Haargefäße nennt, laufen nun kreuz und quer
10597 das Gezweige des Luftbaumes, ſie ſchlängeln ſich allenthalben
durch
und ringeln ſich ſchlangenartig um die kleinen Birnen,
die
erwähnten Früchte des Luftbaumes, ſo daß der Luftbaum
wirklich
von den feinen Gefäßen innig umwickelt iſt.
Man könnte
demnach
dieſes Ader-Syſtem mit einer millionenfach verzweigten
Schlingpflanze
vergleichen, welche ſich um den Baum windet.
Aber es iſt dies darum nicht einer Pflanze gleich, weil die
Äderchen
nicht hier enden;
ſie zweigen ſich vielmehr, nachdem ſie
den
Baum in allen Teilen umſchlungen haben, wieder zu-
ſammen
zu größerem Geäder, bilden ſodann größere Ader-
ſtämme
und laufen endlich in vier Abteilungen wieder ins Herz.
Die Adern, von denen eine vom Herzen kommt und in
die
Lunge hineingeht, und vier aus der Lunge kommen und
zum
Herzen zurückführen, bilden ein einziges, völlig geſchloſſenes
Kanal-Syſtem
, das zwar bis aufs allerfeinſte verzweigt iſt,
aber
nicht eine Öffnung hat.
Es umwindet die Luftwege
außerordentlich
innig;
aber es durchbricht ſie nicht, durchdringt
nicht
die Haut, welche die Luftwege inwendig austapeziert.
Die Luftwege wiederum liegen enge mitten in den feinſten
Schlingen
des Aderſyſtems;
aber nirgend wird eine Wand
dieſes
Aderſyſtems von den Luftwegen durchbrochen.
Das Herz deſſen Thätigkeit wir noch näher kennen lernen
werden
preßt nun mit einem Druck ſpritzenartig Blut in die
Ader
.
Das Blut ſtürzt von immer neuen Blutwellen, die aus
dem
Herzen getrieben werden, durch die Äſte der Adern, durch
die
feineren Zweige und die feinſten Röhrchen.
So fließt
denn
das Blut in feinen Äderchen, die ſich um die Luftwege
ſchlängeln
, immer weiter, bis es wieder den Rückweg nimmt
durch
die zulaufenden Kanäle, und zuſammenſtrömt in die Adern,
die
zum Herzen zurückführen, um dort weiter expediert zu werden.
Wozu nützt dieſes Kanal-Syſtem?
Nun das werden wir ſogleich näher zeigen!
Bernſtein, Naturw. Volksbücher XII.
10698
XXIX. Art und Zweck der Lungenthätigkeit.
Wir haben es bereits ausgeſprochen, daß man nicht um-
ſonſt
Leben” undAtmen” für gleichbedeutend anſieht;
denn
durch
das Atmen wird zunächſt jene fortdauernde Thätigkeit
des
Leibes unterhalten und möglich gemacht, welche man Leben
nennt
.
Nachdem wir die Einrichtung der Lunge etwas näher
kennen
gelernt haben, wird uns das, was in ihr und durch ſie
vermittelt
im ganzen Körper vorgeht, leichter begreiflich werden,
und
wir werden auch einſehen tönnen, wie gerade ſolch’ eine
Einrichtung
, wie ſie die Lunge beſitzt, die vorzüglichſte iſt,
um
ihren Zweck zu erreichen.
Während des Einatmens füllen ſich die Luftwege der
Lunge
mit Luft.
Dieſe Luft, in welcher wir leben, iſt ein
Gemiſch
von zwei Luftarten, von Stickſtoff und Sauerſtoff, und
zwar
iſt dieſes Gemiſch ſo gleichmäßig allenthalben verteilt,
daß
ſtets auf vier Maß Stickſtoff ein Maß Sauerſtoff kommt.
Da man nun in einer Minute ungefähr zwanzig Mal atmet
und
mit jedem Atemzug in gewöhnlichem Zuſtande circa ein
halbes
Liter Luft in die Lunge aufnimmt, ſo hat man in
einer
Minute an zehn Liter eingeatmet, worin zwei Liter
Sauerſtoff
enthalten ſind.
Freilich hat man in derſelben Zeit auch faſt zehn Liter
Luft
ausgeatmet;
aber die Beſchaffenheit der ausgeatmeten Luft
iſt
anders als die eingeatmete.
In der ausgeatmeten Luft
ſind
acht Liter Stickſtoff, ein und ein halbes Liter Sauerſtoff
und
etwas weniger als ein halbes Liter Kohlenſäure;
dies iſt
eine
Luftart, welche entſteht, ſobald ſich Sauerſtoff mit Kohle
verbindet
.
Da nun der Stickſtoff, der eingeatmet wird, keine weſent-
liche
Rolle im Körper zu ſpielen ſcheint, ſo können wir dieſen
für
unſern Zweck ganz außer acht laſſen und nur ſagen, daß
10799 Atmen etwas vorgeht, wodurch ſich die in einer Minute ein-
genommenen
zwei Liter Sauerſtoff zum Teil in Kohlenſäure um-
wandeln
.
Wie und zu welchem Zweck geſchieht dies?
Hierüber hat die Wiſſenſchaft dieſes Jahrhunderts hin-
reichende
Aufſchlüſſe gegeben, obwohl man ſagen muß, daß
Einzelheiten
noch ziemlich dunkel und der fortſchreitenden
Wiſſenſchaft
als Gegenſtände der Erforſchung verbleiben.
Was man ſicher weiß, iſt Folgendes.
Wir haben geſehen, daß die Lunge außer jenen baum-
artig
gebauten Luftwegen noch ein außerordentlich feines
Kanalſyſtem
in ſich hat, durch welches das Blut vom Herzen
aus
und wieder zu dieſem zurückſtrömt.
Das Kanalſyſtem
liegt
in unendlich feinen Verzweigungen verteilt, welche die
feinen
Luftwege umſchlingen und umwinden.
Nun aber hat
man
das Blut unterſucht, welches vom Herzen zur Lunge
ſtrömt
, und gefunden, daß dies Kohlenſäure in ſich beigemiſcht
hat
;
ferner hat die Unterſuchung des Blutes, das aus der
Lunge
zum Herzen zurückſtrömt, ergeben, daß weniger Kohlen-
ſäure
darin iſt, und daß es dafür mehr Sauerſtoff enthält,
und
iſt zu dem Schluß gekommen, daß der Sauerſtoff, den man
eingeatmet
hat, ins Blut übergegangen, während die Kohlen-
ſäure
, die ausgeatmet worden, dem Blute entnommen worden iſt.
Wir haben als mittleren Wert der Atmung unter gewöhn-
lichen
Umſtänden angenommen, daß man in einer Minute zehn
Liter
, mithin zwei Liter Sauerſtoff einatmet.
Da das Herz
ungefähr
in einer Minute ſiebzigmal Blut in die Lunge ein-
ſt@ömen
läßt, und jedesmal etwa zehn Lot dieſen Weg durch-
lauſen
, ſo iſt in einer Minute beinahe das ganze Blut des
Körpers
durch die Lungen gegangen, um mit Sauerſtoff ver-
ſorgt
zu werden, während es zu gleicher Zeit einen Teil der
abgeſtorbenen
Maſſe, die Kohlenſäure, abgegeben und in die
Welt
hinaus befördert hat.
108100
Das iſt die Art, wie man durch die Lunge Sauerſtoff ein-
atmet
und Kohlenſäure ausatmet, wie man durch die Atmung
das
Blut lebensfähig macht und von abgeſtorbenen Teilen
wieder
befreit, wie man ſo zu ſagen Leben einſaugt und Tod
aushaucht
.
Wird hiernach der wichtige Zweck der Atmung jedem klar,
ſo
wollen wir nun zeigen, wie die Einrichtung ſo vorzüglich
iſt
, daß ſie an Zweckmäßigkeit jede Art von künſtlicher Ma-
ſchine
weit übertrifft.
XXX. Die ſinnreiche Einrichtung.
Wenn man den Zweck der Lunge und ihrer Thätigkeit
darin
findet, daß in ihr dem Blut Sauerſtoff zugeführt und
Kohlenſäure
dem Blut entzogen werde, ſo fragt es ſich, ob die
Einrichtung
dieſes Werkzeuges unſeres Leibes ſo iſt, daß es
ſeinem
Zweck gut entſpricht, oder ob man möglicherweiſe eine
Maſchine
erſinnen könnte, die dieſes Kunſtſtück beſſer verſteht?
Leider muß jeder Unparteiiſche zur Beſchämung der menſch-
lichen
Erfindungsgabe ſagen, daß die Lunge eine vollendetere
Maſchinerie
iſt, als man jemals zu erſinnen vermocht hätte.
Faſſen wir einmal die Aufgabe der Lunge im ganzen auf,
ſo
mußte ſie ſo eingerichtet werden, daß durch ſie in jeder
Minute
einige zwanzig Pfund Blut, die der erwachſene Menſch
beſitzt
, mit Sauerſtoff getränkt und von Kohlenſäure gereinigt
werden
.
Nun iſt das Tränken des Blutes mit Sauerſtoff
eigentlich
ſehr leicht.
Das Blut hat nämlich eine große Nei-
gung
Sauerſtoff aufzunehmen und nimmt dieſen auch aus der
Luft
auf, ſobald es mit derſelben in Berührung kommt.
Öffnet
man
eine Ader, die kohlenſäurehaltiges Blut führt, und läßt
davon
etwas in einen Teller fließen, ſo bemerkt man ſehr
109101 daß das bläuliche Blut ſich an der Luft rötet, und dies ge-
ſchieht
eben dadurch, daß der Sauerſtoff der Luft ſich mit dem
Blute
verbindet.
Im Prinzip alſo iſt die Tränkung des
Blutes
mit Sauerſtoff gar nicht ſo ſchwierig;
aber es praktiſch
möglich
zu machen, daß in jeder Minute die zwanzig Pfund
Blut
ſo getränkt werden, das iſt eine ungeheuere Schwierigkeit.
Bei der Berührung von Luft und Blut iſt es nur die oberſte
feinſte
Schicht, welche Sauerſtoff aufnimmt;
das Blut unter
dieſer
oberſten Schicht kommt nicht mit der Luft in Berührung
und
kann nur den Sauerſtoff aus derſelben aufnehmen, wenn
die
oberſte Schicht bereits in Zerſetzung übergeht.
Das Blut
in
einem Teller kann daher nur äußerſt langſam mit Sauer-
ſtoff
verſorgt werden, da die Fläche, in welcher Luft und Blut
ſich
berühren, nur ſehr gering iſt.
Will man nun dennoch eine
große
Maſſe Blut recht ſchnell mit Sauerſtoff verſorgen, ſo
muß
man die Fläche, in welcher es mit der Luft in Berüh-
rüng
treten kann, außerordentlich groß machen.
Und dieſes
Kunſtſtück
iſt in der Lunge ausgeführt;
die Fläche, in welcher
ſich
Blut und Luft in der Lunge nahe kommen, iſt ungeheuer
groß
, trotzdem die Lunge ſelber nur ſehr klein iſt!
Wie iſt dies möglich?
Es iſt eben dadurch möglich, daß die Luftwege ſo außer-
ordentlich
baumartig verzweigt ſind und die Blutwege ſich ſo
merkwürdig
um die Luftwege herumwinden.
Um ſich das recht deutlich zu machen, bitten wir, daß der
Leſer
ſich erinnere an den erwähnten Wachsbaum, der entſtehen
würde
, wenn man die Luftwege der Lunge mit einer Wachs-
maſſe
ausfüllen wollte.
Stellen wir uns ſolchen Wachsbaum
vor
, der etwa ein halbes Pfund wiegen würde, und ver-
gleichen
wir einmal, wie viel Oberfläche dieſer Wachsbaum
und
wie wenig Oberfläche ein halbes Pfund Wachs hat, dem
man
eine Kngelform giebt! Der Wachsbaum iſt in millionen-
fache
Zweige geteilt, jeder dieſer Zweige hat eine
110102 Oberfläche, je feiner die Zweige ſich ſpalten, deſto mehr Ober-
fläche
erhält der Baum, während die Wachskugel nur eine,
und
zwar die möglichſt kleine Oberfläche hat, die ihr gegeben
werden
kann.
Denken wir uns, man tauche dieſen Wachsbaum
unter
Waſſer, ſo wird es jeder einſehen, daß eine Unmaſſe von
Waſſer
mit dem Wachs in Berührung kommt;
taucht man da-
gegen
die Wachskugel ins Waſſer, ſo benetzt ſich nur die Ober-
fläche
, während die innern Schichten ganz unberührt bleiben.
Setzen wird den Wachsbaum dem Winde aus, ſo ſtreicht die
Luft
durch ein millionenfaches Gezweige, und auf jedem Zweig-
chen
berühren ſich Luft und Wachs;
ſetzt man dagegen die
Wachskugel
dem Winde aus, ſo ſtreicht die Luft nur über die
oberſte
Fläche hin.
Es wird aus dieſem Beiſpiel wohl leicht
einzuſehen
ſein, wie die feine Zerteilung einer Maſſe ihre Ober-
fläche
ungeheuer vergrößert;
um dies aber durch ein einfacheres
Beiſpiel
noch deutlicher zu machen, wollen wir uns Folgendes
vorſtellen
.
Geſetzt wir hätten einen Apfel, der ſo beſchaffen iſt, daß
er
nur genießbar wird, wenn er durch und durch von Luft
durchdrungen
wird, ſo würden wir unſern Zweck ſchlecht
erreichen
, wenn wir ihn, wie er iſt, an die Luft legen wollten,
da
er ſo nur an der Oberfläche genießbar würde.
Richtiger
würden
wir ſchon handeln, wenn wir den Apfel durchſchnitten
und
in zwei Hälften der Luft ausſetzten.
Die Luft würde
freilich
auch jetzt nur die Oberfläche genießbar machen;
aber
durch
den Schnitt hätten wir eben die Oberfläche vergrößert,
und
zwar um die beiden Schnittflächen.
Thun wir nun mit
jedem
Teil dasſelbe, d.
h. durchſchneiden wir dieſen noch ein-
mal
, ſo haben wir wieder mit jedem Schnitt zwei nene Flächen
der
Luft zugänglich gemacht.
Der Apfel wurde zerkleinert;
aber die Oberfläche, die Berührungsfläche mit der Luft wurde
vergrößert
.
Was folgt aber daraus? Nichts anderes als die
Thatſache
:
je mehr man den Apfel zerteilt, deſto
111103 macht man deſſen Oberfläche, man kann alſo ſeine Oberfläche
ins
Unendliche vergrößern, wenn man ſeine Teilchen unendlich
verkleinert
.
Ganz ſo iſt es mit dem Gewebe der Lunge.
Wäre die Lunge wie ein Schlauch oder eine Flaſche ge-
baut
, worin ein halb Liter Luft und eine entſprechende Maſſe
Blut
hineingeht, ſo würde es rein unmöglich ſein, in einer
Minute
einige zwanzig Pfund Blut mit Luft in Berührung
zu
bringen, um das Blut mit Sauerſtoff zu verſorgen.
Nun
aber
, wo die Höhlung der Lunge in ein äußerſt feines, baum-
artiges
Gezweige geteilt iſt, das Millionen und Millionen
Zweigchen
beſitzt und wiederum das Blut durch ein Kanal-
ſyſtem
läuft, das in die allerfeinſten Röhrchen übergeht, da-
durch
eben ſind ſowohl der Luftweg der Lunge, wie deren Blut-
wege
ſo außerordentlich groß an Oberfläche, daß eine ſo kleine
Maſchine
, wie dieſe Lunge, ein ſo erſtaunliches Reſultat in
ihrer
Wirkung haben kann.
Wäre man imſtande, die Luftwege der Lunge genau zu
ſpalten
, die Haut, die ſie umkleidet, herauszunehmen und auf
einer
Fläche auszubreiten, ſo würde man nach ungefährer
Schätzung
mit der Haut einer einzigen Menſchenlunge den
Fußboden
eines großen Zimmers belegen können.
Würde man
es
mit dem Kanalſyſtem der Lunge, das Blut in ſich führt,
ebenſo
machen, ſo würde man eine Tapete für eine Wand be-
ſitzen
.
So ungeheuer groß ſind die Flächen, die in einer ſo
kleinen
Maſchine wie die Lunge ſtecken, und unleugbar deshalb
ſtecken
, damit die Lunge fähig werde, ihren Dienſt zu verrichten.
Und dieſen Dienſt müſſen wir doch noch näher kennen
lernen
, denn es ſteckt noch ſo manches dahinter, was Menſchen-
erfindungen
ihr noch lange nicht wett machen werden!
112104
XXXI. Die regulierte Thätigkeit und die
Nebengeſchäfte der Lunge.
Der Bau der Lunge iſt nicht nur ſo unglaublich zweck-
mäßig
eingerichtet, daß in ſolch’ kleinem Raum ſo ungeheuere
Wirkungen
erzielt werden können, ſondern ihre Thätigkeit iſt
ſo
reguliert und mit Nebenwirkungen verſorgt, daß man ihre
Vorzüglichkeit
faſt eine unüberſehbare nennen muß.
Die zwanzig Pfund Blut des ausgewachſenen menſchlichen
Körpers
müſſen vom Herzen durch einige ſiebzig Zuſammen-
preſſungen
in Zeit von einer Minute durch das Kanalſyſtem
der
Lunge gejagt werden.
Nennen wir dieſe Preſſungen den
Pulsſchlag
in der Lunge, ſo bringt mindeſtens in jeder Sekunde
ein
Pulsſchlag mehr als 100 Gramm Blut in die Lunge, die
jedoch
dort nicht ſtillſtehen, ſondern in ſtetem Durchfließen in
äußerſt
kurzer Zeit ihren Sauerſtoff erhalten müſſen.
Da aber
der
Sauerſtoff nur durch das Einatmen in die Lunge gelangt,
und
man nach dem Einatmen auch ausatmen muß, ſo würde
das
Blut, welches während des Ausatmens durch die Lunge
läuft
, keinen Sauerſtoff erhalten und ſomit lebensunfähig
werden
.
Dieſem Übelſtand iſt durch die Einrichtung ab-
geholfen
, die wir bereits erwähnt haben, und zwar iſt die Ein-
richtung
folgende:
Die Lunge giebt beim Ausatmen nicht alle Luft von ſich,
ſondern
hält einen bedeutenden Teil ſtets zurück, und zwar in
den
feinen Bläschen, welche wir die Birnen an dem Luftbaum
der
Lunge genannt haben.
Da dieſe Bläschen das Ende der
Luftwege
ſind, und dieſe eigentlich nie leer werden, ſo kann
man
ſagen, man füllt beim Atmen nur die Stämme, Äſte und
Zweige
der Luftwege, alſo nur die nächſten Teile mit friſcher
Luft
aus;
dieſe friſche Luft trifft in der Lunge einen alten
Reſt
von Luft an, welcher ſeinen Sauerſtoff faſt ganz
113105 gegeben und dafür Kohlenſäure aufgenommen; nun aber
geſchieht
in der Lunge ein weiterer Austauſch oder richtiger
eine
Miſchung von friſcher und alter Luft, und wenn man
wieder
ausatmet, ſo bleibt ein Reſt von reinerer Miſchung
zurück
, als der war, welchen man kurz vor dem Einatmen
beſaß
.
Wie wichtig aber dieſer Reſt von Luft iſt, der ſelbſt beim
Ausatmen
zurückbleibt, um inzwiſchen das Blut mit Sauerſtoff
zu
verſorgen, wird man leicht einſehen, wenn man bedenkt,
daß
bei langſamem, tiefen Atem, wie z.
B. während des
Schlafes
, oft ſieben bis acht Pulsſchläge zwiſchen einer Ein-
atmung
und der andern vergehen, und immerhin jeder Puls-
ſchlag
neues Blut durch die Lunge treibt, das ſeine Portion
Sauerſtoff
ſofort erhalten muß.
Aber auch den Wachenden,
die
ſchneller atmen, iſt dieſer Umſtand von größter Wichtigkeit.
Unſere Parlamentsmitglieder würden nicht ſo langatmige Reden
halten
können, wenn ihr Blut, das meiſtens ſchnell umläuft,
nicht
einen Reſt von Luft in den Lungen vorfände, das es
lebensfähig
macht;
unſere Sängerinnen würden auch aus
gleichem
Grunde nicht imſtande ſein, ſo langatmige Töne von
ſich
zu geben, wie ſie thun müſſen, um die Hörer zu entzücken;

ja
, was noch ſchlimmer wäre, wir würden nicht imſtande ſein,
unſeren
Hunger und Durſt in langen Biſſen und Zügen zu
ſtillen
, wobei die Atmung ganz unterbrochen wird, und was
gewiß
das allerſchlimmſte wäre, wir würden in ſchädlicher und
verpeſteter
Luft keinen Augenblick auszuhalten vermögen, wenn
wir
genötigt wären, für jeden neuen Blutſtrom nach der Lunge
einen
friſchen Atemzug zu thun.
Iſt nun dieſe Regulierung der Lungenthätigkeit ſchon
äußerſt
merkwürdig, ſo ſind die Nebenwirkungen der Lungen-
thätigkeit
nicht minder bewundernswert, denn ſie verrichten
Dinge
, die zu den allerwichtigſten Lebensprozeſſen gehören.
Daß die Luft, die man ausatmet, feucht iſt, wird
114106 mann bemerkt haben, der einmal eine Fenſterſcheibe anhauchte,
oder
dem im Winter der Schnurrbart zu einem Eiszapfen
friert
;
daß dieſe Feuchtigkeit aus der Lunge kommt, und zwar
direkt
aus dem Blute, das iſt auch erſt durch die Wiſſenſchaft
dieſes
Jahrhunderts feſtgeſtellt worden;
daß aber neben dieſer
Bildung
von Waſſer in der Lunge auch hier noch der Herd
iſt
, worin das Feuer des Lebens angebrannt wird, das iſt
eine
Wahrheit, welche erſt die Naturforſchung der neueren Zeit
aufgedeckt
hat.
Bei der Ausſcheidung des Waſſers aus dem Blute ſpielt
die
Lunge eigentlich nur die Rolle eines Filtrums.
Das
Waſſer
iſt urſprünglich im Blute ſelbſt enthalten und tritt
durch
die Häute der Blutwege und der Luftwege der Lunge
in
Art einer Ausſchwitzung hindurch, wobei die auszuatmende
Luft
ſich mit Feuchtigkeit ſättigt.
Ein erwachſener Menſch
verliert
in gewöhnlichem Wetter ungefähr ein Pfund Waſſer
täglich
durch das Ausatmen.
Dieſe Ausſcheidung des Waſſers
durch
die Lunge iſt zwar ſehr verſchieden je nach der Trocken-
heit
oder Feuchtigkeit der Luft, die man eingeatmet;
iſt die
eingeatmete
Luft trocken, wie im heißen Sommer oder in
Zimmern
, die ſtark durch eiſerne Öfen geheizt werden, ſo nimmt
man
beim Ausatmen mehr Waſſer aus dem Blute auf, weshalb
man
auch unter ſolchen Umſtänden ſtärkeren Durſt verſpürt;
iſt
dagegen
die eingeatmete Luft feucht, wie in regneriſchen Sommer-
und
Wintertagen, ſo tritt weniger Waſſer aus dem Blut in
die
Lunge.
Allein es müſſen hierbei Umſtände mitſpielen, die
man
noch nicht erforſcht hat und welche die Ausatmung von
Waſſer
hervorbringen, ſelbſt wenn die eingeatmete Luft ſchon
vollſtändig
von Waſſer geſättigt iſt, wie z.
B. in unſeren
Waſchhäuſern
, wo trotz der überreichen Waſſermenge in der
Luft
dennoch täglich 18 bis 24 Lot Waſſer ausgeatmet werden.
Da jedoch bei dieſer Waſſerbildung die Lunge wahr-
ſcheinlich
keine thätige Rolle ſpielt, ſo wollen wir in
115107 Beziehung nur ihre Wichtigkeit als Filtrum hervorheben und
uns
zur Bildung der Wärme in den Lungen wenden, die von
entſchiedenſtem
und bedeutendſtem Einfluß auf das Leben iſt.
XXXII. Die Lunge als Heizapparat.
Noch zu Anfang unſeres Jahrhunderts gehörte es zu den
gangbarſten
Vorſtellungen, die tieriſche Wärme auf Rechnung
einer
unbekannten Kraft zu ſetzen, welche manLebenskraft”
nannte
, und der man alles zuſchrieb, was man von den Er-
ſcheinungen
des Lebens nicht erklären konnte.
Wunderbar genug iſt in der That die gleichmäßige Blut-
wärme
, welche man am Menſchen beobachtet.
Das Blut und
alle
inneren Teile des menſchlichen Leibes ſind zu allen Zeiten
des
Jahres, in allen Gegenden der Welt, unter allen Ver-
hältniſſen
und in jedem Alter des Lebens ſtets circa 37 Grad
warm
;
der geringſte Verluſt von Wärme, die mindeſte
Steigerung
derſelben bringt krankhafte Erſcheinungen und
ſelbſt
den Tod hervor, und doch konnte man ſich’s nicht
erklären
, woher dieſe Wärme in Ländern ſtammt, wo außer-
ordentlicher
Froſt herrſcht und der Menſch nicht nur durch die
ganze
Haut, ſondern auch durch den Atem in jedem Moment
einen
Teil der Wärme verliert, indem er ſtets kalte Luft ein-
atmet
und warme aushaucht.
Auch hier war es der Wiſſenſchaft der neueren Zeit vor-
behalten
, die naturgemäße Erklärung aufzufinden und jene
alte
Erklärungsweiſe zu verdrängen, die ein Rätſel ſtets mit
Annahme
eines noch größeren Rätſels, “der Lebenskraft” zu
löſen
trachtete.
Die Naturwiſſenſchaft wies nach, daß das
Atmen
gerade die Quelle der tieriſchen Wärme iſt, und daß in
der
Lunge und durch ihre Vermittelung im ganzen
116108 dasſelbe vorgeht, was in einem Ofen geſchieht, durch welchen
man
ein Zimmer in ſtets gleicher Wärme erhalten kann.
Von der Ähulichkeit, welche die Lunge mit einem Ofen
hat
, haben wir bereits geſprochen;
ſie beſteht darin, daß auch
ein
Ofen nur dann den Brennſtoff verzehrt und in Hitze ver-
ſetzt
wird, wenn er einerſeits Sauerſtoff aus der Luft ent-
nehmen
und andererſeits die Kohlenſäure, dieſe Verbindung
des
Sauerſtoffs mit der Kohle, von ſich geben kann.
Will
man
einen Ofen in hellem Brand erhalten, ſo muß man vorn
an
der Ofenthür eine kleine Klappe öffnen, durch welche die
Luft
zum Feuer ſtrömt, und zu gleicher Zeit muß man die
Klappe
zum Schornſtein offen laſſen, damit die Kohlenſäure,
die
ſich im Ofen bildet, hinausziehen kann.
Durch die Thür-
klappe
atmet demnach der Ofen ein, und durch die Schornſtein-
klappe
atmet er aus, und zwar iſt das, was er einatmet und
ausatmet
, dem ganz gleich, was auch unſere Lunge aufnimmt
und
von ſich entfernt.
Aber die größere Ähnlichkeit liegt noch
darin
, daß ebenſo wie die Verbindung der Kohle mit Sauer-
ſtoff
im Ofen es iſt, welche die Wärme erzeugt, ebenſo es in
der
Lunge der Fall iſt.
Sie iſt in der That der unmittelbare
und
mittelbare Ofen des Leibes.
Es iſt nämlich durch die Chemie ganz unumſtößlich
bewieſen
, daß allenthalben, wo ſich Kohle mit Sauerſtoff ver-
bindet
und Kohlenſäure bildet, auch ſtets eine Erwärmung
erfolgt
.
Die Wärme unſeres Feuers iſt nur eine Folge der
chemiſchen
Verwandlung, welche brennend vor ſich geht.
Iſt
dieſe
Verwandlung ſehr ſchnell, ſo entwickelt ſich ein ſehr hoher
Grad
von Wärme und zwar unter Lichterſcheinungen und
Flammen
, wie dies im Ofen der Fall iſt.
Geht die chemiſche
Verwandlung
weniger heftig vor ſich, ſo entwickelt ſich Wärme
ohne
Licht und Flammen.
Die Beweiſe für dieſe Lehre hat
die
Chemie unumſtößlich gegeben und durch tauſendfache Beiſpiele
und
Berechnungen jeden Zweifel an dieſer Wahrheit beſeitigt.
117109
Da nun aber in der Lunge wirklich dieſelbe chemiſche
Verwandlung
eingeleitet wird wie im Ofen, da ſie die Ein-
richtung
hat, ebenſo Sauerſtoff aufzunehmen, wie Kohlenſäure
zu
entfernen, da in ihr ferner ſchon ein Teil des chemiſchen
Vorganges
ſtattfindet und die Kohle des Blutes, welches zur
Lunge
ſtrömt, ſich in dieſer mit dem Sauerſtoff verbindet, ſo
iſt
unumſtößlich, daß in der Lunge ſchon Wärme entſtehen muß.
In dieſem Sinne kann man in Wahrheit die Lunge auch
als
Heizapparat des Leibes betrachten:
nur darf man ſich
nicht
vorſtellen, daß in der Lunge allein jene chemiſche Ver-
bindung
von Sauerſtoff und Kohle vor ſich geht, welche Wärme
erzeugt
, ſondern muß bedenken, daß die Blutflüſſigkeit, welche
in
der Lunge Sauerſtoff aufgenommen hat, durch das Herz
und
deſſen Stoßkraft nach allen Teilen des Körpers getrieben
wird
, daß es auf dieſem Wege immer noch Sauerſtoff übrig
hat
, um allenthalben Kohlenſäure zu bilden und ſomit ver-
brauchte
Stoffe des Leibes wieder im Blutſtrom zum Herzen
zu
führen, damit ſie von dort nach der Lunge geſchickt werden.
Indem nun ſo die Bildung der Kohlenſäure zugleich im ganzen
Körper
geſchieht, findet allenthalben, wo nur ſtrömendes Blut
vorhanden
iſt, auch Entwickelung von Wärme ſtatt, und die
Lunge
iſt nur eine Art von Hauptofen, in welchem die Ver-
brennung
des Kohlenſtoffes beginnt und ſich dann allenthalben
fortſetzt
, wo das feine Geäder das ſauerſtoffhaltige Blut in
innige
Berührung bringt mit der abſterbenden Kohle des
Leibes
.
Woher aber mag es wohl kommen, daß die Lunge, dieſer
Ofen
des Leibes, im Sommer und im Wintec in ganz gleicher
Weiſe
die Heizkraft reguliert und die Wärme des Blutes auf
gleichem
Grad der Hitze erhält?
Über dieſe Frage hat Juſtus von Liebig vortreffliche
Aufſchlüſſe
gegeben, aus denen ſich erweiſt, wie die Lunge
auch
als Ofen ein wahres Meiſterſtück iſt, und andere
118110 forſcher, die Liebigs Entdeckungen weiter verfolgten, haben
außerdem
noch den Beweis geführt, daß die Lunge auch als
Sparofen
ein wahres Muſter nützlicher Erfindung iſt.
Dieſe wiſſenſchaftlichen Aufſchlüſſe ſind ſo bedeutend, daß
wir
ſie ein wenig näher kennen lernen müſſen.
XXXIII. Die Regulierung der Leibeswärme.
Die Aufklärung, welche Liebig über das Atmen gegeben
hat
, iſt deshalb beſonders ſo intereſſant, weil ſie durch allbe-
kannte
Beiſpiele aus dem gewöhnlichen Leben das Atmen er-
klärt
und zugleich den innigen Zuſammenhang desſelben mit
dem
Lebensvorgang recht überſichtlich macht.
Wenn es ausgemacht iſt, daß das Feuer im Ofen nicht
brennt
, ſobald kein Sauerſtoff zu demſelben zutreten kann, ſo
iſt
es noch allgemeiner bekannt, daß der Sauerſtoff das Feuer
nicht
unterhalten kann, ſobald man nicht Brennmaterial in den
Ofen
einlegt.
Gleicht nun die Lunge in der Beziehung einem Ofen, daß
durch
ſie der Sauerſtoff einſtrömt, der ſich mit der Kohle des
Blutes
verbindet, ſo gleicht ſie auch inſofern einem ſolchen, daß
ſie
die Stätte iſt, wo alles Blut, das ſeine Rundreiſe im ganzen
Körper
gemacht hat, hinſtrömt, um dort die gebildete Kohlen-
ſäure
, wie ein Ofen durch ſeinen Schornſtein, auszuſcheiden.
Nun iſt es aber leicht einzuſehen, daß, wenn die Wärme
des
Leibes wirklich von der Atmung, von der Bildung der
Kohlenſäure
herrührt, hierbei ganz wie im Ofen nicht bloß der
Sauerſtoff
ſeine Rolle ſpielt, ſondern das Brennmaterial das
Hauptſächlichſte
iſt, was die Wärme reguliert.
Was aber iſt
dieſes
Brennmaterial im Körper?
Liebig weiſt nach, daß das Brennmaterial des
119111 eben diejenigen Speiſen ſind, welche das Blut mit Kohlenſtoff
und
den Beſtandteilen des Waſſers verſorgen, alſo mit den-
jenigen
Dingen, welche man beim Ausatmen aus dem Körper
ausſcheidet
.
Liebig lehrte die Speiſen, die wir genießen, in zwei ver-
ſchiedene
Gattungen teilen.
Die eine Art Speiſe, wie z. B. Fleiſch,
Käſe
, Eier, Brod, Erbſen, u.
ſ. w. iſt hauptſächlich zuſammen-
geſetzt
aus vier Stoffen, aus Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlen-
ſtoff
und Stickſtoff.
Dieſe Speiſe verwandelt ſich im Körper in
Blut
, und das Blut bildet daraus unſere Muskeln, Nerven
und
die ſonſtigen Teile des Körpers.
Die zweite Art Speiſe
iſt
nur aus drei Stoffen zuſammengeſetzt.
Sie enthalten
Kohlenſtoff
, Sauerſtoff und Waſſerſtoff, während ihnen Stickſtoff
fehlt
.
Dieſe Gattung Speiſe ſind alle Gemüſearten, Kartoffeln,
Mohrrüben
, Zucker, wie auch alle Getränke, wie Bier, Brannt-
wein
, Wein u.
ſ. w. Auch dieſe Speiſen werden im Körper
zu
Blut;
aber dieſer Teil des Blutes iſt nicht im ſtande, Fleiſch
zu
bilden, weil ihm der Stickſtoff hierzu fehlt;
ſeine Beſtim-
mung
iſt vielmehr, wieder als Kohlenſäure und Waſſer aus-
geatmet
zu werden und zwar, nachdem er die Rolle des Brenn-
materials
im Körper geſpielt und die Leibeswärme hervorge-
bracht
hat.
Es dient demnach die Speiſe, die wir eſſen, einerſeits zur
wirklichen
Bildung des Leibes und andererſeits zur Erwärmung
desſelben
.
Nach dieſer Lehre von den Speiſen, die wir freilich hier
nicht
weiter erörtern können, ſind alle Nahrungsmittel, welchen
Stickſtoff
fehlt, und die deshalb die ſtickſtoffloſen Speiſen ge-
nannt
werden, beſtimmt, den Körper zu erwärmen, oder rich-
tiger
, ſie dienen vornehmlich dazu, den Kohlenſtoff herzugeben,
der
beim Atmen aus dem Körper geht, den Kohlenſtoff, der
im
Körper jene chemiſche Verbindung mit dem Sauerſtoff ein-
geht
, bei welcher ſtets Wärme entſteht.
120112
Hiernach läßt es ſich leicht einſehen, daß die Wärme des
Körpers
nicht bloß vom Atmen herrührt, ſondern hauptſächlich
von
dem Kohlenſtoff, den wir in unſeren Speiſen verzehren.
Iſt dieſer Kohlenſtoff das wirkliche Brennmaterial des Leibes,
ſo
iſt es klar, daß man, wenn es kalt iſt, viel Brennmaterial
braucht
, während man, wenn es warm iſt, mit wenig vorlieb
nimmt
.
Und dies eben erklärt es ausreichend, woher die gleich-
mäßige
Erwärmung des menſchlichen Blutes ſtattfindet, gleich-
viel
ob ein Menſch in heißen oder in kalten Ländern lebt.
Die
gleichmäßige
Erwärmung rührt bei verſchiedenem Klima von
den
verſchiedenen Speiſen her, oder richtiger von den ver-
ſchiedenen
Portionen Kohlenſtoff, die man in den Speiſen
verzehrt
.
Im Winter ißt man mehr als im Sommer und nament-
lich
mehr kohlenſtoffhaltige Speiſen als im Sommer.
In heißen
Ländern
genießt man mehr Früchte;
in kalten verzehrt man
Speck
und Thran mit großem Appetit.
In hundert Gramm
Früchten
ſind aber kaum zwölf Gramm Kohlenſtoff, während in
hundert
Gramm Speck gegen achtzig Gramm davon enthalten ſind.
Da nun der Kohlenſtoff das Brennmaterial des Leibes iſt, ſo iſt
es
erklärlich, daß der Nordländer, der ſeine Portion Speck
verzehrt
, ſeinen Leib an ſechsmal ſtärker eingeheizt hat als
der
Südländer, der ſich an einer Frucht labt;
und wenn die
Blutwärme
des einen eben gleich iſt der des andern, ſo darf
dies
nicht befremden, da es ja jedermann aus eigener Erfah-
rung
weiß, wie ſein Stubenofen ſelbſt bei der ſtrengſten Kälte
die
nötige Wärme erhalten kann, wenn er nur gehörig mit
Brennmaterial
verſorgt wird.
Obwohl aus Liebig’s lichtvollen Lehren über Atmung und
Speiſe
hervorgeht, daß die Wärme des Leibes zugleich von
der
Speiſe reguliert wird, die wir eſſen, ſo berührt doch
dieſes
Thema ſehr innig die Thätigkeit der Lunge und deren
Einrichtung
, da es leicht erſichtlich iſt, wie die Lunge
121113 gebaut ſein muß, daß ſie bald für viel, bald für wenig Brenn-
material
Sauerſtoff herbeiſchafft, daß ſie bald viel, bald wenig
Kohlenſäure
aus dem Körper entfernt, bald voll, bald weniger
voll
atmet, bald ſchneller, bald langſamer ihr Werk verrichtet.
Betrachtet man daher die Lunge als Hauptteil eines Heiz-
apparates
im Körper, ſo muß man ihre Einrichtung, die eine
merkwürdige
Regulierung bei dieſem Geſchäft möglich macht,
ganz
beſonders hervorheben, und wenn wir bedenken, wie viel
ſcharfſinnige
Köpfe ſich ſchon über die Aufgabe zerſonnen
haben
, einen Heizapparat zu erfinden, der ſtets eine gleich-
mäßige
Wärme erzeugt, wenn auch das Wetter ſich ändert, ſo
müſſen
wir geſtehen, daß ein Menſch am meiſten auf ſeine
Lunge
ſtolz zu ſein Urſache hätte, wenn ſie nota bene
ſeine
Erfindung wäre.
XXXIV. Wie ſparſam die Natur iſt.
Nicht nur die Vorzüglichkeit der Einrichtung, ſondern
auch
die Sparſamkeit, mit welcher die Lunge und der ganze
Wärme-Apparat
des menſchlichen Körpers angelegt, iſt ein
Gegenſtand
der Bewunderung für jeden, der nähere Einſicht
hierin
gewinnt.
Wenn man bedenkt, daß die Wärme des menſchlichen
Körpers
herrührt von der Verbindung des Kohlenſtoffs im
Blute
mit dem eingeatmeten Sauerſtoff, oder, was dasſelbe iſt,
von
der Verbrennung des Kohlenſtoffs, den wir in den Speiſen
genießen
, ſo läßt ſich leicht die Rechnung aufſtellen, inwieweit
dieſe
Heizung vergleichsweiſe mit ſonſtigen Heiz-Apparaten
ſparſam
iſt oder nicht.
Die Naturforſcher haben dieſe Rechnung ſorgfältig aus-
geführt
und folgendes Reſultat gefunden.
A. Bernſtein, Naturw. Volſsbücher XII.
122114
Ein erwachſener Menſch atmet täglich etwa zwei Pfund
Kohlenſäure
aus.
Hierzu, um dieſe zwei Pfund Kohlenſäure
im
Körper zu bilden, muß ſich ungefähr ein halbes Pfund
Kohlenſtoff
mit Sauerſtoff verbinden;
und die hierbei ent-
ſtehende
Wärme wird dem Körper zu gute kommen.
Fragt man nun, wie viel Wärme kann überhaupt ein
halb
Pfund Kohlenſtoff oder reine Kohle bilden, ſo ergiebt ſich
aus
anderweitigen Verſuchen, daß jedes Gramm Kohle beim Ver-
brennen
ungefähr 200 Gramm eiskaltes Waſſer bis zu 30 Grad
erwärmen
kann, vorausgeſetzt, daß die Vorrichtung ſo vortreff-
lich
iſt, daß auch nicht ein bißchen Wärme anderweitig verloren
geht
.
Hiernach müßte beſtenfalls ein halb Pfund Kohlenſtoff
50000
Gramm oder 100 Pfund eiskaltes Waſſer bis zu 30 Grad
erwärmen
können und vorausgeſetzt, daß die Erkaltung äußerſt
gering
iſt, würde ein ſehr geringer Zuſchuß von Kohle hin-
reichen
, das Waſſer ſtets in dieſer Wärme zu erhalten.
Bedenkt man nun, daß das Gewicht des ausgewachſenen
Menſchen
mehr als 100 Pfund beträgt, daß der Menſch durch
die
Ausatmung eine große Maſſe Luft, die er kalt eingeatmet,
warm
von ſich giebt, daß er kalte Speiſen und Getränke ge-
nießt
, die gleichfalls im Körper bis zur Blutwärme erhoben
werden
müſſen, ſo muß man geſtehen, daß das eine halbe
Pfund
Kohle, welches er täglich in ſeinen Speiſen einnimmt,
ein
außerordentlich geringer Verbrauch von Brennmaterial iſt,
ein
ſo geringer Verbrauch, daß nur die Vorzüglichkeit des
Heiz-Apparates
und der ſonſtigen Einrichtungen, die die Ab-
kühlung
verhindern, dieſe Erwärmung möglich macht.
Wir dürfen jedoch unſerm Thema zu Liebe nicht That-
ſachen
verſchweigen, die auf eine zweite Quelle der Wärme im
menſchlichen
Körper hindeuten.
Es iſt nämlich ſehr wahrſchein-
lich
, daß nicht alles Waſſer, das wir aus dem Körper aus-
ſcheiden
und vornehmlich in Schweiß und Atem von uns geben,
unmittelbar
dasſelbe iſt, welches wir in den Speiſen und
123115 tränken aufnehmen, ſondern daß ſich im Körper wirklich Waſſer
bilde
, und zwar durch Verbindung von Waſſerſtoff mit einem
Teil
des eingeatmeten Sauerſtoffs.
Nun aber iſt es ausgemacht,
daß
bei der Bildung von Waſſer ebenfalls Wärme entſteht
und
hiernach muß man freilich dieſen Teil der Wärme abziehen,
wenn
man die aus dem Kohlenſtoff entſtehende Wärme in ihrer
Wirkung
auf den Körper betrachtet.
Indeſſen kennt man die
Wärme
, welche durch Waſſerbildung im Körper entſteht, nur
ſchätzungsweiſe
und darf nicht unbeachtet laſſen, daß das als
Schweiß
austretende Waſſer eine Abkühlung des Körpers an
der
Haut bewirkt, und demnach ein Teil der Wärme, welche
das
Waſſer bei ſeiner Bildung im Körper entſtehen läßt, wieder
verloren
geht bei dem Austreten aus dem Körper.
Somit
verbleibt
die eigentliche Quelle der Erwärmung hauptſächlich
der
Verbrennung des Kohlenſtoffs, deſſen Sparſamkeit wir alſo
zu
bewundern volle Urſache haben.
Die Naturforſcher haben noch eine andere Rechnung an-
geſtellt
, die nicht minder intereſſant iſt, und die wir, obgleich
ſie
nicht direkt hieher gehört, beiläufig unſern Leſern vorführen
wollen
.
Es wird wohl jeder, der darüber nachdenkt, wie unſere
Speiſe
nicht nur zur Bildung unſeres Leibes, ſondern auch zu-
gleich
zur Erwärmung dient, auf den Gedanken kommen, ob
nicht
auch die Kraft, die wir im Körper beſitzen, mit der Wärme
in
Zuſammenhang ſteht, und unſere Speiſe, dieſes Brenn-
material
des Leibes, nicht auch verglichen werden muß mit
dem
Brennmaterial einer Dampfmaſchine, welche die Kraft
einer
Dampfmaſchine erzeugt?
Dieſer Gedanke iſt nur zum Teil richtig. Die Wärme iſt
zwar
eine notwendige Bedingung zur Kraft unſerer Muskeln;
aber ſie wirkt nicht als Kraft wie in der Dampfmaſchine.
Was
unſern Muskeln Kraft verleiht, iſt wie wir unſern
Leſern
einmal gezeigt haben etwas, das mit Elektrizität
124116 größte Ähnlichkeit hat, ja es iſt höchſt wahrſcheinlich Elektrizität
ſelber
.
Gleichwohl haben Naturforſcher einmal die Rech-
nung
angeſtellt, welche Kraft man wohl imſtande wäre, durch
Maſchinen
zu erzielen mit demſelben Kohlenſtoff, den ein Menſch
zu
ſeiner Leibeswärme bedarf, oder um es deutlicher auszu-
drücken
:
die Naturforſcher haben ſich gefragt: wenn wir das,
was
ein Menſch an Kraft beſitzt, erſetzen wollen durch eine
Maſchine
, wird dieſe mehr oder weniger Heizmaterial, das heißt
Speiſe
an Kohle gebrauchen?
Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende.
Eine Menſchenkraft iſt ungefähr eine ſechſtel Pferdekraft;
nun iſt es eine bekannte Erfahrung, daß, je größer eine Ma-
ſchine
iſt, ſie deſto weniger Brennmaterial verbraucht pro
Pferdekraft
.
Der Unterſchied iſt ſo groß, daß eine Maſchine
von
einer Pferdekraft zwanzig Pfund Kohlen ſtündlich ver-
braucht
, während eine Maſchine von hundert Pferdekräften für
jede
Pferdekraft nur fünf Pfund, alſo im ganzen nur fünf-
hundert
Pfund ſtündlich verzehrt.
Hieraus geht hervor, daß,
je
kleiner die Maſchine iſt, deſto teurer ſie im Heizmaterial
wird
.
Eine Maſchine von einem ſechſtel Pferdekraft, alſo gleich
einer
Menſchenkraft würde bei der kunſtvollſten Einrichtung
immer
noch über vier Pfund Kohlen ſtündlich brauchen.
Da
nun
aber ein Menſch mit einem halben Pfund Kohlenſtoff hin-
reichend
auf vierundzwanzig Stunden verſorgt iſt, ſo findet es
ſich
, daß die menſchliche Maſchine in ihrem Brennmaterial an
zweihundertmal
ſparſamer iſt als jede andere durch Wärme ge-
triebene
künſtliche Maſchine.
XXXV. Ein Baum, eine Tonne und eine Lunge.
Bevor wir unſere Betrachtung über die Lunge beſchließen
und
zu andern Organen des Leibes übergehen, wollen wir
125117 noch in der Welt umſehen, und nachſuchen, ob ſich wohl in der
Natur
etwas findet, das im Bau ſo vorteilhaft eingerichtet iſt
wie
die Lunge, und ob Menſchenkunſt irgend etwas hervorge-
bracht
, das wenigſtens dem Prinzip nach einige Ähnlichkeit mit
derſelben
hat.
Was wir auf dieſe ſelbſtgeſtellte Aufgabe zur Antwort
geben
, wird einem ſehr großen Teil unſerer Leſer im erſten
Augenblick
äußerſt ſonderbar vorkommen, und doch iſt dieſe
Antwort
ſachgemäß und richtig, wie eine kleine Betrachtung
zeigen
wird.
Die Antwort lautet:
Das natürliche Ebenbild einer Lunge und zugleich ihr
Gegenſtück
iſt ein Baum.
Das künſtliche, von Menſchen
hervorgebrachte
, auf gleichem Prinzip gebaute Seitenſtück einer
Lunge
iſt das Faß eiuer Schnell-Eſſig-Fabrik!
Daß die Luftwege einer Lunge baumartig gebaut ſind,
das
haben wir bereits näher dargethan;
bei jedem Atemzuge,
mit
welchem wir die Lunge füllen, verteilt ſich die Luft baum-
artig
in den Lungengängen, und es entſteht in uns ein wirk-
licher
Baum aus Luft.
Vergleicht man die Geſtalt dieſes Luft-
baumes
mit einem wirklichen Baum, ſo findet man in ihnen
die
allergrößte Ähnlichkeit, ja faſt eine Gleichheit.
Geht man
aber
auf den Grund dieſes übereinſtimmenden Baues und dieſer
Gleichheit
der Geſtalt ein, ſo findet man, daß gerade in dieſer
Gleichheit
auch das entſchiedene Gegenteil der Beſtimmung aus-
geprägt
iſt.
Zu welchem Zweck iſt wohl ein Baum ſo ſonderbar ge-
ſchaffen
, daß er, der als Stamm aus der Erde emporragt, ſich
oben
teilt in Stämme, Äſte.
Zweige, Sproſſen, Stengel und
Blätter
?
Die Naturwiſſenſchaft der neuern Zeit giebt hier-
auf
die richtige Antwort, daß dieſe Veräſtelung und außer-
ordentliche
Teilung deshalb notwendig iſt, damit der Baum
durch
eine ungeheuere Oberfläche mit der Luft in
126118 komme. Denn der Baum kann ohne Licht nicht leben. Ein
Baum
muß atmen.
Er nimmt Kohlenſäure aus der Luft auf,
und
haucht dafür Sauerſtoff aus.
Dies aber kann er nicht,
wenn
er nicht in jedem Augenblick mit außerordentlich viel
Luft
in Berührung ſteht, wenn er ſich nicht in eine ungeheure
Oberſläche
teilt, und deshalb ſtirbt auch ein Baum ab, wenn
man
ihn der Blätter in der Zeit des Sommers beraubt.
Was aber macht der Baum mit dem, was er einatmet?
Dieſe Luftart, die Kohlenſäure, geht in die Säfte über, welche
ſich
in den Zellen des Baumes befinden;
dieſe Luftart iſt ein
Teil
ſeiner Nahrung;
den Kohlenſtoff behält der Baum zurück
und
bildet dadurch die kohlenreiche Holzzelle, die uns ſo treff-
liche
Dienſte leiſtet, während er den Sauerſtoff zurückgiebt und
wieder
aushaucht.
Der Bau und das Atmen eines Baumes hat alſo offen-
bar
große Ähnlichkeit mit dem Bau und dem Atmen einer
Lunge
.
Aber es iſt dies eine Ähnlichkeit zweier Dinge, die auf
ihr
Gegenteil in Einrichtung und Ziel hinausläuft.
Ein Baum iſt eine ungeheuere Verteilung einer einſtäm-
migen
Maſſe;
in der Lunge findet ſich die ungeheure Ver-
teilung
und Verzweigung eines leeren Raumes.
Ein Baum
ſtreckt
ſeine ſaftreichen, blutreichen Äſte in die Luft hinein,
die
ihn umgiebt;
in der Lunge iſt das Gegenteil der Fall:
es erſtrecken ſich luftige Äſte hinein in eine blutreiche Umge-
bung
.
Der Baum iſt ein Gebilde, wo die Luft von außen und
der
Lebensſaft innen iſt;
in dem Luftbaum der Lunge iſt die
Luft
innerhalb des Baumgezweiges, und der Lebensſaft, das
Blut
, befindet ſich außerhalb in der Umgebung desſelben.
Und
wie
ſich ſchon hierin bei aller Gleichheit des Baues ein Gegen-
teil
der Einrichtung zeigt, ſo iſt dies auch in dem Stoff der
Fall
, der in beiden Fällen ein- und ausgeatmet wird.
Die
Lunge
atmet Sauerſtoff ein;
der Baum atmet Sauerſtoff aus.
Die
Lunge atmet Kohlenſäure aus;
der Baum atmet
127119 ſäure ein! Die Lunge fabriziert Kohlenſäure und bildet die
Bluterwärmung
:
der Baum zerlegt Kohlenſäure und verſetzt
dadurch
ſeine Säfte in jene Kühlung, welche Blätter und
Früchte
ſtets kälter macht als die heiße, ſie umgebende Som-
merluft
.
Die innige Beziehung, die hierin zwiſchen Tierreich und
Pflanzenreich
liegt, iſt jetzt allgemein anerkannt;
für unſer
Thema
indeſſen mag es genug ſein, wenn wir unſern Leſern
den
Gedanken nahe gebracht haben, daß der Baum ein Eben-
bild
und zugleich ein Gegenſtück der Lunge und als ein Gebilde
daſteht
, das mit dem Weſen der Lunge ſehr nahe verwandt iſt.
Welche Ähnlichkeit aber hat das Faß einer Schnell-Eſſig-
Fabrik
mit einer Lunge?
Die Ähnlichkeit iſt nicht größer als die eines Schiffes mit
einem
Fiſche, als die eines Luftballons mit einem Adler, als
die
einer Lokomotive mit einem Pferde oder überhaupt die
eines
Naturweſens mit einem Gebilde der Menſchenhand.
Wir
haben
auch nicht die Ähnlichkeit, ſondern nur die Gleichheit im
Prinzip
behauptet, und dies beruht auf folgendem.
Aus ſehr verdünntem Branntwein macht man jetzt außer-
ordentlich
leicht und ſchnell Eſſig.
Zu dieſem Zweck füllt
man
ein großes Faß mit Hobelſpänen, die man in Eſſig hat
feucht
werden laſſen.
Sodann trifft man die Einrichtung, daß
ein
Gemiſch von Waſſer und Branntwein langſam oben in die
Tonne
einſließt, und ſich auf die Hobelſpäne verteilt.
Das
fließt
nun langſam von Spahn zu Spahn, und wenn es unten
am
Boden der Tonne ankommt, iſt es Eſſig geworden.
Woher kommt dieſe Verwandlung?
Mit kurzen Worten daher, daß die Tonne noch beſondere
Löcher
oben und unten hat, durch welche die Luft hindurch-
ſtreicht
.
Die Luft, und in ihr der Sauerſtoff, geht alſo an
der
fein verteilten, ungeheuer großen Oberfläche der Hobelſpähne
vorüber
und bewirkt in derſelben Weiſe ein Sauerwerden
128120 in ſeiner Schicht verteilten Branntweins, wie Bier und Wein
ſauer
werden, wenn ſie der Luft ausgeſetzt ſind.
Daß dies
ein
chemiſcher Vorgang iſt, das iſt bekannt, und die Chemie
erklärt
dies auch vollſtändig.
Dabei entſteht auch zugleich in
der
Tonne ein hoher Grad von Wärme, der den Luftzug be-
fördert
, und gegenwärtig iſt die ganze Einrichtung ſchon ſo
gut
getroffen, daß es ein wahres Vergnügen iſt, mit anzuſehen,
wie
ſo eine Tonne unten Luft einatmet, und inzwiſchen eine
chemiſche
Veränderung einer Flüſſigkeit vor ſich geht, die ſich
mit
Sauerſtoff verbindet, und zugleich eine Wärme erzeugt, die
der
Wärme des Blutes ſehr nahe kommt.
Die Ähnlichkeit einer ſolchen Tonne mit unſerer Lunge be-
ſteht
nun darin, daß es ausgemacht iſt:
wenn unſer Herz ſtatt
des
Blutes verdünnten Branntwein in die eine Seite der Lunge
einpumpte
, ſo würde auf der andern Seite der allerſchönſte
Eſſig
ins Herz fließen, und es iſt nicht übertrieben, wenn wir
ſagen
:
die Fabrikation der kleinen Lunge würde ſo ſtark ſein,
wie
die einer Tonne, in welche ſechs Mann hineinkriechen
können
.
Genug für jetzt! Wir haben viel Reſpekt vor Menſchen-
Erfindung
;
aber vor der Erfindung einer Lunge, da ſtockt einem
der
Atem.
Und dieſe Erfindung iſt alt, alt, ſo ſehr alt!
Druck von G. Beruſtein in Berlin.
129
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Jünfte, reich illuſtrierte Aufſage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Dotonié und R. Hennig.
Dreizehnter
Teil.
4[Figure 4]
Berlin.
Ferd
. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
130
Das Recht der Überſetzung in ſremde Sprachen iſt vorbehalten.
131
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. IV.
I
. # Ein menſchliches Herz vor einem Menſchenherzen . . . # 1
II
. # Der kleine und der große Kreislauf des Blutes . . . # 5
III
. # Der große Kreislauf . . . . . . . . . . . . # 9
IV
. # Einige Haupt- und Nebenumſtände bei der Arbeit des
# Herzens # . . . . . . . . . . . . . . . # 12
V
. # Eine Waſſerleitung und die Blutleitung im Körper . . # 16
VI
. # Weitere Vergleichung der Waſſer- mit der Blut-Leitung . # 19
VII
. # Verſchiedenheit der Adern und ihrer Lagen . . . . . # 23
VIII
. # Die Klappen oder Ventile . . . . . . . . . . # 27
IX
. # Wie ſtark das Herz iſt . . . . . . . . . . . # 30
X
. # Die ſogenannten mechaniſchen Fehler des Herzens . . # 34
XI
. # Das Auge und die Kamera-Obſcura . . . . . . . # 37
XII
. # Die Kamera-Obſcura . . . . . . . . . . . . # 41
XIII
. # Die Mängel der Kamera-Obſcura . . . . . . . . # 46
XIV
. # Die Kamera-Obſcura der Photographen . . . . . . # 50
XV
. # Wir beſehen uns den Bau eines Auges . . . . . . # 54
XVI
. # Die Durchſichtigkeit des Innern unſeres Auges . . . # 58
XVII
. # Wir gehen ins Auge hinein . . . . . . . . . . # 61
XVIII
. # Der ſogenannte Glaskörper im Auge . . . . . . . . # 65
XIX
. # Die Vorzüge des Auges . . . . . . . . . . . # 68
XX
. # Die Lichtblende . . . . . . . . . . . . . . # 71
XXI
. # Die Augenlider . . . . . . . . . . . . . . # 74
XXII
. # Die Beweglichkeit des Auges . . . . . . . . . # 78
XXIII
. # Die Lenkung und Richtung der Augen . . . . . . # 82
XXIV
. # Die Stellung der Augen . . . . . . . . . . . # 85
XXV
. # Die Nerventapete . . . . . . . . . . . . . #
11132IV # # Seite
XXVI
. # Die Feinheit der Nerventapete . . . . . . . . # 91
XXVII
. # Die Beſchaffenheit der Rerventapete . . . . . . . # 95
XXVIII
. # Einige Verſuche . . . . . . . . . . . . . # 97
XXIX
. # Weshalb wir nicht verkehrt ſehen . . . . . . . . # 101
XXX
. # Zwei Augen und ein Bild . . . . . . . . . . # 104
XXXI
. # Der Menſch wie er iſt und was er erfindet . . . # 109
XXXII
. # Schlußbetrachung . . . . . . . . . . . . . # 112
## Kleine Kräfte und große Wirkungen . . . . . . . . . # 115
1331
Dom Leben der Pflanzen, der Tiere und
der Menſchen. IV.
I. Ein menſchliches Herz vor einem
Menſchenherzen.
Schon im gewöhnlichen Leben ſpricht man vom Herzen
weit
mehr als von der Lunge, und mißt ihm eine tiefere Be-
ziehung
zum Geſamtleben bei als ſonſt irgend einem Organ
des
Leibes.
Wer, der gelebt und geliebt hat, wüßte nicht, daß das
Herz voll Sehnſucht iſt”, daß esin Traurigkeit verſinken”
kann
, daß es inSchwermut untergeht”, daß esvon Ge-
danken
gepreßt wird”, daßein Gefühl es niederdrückt”, daß
ein
Schmerz es zerreißt”, daßein Weh es vernichtet”, daß
eine Hoffnung es aufrichtet”, daßeine Erwartung es er-
füllt”
, daßeine Freude es durchſchauert”, eineWonne es
durchbebt”
, daß eineGlückſeligkeit es taumelnd macht”, daß
eine
Gewährung es aufjauchzen” läßt?
Wer ſpricht nicht
von
einem guten, einem weichen, einem ſchlechten, einem harten,
einem
warmen, einem kalten, einem treuen, einem treuloſen,
einem
erbarmungsreichen, einem ſtrengen, einem ſchwarzen,
einem
lautern, einem trüben, einem reinen, einem mutigen,
einem
feigen, einem edlen, einem elenden, einem frommen,
einem
ſündigen Herzen?
Wer weiß es nicht, wie man
1342 was der Menſch iſt und was der Menſch vermag, Alles, was
er
begehrt, und Alles, was er zerſtört, ſeinem Herzen und nur
ſeinem
Herzen zuſchreibt?
Lohnt es ſich hiernach nicht der Frage: welche Geſtalt
würden
wohl die Menſchen einem Menſchenherzen andichten,
wenn
ſie nicht aus Erfahrung und vom Hörenſagen wüßten,
wie
ein Herz ausſieht?
Wahrlich, wer im Leben je ein Herz vermißt, ein Herz
geſucht
, ein Herz gefunden, ein Herz verloren hat, er erſchrickt
und
tritt entſetzt zurück, wenn er ein Herz, ein Menſchenherz
zumal
, in Wirklichkeit vor ſich ſieht.
Ähnlich mag es einem Sohn der Wildnis ergehen, der
fern
aller Kunſt und Kultur, von dem Leben und Streben ge-
bildeter
Nationen Kenntnis erhält und voll ſchwärmeriſcher
Sehnſucht
den Wunſch ausſpricht, mit einem Sprung mitten
in
das innerſte Getriebe unſerer fortgeſchrittenen Zeit verſetzt
zu
werden;
ähnlich mag es einem ſolchen ergehen, wenn er
plötzlich
in eine thätige Maſchinenbau-Anſtalt verſetzt wird, wo
Räder
verwirrend übereinander laufen, Kohlenſtaub und Dampf
und
Ölgeruch die Luft ſchwängern, Hämmer erdröhnen, Stanzen
den
Boden erzittern laſſen, Eiſenmaſſen unter Hobelbänken
ſchrillen
, Luftgebläſe ſtöhnen, Dampfpfeifen das Ohr zerreißen
und
Kolben wie in hartherziger Wut in Cylindern herum-
ſtampfen
.
Wer wird es dieſem verdenken, wenn er in Un-
kenntnis
des innern Zuſammenhanges irre wird an Kunſt
und
Kultur und ſchaudernd ſich zurückwünſcht in die Wildnis,
in
welcher er ein Geiſtesleben ſich gar anders erträumt hat!
Erſchrickt ein ſinnendes Menſchenherz vor dem Anblick
eines
menſchlichen Herzens, ſo iſt es in gleichem Irrtum be-
fangen
.
Wie der Sohn der Wildnis vor all’ dem Mechanismus
die
Kulturfäden nicht ſieht, die die geiſtigen und moraliſchen
Mächte
dieſes Treibens ſind, ſo ſehen auch wir bis jetzt nicht
die
zarten Fäden, welche ein Menſchenherz von den
1353 und moraliſchen Sphären her in Bewegung ſetzen. Auch die
Naturwiſſenſchaft
ſteht vor dem, was man Gefühle und Empfin-
dungen
des Herzens nennt, wie ein Sohn der Wildnis;
ſie iſt
nur
erſt inſoweit vorgeſchritten, daß ſie ſicher weiß, wie Alles,
was
man bisher dem Herzen als ſolchem zuſchrieb, eigentlich
ſeine
Stätte in dem weit rätſelhafteren Gehirn des Menſchen
hat
, und daß dieſes Gehirn in einer ſcheinbar unerſchütterlichen
Unbeweglichkeit
und Ruhe dem nie ruhenden, durch das ganze
Leben
hindurch zuckenden und arbeitenden Herzen noch ein
Nebengeſchäft
aufbürdet, in welchem es der Verkünder deſſen
ſein
muß, was unverkennbar im Gehirne wirkt.
Wenn jener Sohn der Wildnis, von irren Schrecken er-
faßt
, dennoch den Mut hat, nach dem Urheber all’ des wilden
Hämmerns
, Dröhnens, Pfeifens, Schrillens, Stampfens und
Toſens
zu fragen, ſo führt ihn vielleicht ein Wohlunterrichteter
voll
Teilnahme in einen fernen, entlegenen, ſtillen Winkel des
Fabrik-Lokals
und zeigt ihm, wie dort am Fenſter des laut-
loſeſten
Gemaches gar einſam und zurückgezogen der ſinnende
Meiſter
ſitzt, rechnend und ſchaffend, entwerfend und geſtaltend,
und
vertraut ihm, wie der es ſei, der ſtille Mann, der all’
das
Toben verurſacht.
Vermag aber irgend jemand dem
Staunenden
, der die inneren Beziehungen nicht kennt, den Zu-
ſammenhang
, wie er iſt, zu erklären?
Oder will es jemand
dem
Erſchreckten verdenken, wenn er mit noch tieferem Ent-
ſetzen
vor dem ſtumm arbeitenden Meiſter ſteht als vor dem
dröhnenden
und toſenden Maſchinenwerk?
Wahrlich, das einzige, was man dem Kultur-Durſtigen
ſagen
kann, iſt:
Harre aus, bis Deine Einſicht ſich erweitert,
bis
Du die Einzelteile der Maſchinerie erkennſt, bis Du deren
Wirkung
erforſcht, deren Kräfte probiert, deren Einzelzwecke
ſtudiert
, deren Erzeugniſſe unterſucht, deren Bedürfniſſe über-
ſchaut
haſt, und Du wirſt dann beginnen, den Plan zu be-
greifen
, den Zuſammenhang zu erfaſſen, der zwiſchen
1364 ſtillen Manne und dem toſenden Werke herrſcht. Willſt Du
aber
dahin gelangen, ſo lerne ohne Erſchrecken den Hammer
kennen
, ohne Entſetzen den Eiſenhobel, ohne Schaudern die
Dampfkraft
, ohne Haarſträuben das Kolben-Stampfen und ſei
überzeugt
, daß Du die Kulturfäden dann erſt wirſt erfaſſen können!
Gar erfreulich wäre es, wenn wir ſagen könnten, daß die
Naturwiſſenſchaft
, die vor einem lauten Herzen und einem
ſtillen
Gehirn ſinnend ſteht, ſo ſchnell zu ihrem Ziele kommen
kann
, wie ein fähiger Sohn der Wildnis zu dem ſeinigen.
Aber das dürfen wir ſagen: der Rat gilt auch für die Natur-
forſchung
, und der Weg, der jenem gezeigt, iſt auch für ſie der
rechte
;
und wohl uns, daß die Wiſſenſchaft auf dieſem Wege iſt.
Das Entſetzen vor dem vielbewegten Herzen führt ebenſo-
wenig
zum Ziele, wie das Staunen oder Grauen vor dem
unbeweglichen
Gehirn.
Auch das Leugnen der moraliſchen
und
geiſtigen Regungen, die im Herzen ihren Widerhall
finden
, führt zur Abirrung von der Wahrheit.
Richtiger iſt
es
, wenn wir geſtehen, daß wir den inneren Zuſammenhang
nicht
kennen, der all das beſeligende oder niederdrückende
Fühlen
und Wollen, Empfinden und Denken des Gehirns im
Herzen
mitpulſen läßt.
Aber ein richtiger Schritt zur Er-
kenntnis
iſt es, daß wir ohne Erſchrecken zuerſt die Maſchine
des
Herzens ſelber betrachten und zu dem, was ſie meiſtert,
erſt
dann uns wenden, wenn wir ihre mechaniſche und phyſiſche
Meiſterhaftigkeit
kennen gelernt haben.
Darum faß Dir ein Herz, freundlicher Leſer, und wähne
nicht
, daß wir herzlos der geiſtigen Beziehungen uns ent-
ſchlagen
, wenn unſer Thema uns dahin führt, das Herz als
Pumpwerk
zu betrachten.
Für jetzt muß es uns genügen,
es
zu wiſſen, daß das Herz ein Meiſterſtück von einer Pumpe
iſt
.
Es iſt eine doppelwirkende Druck-Pumpe, von einer
Meiſterhaftigkeit
, die aller Menſchenerfindung ſpottet.
Und nun: Kurzweg zur Sache.
1375
II. Der kleine und der große Kreislauf des Blutes.
In demſelben Bruſtkaſten, woſelbſt die Lungen liegen, liegt
auch
das Herz;
oder richtiger: hängt auch das Herz, denn es
iſt
das Herz wirklich an den Blut- und Schlag-Adern auf-
gehängt
, welche von ihm ausgehen, ſo daß es eigentlich ein
wenig
herumſchlenkern, ſich drehen, nach der einen oder anderen
Seite
wenden kann und dies thut es auch, und zwar ſehr
regelmäßig
, wie wir gelegentlich noch ſehen werden.
Da wir bereits wiſſen, wie die Lungen mit einer aparten
Haut
umkleidet ſind, welche zugleich den ganzen Bruſtkaſten
austapeziert
, ſo brauchen wir hier nur hinzuzufügen, daß das
Herz
in eben ſolchen Umſchlag eingehüllt iſt, den man den
Herzbeutel
nennt, und der das Gute hat, daß er das ſehr
empfindliche
Herz äußerſt ſanft und zart umſchließt und durch
ſeine
Feuchtigkeit dieſem alle Bewegungen ungehindert geſtattet,
außerdem
aber auch noch eine gute Decke iſt für den Fall, daß
die
linke Bruſtwand verwundet wird.
Daß das Herz ſehr viel zu thun hat, das wiſſen wir Alle.
Es ruht nicht von der erſten Stunde ſeiner Bildung im Mutter-
leibe
bis zum letzten Schlage, der den Leib eingehen heißt in
den
Mutterſchoß der Erde.
Ja, ſelbſt nach dem Tode kann
es
leicht zu zuckenden Bewegungen gereizt werden, und nament-
lich
behält das Herz getöteter, kaltblütiger Tiere oft Stunden,
ja
ausgeſchnittene Froſchherzen ſogar Tage nach dem Tode
noch
die Kraft der Zuſammenziehung.
Betrachtet man das
Herz
als Maſchine, ſo muß man alſo ſagen, es iſt eine Ma-
ſchine
, die bei manchen Menſchen achtzig, ja hundert Jahre
und
drüber noch immerfort arbeitet;
und das iſt keine Kleinig-
keit
.
Wäre man imſtande, das Herz durch ein künſtliches
Pumpwerk
zu erſetzen, ſo müßte man ſchon mindeſtens zwei
Maſchinen
herſtellen, um ſtatt eines Herzens zu dienen;
1386 ſelbſt wenn ſie vom feinſten und allerhärteſten Stahl gearbeitet
wäre
, ſo würde doch alle fünf Jahre eine Reparatur nötig
ſein
, und die Reſerve-Pumpe müßte für dieſe Zwiſchenzeit die
Arbeit
übernehmen.
Was für Arbeit das Herz verrichtet, das haben wir be-
reits
zum Teil erwähnt.
Wir haben geſehen, wie das Herz bei jedem Pulsſchlag
das
Blut, das aus dem Körper nach dem Herzen gekommen
iſt
, nunmehr nach den Lungen ſendet.
Nachdem nun das
Blut
in den Lungen Kohlenſäure abgegeben und Sauerſtoff
aufgenommen
hat, ſtrömt es in vier Äſten wiederum zum
Herzen
zurück.
Aber das müſſen wir uns merken das rückkehrende
Blut
geht nicht in dieſelbe Abteilung des Herzens, wo es
herkam
, ſondern in eine andere.
Da das Blut jedoch vom
Herzen
ausging und von den Lungen wieder zum Herzen
zurückkehrt
, ſo nennt man dieſen Weg einen Kreislauf, obgleich
es
eigentlich kein Kreislauf iſt, da der Ausgangspunkt ein
anderer
iſt als der Heimkehrpunkt.
Man nennt es aber einmal
ſo
, und ſo mag es denn ſein;
wir wollen uns nur hierbei
merken
, daß es noch einen andern Kreislauf für das Blut
giebt
, nämlich den Lauf des Blutes durch den ganzen Körper,
und
weil dieſer Weg weit größer iſt als der durch die Lungen,
ſo
nennt man den Lauf durch die Lungen den kleinen Kreislauf.
Das iſt aber, wie geſagt, nur ein Teil der Thätigkeit des
Herzens
, und zwar der leichtere Teil.
Die Hauptarbeit beſteht
darin
, daß das Herz auch das Blut durch den ganzen Körper
treiben
muß, und da auch das der Fall iſt, ſo nennt man
dieſen
Lauf den großen Kreislauf.
Wenn wir nun bedenken, daß dieſe zwei Arbeiten vom
Herzen
vollführt werden müſſen, und daß es zu jedem Kreis-
lauf
einen Raum haben muß, wo es das Blut aufnimmt und
einen
anderen, von wo es das Blut weiter expediert, ſo
1397 ſich’s leicht einſehen, daß im Herzen vier Abteilungen ſein
müſſen
:
eine Abfahrt- und eine Ankunft-Station für den
Lungen-
, den kleinen Kreislauf und eine Abfahrt- und eine
Ankunft-Station
für den Körper-, den großen Kreislauf.
Und ſo iſt es auch der Fall, wenigſtens beim Menſchen, den Säuge-
tieren
und den Vögeln, die alle durch Lungen atmen.
Da dieſe zwei Kreisläufe und die hierzu dienenden vier
Abteilungen
des Herzens nicht wenig Verwirrung im Kopfe
derer
hervorrufen, die nicht Gelegenheit gehabt haben, ſich das
Ding
ſelber anzuſehen, ſo wollen wir, um recht deutlich zu
ſein
, unſeren Leſern ein paar Worte noch voranſchicken, bevor
wir
zur näheren Darlegung der Arbeit des Herzens kommen.
Ein Herz ſieht wie jedermann ſchon weiß ungefähr
wie
eine Birne aus.
Denken wir uns ſolch ein Herz mit der
Spitze
unten und der breiten Seite oben, ſo können wir uns
vorſtellen
, daß es im ganzen hohl, aber durch Wände inwendig
abgeteilt
iſt.
Eine Wand, die Hauptwand, geht von oben nach
unten
und teilt das Herz in eine rechte und eine linke Hälfte.
Dieſe Wand hat gar keine Thür, ſo daß das Blut niemals
direkt
aus der einen Hälfte des Herzens zur andern kommen
kann
.
Dann aber iſt noch eine zweite Wand, die die breite
Seite
des Herzens von der untern ſpitzen abteilt, ſo daß vier
Zimmer
entſtehen, rechts zwei und links zwei, und zwar auf
jeder
Seite eins oben und eins unten.
Nun aber iſt es mit
den
Wänden, die die oberen Zimmer von den unteren trennen,
anders
als mit der Wand, die das Herz nach rechts und links
teilt
.
Von jedem oberen Zimmer führt eine Thür nach dem
unteren
.
Dieſe Thüren ſind eigentlich Klappen oder Fall-
1
11 Wir ſchlagen dem freundlichen Leſer vor, ſich während des Leſens
ein
Schema des Herzens mit ſeinen Kammern ſowie des großen und
kleinen
Kreislaufes anzufertigen, ſonſt iſt ein Verſtändnis der keineswegs
ſchwierigen
Verhältniſſe erſchwert. Nimm alſo, bitte, Bleiſtift und Papier
zur
Hand!
1408 thüren, denn ſie laſſen nur von oben nach unten den Eingang
offen
, verſchließen ſich aber ſofort, wenn etwas von unten nach
oben
zurück will.
Das Herz iſt nun ſehr vornehm; will
nämlich
Blut nach den unteren Zimmern, ſo muß es zuvor in
die
oberen, in ein Vorzimmer kommen, und kann dann erſt in
die
untere Abteilung gelangen.
Die unteren Abteilungen aber ſind die eigentlichen Druck-
oder
Spritzwerke.
Die linke Seite ſpritzt das Blut durch die
Schlagadern
, durch den ganzen Körper;
die rechte Seite ſpritzt
das
Blut in die Lunge.
Das Blut, das im Körper mit
Kohlenſäure
geſchwängert wird, muß nun, wenn es heimkehrt,
nach
der rechten Herzhälfte und nimmt den Weg dahin durch
das
rechte Vorzimmer.
Das Blut, das die Lunge paſſiert,
hat
Sauerſtoff aufgenommen und ſoll in den Körper, wohin
es
von der linken Seite des Herzens ſpediert wird;
es muß
alſo
in das linke Vorzimmer.
Hiernach wird ſich jeder
mit
wenig Anſtrengung die zwei Kreisläufe deutlich vorſtellen
können
.
Das Blut paſſiert von der Lunge nach dem linken
Vorzimmer
, von dieſem nach unten ins linke Zimmer;
hier
wird
es ausgetrieben in den Körper;
vom Körper ſtrömt es
zuſammen
nach dem rechten Vorzimmer, von dieſem zum
rechten
Zimmer, um von hier wieder in die Lunge geſpritzt zu
werden
.
Was wir Zimmer genannt haben, nennt man gewöhnlich
Kammern
, und da wir uns dieſes Namens auch bedienen
wollen
, ſo wollen wir uns vorerſt folgendes als Merkzeichen
machen
.
In der rechten Kammer fließt nur das verdorbene Blut
zuſammen
, das durch friſche Luft gereinigt werden muß;
die
linke
Kammer hat das gereinigte Blut, das den Körper lebens-
fähig
macht.
1419
III. Der große Kreislauf.
Nachdem wir den Weg des Blutes durch die Lunge ſchon
etwas
näher kennen gelernt haben, müſſen wir dem Lauf des
Blutes
durch den Körper eine größere Aufmerkſamkeit ſchenken,
um
dadurch zu einer richtigen Vorſtellung von der Thätigkeit
und
Wichtigkeit des Herzens zu gelangen.
Jeder Teil des Leibes bedarf des Blutes und zwar des
mit
Sauerſtoff getränkten Blutes, um zu leben.
Verhindern
wir
das Blut zu irgend einem Teile, zu irgend einem Gliede,
zu
irgend einem Punkte unſeres Leibes hinzugelangen, ſo
erfolgt
der Tod dieſes Teiles, dieſes Gliedes oder Punktes.
Umſchnürt man einen Finger mit einem feſtſitzenden Bindfaden,
der
den Blutzuſtrom hemmt, ſo erfolgt das Abſterben des
Fingers
, er wird brandig und muß abgeſchnitten werden;
denn
ſoll
ein Finger ein lebendiges Glied des Körpers bleiben, ſo
muß
ihm unausgeſetzt friſches Blut vom Herzen zuſtrömen,
und
nach Benutzung desſelben muß das Blut wiederum zum
Herzen
zurückfließen können.
Hierbei verwandelt ſich ſowohl
der
Finger wie das Blut.
Das Blut giebt dem Finger friſche
lebensfähige
Teile ab, und nimmt abgeſtorbene Teile wieder
davon
;
dadurch entſteht im Finger ein Umtauſch des Stoffes,
oder
ein Stoffwechſel, der in Wahrheit der eigentliche Vorgang
des
Lebens iſt.
Was wir hier vom Finger ſagen, das gilt vom ganzen
Leibe
in allen ſeinen Teilen;
der Leib lebt nur, ſolange er
den
Stoff wechſeln, das Tauſchgeſchäft mit dem Blut machen kann.
Nun aber hat es ſicherlich jedermann ſchon beobachtet, daß der
kleinſte
Nadelſtich hinreicht, um aus dem Finger ein Tröpfchen
Blut
herausſtrömen zu laſſen;
man mag hinſtechen, wo man
will
, allenthalben fließt etwas Blut aus;
es befindet ſich
alſo
in allen Teilen des Fingers ſtets etwas Blut.
Es
14210 ſich demnach, wo kommt dieſes Blut her? welchen Weg nimmt
es
vom Herzen bis zu dieſer Stelle, und wie gelangt es wieder
von
dieſer Stelle zum Herzen zurück?
Die Antwort hierauf hat erſt die Wiſſenſchaft der neueren
Zeit
zu geben vermocht, die mit Hilfe der Mikroſkope den
Bau
des Körpers genau ſtudiert und namentlich dies Studium
auch
auf die Körper der Tierwelt ausgedehnt hat, welche in
vieler
Beziehung beſſere Gelegenheit bietet, um an ihr wiſſen-
ſchaftliche
Unterſuchungen zu führen.
Die Antwort hierauf iſt
folgende
.
Von der linken Kammer des Herzens geht eine große
Schlagader
aus, welche ſich jedesmal, wenn das Herz ſich zu-
ſammenzieht
, mit Blut anfüllt.
Dieſe Schlagader teilt ſich
dann
in zwei Teile, von welchen die eine nach oben, die andere
nach
unten in den Körper führt.
Jede dieſer abgezweigten
Schlagadern
teilt ſich nun wiederum in Zweige, und von
jedem
Zweig gehen wiederum dünnere Zweige ab.
Das alles
ſind
nun geſchloſſene Kanäle, welche Blut führen und mit
jedem
Zuſammenziehen der linken Herzkammer ſtets eine neue
Welle
Blut erhalten.
Nun aber laufen all die immer feiner
und
feiner werdenden Kanäle in alle Teile und Glieder des
Körpers
hinein und verbreiten ſich hier in immer feineren
Röhrchen
, die ſtets dünner und dünner, aber auch in gleichem
Maße
zahlreicher und verzweigter werden, ſo daß man endlich
mit
bloßem Auge weder mehr die einzelnen Äderchen noch das
Gewebe
desſelben ſehen kann.
Die Verzweigung von Äderchen
iſt
ſo dicht und gedrängt, daß man in jedem Punkt, den man
mit
einer Nadelſpitze berührt, auf kleine Äderchen trifft:
ſticht
man
demnach mit der Nadel in den Finger, ſo blutet nicht
etwa
der Finger als ſolcher, ſondern man hat durch den Stich,
durch
die Verletzung ein kleines Äderchen zerriſſen, worin das
Blut
, welches vom Herzen herſtrömt, ſeinen Lauf hat.
In
den
unverletzten Äderchen war das Blut in den feinen
14311 eingeſchloſſen und konnte nicht aus denſelben hervortreten; jetzt
wo
ein Röhrchen durch die feine Nadelſpitze zerriſſen worden,
kann
das anſtrömende Blut nicht weiter in dem Äderchen,
ſondern
tritt heraus auf die Haut, und wir ſagen:
der Finger
blutet
.
Eigentlich müßte aus ſolchem zerriſſenen Äderchen fort-
während
Blut ſtrömen, ſolange noch welches im Herzen vor-
handen
iſt, und ſomit müßte jeder Nadelſtich ausreichen, einen
Menſchen
verbluten zu laſſen;
allein zwei Umſtände ſind es
hauptſächlich
, welche dies verhindern.
Erſtens gerinnt das
Blut
, wenn es an die Luft tritt, und legt ſich wie ein Pfropfen
vor
die Wunde;
das Blut, das nun in dem Äderchen her-
geſtrömt
kommt, wird aufgehalten und ſtockt hier, wodurch der
Riß
vorläufig verſtopft wird, bis die weitere Heilung eintritt.
Zweitens ſind die feinen Kanäle mit einander ſo verwebt und
laufen
derart einer in den andern über, daß das Blut, welches
durch
das jetzt zerriſſene Äderchen laufen würde, leicht einen
andern
Weg nimmt, ſobald man durch einen Druck die Äderchen
zuſammenpreßt
und gar kein Blut durch dieſen Weg durchläßt.

Es
iſt wohl jedem bekannt, wie man leichte Blutungen dadurch
ſtillt
, daß man die Wunde ein wenig drückt, ja ſogar noch
bedeutendere
Blutungen werden durch Preſſung und Ver-
ſchließung
in leichter Weiſe gehemmt.
Man hat ſich demnach das Aderſyſtem im Menſchen ſo
vorzuſtellen
, daß es aus einer großen Schlagader des Herzens
hervorgeht
und ſich dann ſo außerordentlich fein verteilt und
verzweigt
, daß der Menſch allenthalben, wo er nur eine Nadel-
ſpitze
hinſetzen kann, auf Äderchen trifft.
Was aber wird aus den feinen Äderchen, die das Blut
vom
Herzen nach allen Teilen des Leibes führen?
Die Äderchen vereinigen ſich wieder und bilden dickere
Röhrchen
;
ſodann laufen viele Röhrchen zuſammen und bilden
vollſtändigere
Adern.
Dieſe Adern, die man Blutadern
14412 vereinigen ſich dann und bilden Stämme, bis endlich zwei
Hauptſtämme
, in welche all die Adern münden, wieder in die
rechte
Herzkammer und zwar durch das Vorzimmer, oder die
Vorkammer
, eintreten, um das vom Körper herkommende Blut
hier
zu ergießen.
Der Zweck dieſes höchſt merkwürdigen, geſchloſſenen Kanal-
Syſtems
, in welchem ſich das Blut vom Herzen zu allen
Teilen
des Körpers hinbewegt und von dieſen Teilen wieder
zum
Herzen zurückſtrömt, iſt der, daß dasjenige Blut, welches
durch
die Atmung lebensfähig geworden iſt, zum Körper ge-
führt
werde, um deſſen Stoffwechſel möglich zu machen und
alles
, was im Körper lebensunfähig geworden iſt, wieder
zurückgeführt
werde, um durch Ausſcheidung und Reinigung
wieder
Lebensfähigkeit zu erhalten.
IV. Einige Haupt- und Nebenumſtände bei der
Arbeit des Herzens.
Da das Blut, wie wir geſehen haben, in einem voll-
kommen
geſchloſſenen Kanal-Syſtem von Adern, die vom Herzen
auslaufen
und zum Herzen wieder zurückführen, ſeinen Lauf
nehmen
muß, ſo wird ſich leicht die Thätigkeit des Herzens
überblicken
laſſen, wenn wir ſagen, daß dieſer Lauf nur durch
die
Kraft des Herzens getrieben wird und nicht etwa, wie
man
früher meinte, von einer Lebenskraft oder einer Selbſt-
bewegung
des Blutes herrührt.
Ganz in derſelben Weiſe wie die rechte Herzkammer mit
jedem
Pulsſchlag eine Portion Blut in die Lunge ſtößt und
die
linke Vorkammer dies wieder aus der Lunge aufnimmt,
ganz
ſo treibt die linke Herzkammer mit einem mächtigen
14513 und Pulsſchlag eine Portion Blut in die Schlagadern, die
durch
den ganzen Körper gehen und ſich in demſelben in die
feinſten
Gezweige verlaufen, und ganz ſo nimmt die rechte
Vorkammer
wiederum das aus dem Körper hervorkommende,
in
den Blutadern zum Herzen ſtrömende Blut in ſich auf.
Das Herz iſt demnach in Wirklichkeit ein fortwährend
thätiges
Pumpwerk.
Die beiden Kammern des Herzens ſpritzen
das
Blut durch die zwei Röhrenſyſteme, die durch Lunge und
Körper
führen, von ſich aus;
die beiden Vorkammern fangen
das
Blut durch Blutadern aus Körper und Lunge wieder in
ſich
ein.
Das Ausſpritzen geſchieht von beiden Kammern immer
gleichzeitig
;
in demſelben Moment, wo ein Strom Blut zum
Körper
fließt, geht auch ein Strom Blut zur Lunge;
in ganz
eben
und demſelben Moment aber haben ſich die beiden Vor-
kammern
ausgedehnt und nehmen ſo aus Lunge und Körper
eine
Portion Blut in ſich auf.
Iſt das geſchehen, und denken wir uns einmal, daß das
Herz
in dieſem Moment ein wenig anhält, um ſeinen Zuſtand
beſehen
zu laſſen, ſo würde man finden, daß die untere Spitze
des
Herzens, woſelbſt die beiden Kammern ſind, zuſammen-
gepreßt
und alſo verkleinert, wogegen die obere, die breite
Seite
des Herzens, woſelbſt die Vorkammern ſich befinden, voll
und
prall iſt, denn die Vorkammern ſind voll des eingefloſſenen
Blutes
.
Sobald nun dieſer Moment vorüber iſt, preſſen ſich die
beiden
Vorkammern gleichzeitig zuſammen, und die unter ihnen
liegenden
Kammern erweitern ſich gleichzeitig;
hierbei tritt
das
Blut aus beiden Vorkammern in die beiden Kammern
hinein
, und zwar durch die Fallthüren oder Klappen, die wir
bereits
erwähnt haben, und welche ſich in den Wänden befinden,
die
Vorkammern und Kammern von einander trennen.

Stellen
wir uns vor, daß das Herz wieder jetzt ein wenig
inne
hält, um uns ſeinen Zuſtand ſehen zu laſſen, ſo
14614 wir es an ſeiner oberen, breiten Spitze zuſammengepreßt er-
blicken
;
wogegen ſich die untere, die ſpitze Hälfte, woſelbſt die
Kammern
ſind, ausgedehnt und ſtrotzend von Blut zeigen
würden
.
Laſſen wir nun das Herz weiter ſein Geſchäft betreiben,
ſo
wiederholt es das Schauſpiel, das wir vorher geſehen
haben
:
die Kammern ziehen ſich zuſammen, und die Vor-
kammern
erweitern ſich gleichzeitig, um ſodann das Gegenſpiel
aufzuführen
, in welchem ſich die Vorkammern zuſammenziehen
und
die Kammern ſich erweitern, und in dieſer Abwechslung,
die
ſtets Moment auf Moment folgt, beruht das große Tik-
Tak
des Lebens, das wir am Herzſchlag an uns fühlen.
Was nun hauptſächlich unſer Thema näher berührt, das
iſt
die eigentliche mechaniſche Einrichtung dieſes Pumpwerks,
die
wir für unſeren Zweck mit der Einrichtung unſerer von
Menſchenhänden
gemachten Maſchinen vergleichen wollen;
und
indem
wir hierzu zu ſchreiten beabſichtigen, müſſen wir noch
einige
wichtige Nebendinge beſonders ins Auge faſſen.
Wir haben es bereits erwähnt, daß ein erwachſener Menſch
ungefähr
fünfundzwanzig Pfund Blut im Körper hat.
Dieſe
Maſſe
Blut geht ungefähr in Zeit von einer bis höchſtens
zwei
Minuten je nachdem der Blutumlauf heftiger oder
langſamer
iſt zweimal durchs Herz;
und zwar von der
rechten
Seite des Herzens zur Lunge, von der Lunge zur
linken
Seite des Herzens, von der linken Seite des Herzens
zum
ganzen Körper, und von dieſem wieder zur rechten Seite
des
Herzens zurück.
In dieſer Zeit ſind ungefähr achtzig Zu-
ſammenziehungen
und Erweiterungen erfolgt, wo bei jeder Zu-
ſammenziehung
ungefähr zehn Lot Blut ſowohl ins Herz als
in
die Lunge eingeſpritzt worden ſind.
Iſt dies aber der Fall, ſo folgt daraus, daß die Lungen
immer
von ſo viel Blut durchſtrömt werden als der ganze
Körper
;
denn der Zu- und Abfluß in den Lungen
14715 ja durch das ganze Leben gleichzeitig mit dem Zu- und
Abfluß
des Blutes im Körper.
Gleichwohl iſt die Lunge
an
fünfzehnmal kleiner als der ganze Körper, alſo der Weg,
den
das Blut zu durchlaufen hat, beträchtlich kürzer.
Soll nun die Maſchine des Herzens wirklich einige Voll-
endung
beſitzen und ohne Kraftverſchwendung eingerichtet ſein,
ſo
muß ſie ohne Zweifel die Einrichtung danach haben, daß
das
Pumpwerk für die kleine Lunge nicht zu ſtark und für
den
großen Körper nicht zu ſchwach wirke.
Das iſt auch in
der
That der Fall, und man kann an einem ausgeſchnittenen
Herzen
deutlich ſehen, wie die linke Herzkammer, welche dem
ganzen
Körper das Blut liefert, außerordentlich dicke und ſtarke
Muskelwände
beſitzt, während die rechte Herzkammer mit viel
dünneren
und ſchlafferen Wänden ausgeſtattet iſt.
Der zweite Umſtand, auf den wir unſer Augenmerk richten
wollen
, iſt folgender.
Vom rechten Herzen führt nur eine große Schlagader in
die
Lunge, dagegen führen vier getrennte Blutadern von der
Lunge
zum Herzen, und zwar zum linken Vorhof zurück.

Vom
linken Herzen geht wiederum nur eine große Schlagader
zum
Körper;
während zwei Blutadern das Blut vom Körper
wieder
zum Herzen zurückführen.
Auch das kann nicht ohne
beſonderen
Zweck ſo eingerichtet ſein.
Endlich nimmt man noch einen dritten Umſtand wahr,
der
unſere Aufmerkſamkeit verdient.
Die Adern, die das Blut
vom
Herzen fortführen, heben und ſenken und dehnen ſich unter
jedem
Herzſtoß und jeder Blutwelle und bilden das, was
man
den Puls nennt.
Es heißen dieſe Adern auch deshalb
Schlagadern
, und man kann an ihnen die Schläge des Herzens
zählen
.
Die Adern dagegen, welche das Blut zum Herzen
zurückführen
, haben keinen Puls, und das Blut fließt nicht
ſtoßweiſe
in ihnen.
Auch dies muß von Bedeutung ſein, und mit zur
14816 richtung der Maſchine gehören, die wir an ihrem Wirken zu
betrachten
haben.
V. Eine Waſſerleitung und die Blutleitung
im Körper.
Die mechaniſche Einrichtung des Herzens nebſt dem ganzen
Blutgetriebe
wird unſeren Leſern leichter erſichtlich werden,
wenn
wir dies einmal wieder mit einer Erfindung und Ein-
richtung
vergleichen, und zwar mit einer Waſſerleitung, durch
welche
eine ganze Stadt durch unterirdiſche Röhren von einem
Punkte
aus mit fließendem Waſſer verſorgt wird.
Der Ver-
gleich
wird uns manche weitläufige Erklärung erſparen, ob-
gleich
wir ſofort ſehen werden, daß in den weſentlichſten
Punkten
große Unterſchiede hier ſtattfinden.
Den Haupt-Waſſer-Vehälter wollen wir uns als das Herz
der
Waſſerleitung vorſtellen.
Die großen, dicken Röhren, die
von
dorther in langen Strecken nach der Stadt und ihren
Hauptteilen
laufen, mögen wir uns als die großen Schlag-
adern
denken.
Minder große Röhren gehen von den Haupt-
röhren
nach allen Seiten ab;
dieſe ſollen die Schlagadern der
einzelnen
Glieder vorſtellen.
Kleinere Röhren zweigen ſich nach
den
beſonderen Straßen ab;
dieſe ſollen die Pulsadern ſein,
die
das Waſſer nach allen Orten hinführen.
Allein von alledem
hätte
man noch keinen Nntzen, wenn nicht noch feinere Röhren
angebracht
würden, welche das Waſſer bis in die Häuſer und
bis
in jedes beliebige Stockwerk führen.
Dies iſt nun mit
dem
Blute ebenſo der Fall.
Im Herzen, in der großen Schlag-
ader
, in deren Zweigen, Stämmen und Pulſen leiſtet es dem
Körper
keine Dienſte;
erſt wenn es in die feinſten Röhrchen
kommt
, die ganz und gar den Körper durchweben;
erſt hier
giebt
es ſeine belebende Kraft dem Leibe ab.
14917
Auch in anderer Beziehung hat das Röhrenſyſtem der
Waſſerleitung
eine Ähnlichkeit mit dem Syſtem der Schlag-
adern
.
Das Röhrenſyſtem der Waſſerleitung iſt ſo eingerichtet,
daß
eine jede Straße nicht bloß von einem Punkte, ſondern
von
verſchiedenen Punkten aus das Waſſer beziehen kann.
Und
dies
hat auch ſein Gutes;
denn wäre es nicht ſo, ſo würde,
wenn
eine ſchadhafte Röhre in irgend einer Hauptſtraße eine
Reparatur
und alſo eine Abſperrung des Waſſers nötig machte,
in
einem ganzen Stadtteil der Waſſerzufluß aufhören.
Sobald
jedoch
von verſchiedenen Seiten die Röhren in Verbindung
treten
, kann die Abſperrung eines beſtimmten Rohrſtückes
höchſtens
in der nächſten Umgebung empfunden werden.
Das-
ſelbe
findet auch im Körper ſtatt.
Das Röhrenſyſtem iſt nicht
nur
von dem Stamme aus in Verbindung, ſondern läuft auch
in
ſehr vielen Punkten zuſammen, und die Folge hiervon iſt,
daß
die Verletzung einer Schlagader zwar den Blutlauf ändert
und
zu Nebenwegen zwingt, aber keineswegs ganz unterbricht
und
das Glied abſterben läßt.
Nun aber müſſen wir auch die Unterſchiede zwiſchen der
Waſſerleitung
und der Blutleitung deutlich machen;
und dieſe
ſind
ſehr bedeutend.
Bei der Waſſerleitung iſt ein Hauptwaſſer-Behälter vor-
handen
, wo das Waſſer durch Maſchinen hinaufgepumpt wird,
damit
es dort in einem großen Raum ſtets in einer beſtimmten
Höhe
erhalten wird.
Dieſe Höhe iſt ſo groß, daß ſie jedes
Stockwerk
in der Stadt überragt;
ſteht nun eine Röhre in der
Stadt
mit dieſer Waſſerſäule in Verbindung, ſo kann aus der-
ſelben
ein kleines Rohr in den dritten und vierten Stock eines
Hauſes
hinaufgeführt werden, und es wird daſelbſt das Waſſer
mit
hinaufſtrömen und ausfließen, ſobald der hierzu eingerichtete
Hahn
geöffnet wird.
Denn in jeder Röhre der Stadt wird das
Waſſer
, wo ihm freier Lauf gelaſſen wird, ſo hoch zu ſteigen
beſtrebt
ſein, wie es draußen im großen Waſſerbehälter
15018 ſteht. Das iſt ein Naturgeſetz, gegründet auf den Druck, welchen das in einer Säule ſtehende Waſſer auf alle Röhren, die mit der Säule verbunden ſind, ausübt (“Geſetz der kom- municierenden Röhren”). Bei der Waſſerleitung iſt alſo wohl ein Pumpwerk vorhanden, und ſogar mehr als eines; aber es dient nur, das Waſſer in den Behälter hinaufzutreiben und den Stand des Waſſers dort immer in gleichem Maße zuerhalten.
Beim Blut iſt es nicht ſo, und kann auch ſo nicht ein-
gerichtet
ſein.
Das Blut wird von dem Pumpwerk des Herzens nicht
in
die Höhe getrieben, ſondern das Pumpwerk wirkt unmittel-
bar
auf das Röhrenſyſtem ſelber;
denn das Blut ſoll nicht
bloß
in die Höhe getrieben werden, wie das Waſſer in den
Häuſern
, ſondern muß ſtreckenweiſe abwärts fließen, wie z.
B.
vom Herzen hinunter nach dem Leibe und den Beinen.
Ein weiterer Unterſchied liegt darin, daß die Waſſerleitung
zwar
reines Waſſer in alle Teile der Stadt führt und das
dort
verunreinigte Waſſer durch Kanäle abfließen läßt;
aber
das
Waſſer kehrt nicht zur Waſſerleitung zurück, um gereinigt
zu
werden.
Beim Blut iſt dies aber der Fall. Es fließt
wieder
zum Herzen zurück und wird zur Reinigung nach den
Lungen
geſchickt, um ſofort wieder benutzt zu werden.
Stellen wir uns einmal vor, daß Waſſer eine ſolche Ra-
rität
wäre wie im Menſchenkörper das Blut, und denken wir
uns
hierzu die Möglichkeit, daß man das verunreinigte Waſſer
mit
großer Leichtigkeit zu reinigen imſtande wäre, ſo würde
unzweifelhaft
die Waſſerleitung eine Einrichtung erhalten, die
der
Blutleitung im Körper ähnlicher wäre.
In dieſem Falle
würde
das in den Häuſern unbrauchbar gewordene Waſſer
durch
ein zweites Röhrenſyſtem wieder zurückgeleitet werden
bis
in die Nähe des großen Waſſerbehälters.
Hier würde es
wiederum
angeſammelt, und durch ein Druckpumpwerk
15119 der Reinigungsanſtalt getrieben werden müſſen. Man würde
alſo
in ſolchem Falle aßer dem jetzt ſchon eingerichteten Druck-
werk
noch ein zweites brauchen, und dem entſprechend müßten
vier
Räume angelegt werden;
einer, wo ein Druckwerk das
Waſſer
zur Stadt befördert, ein zweiter, wo es durch ein
Pumpwerk
aus der Stadt wieder zurückgebracht wird;
ein
dritter
, wo es wieder durch ein Druckwerk in die Reinigungs-
anſtalt
getrieben, und ein vierter, wo es wieder aus der Rei-
nigungsanſtalt
gepumpt wird, um durch das Druckwerk in die
Stadt
getrieben zu werden.
Und dieſe vier Räume würden
den
vier Räumen im Herzen recht ähnlich ſein.
Wir ſehen alſo, daß nur der Überfluß an Waſſer die
Urſache
iſt, daß man ſich bei der Waſſerleitung nicht auf eine
Reinigung
desſelben nach dem Gebrauch einläßt.
Man braucht
alſo
bei der Waſſerleitung nicht das bedeutende Röhrenſyſtem,
das
von der Stadt wieder zurückführt, und das Waſſer macht
deshalb
auch keinen Kreislauf.
Wäre man genötigt, mit Waſſer
ſo
ſparſam umzugehen, wie mit Blut, ſo würde ſich ohne
Zweifel
die Weisheit der Meſchen die Einrichtung des Blut-
laufs
zum Muſter nehmen können und hätte Urſache, ſtolz
darauf
zu ſein, wenn ſie nach vielen Tauſenden von Jahren
etwas
erfunden hätte, was der erſte Menſch ſchon in großer
Vollendung
mit zur Welt gebracht hat.
VI. Weitere Vergleichung der Waſſer- mit der
Blut-Leitung.
Nachdem wir einmal den Vergleich des Blutumlaufs mit
der
Waſſerleitung gemacht haben, wollen wir, zur Triebkraft
ſelber
übergehend, den Vergleich fortſetzen, weil wir durch
15220 ſelben imſtande ſein werden, ſo Manches deutlicher zu machen,
und
dem Verſtändnis unſerer Leſer näher zu bringen.
Jedermann wird ſchon bemerkt haben, mit welcher Leich-
tigkeit
ein Kind imſtande iſt, eine Pumpe zu bewegen und
einen
Eimer mit Waſſer zu füllen;
mit welcher Anſtrengung
aber
ſelbſt ein Erwachſener arbeiten muß, um den Eimer
Waſſer
durch eine Druckpumpe zu entleeren, und zwar hierbei
das
Waſſer in einem ebenſo dicken Strahl ebenſo hoch zu
ſpritzen
, wie das Kind durch die Pumpe das Waſſer gehoben
hat
.
Dies ergiebt ſchon für den Augenſchein, daß ein Pump-
werk
weit leichter zu handhaben iſt, als ein Druck- oder
Spritzwerk
.
In der That hat das ſeine Richtigkeit und ſeine natür-
lichen
Urſachen.
Bei einem Pumpwerk iſt weiter nichts nötig,
als
daß man einen Raum, der mit dem Waſſer in Verbindung
ſteht
, luftleer macht;
und thut man dies, ſo ſtrömt das Waſſer
von
ſelbſt in den Raum hinein.
Wenn man ein hohles Rohr
mit
einem Ende ins Waſſer taucht und am anderen Ende mit
dem
Munde ſaugt, ſo ſtrömt das Waſſer nach dem Munde.
Nicht etwa deshalb, weil man das Waſſer direkt anſaugt,
ſondern
darum, weil man beim Saugen das Rohr luftleer
macht
und das Waſſer durch eine ganz andere Kraft, durch
den
Luftdruck, hinaufgetrieben wird.
Die Saugpumpe hat alſo
eine
ſehr leichte Arbeit.
Ganz anders iſt es bei der Druckpumpe. Während bei
der
Saugpumpe der Luftdruck das Steigen des Waſſers be-
fördert
, thut er bei der Druckpumpe das Gegenteil;
der Luſt-
druck
hindert das Ausſtrömen, und dieſes Hindernis iſt ſchon
ſehr
bedeutend, es beträgt bei einem Spritzenrohr von einem
Zoll
Dicke ſchon an fünfzehn Pfund.
Soll aber gar der Waſſer-
ſtrahl
eine bedeutende Höhe erreichen, ſo wirkt dem das Ge-
wicht
des Waſſers entgegen, und das Spritzen wird dadurch
ganz
außerordentlich erſchwert.
Wer es weiß, wie ſchwer
15321 bis zwanzig Mann an vorzüglichen Feuerſpritzen zu arbeiten
haben
, wenn ſie das Waſſer auch nur in den erſten Stock
des
brennenden Hauſes ſpritzen wollen, der wird die
Schwierigkeit
des Druckwerks oder Spritzenwerks nicht in Ab-
rede
ſtellen.
Denken wir uns nun, daß die Waſſerleitung einer Stadt
wirklich
ſo eingerichtet werden ſollte, daß das gebrauchte Waſſer
aus
der Stadt wieder hinaus müßte, um dort gereinigt zu
werden
, ſo würde eine Druckpumpe nötig ſein, um das Waſſer
zur
Stadt zu preſſen, und eine Saugpumpe, um es wieder
zurück
zu holen;
aber die Saugpumpe würde beim Zurückholen
ſehr
wenig Arbeit haben, während die Druckpumpe eine un-
geheure
Arbeit zu leiſten hätte.
Es iſt alſo klar, daß die
Techniker
, welche dieſe Waſſerbauten zu leiten haben, zwar
eine
Saugpumpe auſſtellen müßten, die in jeder Minute ſo
viel
Waſſer herſaugt, wie die Druckpumpe ſortpreßt;
allein die
Saugpumpe
braucht nur ein ſchwaches Werk zu ſein, während
die
Druck- oder Preßpumpe ein gewaltiges ſtarkes Werk von
bedeutender
Kraft ſein muß.
Blicken wir nun auf das Herz, dieſe Blutverſorgungs-
auſtalt
von ſehr, ſehr alter Erfindung, ſo finden wir, daß es
wirklich
ſchon ſo weiſe eingerichtet iſt.
Die Vorkammern in
dem
oberen breiten Teil des Herzens brauchen ſich nur zu er-
weitern
, um das Blut aufzunehmen, ſie haben ſehr leichte
Arbeit
und ſind auch nicht für ſchwere Arbeit eingerichtet.
Das Muskelgefüge iſt hier im Vergleich mit dem untern, dem
ſpitzen
Teil des Herzens, ſchwach gebaut.
Dahingegen ſind
die
Muskeln dieſes unteren Teiles, dieſes Druckwerks, ſo merk-
würdig
kräftig, ſo kreuzundquer und zwiſchendurch geſaſert und
gebündelt
, daß man ſchon ſieht, dieſer Teil muß etwas leiſten
können
;
und das iſt auch der Fall. Solch’ ein Spritzwerk,
das
man nicht zur Reparatur ſchicken kann, und das doch ſein
Menſchenalter
hindurch und Tag und Nacht ohne Pauſe
15422 beiten muß, das verdient ſo feſt geſchnürt und gebündelt zu
ſein
, wie es die Kammern des Herzens ſind.
Blicken wir wiederum auf die Waſſerleitung, wie ſie ſein
würde
, wenn das gebrauchte Waſſer aus der Stadt wieder
zurück
müßte zur Anſtalt, um dort gereinigt zu werden, ſo iſt
es
klar, daß eine zweite Druckpumpe vorhanden ſein müßte,
welche
das unreine Waſſer in die Reinigungsanſtalt preßte;
allein es verſteht ſich von ſelbſt, daß man dieſe Anſtalt nicht
ſo
weitläuſig wie die ganze Stadt, ſondern möglichſt klein
bauen
wird.
Und das iſt im Körper auch der Fall.
Die
Blutreinigungsanſtalt, die Lunge, iſt möglichſt klein
gebaut
, und nur grade ſo groß eingerichtet, um in jeder Minute
ſo
viel Blut reinigen zu können, wie der Körper in gleicher
Zeit
verunreinigt.
Die Folge dieſes Zuſtandes aber wird
bei
der Waſſerleitung die ſein, daß das Druckwerk, welches
das
Waſſer nach der kleinen Reinigungsanſtalt zu preſſen
hat
, nicht ſo ſchwere Arbeit wird verrichten müſſen, wie
das
Druckwerk, welches die weitläufige Stadt mit Waſſer
verſorgen
muß.
Die Druckpumpe der Reinigungsanſtalt
wird
alſo ſchwächer ſein dürfen, als die für die Stadt-
röhren
.
Und auch dieſe Sparſamkeit ſehen wir im Körper
angewendet
.
Die rechte untere Hälfte des Herzens, wo die Kammer iſt,
welche
das Blut nach der Lunge preßt, iſt nur etwa halb ſo
ſchwer
an Gewicht, wie die linke untere Hälfte.
Die
Höhlen
, die ſie bilden, ſind gleich groß;
denn beide müſſen
ſtets
gleich viel Blut aufnehmen und durch Zuſammenziehung
fortpreſſen
;
aber die Wände, welche die Höhlen umſchließen,
und
deren Zuſammenziehung eben die Preſſung des Blutes
und
deſſen Rundlauf verurſacht, ſind auffallend verſchieden.
Die Muskelpartie der rechten Hälfte iſt bei weitem ſchwächer
als
die der linken, ſowohl an Gewicht wie an Dicke.
Aber auch auf die Legung der Röhren müſſen wir
15523 Blick werſen, um die Lage der andern, dieſer Blutröhren,
etwas
verſtändlicher zu machen.
Nehmen wir den Fall an, daß die Waſſerleitung ſo ein-
gerichtet
wäre, daß das gebrauchte Waſſer wieder zurück müßte
zur
Hauptanſtalt, um dort gereinigt zu werden, ſo wäre
außer
den Röhren, die jetzt durch die Stadt gelegt ſind, noch
ein
zweites Röhrenſyſtem nötig, wo das gebrauchte Waſſer
hinausfließt
;
allein dieſe zweite Gattung Röhren würde erſtens
ganz
anders gelegt werden als die erſte;
ſie würden zweitens
auch
ganz anders gebaut ſein können, als die erſtere Gattung;
ſie würden drittens andere Verbindungen miteinander haben und
würden
endlich viertens auch anders in die Saugpumpe münden,
wie
die Druckröhren von der Druckpumpe auslaufen.
Wir wollen zeigen, wie dies alles beſchaſſen ſein müßte,
wenn
es auf Vollendung Anſpruch machen, das heißt möglichſt
vorteilhaft
, möglichſt ſicher und möglichſt ſparſam ſein ſoll,
und
dann einmal ſehen, ob unſere Blutleitung im Körper auch
ſo
ſchön ausgeſonnen iſt, wie wir die Waſſerleitung ausſinnen.
VII. Verſchiedenheit der Adern und ihrer Lagen.
Es läßt ſich leicht einſehen, daß man die Röhren einer
Waſſerleitung
, welche das Waſſer nach der Stadt führen, nicht
immer
geradeaus und in gleicher Weiſe legen kann, ſondern
ſtets
die Stadtgegend im Auge haben muß, welche mit Waſſer
zu
verſorgen iſt;
zugleich aber hat man noch eine andere
Rückſicht
zu beobachten, die darin beſteht, daß das Waſſer in
jedem
Hauſe der Stadt einen gewiſſen gleichmäßigen Fluß habe,
damit
nicht ein Haus in der Nähe der Waſſerleitung über-
mäßig
reich, ein entferntes dagegen zu ſparſam mit Waſſer
verſorgt
werde.
15624
Zu dieſem Ziele wird man nur dadurch gelangen, daß
man
die Abzweigung der Röhren nicht allzufrüh vornimmt;
denn je früher die Röhren ſich verzweigen, deſto ſchwächer
wird
der Strom;
in einer geteilten Röhre iſt auch der Strom,
alſo
der Waſſerzufluß geteilt, und ſoll das Waſſer in rechtem
Maße
nach Bedürfnis zuſließen, ſo iſt es gut, daß es möglichſt
lange
in einem Rohr zuſammen bleibt bis kurz vor der Stelle,
wo
die Teilung notwendig iſt.
Anders dagegen verhält es ſich mit dem rückſließenden
Waſſer
.
Dies, das nur von einem leichtarbeitenden Werk
heimgepumpt
werden ſoll, wird leichter ſließen, wenn es in
geteilten
Röhren ſeinen Weg nehmen kann.
Mit andern Worten: Wenn eine Druckpumpe ein fernes
Röhrenſyſtem
mit Waſſer verſorgen ſoll, ſo wird es gut ſein,
die
Teilung des Hauptrohres erſt äußerſt ſpät eintreten zu laſſen;
wenn dagegen das Waſſer zur Pumpe zurückſtrömen ſoll, ſo
iſt
es vorteilhafter, wenn es ihr durch recht viele Röhren
zuſtrömt
.
Und auch dieſes Prinzip iſt in der Blutleitung des Körpers
gewiſſenhaſt
beobachtet.
Die Schlagadern, die Blut zu den
Körperteilen
führen, ſind ſparſam in der Verzweigung;
die
Verzweigung
fängt erſt dort an, wo die Verſorgung des Blutes
nach
allen Teilen unumgänglich nötig iſt;
dadurch wird dem
Druckwerk
des Herzens die Arbeit erleichtert.
Dahingegen ſind
die
Blutadern, die das abgenutzte Blut zurückführen, geteilter, ihre
Zahl
iſt größer, wodurch dem Blut der Heimweg erleichtert wird.
Aus gleichem Grunde ſehen wir die Schlagadern aus der
rechten
wie aus der linken Kammer des Herzens nur ein-
ſtämmig
auslaufen.
Die linke Kammer ſendet nur einen Stamm
aus
, der ſich dann erſt in eine Ader teilt, die nach dem unteren,
und
eine, die nach dem oberen Teil des Körpers geht;
ebenſo
drückt
die rechte Kammer des Herzens das Blut nur in einer
ungeteilten
Ader in die Lunge;
wohingegen die
15725 ſowohl aus dem Körper, wie aus jeder Lunge durch zwei
Röhren
das Blut wieder aufnehmen.
Bei dieſer Gelegenheit müſſen wir einer Vorrichtung er-
wähnen
, die im Herzen ſelber angebracht iſt, und die darthut, wie
ſorgfältig
und vorſichtig dieſer Bau angelegt iſt.
Es läßt ſich
leicht
einſehen, daß zwei Röhren, welche in einen Raum Flüſſig-
keiten
zuführen, nicht ſo geſtellt ſein dürſen, daß die Ströme
gegeneinander
gerichtet ſind, weil dann leicht der ſtärkere Zu-
ſtrom
der einen Seite den ſchwächeren der anderen Seite
hemmen
könnte.
Beim Herzen finden wir dieſe Vorſicht
ebenſalls
beobachtet.
Die Hauptblutader, welche vom unteren
Teil
des Körpers kommt, ſteht der zweiten, welche das Blut
der
oberen Körperteile zum Herzen führt, nicht gerade gegen-
über
, damit der eine Blutzuſtrom nicht den andern ſtöre.
Es
ſind
aber noch außerdem Wülſte oder eine Art Dämme
angebracht
, an welche jeder Blutſtrom anprallt, ſo daß die
beiderſeitigen
Strömungen ſich gewiſſermaßen im erſten Anſchuß
aus
dem Wege gehen, um ſich dann ſofort deſto inniger zu
miſchen
.
Daß aber dieſe Miſchung des Blutes auch ſehr
notwendig
iſt, läßt ſich leicht einſehen, wenn man erwägt, daß
die
Blutader, die aus dem oberen Teil des Körpers in das
Herz
geht, nicht bloß abgenutztes Blut, wie die untere Blut-
ader
mit ſich führt, ſondern auf ihrem Wege auch noch den
Vorrat
von Material zu friſchem Blute auſnimmt, welcher
aus
den Speiſen entſtanden iſt, aus denen das Blut ſich bildet.
Dieſer Vorrat an friſchem Blutſaft muß ins Herz, um mit
dem
alten Blut gemiſcht zu werden, und aller Wahrſcheinlichkeit
nach
iſt hierzu jene gründliche Miſchung mit dem alten Blut-
vorrat
notwendig, welche durch den Wirbel der Blutſtrömungen
im
Herzen entſteht, und gerade durch die erwähnten Wülſte
oder
Dämme, an welche die Blutſtröme anprallen, befördert
wird
.
Noch auf einen Umſtand haben wir aufmerkſam zu
15826 der weſentlich die Thätigkeit einer Druckpumpe kennzeichnet,
welche
beim Herzen und der Blutleitung nicht fehlen darf.
Es iſt bekannt, daß jedes Spritzwerk einen Wind- oder
Luſtkeſſel
haben muß, wenn es ordentlich wirken ſoll.
Der
Grund
hiervon liegt in der Thatſache, daß Flüſſigkeiten ſich
nicht
zuſammenpreſſen laſſen, alſo auch nicht jene Spring- und
Dehnkraſt
haben, welche einer Spritze nötig iſt.
Flüſſigkeiten
ſind
nicht elaſtiſch und können nur dann in regelmäßigem Strahl
fortgeſpritzt
werden, wenn man Windkeſſel auf ſie wirken läßt, wo
die
ſehr elaſtiſche, gepreßte Luſt das Springen des Strahls ver-
anlaßt
, ſelbſt in den Pauſen, wo der Druck der Maſchine aufhört.
Beim Herzen iſt nun freilich nicht ein Wind- oder Luft-
keſſel
angebracht, ja der Eintritt von Luſt ins Herz iſt ſo
außerordentlich
ſchnell tötend, daß ganz gefahrloſe Durch-
ſchneidungen
von Blutadern den ſofortigen Tod durch Luft-
eintritt
herbeiführen können, wenn der Operateur nicht die
Ader
unterbindet und ſo den Weg zum Herzen ſperrt.
Der
Druckpumpe
des Herzens fehlt alſo ein elaſtiſches Mittel, um
das
Blut in dauerndem Fluß zu erhalten.
Dieſem Mangel
iſt
jedoch durch den Umſtand abgeholfen, daß alle Schlagadern
ſelber
elaſtiſch ſind, um ſich ſowohl der Länge wie der Dicke
nach
mit jeder Blutwelle zu dehnen und zuſammenzuziehen, und
das
bewirkt ein Fortſchießen des Strahls, ſelbſt im Moment,
wo
die Kammer des Herzens ſich erweitert;
denn die hinter
der
Blutwelle ſich verengende Schlagader drängt eben durch
ihre
Verengung das Blut vorwärts.
Da dies nur bei den
Schlagadern
der Fall iſt, die an dem Spritz- und Druckwerke
des
Herzens angebracht ſind, und bei den Blutadern nicht
ſtattfindet
, ſo iſt es klar, daß unſere Einrichtungen, in welchen
wir
Spritz- und Druckwerke mit elaſtiſchen Hilfsmitteln, mit
Wind-
oder Luftkeſſel verſehen, auch im Prinzip ſchon etwas
ſehr
Altes ſind älter, als das erfindungsſtolze Menſchen-
herz
es je geahnt hat.
15927
VIII. Die Klappen oder Ventile.
Der intereſſanteſte Teil der großen Blutleitung des Körpers
iſt
das Herz ſelber, und an dieſem iſt die Einrichtung der
Klappen
oder Ventile am bewunderungswürdigſten.
Jeder, der einmal die Einrichtung einer Druckpumpe ge-
ſehen
hat, wird wiſſen, daß außer dem Kolbenſtoß das leichte
Spiel
der Ventile die Hauptſache an einer guten Pumpe iſt.
Die Reparaturen, welche oft genug an Pumpen und Feuer-
ſpritzen
nötig werden, gelten meiſt den Ventilen, die ſich bald
zu
ſchwer öffnen, bald zu undicht ſchließen;
deshalb gehören
auch
gute Ventile zu den am meiſten geſuchten Erfindungen,
und
trotzdem wir jetzt ſehr verſchiedenartige beſitzen, und je
nach
dem Werk bald Klappen-, bald Kugel-, bald Schiebe-
Ventile
angewendet ſehen, würde doch eine Erfindung leicht
arbeitender
, ſicherer, dichter, und doch der Reparaturen wenig
bedürfender
Ventile noch immer ſehr willkommen ſein.
Das Intereſſantere in der Vorrichtung des Herzens liegt
aber
auch noch darin, daß die Ventile bei den verſchiedenen
Öffnungen
, durch welche das Blut ſtrömt, nicht gleich gebaut,
ſondern
gerade ſo eingerichtet ſind, daß ſie zu der Kraft paſſen,
welche
ihnen jedesmal erforderlich iſt.
Wirſt man den Blick
auf
dieſe Ventileinrichtungen, ſo findet man, daß ſie an gewiſſen
Stellen
ſehr einfach, an andern ſchon feſter und wieder an
andern
außerordentlich feſt angelegt ſind;
man kann demnach
ſagen
, daß man drei Gattungen, und zwar:
mittelmäßige, gute
und
vorzügliche Ventile am Herzen findet, was am ſchlagendſten
darthut
, daß am Bau des Herzens eine wunderbare Spar-
ſamkeit
herrſcht, denn wo ein mittelmäßiges Ventil ausreicht,
findet
man kein gutes, und allenthalben, wo dieſes ſeine Dienſte
genügend
leiſten kann, ſieht man kein vorzügliches angebracht.
Um die Ventile näher kennen zu lernen, wollen wir
16028 Portion Blut auf einer Rundreiſe im Körper begleiten, und
zwar
wollen wir von dort anfangen, wo es aus dem Körper
zum
Herzen ſtrömt, um von dieſem zur Lunge geſchickt, von
hier
zurück zum Herzen ſpediert und durch dieſes wieder zum
Körper
getrieben zu werden.
Nehmen wir an, daß von irgend einem Körperteil aus,
z
.
B. dem Fuß, das Blut auf der Rückreiſe begriffen iſt, ſo iſt
es
klar, daß es hier beim Aufwärtsſteigen der Schwere ent-
gegenwirkt
, und das Blut eigentlich ohne die fortſchiebende
Stoßkraft
des Herzens gar nicht in die Höhe ſteigen könnte.
Nun aber geſchieht es zuweilen, daß wirklich das Herz auf
einen
Moment gelähmt iſt, wie z.
B. bei plötzlichem Schreck
und
Entſetzen, gleichwohl jedoch ſtrömt das Blut nicht zurück,
und
zwar deshalb nicht, weil die Blutadern, und namentlich
die
vom unteren Teil des Körpers zum Herzen laufenden in-
wendig
in den Wänden Taſchen-Ventile haben, das heißt,
Häutchen
, welche ganz ſo geformt ſind, wie die Seitentaſchen
an
unſern Droſchken;
dieſe Taſchen oder Taſchen-Ventile be-
wirken
, daß alles Blut, welches aufwärts ſteigt, ungehindert
an
ihnen vorüber fließt, während alles, was zurückfließen
möchte
, die Taſche füllt und ſtrotzend macht, ſo daß ſie den Weg
abwärts
verſperrt.
Bedenkt man, daß das Blut, welches zum Herzen zurück-
fließt
, nicht mehr lebensfähig iſt, ja, daß es ſchädlich wirken
würde
, wenn es zurück in die feinen Äderchen ſließen könnte,
aus
denen die Teile des Leibes ihre Nahrung nehmen, ſo iſt
der
Zweck der Taſchen- Ventile vollkommen erklärt, und ihre
Wichtigkeit
einleuchtend.
Indem wir dieſe Ventile als die einfachſten bezeichnen,
wollen
wir nur noch erwähnen, daß auch abwärts laufende
Blutadern
mit ſolchen verſorgt ſind.
Sie thun auch hier
wichtige
Dienſte, weil ohne ſie das unbrauchbar gewordene
Blut
rückwärts fließen würde, ſobald z.
B. eine Ader
16129 wie gedrückt wird, was ſehr oft geſchieht, da die Blutadern an
vielen
Stellen ſehr oberflächlich liegen, wie z.
B. auf der
Außenſeite
der Hand, und auf der Stirn, wo ſie bei älteren
Leuten
und bei ſehr zarthäutigen Perſonen als dicke oder feine
blaue
Kanäle ſichtbar ſind.
Dieſe einfachen Ventile reichen nun für ihren Zweck voll-
kommen
aus, denn ſie laſſen das Blut nur zum Herzen zurück-
fließen
, wohin es ſoll.
Denken wir uns demnach, daß eine
Portion
ins Herz, und zwar in den Vorhof eingeſtrömt iſt, ſo
iſt
es einmal ſo eingerichtet, daß der Vorhof, ſobald er gefüllt
iſt
, ſich zuſammenzieht, denn er muß ſeine Portion Blut jetzt
nach
der Herzkammer treiben, die ſich zu dieſem Zweck er-
weitert
.
Bei dieſer Gelegenheit tritt freilich, wie neuere Be-
obachtungen
gezeigt haben, ein wenig Blut zurück in die großen
Blutadern
;
allein dies geſchieht ohne Gefahr, da von hier aus
das
unbrauchbare Blut nicht bis zu den Leibesteilen zurück-
gelangen
kann, und deshalb iſt auch keine beſondere Vorrichtung
dagegen
angebracht.
Allein zwiſchen Vorhof und Kammer iſt
Vorſicht
nötig, und die Einrichtung der dieſe Öffnungen
ſchließenden
Ventile iſt vorzüglich.
Die Öffnungen, welche vom Vorhof zur Kammer führen,
ſind
mit feſten Häuten verſehen, welche ſich wie Segel auf-
ſpannen
können.
Die rechte Seite des Herzens hat drei ſolcher
Segelklappen
, die linke zwei.
Will nun das Blut vom Vorhof
in
die Kammer, ſo ſtellen ſich die Segelklappen ſo, daß ſie den
Blutſtrahl
zwiſchen ſich hindurchgleiten laſſen, und zwar leiten
ſie
ihn zugleich ein wenig ab, damit der Strahl nicht auf die
zweite
Öffnung anpralle, die zu der Schlagader führt.
Hat
ſich
nun die Kammer gefüllt und iſt im Begriff ſich zu-
ſammenzupreſſen
, ſo entrollen ſich die Segelklappen vollſtändig
und
bauchen ſich unter dem Druck des Blutes auf, wie ein
Segel
im Winde;
hierbei preſſen ſie ſich feſt aneinander und
verſchließen
die Öffnung zum Vorhof derart, daß auch
16230 ein Tröpfchen Blut zurück kann. Das Aufrollen, Zuſammen-
klappen
, Anpreſſen und Verſchließen iſt ein äußerſt feiner
Mechanismus
, der durch viele wohl berechnete Umſtände
bewerkſtelligt
iſt, wobei hauptſächlich ſleiſchige Bündel mit-
wirken
, welche an ſehnigen Schnüren die Segel im rechten
Moment
feſtziehen.
Eine dritte Art Ventil iſt an der Öffnung angebracht, wo
die
Schlagadern münden.
Dieſes Ventil iſt nicht ſo fein aus-
geſponnen
, wie das zwiſchen Vorhof und Kammer;
aber es iſt
vortrefflich
gearbeitet.
Es beſteht nämlich aus drei im Rohr
der
Schlagadern liegenden Wagentaſchen, die beim Lauſe des
Blutes
nach der Schlagader an die Wände gepreßt werden
und
dem Blute nicht das mindeſte Hindernis bereiten, die ſich
aber
ſofort füllen, aufbauchen und aneinander preſſen, wenn
das
Blut bei der Ausdehnung der Herzkammer nach dieſer
zurück
will.
Hierbei prallen die drei Taſchen-Ventile ſo genan
mit
den Rändern aneinander, daß ſie einen ausgezeichneten
Verſchluß
bilden, und kein Tröpfchen den falſchen Weg zurück-
machen
laſſen.
IX. Wie ſtark das Herz iſt.
Seitdem es wiſſenſchaſtlich feſtgeſtellt iſt, daß das Herz
ein
äußerſt merkwürdiges, mechaniſches Kunſtwerk, welches an
Vorzüglichkeit
der Einrichtung alle künſtlichen Druckwerke über-
trifft
, haben die Naturforſcher ſich bemüht, die Kraft genau zu
meſſen
, mit welcher das Herz ſeinen Druck auf das Blut aus-
übt
.
Hierbei hat ſich nun eine überraſchende Erſcheinung
gezeigt
, die wir nicht unerwähnt laſſen dürfen.
Um eine genaue Meſſung vornehmen zu können, bedient
man
ſich eines Inſtruments, das auch in mediziniſcher
16331 ziehung wichtig geworden iſt. Zu dieſem Zweck öffnet man
einem
Tier eine Schlagader und bringt die Öffnung mit einem
Gummiſchlauch
in Verbindung, der in ein Glasrohr führt.
Dieſes Glasrohr iſt wie ein lateiniſches U gebogen, das heißt,
es
beſteht aus zwei aufrecht ſtehenden Säulen, die unten mit
einander
in Verbindung ſtehen.
In das Rohr wird Queck-
ſilber
hineingegoſſen, das vor dem Verſuch in beiden Säulen
gleich
hoch ſteht.
Bei dem Verſuch wird der Gummiſchlauch,
der
an einem Ende mit der Ader in Verbindung ſteht, mit dem
andern
Ende auf die eine Öffnung des Glasrohrs gebracht.

Das
Blut ſtürzt aus der geöffneten Ader durch den Gummi-
ſchlauch
in das Glasrohr und drückt auf das Queckſilber, ſo
daß
es in der andern Säule in die Höhe ſteigt, und je nach
der
Höhe, die es erreicht, die Kraft des Blutdrucks angiebt.

Dies
Inſtrument nennt man den Blut-Kraft-Meſſer, und es
wird
gegenwärtig ſowohl für Unterſuchungen der angegebenen
Art
, wie beſonders bei Verſuchen über die Wirkung gewiſſer
Medikamente
benutzt, deren Einfluß auf die Kraſt des Herzens
man
prüfen will.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß man bei
Verſuchen
dieſer Art zu Tieren ſeine Zuflucht nimmt.
Die überraſchende Erſcheinung, die ſich hierbei heraus-
ſtellte
, iſt die, daß die Druckkraft des Blutes gar nicht von der
Größe
des Tieres abhängt.
Das Blut von Pferden, Ochſen,
Kälbern
, Hunden, Katzen und Kaninchen zeigt eine ganz gleiche
Druckkraft
.
Das heißt: das kleine Herz eines Kaninchens
treibt
das wenige Blut im Körper dieſes Tieres mit eben
ſolcher
Kraft herum, wie das große Herz eines Pferdes die
Maſſe
des Pferdeblutes herumtreibt.
Man muß ſich hierbei
nicht
vorſtellen, daß ein Kaninchenherz ſo ſtark iſt wie ein
Pferdeherz
;
denn das iſt keineswegs der Fall, und kann auch
nicht
der Fall ſein.
Ein Kaninchenherz iſt eine kleine Pumpe
für
eine kleine Blutleitung;
ein Pferdeherz iſt eine große
Pumpe
für eine große Blutleitung.
Die große Pumpe
16432 dreißigmal ſo ſtark ſein wie die kleine; aber ſobald ſie
dreißigmal
ſo viel Blut in Umſchwung zu ſetzen hat, wird ſie
in
jedem einzelnen Punkte nicht mehr als die kleine leiſten.
Hieraus aber muß man den Schluß ziehen, daß es ganz
was
Eignes iſt mit dieſem merkwürdigen Mechanismus des
Herzens
.
Wenn die an eigner Kraft ſehr verſchiedenen Herzen
der
kleinen und großen Säugetiere alle ſo eingerichtet ſind, daß
ſie
für jedes der Tiere immer einen und denſelben Blutdruck
erzeugen
, ſo können wir uns dies menſchlicherweiſe gar nicht
anders
vorſtellen, als daß die genaueſte Berechnung bei Bildung
des
Herzens obwaltet, damit es ja nur zu dem Körper ſtimme,
in
welchem es thätig ſein muß und weder zu ſtark noch zu
ſchwach
ſei für die Arbeit, die es in jedem Tiere zu vollbringen
hat
.
Und da kein Grund vorhanden iſt anzunehmen, daß
der
Menſch hiervon eine Ausnahme mache, ja, es vielmehr
eine
Schwäche wäre, zu glauben, daß die Berechnung bei einem
Menſchenherzen
weniger richtig ſein ſollte als bei dem Büffel
oder
dem Meerſchweinchen, ſo können wir wohl ſagen:
wir
Menſchen
bringen ein Herz, eine Maſchine mit zur Welt, die
ſo
genau an Kraſt abgeſtimmt iſt für ihre zu leiſtende Arbeit,
daß
ſie auch in dieſer Beziehung all’ unſerer künſtlichen Ma-
ſchinen
ſpottet, welche bekanntlich um ein halbmal ſtärker gebaut
werden
, als ſie benutzt werden dürfen.
Auf dieſem Prinzip fußend, haben die Naturforſcher auch
auf
die eigentliche Kraft des Herzens Schlüſſe gezogen, und
ſind
hierbei auf ſehr intereſſante Reſultate gekommen, die frei-
lich
noch nicht ſo feſt ſtehen, wie es zu wünſchen iſt.
Was wir ſoeben von der bei allen Säugetieren gleichen
Blutkraft
geſagt haben, betrifft nämlich nicht die eigentliche
Kraft
oder wie man ſich wiſſenſchaftlich ausdrückt, die ab-
ſolute
Kraft des Herzens, ſondern nur die Wirkung der
Herzkraft
auf das Blut oder wiſſenſchaftlich:
deren relative
Kraft
.
Der Blutdruckmeſſer zeigt ein Steigen der
16533 ſäule von etwa einem halben Fuß, ganz gleichviel, ob man das
Blut
eines Kaninchens oder das eines Ochſen unterſucht;
es
iſt
hiernach klar, daß man durch dieſes Inſtrument zwar die
Wirkung
, aber nicht die eigentliche Kraft des Herzens erſieht,
und
es noch weiterer Unterſuchungen und Berechnungen be-
durſte
, um auch hinter dieſe zu kommen.
Den Weg dieſer intereſſanten Unterſuchung auch nur an-
zudeuten
, iſt äußerſt ſchwierig, da es ſich hierbei um mathe-
matiſche
Berechnungen des Umfanges der Haupt-Schlagader
und
deren Verhältnis zu den Verzweigungen derſelben handelt.
Wir können demnach nur als Reſultat angeben, daß man
wiederum
gefunden hat, es ſei bei jedem Säugetier die rechte
Hälfte
des Herzens ſo ſtark, daß ſie bei ihrer jedesmaligen
Zuſammenziehung
eine Kraft äußert, die gleich iſt einem Drei-
hundertteil
des Gewichtes des ganzen Tieres.
Die linke
Hälfte
des Herzens iſt dreimal ſo ſtark, beträgt alſo an Kraft
ein
Hundertteil des Gewichtes des Tieres.
Das ganze Herz
iſt
demnach an Kraft gleich einem Fünfundſiebzigteil des Ge-
wichtes
des Tieres.
Deutlicher ausgedrückt heißt dies ſo viel: Ein Tier, das
100
Pfund wiegt, beſitzt ein Herz, welches ſo ſtark in ſeiner
Druckkraft
iſt, wie ein Gewichtſtück von 1 {1/3} Pfund.
Da nun
ein
Menſch im ausgewachſenen Zuſtande an 140 Pfund wiegt,
ſo
iſt die Druckkraft ſeines Herzens etwa gleich 2 Pfund.
Dieſe Kraft äußern wir in jedem Pulsſchlag, das heißt in der
Minute
an 70 Mal, was ſo viel ſagen will, wie eine Kraſt
von
140 Pfund in der Minute oder 84 Zentner in der Stunde.
Nun aber iſt das Herz, das mit jedem Pulsſchlag eine
Kraft
von 2 Pfund äußert, nur im ganzen etwa fünfzehn
Lot
ſchwer;
wir haben alſo fünfzehn Lot lebendige Maſchine
im
Leibe, die nicht nur ein Meiſterwerk von Druck-Pumpe iſt,
ſondern
auch ſo viel Kraft beſitzt, daß ſie in einer Stunde eine
Druckkraft
ausübt von 84 Zentner.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIII.
16634
Das ſoll nun ein Menſch einmal nacherfinden!
Gewiß, es bleibt dabei: was der Menſch erfindet, ſteht
weit
, weit zurück gegen das, was er mit zur Welt bringt!
X. Die ſogenannten mechaniſchen Fehler des Herzens.
Nachdem wir das kleine Meiſterſtück, das Herz, ſo weit
betrachtet
haben, daß wir die Unerreichbarkeit ſeines Mechanis-
mus
als feſtgeſtellt anſehen dürfen, wollen wir nur noch zwei
Eigentümlichkeiten
kennen lernen, die eigentlich noch unerklärt
ſind
, und die inſoweit für uns Intereſſe haben, als ſie ſonſt
bei
künſtlichen Maſchinen Zeichen der Stümperhaftigkeit ihrer
Einrichtung
ſind.
Eine künſtliche Maſchine wird als ſchlecht betrachtet, ſobald
ſie
während der Arbeit ruckt oder ſtößt;
ja man wendet ſogar
alles
an, damit ſie möglichſt keinen Ton von ſich gebe, denn
ein
Ton entſteht immer nur infolge eines Stoßes oder einer
Erſchütterung
, die Schwingungen verurſacht, und dergleichen iſt
der
Haltbarkeit der Maſchine höchſt nachteilig.
Zwar wird der Vorzug des gleichmäßigen Ganges der
Maſchine
, der jeden Ruck oder Stoß oder Ton meidet, äußerſt
ſelten
erreicht.
Das Dröhnen, Pfeifen, Klappern, Schrillen,
Sauſen
der Maſchinen läßt ſich ſelten oder gar nicht beſeitigen;
aber es wird dies doch ſtets als Fehler betrachtet, und man
ſucht
dem immer, ſo weit es geht, abzuhelfen.
Es iſt ein aus-
gemachter
Satz in der Maſchinenlehre, daß jeder Stoß die
Kraft
der Maſchine hemmt und außerdem noch ihre Zerbrech-
lichkeit
befördert.
Die Schädlichkeit jedes Stoßes geht ſo weit,
daß
man an unſern Eiſenbahnen Ausgaben von mehreren
Millionen
gemacht hat, um neu erfundene, beſſere Schienen-
ſtühle
herzuſtellen, die weniger als die bisherigen das
16735 der Lokomotive veranlaſſen, wenn ſie von einer Schiene auf die
andere
kommt.
Iſt dem aber ſo, dann wird man auf den Gedanken ge-
führt
, daß das Herz am Ende doch kein gar zu erhabenes
Kunſtwerk
ſein könne, denn es hat die Eigentümlichkeit, daß es
regelmäßig
an die Bruſtwand anſtößt, und außer dieſem Stoß,
der
gefühlt werden kann, hört man, wenn man das Ohr an
die
Bruſtwand legt, oder ſich hierzu eines Hörrohrs bedient,
zwei
Töne während jedes Herzſchlages, ſo daß das Herz einen
zwiefachen
mechaniſchen Fehler zu beſitzen ſcheint, es ſtößt und
tönt
, ohne daß man den Zweck des Stoßes und des Tönens
anzugeben
vermag.
Erwägt man die Sache indeſſen näher, ſo wird man auf
den
Gedanken geführt, daß es doch nicht ſo ſchlimm mit den
Fehlern
des Herzens ſtehen könne.
Das Stoßen und Tönen einer Maſchine iſt deshalb ein
mechaniſcher
Fehler, weil beim Stoß erſtens ein Teil der Kraft
verloren
geht, und weil dieſe verlorene Kraft noch zweitens zur
Zertrümmerung
des ſtoßenden oder geſtoßenen Teiles führt;
das Tönen wird bei Maſchinen aus gleichem Grunde möglichſt
gemieden
, denn jeder Ton entſteht immer nur infolge einer
Erſchütterung
, die Schwingungen verurſacht, und dieſe kommt
in
ihrer Wirkung einer großen Reihe wiederholter kleiner Stöße
vollkommen
gleich.
Wollte man alſo den mechaniſchen Wert
des
Herzens nach gewöhnlichem Maßſtabe beurteilen, ſo müßte
man
nicht ſowohl dem Stoß oder dem Ton, ſondern der
Haltbarkeit
Fehler nachweiſen;
nun aber lehrt die Erfahrung
gerade
hierin, daß unſer feſtſtehendes mechaniſches Urteil durch-
aus
nicht zutrifft, denn kein Organ des Leibes iſt ſo aus-
dauernd
haltbar als gerade das Herz, trotz ſeines Stoßens
und
Tönens.
In den höchſten Lebensaltern wird Auge und Ohr ſtumpf,
verliert
ſich Geruch, Geſchmack und Gefühl in
16836 Grade, verſagen die Füße den Dienſt, ſchwanken die Hände,
will
der Magen ſein Werk nicht mehr verrichten und verfällt
ſelbſt
der Geiſt in eine Abweſenheit, die wie ein Vorbote ſich
einſtellt
, um die große Abweſenheit anzukündigen, die bald
eintreten
muß.
Alles alſo nimmt ab in ſeiner Wirkſamkeit;
nur das Herz hält aus, ja die Zahl ſeiner Schläge vermehrt
ſich
ſogar zuweilen;
und wenn es am Ablauf der letzten Stunde
für
immer ſtill ſteht, iſt es nicht der Fall, weil es ihm mecha-
niſch
an Kraft gebricht, weil es durch ſein Stoßen und Tönen
an
Dauerhaftigkeit verloren, ſondern weil jene Triebkraft auf-
gehört
hat, welche durch das lange Leben hindurch das Herz
dirigiert
hat.
Die Erfahrung lehrt alſo, daß es falſch iſt, an das Herz
den
Maßſtab der Mechanik anzulegen und demſelben das
Stoßen
und Tönen deshalb als Fehler anzurechnen, weil dies
an
Maſchinen menſchlicher Erfindung verderblich auf die Halt-
barkeit
der Maſchine einwirkt.
Der Fehler liegt nicht am Herzen, ſondern an unſerm
Verſtande
, oder richtiger an dem jetzigen Stand der Natur-
wiſſenſchaft
, die den Zweck des Herzſtoßes und Tönens nicht
kennt
.
Bei einem Meiſterwerk dieſer Art, wo ſich alles, was
man
bisher erforſchen konnte, unvergleichlich zweckentſprechend
gezeigt
hat, darf man gar nicht zweifeln, daß auch das Stoßen
an
die Bruſtwand und das Tönen des Herzens mit zum Zweck
ſeiner
Thätigkeit gehört, und muß des Fortſchritts der
Wiſſenſchaft
harren, die ſicherlich einmal hinter dieſe Dinge
kommen
wird, zur Beſchämung all’ derer, die flüchtig genug
im Bau des Menſchen Fehler nachweiſen wollen.
Vorläufig muß es uns genügen, daß die Wiſſenſchaft voll-
kommen
klar darüber iſt, woher der Herzſtoß rührt, und wenig-
ſtens
mit großer Wahrſcheinlichkeit den Grund der Herztöne an-
geben
kann.
Der Stoß rührt daher, daß das Herz, welches an
den
von ihm auslaufenden Adern frei hängt, bei der
16937 Zuſammenzichung eine Schwenkung macht, die zugleich in einer
Wendung
, Drehung und Hebung beſteht, wobei die Spitze des
linken
Herzteils an die Bruſtwand fährt und ſo den fühlbaren
Stoß
veranlaßt.
Die Urſache der Herztöne iſt weniger ſicher
ermittelt
;
jedoch nimmt man jetzt allgemein an, daß ſie von
dem
Schluß der Ventile herrühren, die beim Rückprall des
Blutes
jenen feſten Verſchluß bilden, der dem Blut den Rück-
tritt
ins Herz verſperrt.
Freilich darf man den Grund dieſer Erſcheinungen nicht
mit
dem Zweck derſelben verwechſeln;
vielleicht lehrt die fort-
ſchreitende
Wiſſenſchaft einmal, daß gerade dieſes Stoßen und
Tönen
den Zweck habe, als Anregung und Reiz auf die Herz-
thätigkeit
zu wirken;
wie dem aber auch ſei, ſo müſſen wir be-
kennen
, daß uns gerade dieſe ſogenannten mechaniſchen Fehler
am
Herzban noch mehr Reſpekt vor dieſem Bau ſehr alter
Erfindung
einflößen und ihn hoch über jene Menſchenerfin-
dungen
ſtellen, bei denen man weiß, wie Klappen und Tönen
vernichtend
wirken, und wo man doch nicht imſtande iſt, dies
zu
beſeitigen.
XI. Das Auge und die Kamera-Obſcura.
Wir wollen nunmehr zur Betrachtung eines andern kleinen
Meiſterwerks
übergehen, das der Menſch mit zur Welt bringt,
und
das inſofern in unſer Thema fällt, als es dem Menſchen
gelungen
iſt, ein Kunſtwerk herzuſtellen, welches dem angebornen
Meiſterwerk
höchſt merkwürdig ähnlich iſt.
Das Meiſterwerk, das der Menſch mit zur Welt bringt,
iſt
das Auge;
das Kunſtwerk, das er dem Auge ähnlich her-
vorbringt
, iſt die Kamera-Obſcura.
Wir wollen ſie nun
beide
näher kennen lernen, um ſie vergleichend neben einander
ſtellen
zu können.
17038
So eigentlich ſollten wir mit dem Bau des Auges be-
ginnen
und dann den Bau der Kamera-Obſcura betrachten;
allein es iſt einmal im Leben ſo, daß die Menſchen weit eher
Beſcheid
wiſſen in dem, was ſie ſchaffen, als in dem, was ſie
ſind
, daß ſie weit leichter das kennen lernen, was ſie machen,
als
das, was aus ihnen gemacht wird, daß ſie in Büchern ſich
ſchneller
zurecht finden als im Leben, auf Landkarten leichter
Beſcheid
wiſſen als auf Reiſen;
deshalb glauben wir, daß auch
unſere
Leſer weit leichter den Bau der Kamera-Obſcura ver-
ſtehen
werden, als den des Auges, und darum wollen wir mit
dieſem
Bau anfangen, um ſpäter zum Auge zu kommen.
Wer ein Stündchen Zeit nicht ſcheut und für ſich oder
ſeine
Kinder eine angenehme und belehrende Spielerei, die
gar
wenig koſtet, machen will, der baue ſich eine Kamera-
Obſcura
.
Es gehört dazu ſehr wenig. Ein Brillenglas, eine alte
Cigarrenkiſte
und ein Blatt Papier ſind zur Not ausreichend
für
das ganze Kunſtſtück.
Das Brillenglas muß ſo ſein, wie es die alten Leute ge-
brauchen
, das heißt, es muß an den Rändern dünner ſein als
in
der Mitte;
es muß die Linſenform haben. Ein Brennglas,
wie
man es auf dem Markt für einen Groſchen kauft, iſt voll-
kommen
ausreichend.
Die Cigarrenkiſte darf nicht ſlach, ſondern muß hoch ſein.
Die hohen Kiſtchen, worin man gewöhnlich ein viertel Tauſend
Cigarren
verpackt, werden ſich ganz vortrefflich zu unſerm Ver-
ſuch
eignen.
Das weiße Blatt Papier muß ein wenig mit Öl ein-
gerieben
ſein, damit es glasartig durchſcheinend wird, und ſich
wie
eine halb durchſichtige Glasſcheibe ausnimmt.
Nunmehr wollen wir zum Bau ſchreiten, aber zuvor noch
einen
Verſuch machen.
Man trete an die Wand, die dem Fenſter
17139 und halte das Brillen- oder Brennglas in einiger Entfernung
von
derſelben.
Man wird bald bemerken, daß anſtatt des
Schattens
vom Glaſe, der eigentlich auf die Wand fallen ſollte,
ein
eigentümliches Licht ſich auf derſelben zeigt, und zwar an
der
Stelle, wo das Licht vom Fenſter her durch das Glas auf
die
Wand fällt.
Nun verſuche man es mit Entfernen und
Nähern
des Glaſes an die Wand, und man wird bald wahr-
nehmen
, daß in einer gewiſſen Entfernung des Glaſes von der
Wand
, die bei gewöhnlichen Gläſern etwa fünf bis zehn
Zoll
zu betragen pflegt ein allerliebſtes, kleines Bildchen auf
der
Wand ſichtbar wird, und zwar wird man darin das Fenſter,
nebſt
Fenſterkreuz am deutlichſten erkennen, aber auch den
Himmel
draußen, die Wolken oder die gegenüberliegenden
Häuſer
.
Mit einem Worte: man wird an der Wand ein
Bildchen
von all’ dem ſehen, was man mit dem Auge von
dieſer
Stelle aus am Fenſter und draußen erblicken kann.
Wenn man die richtige Entfernung getroffen hat, was nach
einiger
Übung ſehr leicht geſchieht, und wenn die Wand weiß
angeſtrichen
iſt, oder wenn man ein Blatt Schreibpapier ſtatt
der
Wand benutzt, ſo iſt das Bildchen hell, hübſch, zierlich und
für
denjenigen, der dieſen Verſuch noch nicht kennt, ſehr über-
raſchend
.
Aber das Überraſchendſte dabei bleibt immer, daß
das
Bildchen umgekehrt iſt, das heißt, das alles auf dem Kopf
ſteht
.
Wenn das Fenſterkreuz oben im Fenſter iſt, iſt es auf
dem
Bildchen unten;
der Himmel draußen, die Dächer der
Häuſer
, die Häuſer ſelbſt, mit einem Worte, das ganze Bildchen
ſieht
wie in der umgekehrten Welt aus;
ja, wenn ſich eine
Perſon
ans Fenſter ſtellt, iſt auch dieſe zu ſehen und recht
deutlich
zu erkennen;
aber auch dieſe Perſon ſteht mit den
Beinen
nach oben und dem Kopf nach unten;
kurz, das Bild-
chen
iſt ſo, daß, wenn man es abmalen könnte, wie es iſt, man
es
umdrehen müßte, um alles ganz richtig zu ſehen.
Wir können nicht ernſtlich genug jeden unſerer Leſer,
17240 dieſen Verſuch noch nicht kennt, dazu mahnen, ihn doch ja an-
zuſtellen
;
denn wenn wir auch augenblicklich nicht eine be-
lehrende
Erklärung daran knüpfen können, ſo wird die ſehr
billige
Spielerei ſchon anregend, unterhaltend und in der Folge
noch
belehrend genug werden.
Nun aber müſſen wir uns merken, in welcher Entfernung des
Glaſes
von der Wand das Bildchen am ſchärfſten und klarſten
iſt
, und dieſe Entfernung wollen wir die Brennweite nennen.
Hat man dieſe, ſo kann man ſich die Kamera-Obſcura ſehr
leicht
machen.
5[Figure 5]Fig. 1.
Schema
für die Umkehrung des Bildes.
A B
Wir nehmen die Cigarrenkiſte und ſtellen ſie ſo nieder,
daß
die eine ſchmale Wand zum Fenſter gerichtet, die andere ihm
abgewandt
iſt.
Die Wand zum Fenſter hin nennen wir die
Vorderwand
, die gegenüberſtehende die Hinterwand.
In die
Vorderwand
ſchneiden wir ein rundes Loch, gerade ſo groß,
daß
wir das Brennglas hineinſetzen können.
Mit ein wenig
geleimtem
Papier kann man ſich das hübſch feſtkleben.
Nun
brechen
wir die hintere Wand ganz ab und nageln den Deckel
der
Kiſte zu.
Wir haben demnach ein Kämmerchen, in welchem
das
Brennglas als Fenſter dient, und durch deſſen Hinterwand
wir
hineinblicken.
Nun nehmen wir unſer Blatt
17341 Papier, und ſuchen es ſo in unſer Kämmerchen hineinzuſchieben,
daß
es die Stelle der eingeriſſenen Wand vertritt.
Macht man
dieſe
Papierwand ſo, daß man ſie beliebig in dem Kämmerchen
vor-
und zurückſchieben kann, ſo wird man beim Verſuch ſehr
6[Figure 6]Fig. 2.
Kamera-Obſcura
.
ſchnell die Pa-
pierwand
dahin
bringen
, daß ſie
gerade
in der
Brennweite
des
vorderen
Glaſes
ſteht
, und iſt das
der
Fall, ſo wird
man
ein über-
raſchend
hübſches
Bildchen
auf dem
Papier
erblicken,
ein
Bildchen von
der
ganzen Welt,
die
vor dem Käm-
merchen
exiſtiert;
und das iſt
eine
Kamera-Ob-
ſcura
.
XII. Die Kamera-Obſcura.
Wer unſerem Rate gefolgt und ſich ſolch’ eine wohlfeile
Kamera-Obſbura
gebaut hat, der wird ſchon von ſelber auf die
kleinen
Handgriffe kommen, durch welche man mit wenig Auf-
wand
ſich einen beſſern und feſtern Bau eines ſolchen In-
ſtrumentes
herſtellen kann.
Wir wollen für denjenigen, der
hierzu
Luſt bezeugt, nur anführen, daß man gut thut,
17442 man das Brennglas, oder dieLinſe”, wie man ſolch’ ein in
der
Mitte dickes und am Rande dünnes Brillenglas nennt,
nicht
unmittelbar an das ausgeſchnittene Loch der Vorderwand
anbringt
, ſondern es in einem kurzen, paſſenden Cylinder aus
Pappe
befeſtigt, den man im ausgeſchnittenen Loch gut ein-
und
ausſchieben kann.
Ferner hat es ſeinen Vorteil, wenn
man
die Kammer inwendig ſchwarz anſtreicht oder mit ſchwarzem,
nicht
glänzenden Papier beklebt.
Endlich thut man gut, ſtatt
der
unhaltbaren Papierwand eine Wand aus mattgeſchliffenem
Glaſe
oder aus Milchglas zu nehmen, das man in jeder Glas-
handlung
für ein paar Groſchen kaufen kann.
Man nennt
deshalb
dieſe Hinterwand diematte Scheibe”, und wir wollen
ſie
fortan ebenſo bezeichnen.
Der Verſuch wird ſchon jedem von ſelbſt lehren, daß das
Bildchen
auf der matten Scheibe nur dann gut ſichtbar iſt,
wenn
außer dem Licht, welches durch die Linſe hineinſcheint,
kein
anderes durch irgend welche Öffnung eindringt, und daß
das
Schwärzen der Kammer der Sichtbarkeit des Bildchens
vorteilhaft
iſt.
Deshalb nennt man ſolche Vorrichtung eine
Kamera-Obſcura”, das heißt:
finſtere Kammer” oderdunkle
Kammer”
;
in neuerer Zeit gebraucht man faſt ausſchließlich
den
guten und durchaus unzweideutigen AusdruckDunkel-
kammer”
.
Wir wollen nunmehr die Eigenſchaften unſerer Dunkel-
kammer
näher kennen lernen.
Vor Allem wollen wir ſie ans offene Fenſter ſtellen, und
zwar
ſo, daß ſie mit der Linſe zur Straße hinaus, mit der
Scheibe
zur Stube gekehrt iſt;
nehmen wir nun ein Tuch über
den
Kopf und hüllen mit demſelben zugleich die matte Scheibe
ein
, damit ſie nicht von außen her zu ſtark beleuchtet erſcheint,
ſo
erblicken wir auf derſelben die ganze Straße in den ſchönſten
Farben
, den Himmel, die Häuſer, die Menſchen in Bewegung,
die
Wagen, die vorüberfahren;
ja, wenn man nur die
17543 recht genau ein- und ausſchiebt, ſo daß man von ihr bis zur
matten
Scheibe die richtige Brennweite getroffen hat, ſo iſt
man
imſtande, im Bildchen alle Bekannte auf der Straße zu
erkennen
, und genießt dabei das Vergnügen, ſie auf dem Kopf
wandeln
zu ſehen;
denn das Bildchen iſt die verkehrte Welt,
zeigt
den Himmel unten, die Erde oben, die Köpfe abwärts,
die
Beine aufwärts.
Will man wenigſtens einigermaßen dieſe gemalte Welt
wieder
in Ordnung rücken, ſo muß man ſich eines Spiegels
bedienen
, den man vor die matte Scheibe hinlegt, und das
Bild
im Spiegel betrachten.
Einige Verſuche damit werden jeden
von
ſelber auf die richtigſte und vorteilhafteſte und intereſſanteſte
Art
der Aufſtellung des Spiegels führen (vgl.
Fig. 2); jeden-
falls
aber wird immer noch der Unterſchied zwiſchen der Wirk-
lichkeit
und dem Bildchen obwalten, daß alle Menſchen, die
auf
der Straße von rechts nach links gehen, ſich auf dem
Bildchen
von links nach rechts bewegen, wie überhaupt der
ganze
Anblick ſo ſein wird, wie ihn jeder Spiegel zeigt, wo,
wenn
wir die Rechte ausſtrecken, das Spiegelbild uns die Linke
entgegenſtreckt
.
Wer bisher unſerer Anweiſung nachgekommen und ſich
ſolch’
eine Kamera-Obſcura angefertigt hat, der wird wohl
gern
auch einige belehrende Worte über dieſelbe vernehmen,
und
dieſe wollen wir hiermit ſo kurz wie möglich geben.
Offenbar hat die Kammer ſelber gar nichts mit der Ent-
ſtehung
des Bildchens zu thun;
ebenſowenig ſpielt die matte
Scheibe
hierbei eine Rolle.
Die Kammer ſchließt nur das
Tageslicht
ab, und die matte Scheibe fängt nur das Bildchen
auf
und läßt es durchſcheinen.
Die eigentliche Urſache der
Entſtehung
des Bildes iſt das Brennglas vorn, oder wie wir
es
jetzt immer nennen wollen:
die Linſe. Wir haben ja gleich
anfangs
geſehen, daß die Linſe allein ein ähnliches Bildchen
an
der Wand entſtehen ließ.
17644
Woher aber kommt das?
Die Antwort hierauf vermag die Naturwiſſenſchaft außer-
ordentlich
genau zu geben, ſie iſt begründet auf die bereits
vorzüglich
klare und vollkommen durchgearbeiteteLehre vom
Licht”
und von derBrechung der Lichtſtrahlen”;
denn dieſer
Teil
der Naturwiſſenſchaft gehört zu den am beſten und vor-
züglichſten
durchſtudierten, und zwar deshalb, weil die ganze
Lehre
auf mathematiſchem Wege verfolgt und bewieſen werden
konnte
, und es einmal Thatſache iſt, daß jede Wiſſenſchaft,
7[Figure 7]Fig. 3.A P B P′ r C D F r′ E die ſich auf Mathe-
matik
begründet, die
zuverläſſigſten
Re-
ſultate
liefert.
Wir hoffen, ein-
mal
ſpäter in einer
beſonderen
Reihe
von
Artikeln dieſe
Lehren
vom Licht
unſeren
Leſern vor-
zuführen
;
für jetzt
müſſen
wir uns
mit
Aufführung der
Reſultate
begnügen,
von
welchen unſere Leſer überzeugt ſein mögen, daß ſie wiſſen-
ſchaftlich
unumſtößlich feſtgeſtellt und bewieſen werden können.
Die Lehre vom Licht lautet wie folgt: Von jedem leuch-
tenden
oder beleuchteten Punkte eines Gegenſtandes gehen
Lichtſtrahlen
in gerader Linie nach allen Richtungen aus.
Der Lichtſtrahl geht alſo immer genau den geraden Weg;
ſobald
jedoch ein Lichtſtrahl auf ſeinem Wege einen durch-
ſichtigen
Gegenſtand, z.
B. Glas, Luft, Waſſer trifft, durch
welchen
der Strahl hindurchgeht, erleidet der Strahl bei ſeinem
Durchgang
unter gewiſſen Umſtänden eine Ablenkung von
17745 geraden Linie. Man nennt dieſe Ablenkung dieBrechung des
Lichtſtrahls”
, denn wenn man ſich den Weg zeichnet, den ein
Lichtſtrahl
unter ſolchen Umſtänden nimmt, ſo erhält man eine
gebrochene
Linie.
Fig. 3 zeigt uns, wie der Lichtſtrahl A B
durch
ein regelmäßig geſchliffenes Glasſtück von ſeinem Wege
abgelenkt
wird, ſodaß er nicht nach F gelangt, wie es geſchehen
würde
, wenn das Glasprisma nicht im Wege ſtände;
vielmehr
ſchlägt
er nun die Bahn B D ein, um dann, nachdem der
Glaskörper
durcheilt iſt, parallel zu ſeiner urſprünglichen Rich-
tung
den Weg D E einzuſchlagen.
Fig. 4 veranſchaulicht da-
8[Figure 8]Fig. 4.A g B h F C i D k E l gegen die Brechung verſchiedener, von den Punkten A, B, C, D, E
ausgehender
paralleler Strahlen an einer gekrümmten Glas-
fläche
in den Punkten g, h, i, k, l.
Eine weitere Lehre von der Brechung des Lichtes thut
dar
, daß jeder Lichtſtrahl, der auf eine Glaslinſe trifft, ſo ge-
brochen
wird, daß ſich beim Durchgang alle Lichtſtrahlen in
Einem
Punkte jenſeits der Linſe vereinigen und anſammeln
(Punkt F in Fig.
4). Dieſer Punkt wird der Brennpunkt ge-
nannt
, weil man durch die Vereinigung ſämtlicher Sonnenſtrahlen,
die
durch ſolche Glaslinſe gehen, imſtande iſt, Wärme zu erzeugen,
wie
das bekanntlich bei Brenngläſern der Fall iſt.
Es ergiebt
ſich
ferner aus weiteren Geſetzen der Brechung des
17846 durch eine Linſe, daß, je ſchräger die Strahlen auf die Linſe
auffallen
, ſie deſto mehr beim Durchgang durch dieſelbe ge-
brochen
werden, und daraus folgt, daß alle Lichtſtrahlen, die
von
rechts ſchräg auf die Linie fallen, ſich auf der linken Seite
hinter
der Linſe vereinigen, während alle Lichtſtrahlen, die
von
links kommen, ihren Sammelpunkt rechts hinter der Linſe
haben
.
In gleicher Weiſe treffen die Lichtſtrahlen, die von
oben
kommen, nach unten, die von unten nach oben zuſammen,
und
dadurch entſteht aus den geſammelten Strahlen ein ge-
ordnetes
Bild, das eine umgekehrte Lage hat.
All’ das gehört zu den am ſtrengſten bewieſenen That-
ſachen
, und auf dieſen Grundlagen beruht auch die Erklärung
der
Kamera-Obſcura, auf welche wir in einzelnen Punkten noch
zurückkommen
werden.
XIII. Die Mäugel der Kamera-Obſcura.
Wir müſſen noch einige weſentliche Eigenſchaften unſerer
Kamera-Obſcura
kennen lernen, und zu dieſem Zwecke wollen
wir
einige Verſuche anſtellen.
Wenn man die Kamera ſo vors Fenſter ſtellt, daß man
auf
der matten Scheibe einen großen Teil der Straße oder des
Hofes
überſehen kann, ſo wird man bemerken, daß nicht Alles
von
dem, was ſich im Bildchen zeigt, gleich ſcharf und deut-
lich
iſt.
Geſetzt, man hat einen nahen und einen entfernten
Gegenſtand
im Bildchen, z.
B. einen Baum und ein weit da-
hinter
ſtehendes Haus, ſo wird, wenn der Baum, alſo der
nahe
Gegenſtand, recht deutlich zu ſehen iſt, das Haus, die
entferntere
Gegend, undeutlich erſcheinen;
wird das entferntere
Haus
deutlich zu ſehen ſein, ſo wird der nähere Baum nicht
recht
deutlich ſein.
17947
Von dieſer Erſcheinung wird man ſich noch klarer über-
zeugen
können, wenn man die Kamera ſo aufſtellt, daß man
eine
lange Strecke einer Straße, oder eines Hofes oder Gartens
überſehen
kann und nun einen Menſchen dieſe Strecke entlang
gehen
läßt und ſein Bildchen auf der matten Scheibe be-
obachtet
.
Es wird ſich zeigen, daß, wenn der Menſch auf der
matten
Scheibe recht deutlich zu erkennen iſt, während er in
weiter
Entfernung ſteht, er immer undeutlicher und undeut-
licher
zu ſehen iſt, je mehr er ſich nähert, bezw.
wenn er in der
Nähe
gut zu ſehen, er immer undeutlicher wird, ſobald er ſich
entfernt
.
Daß dies ein bedauerlicher Fehler an einer Kamera iſt,
das
iſt leicht einzuſehen.
Man kann indeſſen wenigſtens teil-
weiſe
dem Übel abhelfen.
Wenn nämlich die Linſe nicht un-
mittelbar
an die Vorderwand befeſtigt, ſondern daſelbſt in
einem
verſchiebbaren Cylinder angebracht iſt, durch welchen
man
die Linſe beliebig mehr oder weniger heraus- oder hinein-
ſchieben
kann in das Loch der Vorderwand, ſo kann ein jeder
nach
einigem Probieren die Linſe ſo ſtellen, daß er jeden be-
liebigen
Gegenſtand ſcharf und deutlich auf der matten Scheibe
erhält
.
Freilich bleibt das Bild des Gegenſtandes nur dann
ſcharf
und deutlich auf der matten Scheibe, wenn derſelbe in
der
einmal angenommenen Entfernung verharrt;
nähert er
ſich
oder entfernt er ſich von der angenommenen Stelle, wo
er
deutlich zu ſehen war, ſo wird wieder das Bildchen un-
deutlich
, und die Linſe muß wieder für jeden neuen Stand-
punkt
entweder etwas heraus- oder hineingeſchoben werden in
die
Kamera.
Der Grund dieſer Erſcheinung iſt in der Lehre von der
Brechung
des Lichtes vollkommen genau gegeben, und in dieſer
Lehre
ſind auch die genauen Geſetze enthalten, nach welchen die
Deutlichkeit
und Undeutlichkeit des Bildchens entſteht.
Wir können hierüber in aller Kürze nur Folgendes ſagen:
18048
Für ferne Gegenſtände muß man die Linſe in die Kamera
hineinſchieben
;
für nahe Gegenſtände muß man ſie herausziehen;
das heißt: wenn man die Linſe durch Probieren ſo geſtellt hat,
daß
ein Menſch, der etwa in der Mitte des Hofes ſteht, recht deut-
lich
im Bildchen auf der matten Scheibe erſcheint, ſo muß
man
, wenn ſich der Menſch nach dem Ende des Hofes begiebt,
ſich
alſo entfernt, die Linſe mehr in die Kamera einſchieben;

nähert
ſich aber der Menſch der Kamera, ſo muß man die
Linſe
noch weiter aus der Kamera herausziehen, wenn
man
das Bildchen auf der matten Scheibe deutlich haben will.
Dieſer Umſtand, daß man nämlich die Linſe bald vor-,
bald
zurückſchieben muß, wenn man deutliche Bilder haben
will
, iſt ein ſchwerer Mangel unſerer künſtlichen Kamera-Ob-
ſcura
;
denn er macht es rein unmöglich, daß man mit einem-
male
einen nahen und fernen Gegenſtand gleich ſcharf und
deutlich
auf der matten Scheibe erblicken kann.
Dieſen Fehler
müſſen
wir uns merken, denn wir werden ſehen, wie das Auge,
das
auch nur eine Kamera-Obſcura iſt, von dieſem Fehler in
ganz
merkwürdiger Weiſe frei iſt, und wie in dieſer Beziehung
dieſes
Inſtrument ſehr alter Erfindung, das wir aus dem
Mutterleibe
mit zur Welt bringen, alle feinen Erfindungen
beſchämt
, die man jetzt ſchon mit der Kamera-Obſcura ausge-
geklügelt
hat.
Wir müſſen aber außer dieſer noch zwei Unvollkommen-
heiten
unſerer Kamera-Obſcura kennen lernen.
Vor allem wird man bemerken, daß das Geſichtsfeld der
Kamera
eigentlich doch recht klein iſt.
Man kann zwar recht
viel
auf dem Bildchen ſehen von dem, was vor der Linſe iſt;
aber das, was ſich in der Nähe nur ein wenig rechts oder
links
, oben oder unten befindet, das zeigt ſich ſchon nicht auf
der
matten Scheibe.
Man muß vielmehr die Kamera nach der
einen
oder anderen Seite, nach oben oder nach unten richten,
wenn
man etwas ſehen will, das nach dieſer Richtung hin
18149 befindet. Mit anderen Worten: auf der matten Scheibe einer
Kamera-Obſcura
überblickt man lange nicht ſo viel nach allen
Seiten
, wie man mit dem Auge überblickt, ſelbſt wenn man es
nicht
dreht.
Wir werden alſo auch hierin ſehen, wie die
Kamera-Obſcura
, die wir zur Welt mitbringen, vorteilhafter
gebaut
iſt, als unſer ſchwaches Kunſtwerk.
Endlich müſſen wir noch einen Mangel kennen lernen!
Bei wiederholten Verſuchen mit der von uns fabrizierten
Kamera
wird man finden, daß, ſelbſt wenn man hierzu eine
ſehr
akkurat geſchliffene, feine Linſe genommen hat, ſelbſt wenn
man
den Rand der Linſe, der ſtörende Lichtſtrahlen durchläßt,
belegt
hat, ſelbſt wenn man ſich all’ der Vorteile bedient, die
ſeither
erfunden worden ſind, doch noch ein Übel nicht gehoben
iſt
, und das iſt die Farbenbrechung.
Um dieſen Fehler genau
zu
erkennen, dazu gehört ſchon eine gewiſſe Übung;
hat man
aber
dieſe erworben, ſo nimmt man wahr, daß eine einfache
Linſe
Alles, was ſie zeigt, mit feinen Rändern von Regen-
bogenfarben
zeigt, die zwar als Spielerei gar nicht unange-
nehm
ſind, aber der Deutlichkeit der Bilder außerordentlich
ſchaden
.
Der Grund dieſer Erſcheinung iſt ebenfalls in der Lehre
vom
Licht, und zwar in der Lehre von den Farben des Lichtes,
ſehr
genau und ſcharf angegeben, und deshalb hat man auch
nach
vielem Sinnen und Trachten und nach einer ſehr glück-
lichen
Entdeckung dieſen Fehler dadurch vermeiden gelernt, daß
man
in einer ordentlichen Kamera-Obſcura ſtatt einer Linſe
zwei
Linſen von verſchiedenen Glasſorten anbringt, wodurch die
farbigen
Ränder der Bilder vermieden werden können.
Aus
gleichem
Grunde verſieht man jetzt alle Fernröhre und gute
Mikroſkope
mit ſolchen Doppellinſen.
Für unſer Thema
wollen
wir uns dies nur inſofern merken, als wir recht bald bei
der
Kamera-Obſcura, die wir zur Welt mitbringen, ſehen
werden
, wie der Fehler der Farbenränder auch am Auge
18250 mieden iſt, und zwar ebenfalls durch das Prinzip der Doppel-
Linſen
, das ſich alſo gleichfalls als ein Prinzip ſehr, ſehr alter
Erfindung
erweiſt.
XIV. Die Kamera-Obſcura der Photographen.
Die Kamera-Obſcura iſt vor dreihundert Jahren von einem
Italiener
, Namens Porta (1538—1615), erfunden worden,
darauf
hat es circa ein halbes Jahrhundert gedauert, ehe man
hinter
die Geſetze kam, welche bei dieſem intereſſanten Mecha-
nismus
obwalten.
Sodann verging faſt wieder ein halbes
Jahrhundert
, ehe man merkte, daß auch das Auge eine Kamera-
Obſcura
iſt;
bis endlich vor ſechszig Jahren eine Erfindung
gemacht
wurde, die der längſt bekannten Kamera-Obſcura eine
außerordentliche
Bedeutung gab, und aus ihr, welche bis dahin
nur
ein Gegenſtand wiſſenſchaftlicher Beſchäftigung und unter-
haltender
Spielerei geweſen war, ein nützliches, außerordentlich
brauchbares
Inſtrument machte.
Man hat jetzt Gelegenheit, bei jedem praktiſchen Photo-
graphen
eine Kamera-Obſcura von ganz vorzüglicher Ein-
richtung
in Augenſchein zu nehmen und ihre an das Wunder-
bare
grenzende Leiſtung genauer kennen zu lernen;
wir hoffen,
daß
niemand, der hierin belehrt zu ſein wünſcht, es verab-
ſäumen
wird, dieſe Gelegenheit zu benutzen, und ſo weit es
geht
, ſein Zimmer mit einem Lichtbild und ſeinen Geiſt
mit
einiger Kenntnis der herrlichen Erfindung Daguerres
(1789—1851) zu bereichern.
Da wir im nächſten Abſchnitt das Auge, die vortrefflichſte
Kamera-Obſcura
, kennen lernen wollen, ſo wird es gut ſein,
wenn
wir uns nicht mit der von uns ſelbſt gebauten be-
gnügen
, ſondern uns eine viel vollkommenere Kamera
18351 wie ſie gegenwärtig zur Verfertigung der Lichtbilder gebraucht
wird
.
Können wir beiläufig unſeren Leſern einen flüchtigen
Begriff
von der Photographie beibringen, ſo ſoll es uns
doppelt
angenehm ſein.
Die Kamera-Obſcura des Photographen iſt im Prinzip
ganz
ſo gebaut, wie die, welche wir uns leichthin angefertigt
haben
;
ſie beſitzt nur noch die nötigen Vorzüge, durch welche
erſt
weſentliche Mängel unſerer Kamera gemieden ſind.
Vor allem erſetzt ein feſter Holzkaſten die Stelle unſerer
Cigarrenkiſte
, Hinten iſt eine gut geſchliffene, matte Glas-
ſcheibe
angebracht, welche ein möglichſt feines Bildchen ſehen
läßt
.
Dieſe ſitzt aber in einem zweiten Kaſten, der ſich in den
erſten
ein- und ausſchieben läßt, wodurch der Photograph im-
ſtande
iſt, ſein Inſtrument beliebig nahe oder fern von der
Perſon
, die er abnehmen ſoll, aufzuſtellen, um nach Wunſch
bald
ein größeres, bald ein kleineres Bildchen anzufertigen.
Die Hauptſache bleibt aber immer die Linſe, oder richtiger
das
Syſtem von Glaslinſen, welche vorn an dem Kaſten in
einer
Meſſinghülſe angebracht ſind, und an welchen eine
Schraube
die Möglichkeit gewährt, mit großer Genauigkeit die
Linſen
etwas vor- und zurückzuſchieben.
Es weiß es wohl jeder, daß, wenn die Sitzung beginnen
ſoll
, man ſich erſt vorher feſt auf einen Stuhl niederlaſſen
muß
, vor welchem die Kamera aufgeſtellt iſt.
Der Photograph
muß
die Perſon erſt einſtellen, das heißt, er muß zuerſt mit
der
Kamera ſo weit vorwärts oder rückwärts gehen, bis ein
Bild
von der gewünſchten Größe auf der matten Scheibe
ſichtbar
iſt.
Nunmehr ſchiebt er die matte Scheibe noch ein
wenig
vor oder zurück, um zu probieren, ob er das Bildchen
noch
ſchärfer und klarer bekommen kann;
endlich nimmt er
vorn
zur Schraube feine Zuflucht und macht noch einmal die
Probe
, ob er durch ein wenig Schieben der Linſen dem
Bildchen
auf der matten Scheibe die größtmögliche
18452 und Klarheit zu geben vermag. Nehmen wir z. B. an, in
dem
Schema, das uns Fig.
5 zeigt, hätte die matte Scheibe
erſt
an der durch die geſtrichelte Linie B′ bezeichneten Stelle
geſtanden
:
wir ſehen alsdann, daß an dieſer Stelle die von
irgend
einem Punkt der Flamme ausgehenden Strahlen nach
ihrem
Durchgang durch die Linſe C D noch nicht vereinigt
werden
;
vielmehr müſſen wir die matte Scheibe erſt in die
Stellung
B bringen, um eine Vereinigung der zuſammen-
9[Figure 9]Fig. 5.A B’ B k C D T gehörigen Strahlen im Brennpunkt und ſomit ein deutliches
Bild
zu erzielen (die von der Spitze der Flamme ausgehenden
Strahlen
treffen ſich in I, die vom Fußpunkt kommenden in
k
u.
ſ. w.) . Dasſelbe würde natürlich erzielt, wenn wir die
Linſe
in A verſchieben und die matte Scheibe ſtehen laſſen.
Es iſt bemerkenswert, daß der geübteſte Photograph nicht
imſtande
iſt, ohne dieſes Probieren mit Sicherheit zu ſagen,
ob
ein eingeſtelltes Bildchen die richtige Schärfe hat, ſelbſt
diejenigen
, die ihr Inſtrument jahrelang gebrauchen,
18553 ſich oft, wenn ſie nicht bei jedem Bilde durch Hin- und Rück-
ſchrauben
die Probe anſtellen.
Ungeübte haben wochenlang zu
thun
, um die richtige Schärfe herauszufinden und durch Pro-
bieren
ihr Urteil feſtzuſtellen.
Es iſt dies für unſeren Zweck bemerkenswert, weil wir
ſehen
werden, wie auch das Auge, dieſe mitgeborene Kamera-
Obſcura
, bei jedem Gegenſtand, den man ſehen will, im wahren
Sinne
des Wortes richtig geſtellt werden muß;
wie auch im
Auge
Vorrichtungen ſind, um für ferne und für nahe Gegen-
ſtände
eine Deutlichkeit und Schärfe zu erzielen;
wie aber der
Menſch
ohne ſchiebbaren Kaſten und ohne Schraube am Auge
und
ohne vieles Probieren die Einſtellung ſehr richtig trifft,
und
eine Arbeit, zu welcher ein geübter Photograph mindeſtens
20
Sekunden braucht, ſo ſchnell vollführt, daß er mit einem
Blick
von einem nahen auf einen fernen, von dieſem wieder
auf
einen nahen Gegenſtand ſehen kann, ohne von der jedesmal
nötig
gewordenen paſſenden Einſtellung etwas zu merken.
Beiläufig wollen wir nur noch ſagen, daß der Photograph
nunmehr
die matte Scheibe fortnimmt und genau an dieſelbe
Stelle
, wo dieſe geſtanden hat, eine chemiſch zubereitete Platte
hinſtellt
, welche vom Licht verändert wird.
Das Bildchen,
das
früher auf die matte Scheibe fiel, fällt nun auf die
chemiſch
zubereitete Platte und bringt dort eine Veränderung
auf
der Platte hervor, welche das Bildchen verewigt, das
ſonſt
von der matten Scheibe ſchwindet, ſo wie die Perſon ſich
entfernt
.
Da dieſer, der chemiſche Teil der Photographie, nicht in
unſer
Thema gehört, ſo wollen wir uns nicht weiter dabei auf-
halten
und ſchließlich nur noch eins merken, das uns näher angeht.
Wenn der Photograph ſeine Aufnahme an der Kamera
vollendet
hat, ſetzt er auf die Linſen vorn eine Kapſel auf,
damit
kein Licht mehr auf die Platte fallen kann.
Daß auch
wir
eine Kapſel haben, weiß jeder;
wir ſchließen die
18654 lider, wenn wir das Auge ruhen laſſen wollen. Wie intereſſant
aber
ſelbſt dieſe Kapſel iſt, und welche Dienſte ſie der mitge-
brachten
Kamera-Obſcura leiſtet, das wollen wir noch in der
Folge
ſehen, um ſelbſt in dieſen Nebendingen Reſpekt vor der
ſchönen
Erfindung zu lernen, die wir ohne alle Weisheit mit
zur
Welt bringen.
XV. Wir beſehen uns den Bau eines Auges.
Wir haben es bereits erwähnt, daß auch das Auge eine
Kamera-Obſcura
iſt, daß das erſte menſchliche Weſen, das einſt
zur
Welt kam, ſchon Veranlaſſung gehabt hätte, über dieſe
ſchöne
, mitgebrachte, mechaniſche Erfindung nachzudenken, daß
aber
Jahrtauſende und Jahrtauſende vergingen, ehe ein
Menſch
hiervon eine Ahnung hatte, und erſt als der Italiener
Porta vor dreihundert Jahren eine Kamera-Obſcura her-
ſtellte
, kam man nach langen Forſchungen dahinter, wie man
ſo
gar lange Zeit mit ſehenden Augen blind geweſen iſt!
Wir haben das Recht, uns zu freuen, daß wir in einer
Zeit
leben, wo das Licht der Naturwiſſenſchaft wenigſtens be-
gonnen
hat, dan Geiſt der Menſchheit zu erleuchten, darum
aber
dürfen wir es auch nicht verabſäumen, uns ſo viel als
möglich
von dieſer Wiſſenſchaft anzueignen.
Vorerſt wollen
wir
uns den Bau des Auges klar machen.
Was ein jeder beim Anblick eines menſchlichen Auges oft
genug
wahrnimmt, iſt, daß das Auge von zwei Lidern, von
zwei
Hautfalten, bedeckt werden kann.
Das untere Augenlid,
eine
Hautfalte von der Backe, kann ein wenig nach oben ge-
hoben
werden;
das obere Augenlid, eine Falte der Stirnhaut,
kann
tief herabgeſenkt werden;
und geſchieht dies, ſo ver-
ſchließen
die Lider das Auge, ſo daß man nicht ſehen kann.
18755
Man darf ſich hierbei nicht denken, daß dadurch etwas am
Auge
ſelber geändert worden iſt, denn dies iſt nach wie vor
für
Licht empfänglich.
Man kann ſich hiervon am beſten
überzeugen
, wenn man vom Zimmer aus das Geſicht mit ge-
ſchloſſenen
Augen einer von der Sonne hell beſchienenen, weißen
Mauer
zuwendet, und die Hand mit geſpreizten Fingern vor
dem
geſchloſſenen Auge vorüber führt.
Man merkt in ſolchem
Falle
nicht nur ſehr gut den Unterſchied, ob ſich ein Finger
vor
dem Auge befindet oder nicht, ſondern iſt ſogar bei einiger
Übung
imſtande, die Zahl der Finger anzugeben, die am
Auge
vorübergeführt werden.
Die Augenlider ſind nur die
Kapſel
des Auges, die Gardinen, welche ihm das Licht zum
Teil
entziehen, die aber doch nicht ſo dick ſind, daß gar kein
Schimmer
hindurch dringt.
Das Auge iſt unter dem ge-
ſchloſſenen
Lid ſo licht-empfindlich, daß viele Menſchen des
Nachts
erwachen, wenn man ein Licht in dem Zimmer an-
zündet
, andere wieder, die bei der Nachtlampe ſchlafen, wachen
auf
, wenn ſie erliſcht.
Die Augenlider gehören alſo nicht direkt zum Auge; ſie
verſchließen
nur die Höhle, in welcher das Auge liegt, und
welche
man die Augenhöhle nennt.
Am Totenkopf wird wohl jeder die außerordentliche
Größe
dieſer Augenhöhlen ſchon oft mit Staunen geſehen
haben
, Sie ſind indeſſen beim lebenden Menſchen kleiner, weil
dieſe
von Knochenrändern gebildeten Höhlen inwendig noch
mit
Muskeln und Fettlagern ausgepolſtert ſind, ſo daß nur
ein
kugelrunder Raum bleibt, den das Auge ausfüllt.
Das menſchliche Auge nämlich, welches von den Augen-
lidern
umſchloſſen, länglich eiförmig erſcheint, iſt in der That
eine
faſt vollkommene Kugel und wird deshalb auch Augapfel
genannt
, worunter man nicht etwa einen Teil des ſichtbaren
Auges
, ſondern die ganze Kugel verſteht, von der man nur
einen
länglichen Teil ſieht.
Das Auge, wie es wirklich in
18856 Augenhöhle liegt, hat auch inſofern Ähnlichkeit mit einem
Apfel
, als es hinten an einem ziemlich dicken Nervenfaden an-
gewachſen
iſt, wie ein Apfel an einem Stiel, während es in
10[Figure 10]Fig. 6.
Vergrößerter
Schnitt durch das menſchliche Auge.
PC
= hintere Augenkammer, AC = vordere Augenkammer, VH = Glaskörper.
S
= Lederhaut (Sclerotica), C = Hornhaut (Cornea), Ch = Aderhaut (Chorioidea),
Pc
= “Ciliarfortſäße” der Chorioidea, R = Neßhaut (Retina), Os = Rand der
Retiua
, L = Kryftallinſe, Ca = Bindehaut (Conjunctiva), I = Regenbogenhaut
(Iris), ON = Sehuerd, ys = gelber Fleck.
I C Ca AC PC L Pc Os VH R ys Ch S ON
18957 ſeiner gepolſterten Höhle ſonſt ſo frei liegt, daß es nach allen
Richtungen
hin, nach rechts, nach links, nach oben und nach
unten
, und auch etwas nach vorn und nach hinten vermittelſt
eines
vorzüglichen Muskelapparates bewegt werden kann.
Da es uns darauf zunächſt ankommt, daß wir in unſerer
Bezeichnung
der Teile des Auges kein Mißverſtändnis bei
unſern
Leſern veranlaſſen, ſo wollen wir uns vorerſt dieſen
Augapfel
ganz aus der Höhle genommen denken (vgl.
Fig. 6).
Wir wollen ihn von den Muskeln, die zu ſeiner Bewegung
dienen
, befreien, und uns die bloße Kugel vorſtellen, an welcher
wir
nur den Stiel, den Nervenfaden (ON), laſſen wollen, der
ſo
ziemlich am hinterſten Teile der Kugel ſitzt, wenn wir den
ſichtbaren
Teil des Auges den vorderen nennen.
Legen wir dieſe Kugel ſo vor uns auf einen Tiſch nieder,
daß
der Stiel auf der Tiſchplatte ruht, ſo haben wir das
Auge
mit dem vorderen Teil obenauf vor uns liegend.
In
dieſer
Stellung ſehen wir, wie die Augenlider einſt von unten
und
oben einen Teil der Kugel verdeckt hatten, ſo daß es ei-
förmig
erſchien.
Die Kugel, die vor uns liegt, iſt im ganzen
weiß
und undurchſichtig;
nur vorn, und in der jetzigen Lage
oben
, erhebt ſich eine durchſichtige Wölbung unter einer feinen,
glashellen
Haut;
fühlt man dieſe Wölbung leiſe an, ſo merkt
man
beim Druck, daß unter der feinen Glashaut (C) eine
wäſſerige
Flüſſigkeit enthalten iſt, und blickt man von allen
Seiten
durch dieſe Glashaut, wie durch ein Fenſter, hinein ins
Auge
, ſo merkt man ſchon, daß man bis in eine gewiſſe Tiefe
hineinblicken
kann.
Das erſte, was wir nun in Augenſchein nehmen, iſt das,
was
wir den farbigen Ring (I) des Auges nennen.
Wir meinen
jenen
Ring, der bei manchen Perſonen blau, bei manchen
grau
, bei manchen braun, bei manchen gemiſcht ausſieht, immer
aber
einen tief ſchwarzen Flecken in der Mitte hat:
die Pupille.
Dieſer farbige Ring, das merkt man recht deutlich beim
19058 nauen Beſehen von allen Seiten, iſt nichts anderes als eine
flache
, runde Scheibe, welche tief unter der gewölbten, wäſſerigen
Flüſſigkeit
liegt, und der tief ſchwarze Fleck in der Mitte iſt
nichts
anderes als ein Loch in dieſer Scheibe, durch welches
man
hindurch ſehen kann bis in die Tiefe des Auges.
Schon dieſer bloße Anblick lehrt, daß Lichtſtrahlen, welche
aufs
Auge fallen, durch die weiße Haut der ganzen Kugel
nicht
hindurchdringen, dagegen durch die glashelle, gewölbte
Haut
und die darunter befindliche Flüſſigkeit hindurchgehen.
Hier treffen ſie auf den wie eine Wand ausgeſpannten farbigen
Ring
, der wiederum die Strahlen nicht weiter läßt.
Da aber
in
der Mitte dieſes Ringes ein Loch iſt, ſo dringen die
Strahlen
, die auf dieſe Öffnung treffen, ins Innere des Auges
und
veranlaſſen dort das, was man die Wahrnehmung der
Lichtſtrahlen
oder das Sehen nennt.
Wir müſſen demnach jetzt das Innere des Auges näher
kennen
lernen.
XVI. Die Durchſichtigkeit des Innern unſeres
Auges.
Durch das Sehloch, des ſchwarzen Kreis in der Mitte des
farbigen
Ringes, derIris”, dringt das Licht ins Auge;
man
kann
aber auch deshalb ins Sehloch hineinſehen, und unſer
großer
Helmholtz hat ein kleines Inſtrument erfunden, durch
welches
man imſtande iſt, tief ins Innere des Auges hinein-
zublicken
und die vielfachen Urſachen teilweiſer oder gänzlicher
Erblindung
zum Heil vieler Leidenden vollkommen deutlich zu
ſehen
.
Obwohl die Mitteilung über dieſes Inſtrument, das man
den
Augenſpiegel nennt, nicht direkt zu unſerem Thema
19159 halten wir es doch für unſere Pflicht, dieſelbe unſeren Leſern
hier
vorzuführen, weil gerade bei Augenkrankheiten die thörichten
Wunderkuren
mit Augenwaſſern und Augenſalben außerordentlich
häufig
vom Volk in Anſpruch genommen werden, und weil wir
hoffen
, daß eine Beſchreibung des von jedem gebildeten Arzt jetzt
gebrauchten
Augenſpiegels hinreichen wird, jedermann zu über-
zeugen
, welch’ wichtiges Mittel ſich in der Hand des denkenden
Arztes
befindet, um die Urſache vieler Augenübel mit Sicherheit
und
Leichtigkeit zu entdecken.
Daß dies ein unendlich großer
Vorteil
für die Heilung iſt, braucht nicht erſt hervorgehoben
zu
werden.
Die Einrichtung des Augenſpiegels iſt eigentlich ſehr
einfach
, und man wird deſſen Dienſt ſehr leicht begreifen,
ſobald
man ſich nur klar macht, weshalb es ohne Augenſpiegel
ſo
ſchwierig iſt, durch das offene Sehloch hinein ins Innere
des
Auges zu blicken, um deſſen Zuſtand zu unterſuchen.

Eine
bekannte Erfahrung lehrt, daß man vom dunkeln Raum
ganz
vortrefflich in den hellen Raum hineinſehen kann, daß
man
jedoch vom hellen Raum aus nicht ſehen kann, was ſich
im
dunkeln Raum befindet.
Von der dunkeln Stube aus ſieht
man
am Tage vortrefflich durch die Fenſterſcheiben auf die
hellere
Straße;
von der helleren Straße aus jedoch ſieht man
ſehr
ſchlecht durchs Fenſter in die dunklere Stube.
Bei Nacht
dagegen
, wenn die Stube beſſer erleuchtet iſt als die Straße,
kann
man durch das Fenſter vortrefflich von der Straße in die
Zimmer
, dagegen ſehr ſchlecht vom hellen Zimmer auf die
dunklere
Straße ſehen.
Wer wenig geſehen werden und viel
ſehen
will, der ſtellt ſich im Geſellſchaftszimmer in eine dunkle
Ecke
;
wer den hellſten Raum aufſucht, wird leicht geſehen
werden
, aber ſelbſt wenig ſehen.
Stellen wir uns nun den Arzt und ihm gegenüber den
Augenkranken
vor, ſo ſoll das Auge des Arztes ins Auge des
Patienten
hineinblicken.
Stellen ſich beide ins Helle, ſo
19260 zwar das Auge des Patienten inwendig gut beleuchtet; allein
auch
das Auge des Arztes iſt in gleichem Maße heller be-
leuchtet
, wodurch er ſchlechter ſieht;
ſtellen ſie ſich ins Dunkle,
ſo
kann zwar das Auge des Arztes gut ſehen, allein in das
Auge
des Patienten dringt zu wenig Licht, um den Raum
hinreichend
zu beleuchten.
Der Augenſpiegel iſt nun ein Inſtrument, daß dieſem
Übel
in ſehr einfacher Weiſe abhilft.
Der Arzt führt den
Patienten
in ein dunkeles Zimmer, worin nur eine Lampe
brennt
, und ſtellt den Patienten ſo hin, daß nur ſein halbes
Geſicht
vom Lampenlicht beleuchtet wird.
Nun hält der Arzt
ein
Spiegelchen von der Größe eines Thalers ſchräg zwiſchen
Auge
und Naſe des Patienten, und zwar ſo, daß der Licht-
ſtrahl
von der Lampe auf den Spiegel und vom Spiegel ins
Auge
des Patienten hineinfällt, wodurch das Auge des Patienten
im
Innern hell erleuchtet wird.
Nun aber iſt im Spiegel ein
kleines
Loch angebracht, an welches der Arzt ſein unbeleuchtetes
Auge
bringt.
Das Auge des Arztes iſt alſo dunkel, das Auge
des
Patienten inwendig beleuchtet, und hierdurch vermag der
Arzt
tief ins Auge hineinzuſehen, es gelingt ihm, durch Übung
nicht
nur die Urſache der Augenkrankheit ausfindig zu machen,
ſondern
auch manche andere verſteckte Krankheit in den Er-
ſcheinungen
im Innern des Auges zu entdecken.
So entdeckte
der
berühmte Augenarzt Gräfe (1828—1870) im Auge eines
Patienten
, der über nichts als über geſchwächte Sehkraft zu
klagen
wußte, vermittelſt des Spiegels Ablagerungen, woraus
er
ſchloß, daß der Patient an einer gefährlichen Nierenkrankheit
leide
, wovon der Patient keine Ahnung hatte.
Die Unterſuchung
und
Behandlung des Patienten ergab die Richtigkeit deſſen,
was
Gräfe im Innern des Auges geſehen hatte.
Das intereſſante Inſtrument, der Augenſpiegel, gehört
nun
, wie geſagt, nicht direkt in unſer Thema;
für uns iſt er
nur
in ſo weit wichtig, als wir verſichern dürfen, daß
19361 durch denſelben imſtande iſt, das Innere des lebendigen Auges
zu
durchſpähen und ſich zu überzeugen, daß namentlich beim
lebendigen
Auge dasjenige, was den Augapfel im ganzen aus-
füllt
, klar und durchſichtig iſt, als ob das reinſte Kryſtallglas
die
undurchſichtige Kugelſchale erfüllte.
Am toten Auge
trüben
ſich die Flüſſigkeiten zu ſchnell und gewähren in dieſer
Beziehung
keinen ſolch augenſcheinlichen Beweis von der vor-
trefflichen
Durchſichtigkeit des Inhalts der Augenkugel.
Was aber iſt nun im Innern des Auges?
Dieſe Frage wollen wir im nächſten Abſchnitt beantworten
und
nur hier noch die Bemerkung anſchließen, daß die ſchwarze
Farbe
des Sehloches nur von dem Schimmer einer ſammet-
ſchwarzen
, aderreichen Haut herrührt, welche die innere, hohle
Kugelfläche
des Auges austapeziert, ganz ſo, wie wir die
innere
Fläche der Kamera-Obſcura ſchwarz angeſtrichen haben.
Bei manchen Menſchen fehlt dieſe eigentümliche, ſchwarze Farbe
der
inwendigen Aderhaut-Tapete, und deshalb ſchimmert durch
das
Sehloch die Röte der Aderhaut hervor.
Die Augen ſolcher
Menſchen
, die man Albinos, oder in der VolksſpracheKakerlaken”
nennt
, ſollen nicht ſchwächer an Sehkraft ſein als andere, ſondern
nur
nicht ſo ausdauernd den Lichteindruck vertragen können,
was
ihren Blick etwas ſchneller und deshalb auch eigentümlich
unruhig
macht.
Daß man hierin keinen Grund zu Vor-
urteilen
gegen ſolche Menſchen hat, das brauchen wir hoffentlich
nicht
unſern Leſern einzuſchärfen, da der Wert des Menſchen
in
ſeinem ſittlich freien Willen und nicht im Farbenſpiel der
Haare
, der Haut und der Augen liegt.
XVII. Wir gehen ins Auge hinein.
Wenn man das Innere des Auges kennen lernen will, ſo
thut
man am beſten, wenn man das Auge eines friſch
19462 ſchlachteten Kalbes oder Ochſen von allen ihm anliegenden
Muskeln
und Nerven befreit, und die bloße Augenkugel ſo vor
ſich
hinlegt, daß man in das Sehloch von oben hineinſehen
kann
.
Man wird zunächſt die glashelle Haut vor ſich haben, die
ſich
wie ein Uhrglas mitten auf der weißen Haut der Augen-
kugel
erhebt, und unter welcher ſich die glashelle Flüſſigkeit
befindet
, durch welche der Farbenring ſamt ſeinem Sehloch
hervorſchimmert
.
Mit einer feinen Schere kann man dieſe Glashaut durch-
ſtechen
und einen Schnitt hinein machen.
Es wird ſofort die
wäſſerige
Flüſſigkeit ausfließen, aber man wird ſogleich ſehen,
daß
dieſe Flüſſigkeit nur einen ſehr kleinen Teil vom Inhalt
des
Auges ausgemacht, und daß man mit dem Einſchnitt nur
eine
Vorkammer des Auges geöffnet hat.
In der That iſt dies der Fall. Dieſe Vorkammer hat
an
ſich nicht ſonderliche Bedeutung:
es hat nichts Gefährliches
auf
ſich, wenn man bei einer Operation dieſe Glashaut öffnet,
das
Waſſer der Vorkammer abfließen läßt, denn die Glashaut
wächſt
ſehr leicht wieder zu, und die wäſſerige Flüſſigkeit erſetzt
ſich
ſehr ſchnell.
Schneidet man mit der Schere die Glashaut ringsum
aus
, ſo wird man bemerken, daß dieſes wie das feinſte Uhr-
glas
aufgelegte Häutchen zwar ſehr klar und durchſichtig, aber
doch
recht feſt und derbe iſt und ſchon manchen Stoß vertragen
kann
, ohne beſchädigt zu werden.
Wir haben jetzt die ganze abgedeckte Vorkammer vor uns
und
können mit einer Nadel den Farbenring ein wenig heben
und
ſenken, um denſelben näher zu beſehen.
Man nennt
dieſen
Ring die Iris, oder deutſch:
die Regenbogenhaut, während
man
das Sehloch mit dem Namen Pupille bezeichnet.
Mit
bloßem
Auge giebt es am farbigen Ring gerade nicht viel
Wunderbares
zu ſehen, und daß man in einem Loche ſelbſt
19563 dem beſten Mikroſkop von der Welt nichts ſehen kann, wird
uns
jeder glauben;
gleichwohl iſt dieſer Ring, oder dieſe Haut
mit
ſeiner runden Öffnung in der Mitte ein äußerſt merk-
würdiges
und wundervolles Ding, von deſſen Aufgabe, Be-
ſchaffenheit
und intereſſanten Kunſtſtücken wir noch weiterhin
werden
zu ſprechen haben.
Für jetzt wollen wir nur einmal ſehen, wie weit das Gebiet
der
Vorkammer ſich erſtreckt.
Die eine Glaswand der Vor-
kammer
haben wir weggeſchnitten;
der farbige Ring liegt jetzt
vor
uns, als eine Haut, die wie eine zweite Mittelwand in
der
Vorkammer ausgeſpannt iſt;
das offene Loch führt in den
hinteren
Raum der Vorkammer, und wir können uns durch
eine
Stricknadel, mit der wir in dieſen Raum eindringen,
überzeugen
, daß wir bald auf eine dahinterliegende Wand
ſtoßen
, die das Ende der Vorkammer bildet.
Sehen wir zu, was an dieſer Hinterwand iſt, und was
in
dem Raum ſteckt, den der undurchſichtige, farbige Ring
verdeckt
.
Wir machen nun mit der Schere auch in den Ring
einen
Einſchnitt und verſuchen, ihn ebenfalls rund auszuſchneiden,
ſo
daß wir die Mittelwand der Vorkammer auch abgelöſt und
nur
die Hinterwand und was drum und dran iſt, beſehen können.
In dieſer Hinterwand iſt eben das weſentliche Inſtrument
des
Auges, denn wir ſehen nunmehr, daß vor uns und zwar
genau
unter der Stelle hinter dem Sehloch, eine Kryſtallinſe
liegt
, die bedeutend größer iſt als das Sehloch, und deren
Rand
eben von dem farbigen Ring verdeckt war (L in Fig.
6).
Wir ſehen von der Linſe freilich vorerſt nur die obere Fläche, die
wiederum
wie ein Uhrglas gewölbt vor uns liegt.
Der Rand
der
Linſe, die ganz wie ein dickes Brennglas ausſieht, iſt rings
eingefaßt
in einem nerven- und aderreichen Kranz, der Strahlen-
körper
genannt wird.
Die hintere Fläche der Linſe liegt ein-
gebettet
in einer Maſſe, die äußerſt klar und durchſichtig iſt,
und
zu welcher wir ſogleich kommen werden.
19664
Die Kryſtalllinſe hat zu viel Ähnlichkeit mit einem ge-
wöhnlichen
Brennglas, als daß man irgendwie zweifeln könnte,
daß
ſie nur die Stelle derſelben, oder richtiger die Stelle einer
Glaslinſe
an optiſchen Inſtrumenten erſetzt.
Die Linſe des
Auges
iſt aber nicht aus Glas und nicht aus Kryſtall, ſondern,
wie
neuere Unterſuchungen ergeben haben, aus Faſern gearbeitet,
die
äußerſt durchſichtig ſind und verhältnismäßig ſehr wenig
Flüſſigkeit
enthalten.
Außerdem iſt ſie mit einem äußerſt
klaren
, durchſichtigen Häutchen umgeben, das man die Kapſel
der
Linſe nennt.
Man ſollte es kaum glauben, daß es ſchon zu den gar
nicht
ſeltenen Operationen gehört, daß der geſchickte Augenarzt
mit
einem Inſtrument ins lebendige Auge hineinſticht, die
vordere
Glashaut durchſticht, das Waſſer abfließen läßt, ins
Sehloch
hineingeht, um die Kryſtalllinſe, wenn ſie durch irgend
welche
Umſtände ihre Durchſichtigkeit verloren hat, ganz und
gar
aus dem Wege zu räumen.
Nach alter Methode ſchiebt man die Linſe tief nach
unten
ins Auge, wo ſie ſich dann von ſelber ganz auflöſt;
nach
neueren
glücklichen Operationen holt man ſie heraus.
In
beiden
Fällen erſetzt man die Linſe, die früher im Auge war,
durch
eine Glaslinſe, die man dem Operierten vors Auge
giebt
, das heißt durch eine Brille, an der das Glas für das
operierte
Auge in der Mitte ſehr dick iſt, je nach dem Erſatz,
den
man dem Auge für die ihm entriſſene Kryſtalllinſe geben muß.
Da man dies ſchon an lebenden Augen macht, ſo wollen
wir’s
mindeſtens am toten Auge verſuchen.
Wir machen dem-
nach
einen kleinen Schnitt in die Linſenkapſel, und auf leiſen,
ſicheren
Druck ſpringt die Linſe von ſelber heraus.
Was wir nun vor uns haben, das wollen wir im nächſten
Abſchnitt
beſehen.
19765
XVIII. Der ſogenannte Glaskörper im Auge.
Wenn man die Kryſtalllinſe herausgeholt hat, ſo ſieht man
die
Grube, in welcher ſie gelegen hat, und zwar ringsum mit
dem
Rand in der ſtrahligen, krauſenartigen Maſſe, die wir
bereits
bemerkt haben, mit der unten ſtark gekrümmten Fläche,
jedoch
auf einer äußerſt hellen, glasartigen, aus feuchten Häuten
beſtehenden
Maſſe, welche den ganzen übrigen Raum der
Augenkugel
ausfüllt.
Man nennt dieſe Maſſe den Glaskörper, und wird ſich
eine
richtige Vorſtellung von ſeiner Geſtalt machen, wenn man
ſich
ihn als eine halbe Kugel denkt, die auf der oberen Fläche
eine
Grube hat, worin die Krümmung der Kryſtalllinſe hin-
einpaßt
.
Dies, was wir hier vorgeführt haben, iſt der ganze
Inhalt
der Augenkugel, ſoweit es ſich nämlich um die Höhlung
handelt
, in welche das Licht hineindringt.
Nimmt man all
dies
, ſo weit es geht, heraus, ſo hat man nur eine hohle Kugel
vor
ſich, gebildet aus dicken Häuten, die wir noch kennen
lernen
werden, die wir aber für den Augenblick noch außer
Betracht
laſſen wollen, um nur noch einmal den Weg zu be-
zeichnen
, welchen das Licht, von draußen eindringend, ins
Auge
hineinnimmt.
Die Lichtſtrahlen treffen demnach zuerſt auf die glashelle
Haut
, die ſich wie ein Uhrglas über dem Farbenring des
Auges
wölbt.
Sodann gehen die Strahlen durch eine kleine
Schicht
Waſſer, welche unter dieſer Haut ſich befindet, und
treffen
auf den ausgeſpannten Ring, der undurchſichtig iſt, alſo
die
Strahlen nicht durchläßt.
Aber diejenigen Strahlen, welche
auf
das Loch in der Mitte des Ringes treffen, gehen weiter
ihren
Weg ins Innere des Auges und treffen dort auf die
Linſe
, durch welche ſie, ganz wie durch ein Brennglas, eine
19866 Glaslinſe, während des Durchganges eine Brechung erleiden; nun treten ſie in den halbkugelförmigen Raum des Glaskörpers ein, der den hinteren Raum der Kugel ausmacht, und mit ſeiner Kugelfläche genau anliegt an die hinterſte, becherförmige Wand des Auges.
Und hier drinnen, auf dieſer becherförmigen Wand des
Auges
, entſteht dadurch ganz eben ſolch’ ein Bildchen von der
Welt
draußen, die von allen Punkten her Lichtſtrahlen aus-
ſendet
, ganz wie es in der Hinterwand der Kamera-Obſcura
entſteht
, und zwar genau nach den Geſetzen, welche die Lehre
vom
Licht und deſſen Brechung durch durchſichtige Linſen
ergiebt
.
Iſt dies wirklich ſo? hat ſchon jemand dies Bildchen ge-
ſehen
?
Es hat es nicht nur jemand geſehen, ſondern es ſieht es
jeder
, der überhaupt Augen hat um zu ſehen;
denn in Wahr-
heit
ſehen wir die Welt draußen außer unſerm Auge nur, weil
wir
ein Biidchen von dieſer Welt im Innern des Auges
haben
.
Aber man kann das Bildchen jedem Ungläubigen oder
Abergläubigen
zeigen, der aus Unglauben an die Wiſſenſchaft
oder
aus Aberglauben und Wunderſucht an ihrer Behauptung
zweifelt
;
man kann das Bildchen in jedem Auge eines friſch-
getöteten
Tieres zeigen, das in geeigneter Weiſe hierzu ein-
gerichtet
wird, oder bereits im natürlichen Zuſtande die nötige
Einrichtung
hat, wie es z.
B. bei dem weißen Kaninchen der
Fall
iſt.
Nimmt man das Auge eines ſolchen Kaninchens un-
mittelbar
nach dem Tode heraus, reinigt die Augenkugel und
legt
ſie ſo in eine paſſende Papierrolle, daß das Sehloch nach
der
einen Seite der offenen Rolle gerichtet iſt, ſo braucht man
es
nur mit dieſer Seite nach dem Fenſter zu kehren, um an
der
äußeren Hinterwand des Auges das Bild des Fenſters
und
aller Gegenſtände auf der Straße verkleinert und
19967 zu erblicken. Wenn ein gleiches beim Menſchenauge oder
den
Augen mehrerer Tiere nicht der Fall iſt, ſo rührt es nur
von
der Undurchſichtigkeit eines ſchwarzen Farbeſtoffes in einer
der
Umhüllungshäute her;
nimmt man dieſe in geeigneter
Weiſe
an einer Stelle der Hinterwand ab, ſo kann man das
Bildchen
auch in ſolchen Augen zeigen.
Daß das Auge eine Kamera-Obſcura, und zwar eine
ſolche
nach denſelben Geſetzen der Optik, wie die künſtliche
Kamera
iſt, welche wir verfertigt haben, ſteht außer allem
Zweifel
.
Das Auge iſt nur unendlich beſſer, vorteilhafter,
geſetzmäßiger
, dauerhafter, und mit merkwürdiger Vorſorge
verfertigt
.
Es iſt nicht nur all das, was drum und dran iſt,
ſo
weit wir es bis jetzt verſtehen, ſo angelegt, daß wir es
überaus
geiſtreich und ſcharfſinnig nennen müſſen, ſondern es
giebt
noch gar vieles im Auge, zu deſſen Weisheit wir uns
noch
nicht erhoben haben;
das heißt, wir klugen Menſchen
ſehen
noch gar vieles nicht ein, was wir Geſcheidtes, ohne es
zu
wiſſen, mit zur Welt bringen.
Indem wir auf die erkannten und die noch unerklärten
Vorzüge
des Auges recht bald unſere Aufmerkſamkeit richten
wollen
, haben wir für jetzt nur noch über den nunmehr bereits
beſprochenen
Hauptteil des Inhalts der Augenkugel, über den
die
Hälfte des Kugelraumes ausfüllenden Glaskörper, einige
Bemerkungen
zu machen, welche die gegenwärtig in Aufſchwung
begriffene
Augenheilkunde betreffen.
Es iſt leicht einzuſehen, daß Trübungen in dieſem Glas-
körper
das Bildchen im Auge, und ſomit das Sehen desſelben
beeinträchtigen
;
nun iſt es mit dem Glaskörper nicht wie mit
der
Linſe, welche man herausholen und durch ein danach ge-
ſchliffenes
Brillenglas erſetzen kann.
Denn der Glaskörper iſt
unmittelbar
mit einem Netz eines Nerven in Berührung, der
eigentlich
das Sehen vermittelt, und der mit verletzt würde,
wenn
man den Glaskörper etwa abnehmen und ihn
20068 paſſende Brillen erſetzen wollte. Gleichwohl kommen Trübungen
im
Glaskörper öfter dadurch vor, daß ſich ein wenig Blut von
der
Aderhaut aus ins Auge ergießt, wodurch zeitweiſe Blind-
heit
erfolgen kann.
Der Augenſpiegel, von dem wir bereits
geſprochen
haben, hat auch hierin Vorzügliches geleiſtet;
wenn
es
auch nur darin beſteht, daß man den Bluterguß beobachten,
durch
anderweitige Mittel ſein Schwinden befördern und nach
öfteren
Unterſuchungen und Vergleichungen mit ziemlicher
Sicherheit
die Zeit angeben kann, wo das Übel geſchwunden
ſein
wird.
XIX. Die Vorzüge des Auges.
Die Vorzüglichkeit des Auges im Vergleich mit einer
künſtlichen
Kamera-Obſcura läßt ſich erſt einſehen, wenn man
die
einzelnen Teile des Auges in Betracht zieht.
Die äußere Form des Auges iſt von der Kamera ver-
ſchieden
.
Die Kamera hat meiſt die Form eines Kaſtens oder
eines
Cylinders, während das Auge die Kugelform beſitzt;
und
das
iſt ſchon ein weſentlicher Vorteil auf ſeiten des Auges.
Es läßt ſich nämlich leicht nachweiſen, daß auf der glatten,
ebenen
, matten Scheibe der Kamera immer nur ein einziger
Punkt
die genaueſte, richtige Entfernung von der Linſe hat,
um
ein ſcharfes Bild zu geben.
Man kann im vollſten Sinne
des
Wortes ſagen, daß in jedem Bildchen der Kamera-Obſcura
nur
ein einziger richtiger und ſcharf gezeichneter Punkt vor-
handen
iſt, während alles übrige ſtets undentlicher wird, je
entfernter
es von dieſem ſchärfſten Punkte liegt.
Der Grund
hiervon
liegt darin, daß, wenn die matte Scheibe ſo genau
geſtellt
wird, daß ſie mit ihrem Mittelpunkt in der richtigen
Entfernung
von der Glaslinſe ſteht, jede neben dieſem Punkte
liegende
Stelle der matten Scheibe ſchon zu weit von
20169 richtigen Entfernung abſteht. Nur wenn die matte Scheibe
eine
kugelartige Form hat, iſt es möglich, daß ſchon ein ganzes
Stück
derſelben in der richtigen Entfernung ſich befinde, und
demnach
die richtige Schärfe nicht mehr auf einen einzigen
Punkt
beſchränkt bleibe.
Im Auge erſetzt die becherförmige Hinterwand desſelben,
woran
der Glaskörper anliegt, die Stelle der matten Scheibe.
Die Hinterwand hat alſo eine Art Kugelform, die zwar bei
verſchiedenen
Tieren verſchieden iſt, je nach der Beſchaffenheit
der
Linſe, die aber in allen Fällen das Gebiet der richtigen
Schärfe
der Bilder vergrößert.
Höchſt merkwürdig iſt es, die
Verſchiedenheiten
der Augen bei verſchiedenen Geſchöpfen, und
zwar
die Verſchiedenheit der Linſe und die hierzu paſſende
Form
der Hinterwand des Auges zu betrachten;
denn man
nimmt
hierbei wahr, daß ſtets das Auge treffend ſo einge-
richtet
iſt, daß es für das Bereich paſſe, in welchem das Tier
zu
leben beſtimmt iſt.
Wer ſich einen Karpfenkopf gut
ſchmecken
ließ, wird wohl ſchon bemerkt haben, daß im Auge
desſelben
eine kleine, weiße Kugel liegt, etwa von der Größe
einer
Erbſe.
Dieſe Kugel iſt die Linſe des Auges beim Fiſch,
und
man ſieht, wie hier die Linſe zur Erbſe wird.
Der
Grund
davon iſt, daß der Fiſch, der den Beruf hat, im Waſſer
zu
leben und das Auge zu benutzen, auch eine ganz andere
Kamera
braucht als ein in der Luft lebendes Weſen, denn im
Waſſer
hat die Brechung der Lichtſtrahlen in ganz anderem
Maße
und weit ſtärker ſtatt als in der Luft.
Auch Vögel, die
in
der Luft leben, haben Linſen, die verſchieden ſind von denen
der
Landtiere;
denn die Vögel, namentlich diejenigen, die ſich
zu
außerordentlicher Höhe in der Luft erheben, haben ebenfalls
durch
die Verdünnung der Luft in dieſen Höhen mit ganz
anderen
Verhältniſſen der Lichtbrechung zu thun wie die Tiere,
welche
ſich nicht über den Boden der Erde erheben können.
Es
liegt
in dieſen Verſchiedenheiten der Formen des Auges noch
20270 Unerforſchtes für unſern Stand der Wiſſenſchaft; nur ſoviel
ſteht
feſt, daß eine Brille, welche den Dienſt einer Linſe bei
einem
operierten Menſchen erſetzt, ihren Dienſt bei einem
operierten
Hecht verſagen würde.
Die Geſchöpfe haben Augen,
die
zwar alle nach optiſchen Geſetzen geſchaffen ſind, aber nach
einer
Optik, die für jede Gattung, die in anderen Verhältniſſen
lebt
, anders zu berechnen iſt.
Die Krümmungen in den optiſchen Werkzeugen im Auge
des
Menſchen ſind noch beſonders dadurch merkwürdig, daß
die
Vorderſeite der Linſe genau die Krümmung einer Ellipſe,
die
Hinterſeite genau die Krümmung einer Parabel, während
die
Hinterwand des Auges die Krümmung einer Kugel hat.
Wer aber in der Mathematik nicht ganz fremd iſt, der wird
zugeſtehen
, daß dieſe eigentlichen Krümmungen in ihrem Zu-
ſammentreffen
nicht zufällig ſein können, und wenn ſie in ein-
ander
wirken, dies nur nach dem genaueſten, wohlberechnetſten
Plan
geſchehen kann.
Sehen wir von dem Umſtande hier ab, der wegen ſeiner
ihm
zu Grunde liegenden, ſtreng mathematiſchen Geſetze nicht
geeignet
iſt zur kurzen, allgemein verſtändlichen Behandlung,
ſo
haben wir noch auf eine ganze Reihe anderer Umſtände
aufmerkſam
zu machen, durch welche das Auge zur wunder-
vollſten
Kamera-Obſcura wird.
Wir haben es bereits erwähnt, daß man gegenwärtig zu
einer
guten Kamera-Obſcura, wie ſie die Photographen ge-
brauchen
, zwei doppelte Linſenpaare nimmt.
Der Grund
hiervon
iſt, daß bei jeder einfachen Linſe die Gegenſtände
farbige
Säume um ſich haben, welche das Bild ſehr unſcharf
machen
;
das Syſtem der Doppellinſen beruht darauf, daß man
die
Lichtſtrahlen durch zwei Glasarten von verſchiedener
Dichtigkeit
gehen läßt, welche deshalb eine verſchiedene Farben-
zerſtreuung
haben, wobei man durch Rechnung und Verſuche
eine
ſolche Zuſammenſtellung der zwei Linſen finden kann,
20371 die Farben der beiden ſich gegenſeitig aufheben. Die Erfindung,
zwei
verſchiedene Glasarten von verſchiedener Brechbarkeit des
Lichtes
als Linſen zu benutzen, hat der große deutſche Mathe-
matiker
und Naturforſcher Leonhard Euler (1707—1782)
vor
mehr als hundert Jahren bereits gemacht;
aber er geſtand,
daß
die Betrachtung des menſchlichen Auges ihn hierauf geführt,
und
als ſpäter der engliſche Mechaniker Dollond (1706—1761)
die
Idee Eulers verwirklichte, und es ſich praktiſch heraus-
ſtellte
, daß man farbenfreie Linſenpaare machen kann, wurde
es
allgemein anerkannt, daß dieſe Praxis ſchon ſo alt iſt, wie
das
erſte Auge, welches das Licht der Welt erblickt hat.
Die Kryſtalllinſe und der Glaskörper im Auge ſind zwei
durchſichtige
Maſſen, welche die Lichtſtrahlen in verſchiedener
Weiſe
brechen, und ſie ſind ſo aneinander gelegt und im Auge
geordnet
, daß die Farbenränder ſich gegenſeitig aufheben.
Man ſchätzt gute Doppellinſen, die keine farbigen Bilder
ſehen
laſſen, ſehr hoch, obgleich jetzt die Herſtellung derſelben
fabrikmäßig
betrieben wird;
im Auge iſt dieſe Kunſt ſo vor-
trefflich
erreicht, daß es Anſtrengung koſtet, in der deutlichen
Sehweite
die farbigen Ränder willkürlich hervorzurufen, was
nur
ſolchen Menſchen gelingt, die willkürlich das Schielen mit
den
Augen verſtehen.
XX. Die Lichtblende.
Im Auge befindet ſich noch eine Vorrichtung, die an der
Kamera-Obſcura
gleichfalls angewendet wird.
Dieſe Vor-
richtung
beſteht darin, daß der farbige Ring des Auges, der
vor
der Linſe liegt, erſtens dazu dient, das Licht vom Rande
der
Linſe abzuhalten, und zweitens, daß der Ring ſich derart
ſowohl
nach dem Rand, wie nach der Mitte hin
20472 ziehen kann, daß das Sehloch in der Mitte bald größer, bald
kleiner
wird.
Es iſt eine in der Lehre von der Brechung des Lichtes
anerkannte
und erklärte Thatſache, daß die Lichtſtrahlen, welche
durch
den Rand einer Glaslinſe gehen, einen anderen Ver-
einigungspunkt
haben als die Lichtſtrahlen, welche durch den
mittleren
Teil der Linſe gehen.
Es wird daher in jedem
Fernrohr
wie in jeder Kamera-Obſcura ſtets eine Blende
angebracht
, das heißt ein Ring, der die Randſtrahlen abhält,
und
nur das Licht durch den mittleren Teil der Linſe wirken
läßt
.
Es iſt nun leicht einzuſehen, daß, wenn die Blende
einen
breiten Teil des Randes verdeckt, alſo nur durch ein
kleines
Loch in der Mitte die Lichtſtrahlen durchläßt, die
Wirkung
des Lichtes eine reinere und ſchärfere, aber auch
im
ſelben Maße eine ſehr ſchwache ſein wird, da eben nur
wenig
Lichtſtrahlen hier wirken können.
Verdeckt dagegen die
Blende
nur einen ſchmalen Teil des Randes, ſo entſteht durch
das
reichlich eindringende Licht zwar ein helleres, aber auch
zugleich
weniger reines und ſcharfes Bildchen.
Die Photographen, die bei ſehr verſchiedenem Wetter die
Anfertigung
von Bildern durch die Kamera-Obſcura vorzu-
nehmen
haben, ſind deshalb zur Benutzung ſehr verſchiedener
Blenden
genötigt.
Iſt das Wetter ſehr hell, wirkt alſo das
Licht
ſtark ein, ſo ſetzen ſie vor der Linſe in allen Fällen, wo
es
ihnen nicht um kurze Sitzungszeit, ſondern um ein ſcharfes,
feines
Bild zu thun iſt, eine Blende ein, die nur ein kleineres
Loch
in der Mitte hat.
Bei dunklem Wetter müſſen ſie
möglichſt
viel Licht in die Kamera dringen laſſen, und ſie ar-
beiten
deshalb ohne eingeſetzte Blende, oder richtiger:
mit der
ſchmalen
Blende, welche bereits im Inſtrument angebracht iſt.
Hauptſächlich geübt auf die Benutzung verſchiedener Blenden
müſſen
ſolche Photographen ſein, welche Lichtbilder von Land-
ſchaften
oder Gemälden anfertigen, wo es nicht auf
20573 ſondern auf feine, ſcharfe Wirkung ankommt, die ſtets deſto
günſtiger
erreicht wird, je heller das Licht und je größer die
Blende
iſt.
Die Photographen benutzen deshalb verſchiedene Blenden,
die
aus ſteifem, geſchwärzten Papier oder gewöhnlich aus
dünnen
, geſchwärzten Metallringen beſtehen;
je nach Bedürf-
nis
ſetzen ſie eine Blende mit einer größeren oder kleineren
Kreisöffnung
ein, um mehr oder weniger Licht in die Kamera
eindringen
zu laſſen.
Da wir nun im Auge eine Kamera-
Obſcura
beſitzen, eine Kamera, die uns im hellſten Sonnen-
ſchein
ebenſo ihre Dienſte leiſten ſoll, wie in dunkler Nacht,
wo
nur der Schimmer des Sternenlichtes zu uns gelangt,
ſo
iſt die Einrichtung des farbigen Ringes im Auge vor der
Glaslinſe
, wie wir ſogleich ſehen werden, von unübertrefflichem
Werte
.
Der farbige Ring des Auges iſt undurchſichtig, denn er
iſt
von innen ſchwarz belegt;
es dringen daher keine Strahlen
durch
denſelben.
Der Ring liegt ſo, daß er vor allem die
Ränder
der Linſe deckt und nur die Strahlen durch die Mitte
eindringen
läßt, die durch das Sehloch gehen;
denn die Mitte
des
Sehloches liegt ganz genau vor der Mitte der Linſe.
Außerdem aber beſitzt der farbige Ring ein ſo feines Gewebe
von
Muskeln und Bewegungsnerven, daß er bei der leiſeſten
Veränderung
des Lichtes das Sehloch bald erweitert, bald
verengt
, je nachdem helles oder dunkles Licht ins Auge dringt.
Die Art und Weiſe, wie das Sehloch ſich verengt und er-
weitert
, je nachdem das Licht ſtark oder ſchwach iſt, kann man
am
eigenen Auge ſehr gut beobachten.
Man ſtelle ſich mit
dem
Geſicht ans Fenſter, ſo daß man vom hellen Licht der
Straße
beſtrahlt wird, und halte ein Stückchen Spiegelglas,
etwa
von der Größe eines Fünfmarkſtückes, vors Auge;
jedoch
ſo
, daß das Auge nicht davon beſchattet wird.
Nun richte man
ſeine
Aufmerkſamkeit auf das Auge im Spiegel, deſſen
20674 ring und Sehloch, und drehe ſich dabei langſam um, ſo daß
man
ſich vom Tageslicht abwendet, und dasſelbe nicht direkt
ins
Auge gelangt.
Man wird ſchon bei dem einmaligen Ver-
ſuch
bemerken, wie das Sehloch ſich erweitert, je mehr man
ſich
vom hellen Tageslicht abwendet, und wie es ſich ver-
engt
, wenn man ſich vom dunklen Raum zum hellen umdreht.
Die Verengerung und Erweiterung des Sehloches geſchieht
unwillkürlich
.
Der Farbenring zieht ſich, wenn ſtärkeres Licht
auf
den Sehnerven einwirkt, ohne unſer Wiſſen und Willen
nach
der Mitte hin zuſammen und macht das Loch, die
Pupille
, enger;
bei ſchwächerem Lichte geſchieht die Zuſammen-
ziehung
des Farbenringes nach dem Rande hin und erweitert
das
Sehloch;
und dies geſchieht ſo gleichmäßig mit dem
Steigen
und Sinken des Lichteindruckes, daß man ſagen kann,
es
ſei im Auge der Lichteindruck bei Tageslicht ſo ziemlich ein
gleicher
, denn die ſehr bedeutenden Veränderungen, welche das
Tageslicht
durch die Witterung erleidet, werden durch den
Farbenring
und ſeine Zuſammenziehungen in außerordentlichem
Maße
ausgeglichen.
So haben wir denn eine einzige Blende im Auge, die für
die
verſchiedenſten Lichter paßt, eine Blende, die wir benutzen,
ohne
es zu wollen, ja ohne es zu wiſſen;
eine Blende mit einer
Vorrichtung
, die, wenn ſie ein Menſch erfunden hätte, ſeinem
Stolze
ungeheuer zu ſchmeicheln imſtande wäre;
die aber, weil ſie
eine
ſo alte Erfindung iſt, uns nur Beſcheidenheit lehren kann.
XXI. Die Augenlider.
Das Auge, als bloße Kamera-Obſcura betrachtet, beſitzt
noch
einen Vorzug, den man der künſtlichen Kamera nicht
20775 leihen kann. Daß die Augenlider die Deckel der Augen ſind,
weiß
jedermann.
Die Vorteile eines ſolchen Deckels liegen auf
der
Hand, und man bringt einen ſolchen an jeder Kamera-
Obſcura
an, die man vor Staub und ſonſt nachteiligen Ein-
flüſſen
bewahren will.
Man ſchiebt einen Deckel auf die Faſſung
der
Glaslinſen, ſo oft man die Kamera nicht benutzt.
Was
aber
das Auge ganz beſonders bei dieſem Deckel auszeichnet,
iſt
Folgendes.
Das Augenlid iſt nicht nur ein Deckel, den man will-
kürlich
, ſo oft man das Auge nicht benutzen will, über das-
ſelbe
legen kann, ſondern es iſt ein Deckel, der ſich ganz un-
willkürlich
ſchließt, wenn es dem Auge not thut.
Man kann gewiſſermaßen ſagen, das Augenlid, dieſer
Vorhang
, der das Auge verſchließt, gehört zum Teil uns an,
wir
haben Macht über dasſelbe, wir können es mit unſerm
Willen
und Wiſſen ſchließen und öffnen;
es gehört aber zum
Teil
dem Auge ſelber an, das über das Lid gebietet, ohne
nach
unſerm Willen und Wiſſen zu fragen.
Wir ſchließen und
öffnen
wohl an tauſendmal in einem Tage das Augenlid, ohne
es
zu wiſſen, und ſelbſt, wenn wir es nicht wollen.
Die Kamera-Obſcura, mit der wir zur Welt kommen, hat
alſo
einen Deckel, der ſich nach ihrem eigenen Bedürfnis auf-
und
zumacht, ohne uns um Erlaubnis zu fragen, oder auf
unſern
Befehl zu warten.
Und wie dies ſein Gutes hat, und wie dies dem Auge
ſelber
dienlich iſt, darüber wollen wir nur ein paar Worte hier
herſetzen
.
Ohne Zweifel würde nicht wenig Staub unſer Auge be-
decken
, wenn wir es die Nacht nicht geſchloſſen hätten;
nun
wäre
es in der That nicht zu viel, wenn dieſe leichte Arbeit,
das
Auge zu ſchließen, nur unſerer Vorſicht überlaſſen worden
wäre
;
allein da man gerade im Moment des Einſchlafens am
allerwenigſten
etwas von Vorſicht beſitzt, ſo iſt Hundert
20876 Eins zu wetten, daß wir in hundert Nächten es kaum einmal
wirklich
in dieſem Moment ſchließen würden.
Aber auch in andern unendlich vielen Fällen iſt das un-
willkürliche
Schließen des Auges ein für die Erhaltung dieſer
Kamera
ſehr bedeutendes Ereignis.
Ein blendender Licht-
ſtrahl
, ein Staubkörnchen, ein Schlag und all’ die über-
raſchenden
, ſtörenden Eingriffe, die unſerm Auge drohen,
kommen
uns viel zu ſpät zum Bewußtſein, als daß wir noch
Zeit
gehabt hätten, unſern ſchützenden Deckel übers Auge zu
legen
, wenn die Benutzung des Deckels uns allein überlaſſen
geblieben
wäre.
Ja, wir würden nicht wenig bei den un-
zähligen
Störungen, die das Auge treffen, in Anſpruch ge-
nommen
ſein, wenn das Auge bloß der Vorſorge unſeres Be-
wußtſeins
anheimgegeben wäre.
Jetzt, wo das Augenlid in
einer
ganz eigentümlichen Weiſe unter dem direkten Gebot des
Auges
ſelber, oder richtiger unter dem Befehl eines Reizes
durch
die Augennerven auf das Gehirn und von dieſem auf
den
Bewegungsnerv des Augenlides ſteht, ohne erſt unſer Be-
wußtſein
und unſern Willen mit ins Spiel zu ziehen, iſt die
Sache
weit einfacher und vorteilhafter eingerichtet.
Aber das Auge oder richtiger die Augenhöhle hat noch
ganz
beſondere Vorrichtungen zu Gunſten der Kamera-Obſcura,
die
wir mit zur Welt bringen, Vorrichtungen, bei denen das
Augenlid
auch eine Hauptrolle ſpielt.
Dicht an der Schläfe nämlich, in einer Vertiefung der
knöchernen
Decke, ſeitwärts über dem Auge, ungefähr in der
Gegend
, wo die Augenbrauen aufhören, da liegt die Thränen-
drüſe
, ein eigentümliches Gebilde, das fortwährend ein ſalziges
Waſſer
abſendet, das ſich unter dem oberen Augenlid an-
ſammelf
.
Merkwürdigerweiſe iſt dieſe ſalzige Feuchtigkeit dem
Auge
durchaus nicht ſchädlich oder empfindlich, während reines
Waſſer
einen gewiſſen, unangenehmen Reiz auf dasſelbe aus-
übt
, ſo daß es nur ſelten Menſchen giebt, die beim
20977 unter Waſſer die Augen öffnen köunen. Während des Schlafes,
wo
das obere Augenlid das Auge bedeckt, erhält die ſalzige
Flüſſigkeit
das Auge feucht;
im Wachen aber, wo das Auge
offen
ſteht, liegt der Rand des oberen Augenlides ſo feſt an
der
Augenkugel, daß die Thränen nicht durchdringen;
da aber
beim
offnen Auge die äußere Augenhaut ihre Feuchtigkeit ver-
dampft
und trocken wird, fällt, ſo oft dies der Fall iſt, ohne
daß
wir es wiſſen und wollen, das Augenlid herab, ſchließt auf
einen
äußerſt kurzen Moment das Auge und befeuchtet es ſo mit
friſchem
Thränenwaſſer.
Mit dieſem Thränenwaſſer ſpült ſich
aber
auch aller Staub vom Auge herunter, der ſich darauf ab-
gelagert
;
wäre dies nicht der Fall, ſo würden wir genötigt
ſein
, unſere Augenhaut eben ſo oft zu waſchen, wie unſere
Naſenhaut
;
da aber das Auge ein wenig empfindlicher und im
Grunde
genommen auch viel wertvoller iſt als unſere Naſe, da
Tauſend
gegen Eins zu wetten iſt, daß wir die glashelle Haut
weit
eher durch unſere Waſchungen blind als blank und rein
machen
würden, ſo iſt es ſchon gut, daß auch in dieſer Be-
ziehung
uns eine Sorge abgenommen worden iſt, und daß die
Kamera-Obſcura
, die wir mit zur Welt bringen, ihre eigene
Waſch-
und Bade-Anſtalt beſitzt.
Wir waſchen und baden demnach unſere mitgebrachte
Kamera-Obſcura
wohl tauſendmal täglich mit Thränenwaſſer.
Es iſt kaum glaublich, wie oft wir blitzſchnell mit den Augen
blinken
;
es geſchieht dies jedesmal, um das Auge zu feuchten
oder
um ein Stäubchen wegzuwaſchen.
Fällt gar ein beträcht-
liches
Körnchen ins Auge, ſo kommt ein ganzer Thränenſtrom
heran
, um es wegzuſpülen, und führt es, wenn wir das Auge
ſelber
nur gewähren laſſen, auch richtig nach unten in den
inneren
Augenwinkel, wo es mit einigem Schleim ſitzen bleibt,
und
wo wir es ohne Schmerz entfernen können.
Gerade an dieſer Stelle aber ſind ein paar feine Löcher,
welche
die überflüſſigen Thränen nach der Naſenhöhle
21078 wohin wir ſie abfließen fühlen, wenn wir ſo zu ſagen das
Weinen
verbeißen und die Thränen verſchlucken.
Was die Augenlider noch außerdem für Dienſte dem
Auge
leiſten, iſt nicht minder weſentlich für die Schonung der-
ſelben
.
Sie ſind offenbar nicht nur die Deckel, ſondern auch
die
Jalouſieen des Auges.
Wenn die Sonne ſcheint, wenn der
Schnee
blendet, laſſen wir ſie halb herab, damit wir nicht zu
viel
Licht in die Vorderkammer des Auges bekommen.
Es
kommt
oft vor, daß wir im Sonnenlicht ſtehen und in den
dunkeln
Schatten blicken wollen;
würden wir das Auge offen
halten
, ſo würde ſich wegen des ſtarken Lichtes das Sehloch
ſehr
verkleinern, und wir würden deshalb gar nichts von dem
ſehen
, was im Dunkeln vorgeht.
Deshalb kneifen wir die
Augen
recht gründlich zuſammen und machen uns gewiſſer-
maßen
Schatten im Sonnenlicht;
ſofort erweitert ſich das Seh-
loch
, und wir nehmen ſo viel von den Strahlen auf, die aus
der
dunkeln Stelle herkommen, daß wir bei weitem beſſer ſehen
können
.
Hierbei ſpielen ſowohl die Augenbrauen ſchattend eine
Rolle
, welche ohnehin den Schweiß der Stirn nicht ins Auge
fließen
laſſen, wie auch die Haare der Augenlider, welche ein
herrlicher
Gitterzaun ſind, um bei Wind und Wetter die
mitgebrachte
Kamera-Obſcura nicht ſchädlichen Einflüſſen aus-
zuſetzen
.
In der That, dieſes Meiſterſtück iſt muſterhaft verſorgt.
XXII. Die Beweglichkeit des Auges.
Es iſt höchſt intereſſant, wahrzunehmen, wie die Augen
mit
beſonderen Bewegungswerkzeugen verſorgt ſind, obgleich
ſie
im Kopfe ſitzen, der ohnehin alle möglichen Drehungen
21179 Wendungen nach allen Seiten machen kann und alſo auch
durch
feſtſitzende Augen allenthalben würde ſehen können, wohin
er
ſich wendet.
Bei flüchtiger Betrachtung könnte es als Luxus erſcheinen,
daß
man das Auge, ohne den Kopf zu bewegen, nach oben
und
unten, nach rechts und links, wie nach allen quer liegenden
Richtungen
drehen kann, da es doch ausreichend wäre, wenn
die
Augen ebenſo feſt und unbeweglich im Kopfe ſtünden wie
unſere
Naſe oder unſer Ohr, ſobald nur der Kopf ſelber ſich
dorthin
drehen kann, wo er was zu ſehen wünſcht.
Allein bei näherer Betrachtung gewinnt man auch hier
die
Überzeugung, daß die reiche Ausſtattung und beſondere Be-
günſtigung
des Auges keineswegs eine Verſchwendung iſt.
Es erginge uns in der That recht ſchlimm, wenn wir
ſtarre
, unbewegliche Augen im Kopfe hätten;
wir würden nicht
nur
genötigt ſein, uns fortwährend mit dem Kopfe nach allen
Richtungen
hin zu bewegen, wenn wir verſchiedene Dinge,
z
.
B. eine Straße, eine Häuſerreihe mit allen Nebendingen be-
trachten
wollten, ſondern wir würden unter einer großen Reihe
von
Umſtänden ſo gut wie gar nichts ſehen.
Läge das Auge ſtarr im Kopfe, ſo würden wir in allen
Fällen
, wo wir den Kopf bewegen müſſen, z.
B. beim Gehen,
Fahren
, Reiten, Arbeiten, Laufen, Klettern, niemals einen
Punkt
im Auge zu behalten imſtande ſein;
in ſolchen Fällen
würden
wir nur Miſchbilder im Auge haben, wie wir ſie jetzt
nur
künſtlich erzeugen können, wenn wir willkürlich unſere
Augen
wild herumrollen laſſen.
Dadurch aber, daß wir die
Augen
beſonders bewegen können, ohne den Kopf zu geniren,
können
wir auch Dinge im Auge behalten, wenn wir mit dem
Kopfe
Bewegungen beliebiger Art ausführen.
Um von tauſend Beiſpielen nur eines anzuführen, wollen
wir
unſere Leſer auf folgende uns nächſte Thatſachen aufmerk-
ſam
machen.
21280
Während wir ſchreiben, ſehen wir auf die Federſpitze und
zugleich
auf die eben geſchriebenen Buchſtaben.
Die Feder-
ſpitze
iſt in fortwährender Bewegung, während der geſchriebene
Buchſtabe
feſt auf dem Papier iſt.
Wäre unſer Auge ſtarr im
Kopfe
, ſo würden wir unausgeſetzt bei jedem Federſtrich den
Kopf
ſchütteln müſſen, wenn wir die Federſpitze im Auge be-
halten
wollten.
Das wäre aber noch nicht das Schlimmſte,
ſondern
übler wäre noch, daß wir bei ſtarrem Auge und
ſchüttelndem
Kopfe zwar die Feder ſehen könnten, wenn wir
den
Kopf richtig danach bewegten;
aber wir würden dabei
keinen
fertig geſchriebenen Buchſtaben ſehen können, wenn wir
nicht
zwiſchen jeder Bewegung des Kopfes wieder innehalten
wollten
, um die ſtehenden Zeichen anzuſehen.
Jetzt iſt es anders. Leute, die infolge von Krankheit fort-
während
mit dem Kopfe zittern, können, wenn ihre Hand ſonſt
ſicher
und ruhig iſt, nicht nur ſchreiben, ſondern auch feinere
Verrichtungen
zu Wege bringen.
Die Bewegungen des Kopfes
haben
nichts mit den Bewegungen des Auges zu thun;
wir
können
den Kopf rechts und zu gleicher Zeit das Auge links
drehen
, wir können es ruhen laſſen auf einem Punkte und zu
gleicher
Zeit den Kopf nach Bedürfnis bewegen.
Das Auge
geniert
den Kopf und der Kopf das Auge nicht, und daß dies
ein
Vorzug, aber kein luxuriöſer iſt, läßt ſich leicht einſehen.
Die Sache hat aber einen noch tiefer liegenden Grund,
weshalb
die Bewegung des Auges nicht gut durch die Be-
wegung
des Kopfes erſetzt werden kann, und das iſt folgender:
Der Drehpunkt des Kopfes liegt dem Drehpunkt des Auges
zu
fern, als daß er dieſen erſetzen könnte.
Der Drehpunkt des Kopfes liegt zwiſchen Hals und Nacken
auf
dem oberſten Halswirbel.
Dreht man den Kopf um dieſen
Punkt
, ſo dreht man nicht das Auge mit ſondern bewegt
das
Auge von einem Ort zum andern, und eben das iſt dem
richtigen
Sehen hinderlich.
Damit das Auge nach allen
21381 tungen hin eine Reihe von Gegenſtänden genau ſehen kann, iſt
es
nötig, daß ſich das Auge drehe, jedoch ohne ſich von ſeiner
Stelle
zu bewegen.
Das Auge muß ſich hierbei um ſeinen
eigenen
Mittelpunkt drehen, damit das Bildchen, das im Auge
von
der Welt draußen entſteht, nicht verſchoben werde durch
die
Bewegungen des Auges von Ort zu Ort, und darum muß
der
Drehpunkt des Auges nicht anderswo, ſondern in dem
Mittelpunkte
des Auges ſelber liegen.
Und das iſt eben der Fall.
Wenn wir das Auge von einer Seite zur andern oder
von
oben nach unten bewegen, ſo bewegen wir die Augenkugel
nicht
von der Stelle, ſondern drehen ſie nur um ihren Mittel-
punkt
.
Die Augenkugel liegt nämlich in der Augenhöhle, die
mit
Fett derart ausgepolſtert iſt, daß nur grade ein kugel-
runder
Raum für die Augenkugel übrig bleibt.
Die Augen-
kugel
liegt demnach in einer aus Fett gebildeten Hohlkugel.
Das Auge kann deshalb nicht, wie man ſo ſagt, gehoben, ge-
ſenkt
oder nach irgend einer Seite hin geſchoben werden, denn
die
Hohlkugel läßt der Augenkugel keinen freien Spielraum zu
Bewegungen
, ſondern umſchließt ſie dicht und enge.
Die
Augenkugel
kann nur gedreht werden, ſo daß, wie man die
vordere
Seite des Auges nach oben richtet, man die hintere
nach
unten wendet;
jede Bewegung, die man am ſichtbaren
Teil
des Auges nach irgend einer Seite vornimmt, geht am
entgegengeſetzten
Punkte der Augenkugel in entgegengeſetzter
Richtung
vor ſich;
und dieſe Drehung geſchieht eben um den
Mittelpunkt
der Augenkugel, oder was eigentlich die Hauptſache
iſt
, um den Punkt, in welchem ſich ſämtliche eindringende Licht-
ſtrahlen
treffen, um von dort bis zur Hinterwand den Licht-
kegel
zu bilden, durch welchen eben das umgekehrte Bildchen
an
der Hinterwand entſteht.
Es iſt ſchwierig, ohne weitläufige Erörterungen die Wichtig-
teit
dieſer Thatſache vollkommen klar zu machen;
wir
21482 aber unſern Leſern die Verſicherung geben, daß es der Wiſſen-
ſchaft
nicht an Beweiſen fehlt, welche darthun, daß auch die
Beweglichkeit
des Auges auf merkwürdig genau befolgten Ge-
ſetzen
der Optik beruht, welche die bevorzugteſten Menſchen-
kinder
erſt nach Jahrtauſenden und Jahrtauſenden eingeſehen
haben
, während die Anwendung dieſer Geſetze bereits der
erſte
Menſch mit zur Welt gebracht hat.
XXIII. Die Lenkung und Richtung der Augen.
Die Drehung des Auges um ſeinen Mittelpunkt wird, wie
alle
Bewegungen am menſchlichen Körper, durch Muskeln voll-
ſtreckt
.
Aber die Muskeln der Augenkugel ſind in ſo weſent-
licher
Beziehung merkwürdig, daß wir nicht umhin können,
einiges
hierüber unſern Leſern vorzuführen.
Bei Betrachtung eines Schädels wird wohl ſchon jeder-
mann
bemerkt haben, wie die Augenhöhlen nicht nur weit und
groß
, ſondern auch ſehr tief ſind, und wie im Hintergrund
derſelben
ein offener Weg in das Gewölbe hineinführt, das
einſt
vom Gehirn ausgefüllt wurde.
Indem wir von dieſer Öffnung zum Gehirn hin noch
ſprechen
werden, wollen wir hier nur unſer Augenmerk auf den
Hintergrund
der Höhle richten, denn hier liegen die Muskeln
zur
Bewegung der Augenkugel am Knochen und ſtrecken ſich
wie
Bänder nach vorn, wo ſie an der Augenkugel ange-
wachſen
ſind.
Man kann ſich einen Begriff von der Lage und der Wir-
kung
dieſer Muskeln machen, wenn man ſich denkt, daß hinten
in
der Tiefe der Augenhöhle der Kutſcher ſitzt, der das Auge
mit
dem Zaum lenkt.
Solch ein bandartiger Zaum geht von
hinten
rechts und links nach dem Auge, wo die Enden
21583 gewachſen ſind. Zieht ſich das muskelartige Band rechts zu-
ſammen
, ſo muß ſich natürlich die Augenkugel nach rechts
drehen
, zieht ſich der linke Muskel zuſammen, ſo wendet ſich
das
Auge links.
Außer dieſen zwei Muskeln gehen aber noch
zwei
andere in gleicher Weiſe aus dem Hintergrund der
Knochenhöhle
ab nach vorn, wo ſie oben und unten an der
Augenkugel
angewachſen ſind.
Zieht ſich der obere Muskel zu-
ſammen
, ſo zieht er das Auge, und es muß ſich mit der
vorderen
Fläche nach oben drehen;
verkürzt ſich der untere
Muskel
, ſo muß ſich der Blick ſenken.
Dieſe vier Muskeln werden die geraden Augenmuskeln ge-
nannt
, weil ſie die Bewegung des Blickes nach den geraden
Richtungen
rechts, links, oben und unten hervorbringen;
um
aber
dem Auge auch jede beliebige ſchiefe Stellung zu geſtatten,
ſind
noch zwei beſondere Muskeln vorhanden, die jedoch ein
wenig
feiner und berechneter angelegt ſind.
Sie ſind ebenfalls im tiefſten Hintergrund der Augenhöhle
angewachſen
;
ſie gehen aber nicht direkt nach dem Auge, ſondern
machen
einen merkwürdigen Umweg.
Der eine geht am Auge
ſchief
nach oben vorüber, als wollte er nach der Naſe laufen;
hier iſt nun ein feſtliegender, knorpeliger Ring, durch welchen
der
Muskel hindurchgeht, ſo daß er im Ring eingefädelt iſt;

wie
eine Schnur durch eine Rolle.
Nun wendet er ſich zurück
zur
Augenkugel, woſelbſt er angewachſen iſt.
Verkürzt ſich
dieſer
Muskel, ſo zieht er nicht das Auge ſchief und nach
hinten
, ſondern im Gegenteil, er zieht das Auge nach der
Richtung
des knorpeligen Ringes, alſo in ſchiefe Stellung und
nach
vorn.
Ihm gegenüber liegt nun der andere ſchief liegende
Muskel
, der eine gleiche Wirkung nach der entgegengeſetzten
Seite
ausübt, wodurch man imſtande iſt, die Augenkugel nach
jeder
beliebigen geraden und ſchiefen Richtung zu wenden und
zu
rollen.
Der Zweck der Vorrichtung aber, in welcher die
21684 liegenden Muskeln nicht von hinten her direkt aufs Auge wirken,
ſondern
erſt durch einen ſeitwärts und nach vorn liegenden
Ring
hindurchlaufen, iſt der, daß die Augenkugel bei An-
ſpannung
der geraden Muskeln nicht nach hinten rücke;
denn
die
Höhle, worin ſie liegt, iſt nur von Fett ausgepolſtert, das
ein
wenig nachgiebt.
Mit ſolcher Umſicht iſt dieſe angeborene Kamera-Obſcura
ausgeſtattet
worden, um nach allen möglichen Richtungen hin
gewendet
werden zu können, ſelbſt wenn wir den Kopf ſteif
halten
oder gar nach einer anderen Richtung hin gewendet
haben
.
Intereſſant iſt noch bei der Bewegung des Auges Fol-
gendes
.
Die Muskeln der Augenkugel, die von den Gehirnnerven
aus
dirigiert werden und ſo nach unſerem Willen ſich zuſammen-
ziehen
, ſind an beiden Augen gleich;
aber ſie ſind in ihrer
Thätigkeit
ſo abgeſtimmt, daß eine gewiſſe Kreuzung ſtattfindet,
wodurch
beide Augen ſtets nach gleicher Richtung blicken.
Es
geht
auch in dieſer Beziehung mit den beiden Augen ſo, wie
mit
zwei Pferden, die der Kutſcher vom Bock aus mit zwei
Leinen
in den Händen regiert.
Die Leine, die er in der
rechten
Hand hat, geht direkt zum rechten Gebiß des rechten
Pferdes
, aber es geht auch von ihr am Nacken dieſes Pferdes
eine
kürzere Kreuzlinie ab zum rechten Gebiß des linken Pferdes;
die Leine, die der Kutſcher in der linken Hand hält, geht eben
ſo
zum linken Gebiß des linken, wie kreuzend zum linken
Gebiß
des rechten Pferdes hin, ſo daß er mit jeder Leine beide
Pferde
nach einer und derſelben Richtung lenkt.
Der Kutſcher für unſere zwei Augen iſt unſer Gehirn;
die Stränge, womit unſere Augen gelenkt werden, ſind, wie
geſagt
, die Muskeln.
Nun iſt es zwar richtig, daß die Mus-
keln
nicht unmittelbar mit dem Gehirn in Berührung ſtehen,
wie
die Leinen mit der Hand des Kutſchers;
aber die
21785 der Muskeln durch die Nervenfäden iſt für die Augen ähnlich
ſo
abgeſtimmt, wie die Kreuzleine des Kutſchers, und die
Muskeln
beider Augen werden in demſelben Sinne gleichſeitig
zu
ihren Zuſammenziehungen dirigiert, wie die Kreuzlinie eines
Pferdegeſpannes
.
Darum richten wir, wenn wir das eine Auge nach dem
Schläfenwinkel
drehen, das andere nach dem Naſenwinkel,
darum
machen wir die Bewegungen des Auges gleichzeitig und
in
gleicher Richtung, wodurch wir angewieſen ſind, mit beiden
Augen
ſtets nach einem Gegenſtand zu ſehen.
Dies iſt ein
Umſtand
, der es bewirkt, daß beide Augen ſich gegenſeitig beim
Sehen
unterſtützen und nicht hindern, was der Fall wäre,
wenn
wir mit jedem Auge etwas anderes ſehen würden, wie
die
Vögel, welche die Augen auf beiden Seiten des Kopfes
haben
.
Entſprechender noch iſt dieſe Kreuzung in den Sehnerven
ſelber
, die wir noch näher kennen lernen werden, und die es
bewirkt
, daß das Sehen mit beiden Augen uns nicht verwirrt,
ſelbſt
wenn wir den Blick auf einen und denſelben Gegenſtand
richten
.
Wir ſehen demnach, daß die mitgebrachte Kamera-Obſcura
nicht
nur gut mit Lenkſeilen verſorgt iſt, ſondern auch mit
einem
guten Kutſcher, der ſich vortrefflich auf die Behandlung
der
Kreuzleine verſteht.
XXIV. Die Stellung der Augen.
Die Stellung des Auges im Kopfe iſt ebenſo merkwürdig,
wie
jeder Teil der Einrichtung desſelben;
denn dieſe Stellung
hat
den beſtimmten Zweck, das Sehen mit beiden Augen nach
einem
Punkte möglich zu machen, uns zugleich aber auch
21886 Fähigkeit zu gewähren, mit jedem einzelnen Auge ein be-
deutendes
Stück hinter uns über die Schulter ſehen zu können,
ſelbſt
wenn wir den Kopf nicht rückwärts drehen.
Darin, daß das Auge ringsum von einem guten, ſtarken
Wall
von Knochen umgeben iſt, liegt ein trefflicher Schutz, um
es
vor Beſchädigungen zu bewahren.
Von oben deckt es ein
ſtarker
Rand des Stirnknochens;
von der Mitte her das Naſen-
bein
und von der Seite die Hervorragung an der Schläfen-
kante
und des Backenknochens.
Das Auge liegt tief genug
zwiſchen
dieſen vorſtehenden Wällen und Dämmen, daß man
ſich
beim Fallen, Stoßen und Anrennen an einen Baum eher
das
halbe Geſicht zerſchlagen und ſchinden, als das Auge
verletzen
kann.
Nur an einer Stelle iſt eine Lücke in dieſen
Schutzmauern
und zwar hart am Augenwinkel an der Schläfe;
hier ragt das Auge vor, und zwar unverkennbar zu dem Zweck,
um
mit dem ſeitwärts gewendeten Auge durch dieſe Lücke ein
tüchtiges
Stück rückwärts über die Schulter ſehen zu können.
Der Bereich unſeres Blickes iſt dadurch außerordentlich
nach
rechts und links erweitert, ohne von ſeinem Hauptzweck,
nach
vorn gerichtet zu ſein, irgend etwas zu verlieren.
Mit ſteifgehaltenem Kopfe können wir unſer Auge nicht ſo
erheben
, daß es hoch über uns nach dem Himmel blicke oder
unter
uns den Fußboden ſehe, wo unſere Füße ſtehen, wohl
aber
vermögen wir nach rechts und links mehr als die Hälfte
des
Umkreiſes zu überblicken.
Richten wir den Kopf aufwärts,
ſo
vermögen wir bei gerader Haltung des Rückens nicht weiter
zu
ſehen, als bis nach dem Scheitelpunkt am Himmel, während
wir
bei Wendung des Kopfes nach rechts und links über die
Schultern
weg rings um den ganzen Erdkreis zu blicken imſtande
ſind
.
Dies rührt daher, daß wir ſeitwärts an den Schläfen jenen
hindernden
Knochendamm nicht haben, den der Stirnrand über
unſerm
Auge bildet.
Die Unterbrechung des Schutzdammes
an
dieſer Stelle iſt alſo eine Erweiterung unſeres Geſichtskreiſes.
21987
Erwägt man dies aber ein wenig näher, ſo merkt man,
daß
es nicht etwa abſichtslos oder zufällig ſo eingerichtet,
ſondern
im vollen Sinne des Wortes zweckentſprechend iſt.
Die hauptſächliche Richtung unſeres Blickes nach vorn
entſpricht
dem Bau unſerer Beine, die zum Vorwärtsgehen
eingerichtet
ſind.
Ein Gleiches findet auch bei allen Landtieren
ſtatt
.
Die Vögel, welche aufwärts fliegen, haben die Augen
ſo
im Kopfe, daß ſie bei ihrem Fluge ebenſo gut nach oben
wie
nach unten ſehen können;
die Augen der Vögel ſtehen an
zwei
Seiten des Kopfes und ſind weder von oben her vom
Rande
des Stirnknochens, noch von unten durch die Backen-
knochen
gedeckt.
Die Fiſche, die im Waſſer gleichfalls nicht bloß
vorwärts
, ſondern aufwärts und abwärts ſteigend ſchwimmen,
haben
ebenfalls die Stellung der Augen ſo, daß ſie die Richtung
ihrer
Bewegungen nach allen Seiten mit Ausnahme der nach
rückwärts
begünſtigt.
Die Tiere, die auf den feſten Grund und
Boden
der Erde gebannt ſind, wie wir Menſchen, die weder nach
der
Tiefe noch nach der Höhe Bewegungen zu machen haben, deren
Augen
ſind ſo in den Kopf eingeſetzt, daß das Gebiet ihres
Blickes
ſich nicht nach der Höhe und der Tiefe, ſondern nach
vorwärts
, rechts und links und ein bedeutendes Stück nach
rückwärts
ausdehnt.
Tiere, die langgeſtreckte Leiber haben, ſo daß der Kopf vorn,
der
Körper nicht unter, ſondern hinter demſelben iſt, wie z.
B.
Pferde, Ochſen u. ſ. w. , haben die Stellung der Augen noch weit
günſtiger
als der Menſch, um zu ſehen, was hinter ihrem
langen
Rücken vorgeht.
Das Pferd, das mit dem Kopf nach
vorn
gerichtet geht, ſchlägt mit dem Schweif nach einer Bremſe,
die
den Hinterſchenkel umſchwärmt, ſieht die Peitſche des
Kutſcher
auf dem Lenkſitz des Wagens.
Die Stellung der
Augen
iſt ſo, daß dieſelben die ganze Länge des Körpers
überwachen
können, und dies iſt ebenfalls nur dadurch möglich,
daß
am Augenwinkel an der Schläfe eine tiefere Lücke
22088 Knochenrand der Augenhöhle iſt, welche dem vortretenden Auge
einen
weiteren Blick rückwärts geſtattet als dem Menſchen, der
keinen
Leib hinter ſich zu überwachen hat.
Wie aber iſt es möglich, daß das Auge ſo weit ſeitwärts
zu
blicken vermag, da doch die Linſe, das eigentlich optiſche
Inſtrument
, tief im Auge liegt, und das, was am Auge her-
vorragt
, nur die mit Waſſer gefüllte Vorkammer iſt?
Die Antwort auf dieſe Frage führt uns wieder auf die
Lehre
von der Brechung der Lichtſtrahlen, auf welche wir uns
hier
nicht, ohne weitläufig zu werden, einlaſſen können, nur ſo
viel
dürfen wir unſeren Leſern verſichern, daß aus dieſer Lehre
von
der Brechung des Lichtes mit aller Entſchiedenheit her-
vorgeht
, wie gerade die Flüſſigkeit der Vorkammer, welche in
einer
Wölbung vor der Linſe des Auges ſich befindet, die
Urſache
iſt, daß Lichtſtrahlen, welche ſonſt die Linſe nicht ge-
troffen
haben würden, jetzt ſo gebrochen werden, daß ſie ins
Auge
gelangen.
Das Waſſer der Vorderkammer, wie die Wölbung
der
vorderſten Glashaut des Auges ſpielt daher eine wichtige
Rolle
bei der Erweiterung des Geſichtsfeldes.
Daher hat der
Fiſch
im Waſſer eine flache Wölbung der glashellen Vorder-
haut
, der Adler in der Luft dagegen eine außerordentlich hohe
Wölbung
derſelben.
So iſt denn das Auge dem Element und
dem
Berufe entſprechend ausgeſtattet und auch zugleich in den
Kopf
eingeſetzt, ſo daß man ſagen muß, die unerreichbar
muſterhafte
Kamera-Obſcura, die wir mitbringen, iſt uns auch
im
Schädel außerordentlich wohl überlegt angebracht worden.
XXV. Die Nerventapete.
Wir haben bisher das Auge nur als bloße Kamera-
Obſcura
betrachtet und uns mit der Wahrnehmung begnügt,
22189 dieſe Kamera-Obſcura viel beſſer, vorteilhafter, vorzüglicher,
zweckentſprechender
gebaut, eingerichtet, verſorgt, geſchützt, gelenkt
und
in ihren Beſtimmungsort eingeſetzt iſt, als man ſich’s nur
denken
kann;
jetzt aber müſſen wir einen Schritt weiter gehen
und
ſagen, daß das Auge als Kamera-Obſcura doch nur ein
unbedeutendes
, untergeordnetes Werk iſt neben der Rolle, die
es
in Wahrheit ſpielt.
Ja, wir dürfen nicht vergeſſen, daß
uns
mit der beſten Kamera-Obſcura in der Augenhöhle nicht
gedient
iſt, ſobald nicht noch etwas da vorhanden iſt, wodurch
wir
das verkehrte Bildchen, welches die Kamera dort hervor-
bringt
, wahrnehmen können.
Auf dieſes Etwas, das ſo eigentlich erſt der wahre Wert
des
Auges iſt, müſſen wir jetzt unſere Aufmerkſamkeit richten,
denn
alles, was wir bisher kennen gelernt haben, iſt nur ein
optiſches
Vorſpiel zum wirklichen Sehen, iſt nur die künſtliche
Zubereitung
der Lichtſtrahlen, damit ſie fähig werden, von dem
eigentlichen
Sehorgan wahrgenommen zu werden.
Und dieſes Etwas iſt der Sehnerv.
Wir wollen uns vorerſt nur ganz oberflächlich mit dieſem
bekannt
machen, da wir recht bald näher auf denſelben werden
eingehen
müſſen.
Zu dieſem Zweck wollen wir uns vorſtellen,
daß
wir die Augenkugel eines weißen Kaninchens vor uns
haben
, an welchem wir, wie bereits erwähnt, an der halb
durchſichtigen
Hinterwand das umgekehrte Bildchen aller Gegen-
ſtände
ſehen können, die ſich vor dem Auge befinden.
Denken
wir
uns hierzu, daß wir das Kaninchen ebenfalls vor uns
haben
, dem die Augenkugel aus der Augenhöhle herausgenommen
worden
iſt, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß auch jetzt
Licht
in die offenſtehende Augenhöhle eindringt;
allein von
dieſem
Licht hat das Kaninchen ſo wenig Empfindung, ſo wenig,
wie
wir bei feſt verbundenen Augen nicht die mindeſte Em-
pfindung
haben, wenn wir aus einem hellen in einen finſtern
Raum
, oder umgekehrt gebracht werden.
22290
Bleibt aber das volle wirkliche Tages- und Sonnenlicht,
das
in die Augenhöhle des Kaninchens dringt, ganz ohne
Wirkung
auf dasſelbe, ſo muß man ſich die Frage vorlegen,
was
hat es denn dem Kaninchen genützt, als es früher die
unverletzte
Kamera-Obſcura in der Augenhöhle ſitzen hatte, und
hierdurch
dort ein Bildchen von der Welt draußen exiſtierte?
Die Antwort auf dieſe Frage giebt die Naturforſchung
mit
vollſter Beſtimmtheit in folgendem.
Von dem Gehirn des Kaninchens geht bis zur Augenkugel
ein
ziemlich dicker Nervenfaden.
Dieſer Nervenfaden dringt in
die
Kugel ein und breitet ſich dort tapetenartig an der innern
Hinterwand
des Auges aus, ſo daß das Bildchen, welches wir
am
Auge des Kaninchens ſehen, wirklich auf die hintere, äußerſt
merkwürdige
Nerventapete fällt.
Solange nun dieſe Nerven-
tapete
, welche man wiſſenſchaftlich die Netzhaut des Auges
nennt
, in Verbindung mit dem Gehirn ſteht, ſolange alſo der
Nervenfaden
unverletzt iſt, ſolange hat das Gehirn eine
Empfindung
und ein Bewußtſein von dem Bildchen, welches
auf
der Nerventapete exiſtiert, und dieſes Empfinden des
Bildchens
auf der Tapete nennt man eben:
Sehen. Sobald
jedoch
der Nervenfaden verletzt oder gar durchſchnitten iſt,
nützt
das Bildchen in der Augenhöhle und auf der Nerven-
tapete
zu gar nichts, wenn auch das Auge ſelbſt, die Kamera-
Obſcura
, vollkommen unverletzt iſt.
Wie mit dem Kaninchen, ſo iſt es auch mit dem Menſchen
der
Fall.
Ein vom Gehirn ausgehender Nerv läuft in die
Hinterwand
der Augenkugel hinein;
dort verwandelt ſich dieſer
Nerv
in eine äußerſt merkwürdige Tapete, welche die Hinter-
wand
inwendig austapeziert, ſo daß dieſe Tapete becherartig
den
bereits bekannten Glaskörper einſchließt.
Das Kamera-
Obſcura-Bildchen
des Auges entfteht eben auf dieſer merk-
würdigen
Nerventapete, und nur dadurch erfährt das Gehirn
durch
den Nervenfaden, daß da draußen außerhalb des
22391 und des Körpers Dinge vorhanden ſind, die dieſen Eindruck
auf
die Nerventapete hervorbringen.
Im vollen Sinne des Wortes muß man daher ſagen,
daß
das Gehirn einen Nervenfaden als Boten ausſendet, um
ſich
in einer Höhle, wo Licht von der Außenwelt eindringen
kann
, kelchartig auszubreiten;
dieſer kelchartig ausgebreitete
Nerv
findet an dieſer Stelle ein Werkzeug, welches ganz wie
unſere
künſtliche Kamera-Obſcura iſt, alſo nur das Mittel, um
die
Lichtſtrahlen von außen her zu einem Bildchen zu ordnen,
und
zwar zu ordnen, damit die merkwürdige Nerventapete einen
richtigen
und der Außenwelt entſprechenden Eindruck erhalte,
von
welchem der Nervenfaden dem Gehirn Bericht zu er-
ſtatten
hat.
Wir ſehen hiernach, daß das, was wir bisher ſo ſehr am
Auge
bewundert haben, doch nur ein dienſtbarer Teil jener
merkwürdigen
Nerventapete iſt, für welche er das Licht von
außen
her der Wirklichkeit entſprechend zu orduen hat.
Wenn
aber
dieſer dienſtbare Teil ſchon ſo zweckentſprechend und
vorteilhaft
nach allen Geſetzen der Lehre vom Licht, welche die
Menſchen
durchforſcht haben, eingerichtet iſt, ſo haben wir
Urſache
, zu ſchließen, daß in dieſer Nerventapete, von der wir
noch
ſprechen werden, viel, unendlich viel ſteckt, was wir nicht
ahnen
, und deren Vorzüglichkeit wir nur darum nicht zu
ſchätzen
wiſſen, weil wir Menſchen noch nichts erfunden haben,
das
dieſem vergleichbar wäre.
Denn ſo ſind wir klugen
Menſchen
einmal:
wir lernen durch neue Erfindungen immer
erſt
begreifen, was wir von Alters her beſitzen, ohne es zu
verſtehen
.
XXVI. Die Feinheit der Nerventapete.
Eine Deutlichkeit der Empfindung iſt nur dann möglich,
wenn
man imſtande iſt, dem Gefühle nach mit
22492 die Stelle zu beurteilen, wo irgend etwas auf unſere Haut
einwirkt
.
Dies aber iſt, wie wir ſogleich ſehen werden, bei unſerer
Haut
durchaus nur in ſehr beſchränktem Grade der Fall.
Man hat über die ſehr verſchiedenartige Sicherheit unſerer
Hautempfindungen
folgende intereſſante Verſuche gemacht.
Stellt man zwei Spitzen eines kleinen Zirkels einen und
einen
halben Centimeter weit auseinander, und ſetzt beide
Spitzen
auf den Nacken eines Menſchen und fragt ihn, was er
empfinde
;
ſo wird er antworten, daß er einen Stich, aber nur
einen
fühlt.
Dies iſt ein Beweis, daß unſer Nacken ſo wenig
feines
Gefühl hat, daß man nicht zwei Stiche von einem zu
unterſcheiden
weiß, ſobald dieſelben nur einen halben Zoll weit
von
einander entfernt ſind.
Erſt wenn man die Zirkelſpitzen
faſt
einen ganzen Zoll weit auseinander ſtellt, erſt dann fühlt
man
am Nacken, daß zwei verſchiedene Stellen geſtochen werden.
An den Schenkeln, und zwar an den magern Stellen derſelben,
iſt
das Gefühl noch weniger klar;
man muß die Zirkelſpitzen
mehr
als anderthalb Zoll weit auseinander bringen, um beim
Stechen
die Empfindung beider Stiche erkennbar zu machen.

Am
Rücken iſt die Haut ſo ſchwach im Unterſcheiden des Ein-
drucks
, daß man den Zirkel bis über zwei Zoll öffnen muß,
um
zwei Stiche empfindbar zu machen.
Dafür aber iſt man an anderen Teilen des Körpers bei
weitem
beſſer dran.
A@ der Backe empfindet man ſchon beide
Spitzen
des Zirkels, wenn er nur ein drittel Zoll geöffnet.
Am
Endteil
der großen Zehe genügt ſchon ein viertel Zoll Ent-
fernung
der Zirkelſpitzen von einander, um ſie zwiefach zu
empfinden
.
An den Augenlidern iſt es ebenſo, an den Lippen
iſt
das Gefühl noch feiner;
man unterſcheidet ſchon die zwei
Zirkelſpitzen
, wenn ſie auch nur eine Linie, ein zwölftel Zoll
weit
, auseinander ſtehen.
Das feinſte Gefühl ſitzt an der Taſt-
ſtelle
des Zeigefingers und an der Zungenſpitze, wo eine
22593 Linie Zwiſchenraum zwiſchen den zwei Zirkelſpitzen hinreicht,
um
beide Spitzen empfinden zu laſſen.
Denken wir uns nun, daß man die Empfindlichkeit einer
dazu
eingerichteten Hautſtelle für Lichteindrücke außerordent-
lich
groß machen könnte, ſo wird unſer Urteil über das, was
wir
empfinden, ſtets davon abhängig ſein, daß wir genau
die
Stellen, an welchen wir etwas empfinden, zu unterſcheiden
wiſſen
.
An Stellen, wo wir den Stich zweier Zirkelſpitzen als
Einen
empfinden, wenn ſie auch zollweit von einander ab-
ſtehen
, würden wir ein Zoll großes Bildchen der Kamera-
Obſcura
als Licht, aber nicht als Bildchen empfinden, denn
zum
Erkennen des Bildchens würde eben gehören, daß wir
jeden
Teil desſelben an jeder Stelle richtig empfinden.
Man
könnte
alſo nur jene Stellen zur Einwirkung der Licht-
empfindungen
wählen, welche ein feines Unterſcheidungsgefühl
haben
, und unſere künftige Erfindung würde beſtenfalls an eine
Fingerſpitze
angebracht werden, da man die Zungenſpitze doch
zu
anderen Dingen noch brauchen muß.
Da aber auch die Fingerſpitzen nur dann ein richtiges
Urteil
von den Eindrücken gewähren, ſobald dieſe eine halbe
Linie
weit von einander entfernt ſind, ſo wird von einer Em-
pfindung
feiner Lichteindrücke gar nicht die Rede ſein können.
Eine mäßige Kamera-Obſcura, wie ſie unſere Photographen
brauchen
, zeigt in üblicher Entfernung von vier Schritt unge-
fähr
ein zwanzigmal kleineres Bild, und ſomit wird ein
Menſchengeſicht
bei vier Schritt Entfernung von der Kamera-
Obſcura
ſchon ein ſo großes Bildchen auf der matten Scheibe
und
auch auf der lichtempfindlichen Fingerſpitze geben, daß man
über
die einzelnen Teile des Geſichts ein ungefähres Urteil
hätte
, und das wäre viel, ſehr viel, wäre ſchon eine ungeheuere
Erfindung
.
Dagegen würde ſchon ein ganzer Menſch auf eine
Entfernung
von vierzig Schritt unfühlbar werden, da das
Bildchen
der Kamera durch dieſe Entfernung zu klein
22694 um auf einer Fingerſpitze erkennbare, unterſcheidende Eindrücke
zu
machen.
Vergleichen wir nun dieſe noch gar nicht gemachte, eigent-
lich
ganz phantaſtiſche Erfindung mit dem wirklichen Auge,
oder
richtiger:
vergleichen wir die ſchärfſte Empfindlichkeit einer
Fingerſpitze
mit der Lichtempfindlichkeit unſerer Nerventapete
des
Auges, ſo haben wir tauſendfältige Urſache, uns zu freuen,
daß
wir nicht im Sehen auf künftige Menſchenerfindungen an-
gewieſen
ſind.
Das Kamera-Obſcura-Bildchen in unſerm Auge iſt ſehr
klein
.
Wenn der Leſer dieſes Buch, das er eben vor ſich hat,
circa
8 Zoll vom Auge entfernt, alſo in der natürlichen Leſe-
Entfernung
hält, ſo entſteht in ſeinem Auge, und zwar auf
deſſen
Nerventapete, ein Kamera-Obſcura-Bildchen von dieſem
Buche
.
In dieſem Bildchen iſt eine ganze Zeile ſo klein, daß
ſie
nur ein ſechſtel Zoll einnimmt.
Da aber in einer Zeile an
fünfzig
Buchſtaben ſtehen, ſo iſt jeder Buchſtabe auf der Nerven-
tapete
des Auges nur ein dreihundertſtel Zoll breit, gleichwohl
ſehen
wir nicht nur jeden Buchſtaben deutlich, ſondern wir
ſehen
auch die gar nicht mitgerechneten Zwiſchenräume und
können
ein 150mal feineres Haar deutlich erkennen.
Die Nerven-
tapete
im Auge iſt alſo ſo fein in ihrer Empfindung, daß ſie
vom
kleinſten, feinſten Bildchen, welches auf ihr entſteht,
richtigen
Rapport zum Gehirn bringt, während unſere feinſte
Haut
an den Fingerſpitzen irrig urteilt, ſobald die Eindrücke
nicht
in halben Linien ({1/24} Zoll) von einander abſtehen.
Mit
einem
Worte:
die Nerventapete iſt nachweisbar mindeſtens
tauſendmal
feiner in Auffaſſung ihrer Empfindungen als die
Fingerſpitze
!
22795
XXVII. Die Beſchaffenheit der Nerven-Tapete.
Es iſt nicht ſowohl die Empfindlichkeit und Empfänglich-
keit
für Lichteindrücke, welche die Nerventapete auszeichnet, die
die
Hinterwand des Auges bildet, ſondern das Bewunderungs-
würdigere
iſt, daß der Lichteindruck von jedem kleinſten Teilchen
dieſer
Tapete abgeſondert und erkennbar bis zum Gehirn ge-
leitet
wird.
Eine feine, kleine Milbe, welche wir noch recht deutlich
ſehen
können, iſt für unſer Auge in verſchiedenen Teilen er-
kennbar
.
Wir unterſcheiden Kopf, Leib, Hinterteil und Füße
ſehr
genau von einander.
Nun aber iſt dies nur dadurch der
Fall
, weil auf der Hinterwand unſerer Augenkugel, wo der
Sehnerv
ſich ausbreitet, ein verkehrtes Bildchen dieſer Milbe
ſtattfindet
.
Dieſes Bildchen iſt, wenn wir die Milbe in einem
Abſtand
von acht Zoll vom Auge, alſo in der gewöhnlichen
Sehweite
betrachten, an 216mal kleiner als die Milbe in Wirk-
lichkeit
iſt.
Die ganze Milbe nimmt alſo auf der Nerventapete
des
Auges nur ein äußerſt feines Pünktchen ein.
Da wir aber
trotzdem
die Teile der Milbe erkennen und ihre Gliederung
deutlich
ſehen, ſo iſt es klar, daß von den feinſten Pünktchen
der
Nerventapete eine Unzahl geſonderter Rapporte zum Ge-
hirn
abgehen und auf dem engſten Raume alſo Vor-
richtungen
vorhanden ſein müſſen, welche es verhindern, daß
wir
nicht wie beim Taſten zwei nahe Eindrücke für einen ein-
zigen
halten.
Man hat ſich unendliche Mühe gegeben, um dieſe Vor-
richtungen
genauer kennen zu lernen, iſt jedoch bisher nicht
weiter
gekommen, als bis zu einer ſorgfältigen Unterſuchung
des
Baues der Nerventapete und zu wahrſcheinlichen Ver-
mutungen
über die Art ihrer Wirkſamkeit.
Die Unterſuchungen hierüber von H. Müller zeigen, daß
dieſe
Tapete kurz nach dem Tode eines Tieres nur als
22896 weiche, äußerſt durchſichtige Schicht erſcheint, welche ſich kaum
von
dem Glaskörper merkbar unterſcheidet.
Sie nimmt jedoch
ſchnell
eine milchweiße Farbe an, die ſie kenntlicher macht, ohne
indeſſen
dem bloßen Auge einen beſonderen Bau zu verraten.
Unterſucht man indeſſen die Schicht, welche man mit dem
Namen
Retina” (Ton auf der erſten Silbe) oderNetzhaut”
bezeichnet
, genauer durch die vorzüglichſten Vergrößerungs-
gläſer
, ſo findet man ſie aus nicht weniger als fünf verſchiedenen
Schichten
beſtehend, die ganz außerordentlich merkwürdige
Formen
darbieten.
Die Hauptſchicht iſt faſernartig und ſieht wie eine Aus-
breitung
und feine Verteilung des dicken Nervenfadens aus,
der
vom Gehirn zum Auge geht.
Dieſe Schicht iſt nach hinten
zu
von einer feinen Grenzſchicht umkleidet, die ein weniger
intereſſantes
Gebilde zu ſein ſcheint.
Auf der Faſerſchicht aber
zeigen
ſich drei eigentümliche Gebilde, denen man es anmerkt,
daß
ſie etwas zu bedeuten haben.
Daß all’ dies äußerſt fein und ungeheuer klein iſt, brauchen
wir
nicht erſt nochmals zu ſagen, wenn wir daran erinnern,
daß
man mit bloßem Auge auch nicht die leiſeſte Spur hiervon
ſieht
, und alle Schichten nur wie ein ſehr feines, milchweißes
Häutchen
erſcheinen.
Daß ferner die bisherigen Unterſuchungen
noch
immer nicht als die letzten angeſehen werden dürfen,
werden
unſere Leſer uns glauben, da es eine bekannte That-
ſache
iſt, daß gerade in der Naturwiſſenſchaft ſich das Wort
bewahrheitet
:
ſuchet, ſo werdet Ihr finden. Je mehr man
ſucht
, je vorzüglicher die Mittel des Suchens, das Mikroſkop
und
das Fernrohr, geworden ſind, deſto mehr hat man bisher
immer
noch gefunden.
Daß die nähere Unterſuchung das
Rätſel
oft noch weiter verwickelt als löſt, davon überzeugt man
ſich
, wenn man ſieht, wie die Naturwiſſenſchaft immer erſt mit
der
fortſchreitenden Erkenntnis hinter die Größe der Auf-
gabe
kommt, die ſie zu löſen ſucht.
22997
XXVIII. Einige Verſuche.
Aus der ſehr großen Reihe der Unterſuchungen über die
Beſchaffenheit
der merkwürdigen Nerventapete wie der Ver-
ſuche
über ihre Wirkungen wollen wir einige belehrende und
intereſſante
Thatſachen in Kürze vorführen.
Im Mittelpunkt der Nerventapete, dort, wo ſich die
Strahlen
des Lichtes, das von außen eindringt, zum klarſten
Bildchen
vereinigen, entſteht bald nach der Geburt des Menſchen
ein
kleiner, gelber Fleck, der von einer feinen Falte umgeben
iſt
.
In der Mitte des Fleckes befindet ſich eine ſehr dünne
Stelle
, die ſo ausſieht, als ob hier ein Loch wäre, was aber
keineswegs
der Fall iſt.
Die Unterſuchung hat gelehrt, daß an dem gelben Fleck
das
ſchärfſte Sehen und das allerſchärfſte an der dünnen Stelle
ſtattfindet
.
Dieſe Wahrnehmung hat nun, wie ſich’s denken
läßt
, Veranlaſſung gegeben, den Bau dieſer Stelle aufs ſorg-
fältigſte
kennen zu lernen;
es ſind infolgedeſſen auch Unter-
ſchiede
zwiſchen dieſen Stellen und dem übrigen Bau der
Nerventapete
aufgefunden worden, die beſonders darin beſtehen,
daß
dieſe Stelle faſt nur aus lichtempfindenden Stäbchen be-
ſteht
, während die andern Gebilde der Netzhaut mehr zurück-
treten
, was ſomit die große Rolle der Stäbchen für die Wahr-
nehmung
des Lichtes beweiſt.
Die Nerventapete iſt auch von einem ſehr feinen Netz von
Adern
durchwebt, denn ſie bedarf, wie jedes Gebilde des
Körpers
, das zur Bewegung oder Empfindung dient, der Er-
nährung
und Erneuerung durch das Blut.
Bei ſtarkem Blut-
andrang
nach dem Kopfe kommt der Fall vor, daß ſolch ein
feines
Blutgefäßchen an einer Stelle berſtet und ein wenig
Blut
austreten läßt, welches das Sehen verhindert oder zu-
weilen
nur momentweiſe ſtört, ſo daß der Patient vermeint,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIII.
23098
verwirrende Schattenbilder vor ſeinem Auge flimmern und
flattern
zu ſehen.
Die Augenheilkunde hat nicht wenig mit
Leidenden
dieſer Art zu thun;
ſeitdem jedoch der Augenſpiegel
im
Gebrauch iſt, hat man ein treffliches Mittel, dieſen Zuſtand
und
ſeine Urſache zu unterſuchen, wie wir es bereits früher
unſern
Leſern mitgeteilt haben.
Durch einen leichten Verſuch kann man es dahin bringen,
daß
man die Nerventapete des eigenen Auges ſehen und zu-
gleich
das baumartige Netz der Adern darin wahrnehmen kann.
Wenn man im Finſtern ein brennendes Licht vor dem unbe-
weglich
gehaltenen, offenen Auge ſchnell im Kreiſe herumbewegt,
und
zwar derart, daß man das Licht bald vor dem Munde,
bald
vor der Stirne vorüberführt, ſo glaubt man eine unendlich
große
, lichte Scheibe vor ſich zu ſehen, in welcher baumartige,
dunkle
Verzweigungen ihr Netz ausbreiten.
Man glaubt dieſes
außerhalb
des Auges wahrzunehmen, während es nichts iſt,
als
ein Reiz, der im Auge empfunden wird.
Die lichte Scheibe,
die
man ſieht, iſt nur die im Auge vom kreiſenden Licht in
allen
Teilen beleuchtete und deshalb gereizte Nerventapete;
das
dunkle
, baumartige Netz, das man zu ſehen glaubt, iſt nur das
Gezweige
der Adern, welche die Nerventapete durchziehen, die
dieſe
Stellen vor dem Reiz des kreiſenden Lichtes ſchützen, und
die
demnach als unbeleuchtete, dunkle Streifen im lichten Felde
erſcheinen
.
Die Erklärung dieſer Erſcheinung iſt eben ſo einfach wie
die
Lehre, die man hieraus ziehen kann.
Die Kinder wiſſen
es
ſchon, daß man einen feurigen Kreis vor ſich ſieht, wenn
man
einen glimmenden Span ſchnell im Kreiſe herumſchwingt.
Der Kreis rührt nur daher, daß das lichte Bildchen des
glimmenden
Spanes im Auge gleichfalls einen Kreis auf der
Nerventapete
beſchrieben und dadurch einen Reiz auf dieſelbe
ausgeübt
hat, der ſich nicht ſchnell verliert.
Ganz ſo, wie der
glimmende
Span eine Kreislinie auf der Nerventapete
23199 hat, ganz ſo hat das herumfahrende, brennende Licht auf die
ganze
Nerventapete den Reiz ausgeübt, der nicht ſofort ver-
ſchwindet
, und deshalb haben wir einen den ganzen Geſichts-
kreis
umfaſſenden Lichtreiz im Auge, welcher den Eindruck
einer
lichten, ungeheuren Scheibe vor uns macht, auf welcher
nur
die Streifen dunkel erſcheinen, welche im Auge wirklich
unbeleuchtet
geblieben ſind.
Die Lehre, die wir hieraus
entnehmen
, iſt eben ſo einfach folgende:
Alles, was einen Reiz
auf
die Nerventapete ausübt, ruft eine Lichterſcheinung in uns
hervor
, deren Urſache wir außerhalb des Auges zu ſehen meinen,
ſelbſt
, wenn ſie dort nicht exiſtiert.
Dies bewirkt es, daß ein
Schlag
aufs Auge, der die Nerventapete reizt, den Eindruck
von
Flammen macht, welche wir vor dem Auge zu ſehen
glauben
, daß elektriſche Reize am Auge als Blitze vor dem-
ſelben
erſcheinen, daß Fieberkranke, deren erhöhter Blutumlauf
einen
verſtärkten Reiz im Gehirn und im Auge zugleich hervor-
bringt
, phantaſtiſche Vorſtellungen bekommen und zugleich
phantaſtiſche
Bilder wahrnehmen, die ſie wirklich vor ſich zu
ſehen
glauben.
Weitere Verſuche haben gezeigt, daß unweit von dem er-
wähnten
gelben Fleck, wo das ſchärfſte Sehen ſtattfindet, eine
Stelle
in der Nerventapete iſt, die ganz unempfindlich iſt für
das
Licht.
Es iſt dies die Stelle, wo der Augennerv herein-
tritt
in die Augenkugel, um von da aus ſich als Tapete über
die
Hinterwand zu verbreiten.
Da an dieſer Stelle die Faſer-
ſchicht
vorhanden iſt und nur die weitern Schichten fehlen, ſo
hat
man mit Recht hieraus den Schluß gezogen, daß die
Nervenfaſern
allein nicht zum Sehen ausreichen, ſondern die
über
die Faſerſchicht ausgebreiteten, weiteren Schichten, wie
wir
bereits erwähnt haben, die eigentliche Lichtempfindlichkeit
beſitzen
.
Man kann ſich durch einen ſehr einfachen Verſuch von der
Exiſtenz
dieſer unempfindlichen Stelle im eigenen Auge
232100 zeugen; zu dieſem Zweck ſetzen wir hier drei ſchwarze Punkte
her
;
die wir durch a, b und c bezeichnen:
11[Figure 11]a b c
Der Leſer ſchließe das linke Auge und blicke mit dem
rechten
Auge von ferne auf den Punkt a;
er wird nicht nur
dieſen
, ſondern auch, ohne den Blick von a abzuwenden, die
beiden
andern Punkte ſehen;
nun aber bringe man das Buch
dem
Auge langſam näher, wobei man ſtets nur auf den Punkt
a
direkt ſieht, und man wird bald bemerken, daß der Punkt c
unſichtbar
wird.
Fährt man fort, das Buch dem Auge zu
nähern
, ſo wird der Punkt c wieder ſichtbar, während bald
bei
weiterem Nähern der Punkt b verſchwindet.
Will man
den
Verſuch mit dem linken Auge machen, ſo muß man das
rechte
ſchließen, und den Blick auf den Punkt c, ſtatt auf den
Punkt
a richten, und man wird dieſelben Erſcheinungen haben.
12[Figure 12]Fig. 7.
Für Manche wird der Verſuch mit den drei Punkten die
beſchriebene
Erſcheinung bequem demonſtrieren, Andere werden
diesbezüglich
beſſer durch Benutzung der Fig.
7 fahren, bei der
das
kleine Kreuz mit dem rechten Auge nach Schluß des linken
anzublicken
iſt:
das Verſchwinden des mächtigen, ſchwarzen
Fleckes
, ſobald die Entfernung des Auges etwa 20 cm beträgt,
iſt
hier höchſt auffallend.
233101
Der Grund hiervon liegt darin, daß, wenn man mit dem
rechten
Auge auf den Punkt a (reſp.
auf das kleine Kreuz)
blickt
, das Bild dieſes Punktes gerade in den gelben Fleck der
Nerventapete
fällt.
Unweit von dieſem Fleck nach der Naſe zu
iſt
aber jene unempfindliche Stelle, nähert man nun das Buch
dem
Auge, ſo fällt erſt das Bildchen des Punktes c auf dieſe
Stelle
, und man ſieht ihn nicht.
Bei weiterem Nähern des
Buches
verläßt der Punkt c dieſe Stelle und wird wieder
ſichtbar
, während das Bildchen des Punktes b (reſp.
der große
ſchwarze
Fleck) dann auf die Stelle tritt und deshalb nicht ge-
ſehen
wird.
XXIX. Weshalb wir nicht verkehrt ſehen.
Es wird ſich wohl ſchon jedem unſerer Leſer die Frage
aufgedrängt
haben:
woher kommt es, daß wir die Gegenſtände
aufrecht
und richtig ſehen, da wir ja eigentlich durch die Ein-
wirkung
des Nerven nur jenes verkehrte Bildchen wahrnehmen,
welches
auf der Nerventapete des Auges entſteht?
Dieſe Frage iſt ſeit der Zeit, daß man den wahren Bau
des
Auges kennen gelernt hat, unendliche Male aufgeworfen
und
mit größter Ausführlichkeit behandelt worden.
Keine der
Antworten
aber hat hingereicht, die Frage ein für allemal ab-
zuthun
, weil es keine unumſtößlichen naturwiſſenſchaftlichen
Beweiſe
giebt, durch welche Antworten und Erklärungen derart
über
allen Zweifel erhoben werden können.
Die natürlichſte Erklärung dieſer Erſcheinung liegt unſeres
Erachtens
in der Thatſache, daß wir die Welt nie anders als
mit
unſern Augen geſehen haben.
Daraus, daß zufällig auf
der
Netzhaut des Auges alle Bilder der erblickten Gegenſtände
auf
dem Kopf ſtehen, folgt ja doch noch keineswegs, daß
234102 unſre Empfindung eine verkehrte ſein muß. Die Begriffe von
oben
, unten, rechts und links entſtehen ja im Kinde erſt lange
Zeit
, nachdem es ſehen und nach den Dingen greifen gelernt hat.
Die Erfahrung, daß die Dinge, von denen man ein Bildchen
im
Auge empfindet, vor dem Auge und außerhalb desſelben
exiſtieren
, dieſe Erfahrung machen wir ſchon in einem ſo frühen
Alter
, daß wir uns in ſie ganz einleben und gar nicht mehr
wiſſen
, daß hierbei etwas in unſerem Auge vorgeht.
Da uns
aber
dieſelbe Erfahrung vom Beginn unſeres wirklichen Sehens
und
Urteilens an gelehrt hat, daß Dinge, deren Lichtſtrahlen
wir
oben auf der Nerventapete empfinden, in Wahrheit außer-
halb
des Auges und unten exiſtieren, daß ein Reiz, der links
auf
unſere Nerventapete einwirkt, von außerhalb des Auges
herrührt
und von rechts herkommt, und dieſe Erfahrung ſo
weit
geht, daß wir ſehen, ohne zu wiſſen, was in unſerem
Auge
hierbei vorgeht, ſo iſt es gar kein Wunder, daß wir
rechts
, links, oben und unten nach der unausgeſetzten Erfahrung
beurteilen
und nicht nach der Stellung des Bildchens auf unſerer
Nerventapete
, an die wir ja ohnehin beim Sehen gar nicht
denken
, ſelbſt wenn wir davon etwas wiſſen.
Welche Rolle die Erfahrung und die Gewohnheit über-
haupt
bei unſerem Auge ſpielt, das kann man durch mannig-
fache
Beiſpiele zeigen.
Die Mikroſkope und die aſtronomiſchen
Fernröhre
zeigen alle Gegenſtände verkehrt, ganz ſo wie die
Kamera-Obſcura
.
In der erſten Zeit der Benutzung ſolcher
Inſtrumente
verurſacht dies auch wirklich mannigfache Ver-
wirrung
und Unſicherheit im Gebrauch;
bei weiterer Übung ge-
wöhnt
ſich aber der Naturforſcher ſo daran, daß er alle Hand-
griffe
ſo, wie ſie ſein Inſtrument erfordert, das heißt, verkehrt
macht
, und bald geſchieht dies ohue alles Beſinnen, faſt möchte
man
ſagen, ohne es zu merken.
Noch entſchiedener kann man
dies
bei geübten Photographen bemerken, die ſich derart an das
verkehrte
Bildchen der Kamera-Obſcura gewöhnen, daß ſie
235103 Photographieren die Begriffe von rechts, links, oben und unten
ganz
anders faſſen als ſonſt im Leben.
Ordnet ſich aber ſchon
in
ſolchen Fällen die Anſchauung der Gewohnheit unter, ſo
muß
dies um ſo mehr der Fall beim Gebrauch unſerer Augen
ſein
, wo wir nie im Leben eine andere Erfahrung machen
und
von der früheſten Kindheit an dieſe Art der Vorſtellungen
gewöhnt
ſind.
Es ſpielt hierbei aber noch etwas eine Rolle, was wir
nicht
außer acht laſſen wollen.
Es iſt wahr, daß wir eigentlich nicht die Welt draußen
ſehen
, ſondern nur die Empfindung derſelben durch das ver-
kehrte
Bildchen auf der Nerventapete des Auges wahrnehmen;
allein obgleich dies Bild verkehrt iſt, bewirkt doch die Bewe-
gung
des Auges eine richtige Vorſtellung von oben und unten,
von
rechts und links.
Wir haben nämlich bei der Bewegung
des
Auges das richtige Gefühl, daß wir es bewegen, und
ebenſo
haben wir von der Richtung, in welcher wir das Auge
bewegen
, eine richtige Vorſtellung.
Wir wiſſen es ganz gut,
auch
wenn wir die Augen ſchließen, ob wir ſie nach rechts oder
links
, nach oben oder unten bewegen.
Nun aber haben wir
bereits
unſern Leſern gezeigt, daß dieſe Bewegung des Auges
eigentlich
nur ein Rollen oder Herumwälzen der Augenkugel
iſt
.
Wollen wir das Auge aufwärts bewegen, ſo ziehen wir
den
obern Augenmuskel zuſammen und richten ſo die vordere
Kugelfläche
des Auges nach oben.
Hierbei geht freilich die
hintere
Fläche des Auges ſamt der Nerventapete abwärts;

allein
davon merken wir nichts.
Wir wiſſen nur, daß wir den
obern
Muskel bewegen, daß wir die vordere Fläche nach oben
gerichtet
haben;
es iſt alſo ganz natürlich, daß wir alles, was
wir
dadurch zu ſehen bekommen, als oben exiſtierend bezeichnen.

Und
da die Erfahrung von Jugend auf hiermit übereinſtimmt
ſo
bilden ſich unſere Begriffe hiernach aus, und wir nennen
oben
alles, was dort exiſtiert, was wir ſehen, wenn wir
236104 oberen Augenmuskel bewegen. Ganz ſo geht es uns mit rechts
und
links und unten.
Wir ſpüren die Bewegung des Mus-
kels
und die vordere Drehung des Auges, während wir von
der
hintern entgegengeſetzten Drehung nichts merken;
es iſt alſo
ganz
natürlich, daß wir die Gegenſtände, die wir zu ſehen be-
kommen
, nicht nach der Richtung verſetzen, wohin wir die un-
ſpürbare
Nerventapete drehen, ſondern nach der Gegend, wohin
wir
den Muskel und die vordere Fläche des Auges ſich be-
wegend
fühlen.
Alle dieſe Erklärungen und noch viele andere haben
etwas
für ſich;
möglicherweiſe wirken ſie zuſammen; jedenfalls
aber
iſt die Sache ganz richtig, auch wenn wir klugen
Menſchen
es nicht erklären können;
denn es iſt wahr und die
Wiſſenſchaft
lehrt es uns, daß eine größere Portion Scharfſinn
in
der Augeneinrichtung des einfältigſten Kindes ſteckt, als in
allen
Mikroſkopen, Fernröhren, Kamera-Obſcuren und allen
dicken
Büchern all’ unſerer bisherigen Gelehrſamkeit.
XXX. Zwei Augen und ein Bild.
Giebt ſchon ein Auge ſo unendlich reichen Stoff zum Nach-
denken
und Nachforſchen, ſo brauchen wir wohl nicht erſt zu
ſagen
, daß die Exiſtenz von zwei Augen ein ganz beſonderer
Gegenſtand
der Betrachtung iſt.
Daß der Menſch und gleich ihm eine große Reihe von
Tieren
mit zwei Augen verſorgt iſt, weiß jeder;
den Natur-
forſchern
iſt es auch bekannt, daß es Tiere giebt, die mehr als
zwei
Augen beſitzen.
Spinnen haben acht, Blutegel zehn
Augen
, und wahrſcheinlich nicht zum Luxus, ſondern weil ſie
ihrer
bedürfen, wenngleich wir nicht ſo klug ſind, ſagen zu
können
, wozu dieſer Augenreichtum ihnen dient.
Jedoch
237105 ſchöpfe mit Einem Auge giebt es nicht, trotzdem es uns Menſchen
ſo
ſcheint, als ob Ein Auge hinreichend wäre, ſeinen Zweck zu
erfüllen
.
Bedenkt man, daß es viele durch Erblinden einäugig ge-
wordene
Menſchen giebt, die ganz gut im Leben fertig werden,
ſo
möchte man in der That meinen, daß zwei Augen zwar das
Geſichtsfeld
nach den Seiten hin erweitern, allein zum Sehen
ſelbſt
unnötig wären.
Allein eine gründliche Unterſuchung
dieſes
Themas hat bisher noch immer dahin geführt, daß dem
nicht
ſo ſei.
Es herrſcht ein ſo inniges Zuſammengehören zwiſchen
beiden
Augen, daß man ſie wie eine Zwillingsfrucht auf einem
Stengel
betrachten kann.
Wenn beide Früchte ſich ausgebildet
haben
, dann kann eine davon genommen werden, ohne daß die
andere
ſofort darunter leidet;
allein ehe ſie ausgebildet ſind,
beherrſcht
ein gemeinſamer Trieb das Wachstum und die Bil-
dung
beider, und die eine entſteht nicht, ſobald die andere zu
entſtehen
verhindert iſt.
Dieſes innige Zuſammengehören, das wir durch zwei
Früchte
eines Triebes deutlich zu machen ſuchen, giebt ſich in
ſehr
hohem Maße zu erkennen, und zwar durch gewöhnliche
Wahrnehmungen
, wie durch tiefer gehende Betrachtungen.
Die gewöhnliche Wahrnehmung, daß wir mit zwei Augen
dennoch
einfach ſehen, iſt ſchon an ſich hinreichend darzuthun,
wie
beide Augen ſich gegenſeitig im Sehen unterſtützen.
Die
Thatſache
aber, daß wir gezwungen ſind, mit beiden Augen
nach
einem Gegenſtande hinzublicken, und nur künſtlich oder in
krankhaften
Bildungen oder Zuſtänden ſchielen, dieſe Thatſache
zeigt
, daß die Tendenz zum gleichen Sehen mit beiden Augen
im
Bau der Augen, im Prinzip derſelben, wie man zu ſagen
pflegt
, liegt.
Wie dies ſo ganz eigentümlich zuſtande kommt, haben wir
bereits
bei der Bewegung der Augen durch die Muskeln
238106 wähnt. Die beiden Kamera-Obſcuren, die wir an beiden
Seiten
des Kopfes beſitzen, ſind, wie bereits angegeben, ge-
wiſſermaßen
wie ein Geſpann von zwei Pferden geleitet.

Hier
haben wir es nicht ſowohl mit der Bewegung, ſondern
mit
dem Sehen der Augen zu thun, und da müſſen wir uns
die
Sache ein wenig deutlicher machen, obgleich dies nicht gar
leicht
iſt.
Wir müſſen nämlich unſere Leſer darauf aufmerkſam
machen
, daß es mit den Augen anders iſt, als ſonſt mit Glie-
dern
unſeres Leibes, die wir zweifach haben.
Wir haben z. B.
zwei Hände, zwei Füße u. ſ. w. , und betrachten wir dieſe, ſo
finden
wir eine Gleichheit in ihnen, welche man Symmetrie
nennt
, aber nicht jene Gleichheit, welche man unter Harmonie
verſteht
;
bei den Augen dagegen findet Symmetrie und Har-
monie
zugleich ſtatt.
Halten wir z. B. die innere Fläche unſerer beiden Hände
neben
einander, ſo ſehen wir an der rechten Hand den Daumen
rechts
, an der linken Hand dagegen den Daumen links, an der
rechten
Hand den kleinen Finger links, an der linken Hand
aber
den kleinen Finger rechts.
Die Hände ſind gleich gebaut;
aber ſie haben eine entgegengeſetzte Lage ihrer Teile, das heißt,
ſie
ſind ſymmetriſch, aber nicht harmoniſch.
Die Hände, und
ebenſo
alle Doppelglieder unſeres Leibes, ſtehen ſo zu einander,
wie
die nebenſtehenden zwei Halbringe (), die nach ent-
gegengeſetzten
Seiten gerichtet ſind, die man ſymmetriſch ge-
ordnet
nennt.
Wollte man dieſe zwei Halbringe harmoniſch
geordnet
haben, ſo müßte man ſie ſo ((ſtellen.
Und wie
die
Stellung, ſo iſt auch die Wirkſamkeit der zweifachen Glieder
des
Leibes;
ſie wechſeln mit einander ab, wie die Füße beim
Gehen
, oder ſie unterſtützen einander, wie die Hände es thun
köunen
, wobei ebenfalls nur ein Erſetzen der einen Hand mit
der
andern, aber nicht das ganz gleiche Thun beider Hände
an
einem Punkte möglich iſt.
239107
Bei den Augen iſt es anders. Ihr Bau und ihre Lage
iſt
ſymmetriſch, aber ihre Bewegung, ihre Empfindung und
ihre
Thätigkeit iſt zugleich harmoniſch.
Den ſymmetriſchen Bau der Augen merkt man leicht. Der
Thränenwinkel
des rechten Auges liegt links, der Thränen-
winkel
des linken Auges liegt rechts;
der Schläfenwinkel des
rechten
Auges iſt rechts, der Schläfenwinkel des linken Auges
links
.
Auch die Muskeln zur Bewegung des Auges ſind ſym-
metriſch
in Bau und Lage;
aber trotzdem wirken ſie in Har-
monie
.
Wendet man das rechte Auge zum Thränenwinkel, ſo
muß
man zugleich das linke Auge zum Schläfenwinkel richten.
Es drehen ſich demnach beide Augen zugleich nach links, wie
ſie
ſich beide zugleich nach rechts drehen müſſen (ſ.
Fig. 8 u. 9).
Sie
bewegen ſich, wie wir bereits früher gezeigt haben, trotz der
ſymmetriſchen
Lage harmoniſch.
Eine noch tiefere Harmonie aber
liegt
in der Empfindung und der Thätigkeit der Nerventapete,
wie
dies höchſt ſinnreiche Verſuche und Forſchungen nachgewieſen
haben
.
Wäre dies nicht der Fall, ſo würden wir nicht nur
ſtets
Doppelbilder ſehen, ſondern wir würden zwei verſchiedene
Bilder
von allen Gegenſtänden wahrnehmen.
Um dies deutlich
zu
machen, wollen wir folgendes Beiſpiel vorführen.
Geſetzt,
wir
ſehen das Bild einer großen Schlange vor uns, deren
Kopf
rechts, deren Schwanz links liegt.
Von dieſer Schlange
haben
wir ſowohl in unſerem rechten, wie in unſerem linken
Auge
ein verkehrtes, kleines Bildchen, das wir eigentlich auf
der
Nerventapete empfinden.
Aber wie liegt das Bildchen
dieſer
Schlange in unſeren zwei Augen?
In unſerem rechten
Auge
liegt der Kopf der Schlange nach unſerer Naſe, im linken
Auge
liegt der Kopf der Schlange nach unſerer Schläfe hin.

Wenn
wir nun trotzdem nur eine Schlange wahrnehmen und
über
die Lage ihres Kopfes nicht in Zweifel ſind, ſo kann
dies
nur dadurch geſchehen, daß die Empfindung und Thätig-
keit
der Nerventapete beider Augen nicht ſymmetriſch,
240108 harmonierend iſt. Die Nerventapete des rechten Auges an der
Naſenſeite
muß harmonieren mit der Nerventapete des linken
Auges
an der Schläfenſeite.
Dieſelbe Harmonie muß auch
zwiſchen
der Nerventapete des linken Auges an der Naſenſeite
13[Figure 13]Fig. 8.
Harmoniſche
Bewegungen bei normalen Augen.
F D E
und der des rechten Auges an der Schläfenſeite ſtattfinden,
ſo
daß neben der Symmetrie des Auges zugleich die Harmonie
in
ihnen waltet.
14[Figure 14]Fig. 9.
Bewegungen
bei ſchielenden Augen.
C A B
Daß dem aber ſo iſt, das bewirken die Augennerven auf
ihrem
Wege zum Gehirn.
Von jedem Auge geht ein Sehnerv
zum
Gehirn;
aber auf dem Wege dahin kommen beide Nerven-
fäden
zuſammen und kreuzen ſich ſcheinbar.
Lange Zeiten
wußte
man nicht, wozu dies geſchieht;
neuere
241109 aber haben gelehrt, daß ſie ſich nicht wirklich kreuzen, ſondern
daß
ſie ein Tauſchgeſchäft mit der Hälfte ihrer Faſern machen.
Jeder der beiden Nervenfäden giebt dem andern die Hälfte
ſeiner
Faſern ab, und zwar ſo, daß jeder Nerv den Eindruck
beider
Augen zum Gehirn führt und ihn zu einem einzigen
geſtaltet
;
und iſt dieſer Austauſch ſo, daß die harmoniſchen
Faſern
aus beiden Augen ſtets zuſammen kommen, ſo iſt
ſcheinbar
die Harmonie vollkommen erklärt.
Genauere Unter-
ſuchungen
haben indes ergeben, daß die Kreuzung der Faſern
beider
Sehnerven allein nicht ausreicht, die Erſcheinung des
Einfachſehens
zu erklären, daß vielmehr auch die Übung und
Gewohnheit
daran ſtark beteiligt ſein müſſen.
XXXI. Der Menſch wie er iſt und was
er erfindet.
Wir ſind bei Betrachtung des Auges wieder bis zu dem
Punkte
gelangt, wo wir ſehen, wie das Werkzeug, das Auge,
von
einer uns unbekannten Kraft, der Nerventhätigkeit, gelenkt
und
geleitet, abgeſtimmt und zum beabſichtigten Zwecke benutzt
wird
.
Da aber dieſe Kraft eine uns durchaus unerklärliche
iſt
, da wir zwar durch zahlreiche Verſuche in ihre Wirkungen,
jedoch
trotz aller Forſchung nicht eine Einſicht in ihr Weſen
erlangt
haben, ſo müſſen wir bei Behandlung unſeres Themas
hier
inne halten.
Was der Menſch erfindet, reicht auch nicht im aller-
entfernteſten
an das heran, was der Menſch an merkwürdigen
Erfindungen
ſchon mit zur Welt bringt.
Das haben wir im
allgemeinen
und insbeſondere bei der Lunge, bei dem Herzen
und
beim Auge zu zeigen verſucht.
Es verſteht ſich nun
hierbei
von ſelbſt, daß wir nur inſoweit den Vergleich
242110 ſtellen können, inſoweit es ſich um Dinge handelt, die der
Menſch
genauer kennen gelernt hat, daß aber jeder Vergleich
aufhört
, wo man auf jenes Gebiet der Nerventhätigkeit kommt,
das
vorläufig ganz außer dem Bereich der menſchlichen Er-
kenntnis
liegt.
Wir wollen alſo unſer Thema hiermit beſchließen, wollen
es
aber mit einer Betrachtung thun, zu welcher uns gerade das
Auge
ganz beſonders einladet.
Wer ſich ein Gehirn vorſtellt mit den aus demſelben
hervorgehenden
Augennerven und den Augenkugeln, die daran
wie
zwei Früchte hängen, wer hierzu den ganz beſtimmten
Zweck
des Auges bedenkt, das zu nichts zu gebrauchen iſt als
zum
Sehen, dem drängen ſich ganz eigentümliche Gedanken
auf
;
denn am Auge nimmt man es ſo recht wahr, wie es
nichts
als ein Werkzeug der Nerven iſt.
Die Lunge iſt ein ſogenannter edler Teil des Leibes, das
heißt
:
ihre Thätigkeit iſt zum Leben der ganzen menſchlichen
Maſchinerie
notwendig.
Das Herz iſt dies in noch höherem
Grade
, denn es darf noch weniger pauſieren als die Lunge.
Das Auge dagegen hat mit der lebenden Maſchine des Menſchen
nicht
direkt etwas zu thun.
Blindgeborene und Erblindete
leben
fort;
ihre innere Maſchinerie erleidet durch ihren Mangel
des
Augenlichtes keine Störung.
Das Auge hat alſo nur für
den
ganz eigentümlichen Sehnerven, an dem es wie eine Frucht
wächſt
, eine wirkliche, direkte Bedeutung und dient erſt ver-
mittelſt
des Gehirns indirekt dem ganzen Körper.
Wir haben die Kamera-Obſcura bisher im Vergleich mit
dem
Auge ein wenig verächtlich behandelt.
Verſuchen wir nun,
ob
wir ihr nicht eine beſſere Seite abgewinnen können.
Eine bloße Nachahmung des Auges iſt ſie nicht. Die
Kamera-Obſcura
iſt erfunden worden, ohne daß man ahnte,
daß
ſie eine alte, ſehr alte Einrichtung iſt.
Es iſt vielmehr
dieſe
Erfindung, wie jede menſchliche Erfindung, auch
243111 und zwar ſehr langſam gewachſen, und auf einem Boden, der
dem
Heimatsboden der natürlichen Kamera-Obſcura, der dem
Heimatsboden
des Auges gar nicht ſo fremd iſt, wie man
meinen
ſollte.
Dieſe Erfindung iſt mit der Menſchheit gewachſen. Die
Phönizier
haben ſo ſagt man das Glas erfunden.
Neuer-
dings
fand man unter den Trümmern des alten Ninive eine
Glaslinſe
, die zu einem optiſchen Gebrauch gedient haben muß.
Die Spuren der weiteren Geſchichte dieſer Erfindung ſind ſchwer
aufzuſpüren
;
aber das iſt wahr und unumſtößlich: der Italiener
Porta
, der die Kamera-Obſcura wirklich zuſammengeſtellt, hat
nur
den Schlußſtein dieſer Erfindung gemacht.
Die Kamera-
Obſcura
iſt wirklich auch gewachſen, zugleich gewachſen mit
der
Menſchheit, ähnlich wie ein Auge mit dem Menſchen
gleichzeitig
im Mutterſchoße wächſt.
Und ſehen wir uns nur einmal den Boden an, wo die
Erfindungen
der Menſchen wachſen, ſo merken wir, daß auch
hier
das Gehirn die Hauptſtätte iſt, in der ſie wurzeln, freilich
nicht
am Stoff des Gehirns, aber doch jedenfalls an der
geiſtigen
Thätigkeit derſelben;
freilich nicht an Nervenfäden,
aber
doch an den geiſtigen Fäden der Naturbetrachtung, der
Naturbeobachtung
und der Naturbenutzung, freilich nicht als
ſichtbare
Frucht, aber doch als geiſtige Frucht, welcher die
ſchönſte
Blüte, die Blüte der Erkenntnis, vorangeht.
In dieſem Sinne betrachtet, iſt die Kamera-Obſcura,
dieſes
ſchwache Nachbild des Auges, wirklich eine Frucht,
ähnlich
erwachſen wie das Auge ſelber, erwachſen im geiſtigen
Mutterſchoß
der Menſchheit, wo gar Vieles, Vieles wächſt,
was
wir Menſchen Erfindungen nennen.
244112
XXXII. Schlußbetrachtung.
Nachdem wir unſern Leſern vom Leben, ſeiner Entſtehung,
ſeinen
Erſcheinungen und ſeinen Leiſtungen ein flüchtiges Bild
vorgeführt
haben, wollen wir noch zum Schluß eine Frage
berühren
, die zwar weit in die Zukunft hinausreicht, die ſich
aber
uns aufdrängt, je mehr wir zur Überzeugung gelangen,
daß
der Menſch ein Weſen geiſtiger Art iſt.
Gliche der Menſch dem Tier, das mit angeborenen Fertig-
keiten
ins Leben tritt, um nach einer unabwendbaren Natur-
vorſchrift
zu wachſen, ſich zu vermehren und zu ſterben, ſobald
das
Daſein ſeiner Nachkommenſchaft geſichert iſt, ſo würden
wir
uns jeder Frage über die Zukunft des Menſchengeſchlechts
zu
entſchlagen haben.
Wir würden, wenn der Menſch dem
Tiere
gleich wäre, ebenſowenig zu fragen brauchen:
wie wird
der
Menſch nach Millionen Jahren auf Erden ſein?
ſo wenig
wir
jetzt zu fragen brauchen, wie irgend ein Tier dann ſein
wird
.
Die Biene iſt ſeit Jahrtauſenden nicht reicher an
Einſicht
geworden, obwohl ſie eine wunderbare Kunſt ausübt;
wir haben deshalb auch gar keinen Grund anzunehmen, daß
dieſelbe
nach Millionen von Jahren weiter ſein werde, als ſie
es
heute iſt.
Der Menſch aber gleicht nicht dem Tiere. Wenn der
Staub
eines abgelebten Geſchlechts zum Staube zurückkehrt,
iſt
der Geiſt des geſtorbenen Geſchlechts nicht geſtorben, ſondern
er
lebt fort im überlebenden Geſchlecht, das die Einſicht der
vergangenen
Zeiten in ſich aufnimmt, den Umfang der Er-
kenntnis
in ſich erweitert und das erweiterte Gebiet als einen
geiſtigen
Schatz bereichert auf das kommende Geſchlecht überträgt.
Die Menſchheit iſt ſo weit fortgeſchritten, daß die Weiſeſten
der
alten und der neuen Zeit, wenn ſie aus den Gräbern auf-
ſtänden
, unendlich viel zu lernen hätten, wollten ſie dem
245113 Geſchlecht an Erkenntnis gleichkommen. Nicht nur Ptolemäus,
ſondern
auch Kopernikus, Newton, Halley, Bradley, Laplace,
Beſſel
und alle anderen würden reichhaltige Neuigkeiten von
Entdeckungen
und Erfindungen der Wiſſenſchaft anſtaunen, wenn
ſie
jetzt wieder lebend unter uns treten würden.
Iſt dem aber ſo, und hat der Naturforſcher gerade Ver-
anlaſſung
anzunehmen, daß dieſer Fortſchritt des Geiſtes
ebenſo
ein Naturgeſetz ſei, wie die ewige Wiederholung der
Tiergeſchlechter
ohne geiſtigen Fortſchritt von Naturgeſetzen
herrührt
, ſo kann man ſich der Frage nicht entſchlagen:
wo
hinaus
wird der Forſchergeiſt der Menſchheit noch dringen?
läßt ſich der Weg des Geiſtes bezeichnen? läßt ſich das
Ziel
des Geiſtes jetzt erkennen?
iſt der Menſch geeignet,
eine
weit höhere Stufe der Bildung anzunehmen?
oder
werden
andere Weſen einmal entſtehen, die beſſer ausgerüſtet
ſind
, um höhere Stufen der geiſtigen Entwickelung zu erſteigen
als
der Menſch, der jetzt als höchſtes Geſchöpf auf der Erde
wandelt
?
Fragen dieſer Art darf die Naturwiſſenſchaft nicht zurück-
weiſen
, wenn ſie ſich auch weit entfernt halten muß von dem
Wahn
, ſie jetzt ſchon beantworten zu können.
Wir unſererſeits wollen das Wenige, das hierüber geſagt
werden
kann, als Schluß unſeres Themas hinſtellen, eines
Themas
, in welchem wir freilich mehr Anregungen als Löſungen
zu
geben vermocht haben.
Das Ziel des geiſtigen Fortſchrittes der Menſchheit iſt
unbeſtimmbar
.
Eine dunkle Ahnung hat den älteſten Denkern,
Dichtern
und Politikern, die, ſo lange ſie lebten und wirkten,
von
der herrſchenden Macht für Volksverführer ausgegeben
und
lange nach ihrem Tode alsPropheten” verehrt wurden
eine dunkle Ahnung dieſer Weiſen ihrer Zeit hat das Ziel
der
menſchlichen Entwickelung in der einſtigen Verſittlichung der
Menſchheit
geſehen, und in einer Verbreitung der Erkenntnis
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIII.
246114
über die ganze Erde, in welcher die Weisheit dieſe bedecken
wird
, “wie die Gewäſſer den Meeresabgrund überdecken.
Es liegt eine tiefe Wahrheit in ſolcher Ahnung, obgleich
ſie
unbeſtimmt iſt.
Denn Verſiltlichung und Erkenntnis,
Läuterung
der menſchlichen Neigungen und Erleuchtung des
menſchlichen
Geiſtes iſt unzweifelhaft die nächſte erkennbare
Aufgabe
des Menſchendaſeins, durch welche der Menſch ſeines
Vorranges
vor dem Tiere würdig wird.
Als Weg zu dieſem Ziel ſind zunächſt nur zwei Richtungen
in
der Gegenwart erkennbar.
Die eine iſt eine freie, von
veralteten
Dogmen ſich losſagende Religioſität;
die andere iſt
fortſchreitende
Richtung der Naturwiſſenſchaften.
Beide Wege
ſind
gegenwärtig, wenn auch teilweiſe getrennt von einander,
doch
weit verbreitet in der gebildeten Menſchheit.
Wir glauben
aber
ſagen zu dürfen, daß der nächſte große Reformator in
beiden
Richtungen vereint wirken und auf dieſem zuſammen-
gehörigen
Gebiete auch eine für Verſittlichung und Erleuchtung
empfängliche
Zeit vorfinden werde.
247
Kleine Kräfte und große Wirkungen.
I.
Wenn der Sturm den Wald durchtobt und mächtige Bäume
entwurzelt
und umſtößt, ſo erſcheint er uns als eine mächtige
Naturkraft
, weil wir den Sturm nach dem Maßſtab der
geringen
Kraft ſchätzen, welche unſer ſchwacher Arm dagegen
auszuüben
vermag.
Wir beachten hierbei nicht, daß es auch
eine
Naturkraft war, die den Baumſtamm gar ſo mächtig
heranwachſen
ließ.
Wir laſſen die ungeheure Summe der
Einzelkräfte
unbeachtet, die den umgeſtürzten Stamm aus einem
kleinen
, ſchwachen Keime zu einem Rieſenbaume herangebildet
haben
.
Aus dieſem Beiſpiel können wir ſo recht entnehmen, wie
wir
in unſeren alltäglichen Anſchauungen nur diejenigen Prozeſſe
in
der Natur als Kraft auffaſſen, die in plötzlichen Impulſen
wirkſam
ſind, und wie von einer willkürlich angefachten Macht
überraſchend
und erſchreckend eintreten, daß wir dagegen die
Summe
der kleinen und kleinſten Kräfte ungeſchätzt an uns
vorüberziehen
laſſen, in welchen in Wahrheit die wirkliche
Kraft
der Natur beſteht.
Im allgemeinen kann man den Unterſchied dieſer Schätzung
der
Naturkraft dahin bezeichnen, daß uns nicht die aufbauende,
ſondern
die zerſtörende Wirkſamkeit der Naturprozeſſe als
Kraft
erſcheint.
Wir ſprechen von der Kraft des
248116 von der Gewalt des Sturzbachs, von der Wirkung der ſtürzenden
Lawine
, von der Mächtigkeit des Cyklonenſturmes, die alle
das
ruhig wirkende Naturleben durchbrechen.
Es erſcheint in
der
gewöhnlichen Anſchauung das in Ruhe wirkende Natur-
daſein
als kraftlos und nur dasjenige mit Kraft ausgeſtattet
zu
ſein, was zerſtörend und vernichtend dem regelrechten Lauf
der
Natur entgegenwirkt.
Man darf ſich daher nicht wundern,
wenn
die von dichteriſchen Anſchauungen erfüllten alten Völker
gerade
in den zerſtörenden Eingriffen der Naturerſcheinungen
eine
willkürliche Götterkraft erblickten.
Der oberſte der Götter
mußte
ein Donnerer ſein, der den Blitz mit ſeiner Hand herab
auf
die Erde ſchleudert.
Der Sturm mußte ein Gott ſein,
der
aus der Höhle herausfährt, über Feld und Wald Ver-
nichtung
bereitet, der Sturzwellen im Meer auftürmt und die
Schiffe
des ohnmächtigen Menſchengeſchlechtes im Zorn
zertrümmert
.
Auf dieſen Vorſtellungen gründete ſich die
Furcht
vor den Göttern, welche die Baſis der ſogenannten
Gottesfurcht
bildet.
Neben den gefürchteten Göttern, vor deren
Kraft
man zitterte;
ſtellte ſich dann auch die Verehrung und
das
Anbeten der Götter ein, welche wohlthätig in der Natur
zu
wirken ſchienen.
Ein klarer Himmelsdom, von dem die
Wolken
verſcheucht waren, das Aufſtrahlen des Mondes und
das
Leuchten der Sterne verleiteten zu der Götterverehrung,
durch
welche man vermeinte, die Gunſt der himmliſchen Mächte
erringen
zu können.
All’ dieſe Mißverſtändniſſe über das Verhältnis des
Menſchen
zu der Natur wurden wachgerufen durch die irrige
Vorſtellung
über die Macht der Naturkräfte.
So lange man
die
Kraft nach dem Maßſtab der zerſtörenden und vernichtenden
Wirkungen
abſchätzte, die hin und wieder wie willkürliche Ein-
griffe
in den ruhigen Verlauf des Naturdaſeins eintreten, ſo
lange
muß die Natur als kraftlos und die Götter als die Re-
präſentanten
der Kraft erſcheinen.
Seitdem jedoch an
249117 Stelle der herrſchenden dichteriſchen Anſchauungen die Einſicht
der
Wiſſenſchaft getreten iſt, ſeitdem beginnt der dichteriſche
Wahn
von der allmächtigen Götterherrſchaft zu ſchwinden, und
es
trat an deren Stelle das Streben, die nicht in die Augen
fallenden
Kräfte der ſchaffenden Natur kennen zu lernen, um
zu
begreifen, wie ſich kleine Kräfte zu großen Wirkungen ver-
binden
.
Seitdem man weiß, daß der lauteſte Schall nichts iſt als
eine
in Schwingung verſetzte Luftmaſſe, welche das ſehr feine,
dünne
und ſchwache Trommelfell unſeres Ohres erſchüttert,
fürchtet
man den Donner nicht mehr.
Der Schall, wenn er
auch
erſchreckend auf uns einwirkt, iſt keine mächtige Kraft-
äußerung
eines entrüſteten Gottes.
Der Schall iſt ſo ohn-
mächtig
, daß er nicht einmal imſtande iſt, ein Sandkörnchen
wirklich
von ſeinem Ort fortzubringen, das wir durch den
Hauch
unſeres Mundes fortblaſen.
Der Schall erſchüttert die
Ruhelage
aller Gegenſtände, welche von der Welle getroffen
werden
;
aber er vermag nur ein Erzittern der allerkleinſten
Teilchen
der Materie hervorzurufen und iſt zu ſchwach, um
eine
Fortbewegung zu erzeugen.
Der leiſeſte Wind vermag
das
Segel eines Schiffes zu ſchwellen und das Schiff auf der
Waſſerfläche
dahinzutreiben;
aber der allerſtärkſte Kanonen-
donner
fliegt mit der Geſchwindigkeit von 300 Meter in der
Sekunde
an dem Schiff vorüber, ohne es von der Stelle zu
bewegen
.
Wie klein die wirkliche Kraft des Schalles iſt, das
zeigt
uns eine der ſchönſten Erfindungen unſerer Zeit, das
Telephon
, welches den Schall meilenweit auf eine feine Eiſen-
platte
überträgt, ohne daß unſer Auge imſtande iſt, das
Erzittern
dieſer Platte zu bemerken.
Man kann im Telephon
in
Verbindung mit einem Mikrophon einen Donnerſchlag in
Paris
auch ſehr gut in Berlin hörbar machen, und zwar
ſo
ſtark hörbar machen, als ob es dicht neben dem Hörer,
der
ſein Ohr mit dem Telephon bewaffnet hat, donnerte.
250118 man da aufhören muß, denallmächtigen Donnerer” zu fürchten,
verſteht
ſich von ſelber.
Mit einer mächtigen Kraft ſcheint der Blitz ausgeſtattet;
aber wer es bedenkt, wie man mit einer ſehr ſchwachen Lanze
aus
Metall, mit einem Blitzableiter, der kaum dicker zu ſein
braucht
, wie ein Leitungsdraht an unſeren Telegraphenſtangen
dem
Blitze ſchleudernden Jupiter den Weg ſeiner allmächtigen
Geſchoſſe
anzuweiſen und ſeinen Zornausbruch in ein harmloſes
Vergnügen
zu verwandeln vermag, der wird wohl einſehen,
wie
die kleinen Kräfte des Blitzableiters mächtiger in der
Wirkung
ſind, als der Zorn des Gottes, dem man die Allmacht
des
Himmels und der Erde zugeſchrieben.
Daß auch hierdurch
die
Furcht vor den Göttern ſchwinden mußte, läßt ſich gar
nicht
verkennen.
Daß aber auch die Gottesfurcht hierunter
nicht
ſonderlich leidet, das wird wohl jeder Beobachter unſerer
öffenlichen
Gotteshäuſer bemerken, wenn er ſieht, wie man bei
aller
Gottesfurcht, die in ihren Hallen gelehrt wird, doch nicht
unterläßt
, ſich durch gute Blitzableiter gegen das zornige Ge-
ſchoß
des Himmels zu ſchützen.
Der Blitzableiter an der
Kirche
iſt jetzt nicht mehr eine Ketzerei, als welche er zu An-
fang
ſeiner Erfindung noch frommen, gottesfürchtigen Männern
erſchienen
iſt.
Was aber ſteckt in dem ſchwachen Blitzableiter, das ihn
mächtig
genug macht, um den Zornesboten des allmächtig
ſcheinenden
Gottes die Marſchroute vorzuſchreiben?
Es iſt
eine
kleine, ſehr kleine, tief verborgene Kraft, welche man
elektriſche
Leitungsfähigkeit nennt, die in jedem Atom des
Metalles
ſteckt, das den elektriſchen Strom leitet.
Und dieſe
kleine
Kraft iſt groß in der Wirkung.
Sie erzählt uns zwar
nicht
, was im Himmel vorgeht, aber ſie bringt uns trotz aller
Meeresgötter
durch den Meeresabgrund per Kabeldepeſche ganz
genaue
Nachrichten über das, was in dem fernſten Weltteil
paſſiert
.
251119
II.
Ein recht ſchlagendes Beiſpiel von der Kleinheit wirklicher
Kräfte
und der Größe ihrer Wirkungen bietet uns die geſamte
Telegraphie
.
Was ſieht unſer Auge in einer Telegraphenſtation?
Da ſteht eine Reihe von Gläſern, gefüllt mit Flüſſig-
keiten
, in welchen zwei verſchiedene Metalle eingetaucht ſind.
Man nennt dieſe Sammlung von Elementen eine Batterie,
die
an ſich ruhig daſteht und nicht die leiſeſte Spur einer
Kraft
verrät.
Gleichwohl wiſſen wir, daß man durch
geeignete
Einrichtungen imſtande iſt, eine Wirkung dieſer
Batterie
auszuüben auf einen Apparat, der ſich an vierhundert
Meilen
jenſeit des Weltmeeres in einem anderen Weltteil
befindet
.
Welch andere unſeren Sinnen ſich verratende Kraft
wäre
wohl mächtig genug, um auf ſolche Entfernungen eine
Wirkung
auszuüben?
Keine Rieſenkanone würde das voll-
bringen
.
Kein Vulkan würde in ſeiner Wirkung auch nur den
zehnten
Teil dieſer Strecke mit ſeiner Kraft durchdringen.

Kein
Erdbeben, das einen Weltteil zertrümmert, würde auf
ſolche
Entfernung bemerkbar werden.
Ja, ganz Europa könnte
urplötzlich
in einen Krater von Meerestiefe verſinken, und es
würde
ſich dies Ereignis in Amerika kaum an den Geſtaden
des
Meeres durch einen heftigen Wellenſchlag verraten.
Wenn
jedoch
in unſerer Telegraphenſtation zwei Drähte an der
Batterie
ſo eingerichtet ſind, daß der eine in die Erde hinein-
geht
und der andere den Draht eines Kabels berührt, das bis
zu
einer Station in Amerika reicht, ſo wirkt dies in ſo außer-
ordentlichem
Grade, daß man dadurch eine Verſtändigung
zwiſchen
Weltteil und Weltteil herbeiführt.
Blicken wir nun gar noch auf den Stand der Mikrophonie
und
der Telephonie, ſo dürfen wir mit voller Sicherheit vor-
ausſagen
, daß die Zeit nicht mehr fern iſt, in welcher
252120 imſtande ſein wird, durch die Kombination von äußerſt kleinen
Kräften
Worte in Amerika deutlich zu vernehmen, die man in
einer
dazu hergerichteten Station in Europa ſpricht, Worte
mit
gewöhnlicher Stimme geſprochen, welche man mit unbe-
waffnetem
Ohr im Nebenzimmer der europäiſchen Station nicht
mehr
vernimmt.
Was ſind die ſogenannten großen Kräfte gegen dieſe
Kombination
der kleinen?
Iſt denn aber die Telegraphie wirklich eine Kombination
von
kleinen Kräften?
Iſt nicht die Elektrizität an ſich ſelbſt
auch
eine große Kraft?
Vermag man ja durch Elekrizität
Flammen
zu erzeugen, welche dem Sonnenlicht an Kraft nahe
kommen
! Iſt man ja auch imſtande, durch den elektriſchen
Strom
exploſive Maſſen zu entzünden, die Felſen ſprengen!
Es mag ſein, daß man gegenwärtig, wo man die mächtige
Wirkung
der Elektrizität vor Augen hat, ſtark geneigt iſt, ſie
auch
zu den großen Kräften zu zählen;
aber dieſer Ver-
wechſelung
von Kraft und Wirkung liegt dennoch eine irrige
Anſchauung
zu Grunde.
Die Kraft iſt in Wirklichkeit klein,
und
nur durch eine wiſſenſchaftliche Kombination iſt ihre
Wirkung
groß.
Ein Blick auf die Geſchichte der Elektrizität
wird
dies noch deutlicher darthun, als alle bisher vorgeführten
Beiſpiele
.
Nachdem Jahrtauſende und Jahrtauſende vergangen
waren
, in welchen die Menſchen keine Ahnung von der Exiſtenz
einer
elektriſchen Kraft hatten, begann man erſt vor wenig
Jahrhunderten
die Aufmerkſamkeit auf die Eigenſchaft einzelner
Körper
zu richten, welche durch Reiben ihrer Oberfläche die
Fähigkeit
erlangen, leichte Fäſerchen anzuziehen und wieder
abzuſtoßen
.
Durch eine glückliche Konſtruktion und eine ſinn-
reiche
Kompoſition dieſer Fähigkeit kam man dahin, eine
Elekriſiermaſchine
herzuſtellen, an welcher man zum Erſtaunen
aller
Beobachter ſah, daß ſowohl die anziehende wie
253121 Kraft ſich in Funken äußert, die blitzartig erſcheinen und von
einem
Körper in den anderen überſpringen.
Da kam ein fein-
ſinniger
Denker auf die kühne Idee, daß am Ende der Blitz
aus
den Wolken auch nur ein elektriſcher Funke ſein mag,
der
zur Erde herniederfährt, und man auch wohl dieſen großen
Funken
ſo ableiten kann, wie es mit dem Funken der Elektri-
ſiermaſchine
der Fall iſt.
Es hatte ſich kaum dieſer kühne Gedanke bewahrheitet, da
trat
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die wiſſenſchaftliche
Beobachtung
mit einer neuen Kombination einer noch kleineren
Kraft
auf, um ſchließlich durch ſie eine ganz ungeheure Wirkung
zu
erzielen.
Es iſt dies der elektriſche Strom der galvaniſchen
Elemente
, welche wir bereits in Betracht gezogen haben.
Der
Strom
pflanzt ſich im Moment, wo ein Leitungsdraht der
Batterie
den Kabeldraht berührt, auf hundert, ja auf Tauſende
von
Meilen in einer einzigen Sekunde fort.
Wie dick mag
wohl
der Draht ſein, der ſolche Wirkung ausübt?
Nun,
jeder
weiß es wohl, daß der eigentliche Kabeldraht, die Seele
des
Kabels, welches tief auf dem Grunde des Weltmeeres
liegt
, nicht dicker iſt, als eine gewöhnliche Stricknadel, und
der
Draht aus der Batterie, welche den Draht der Leitung
berührt
, iſt nicht viel ſtärker als ein mäßiger Stecknadelknopf,
und
gleichwohl ſehen wir, wie dieſe Berührung von ſehr kleinen
Punkten
die erſtaunliche Wirkung auf viele, viele Hunderte von
Meilen
ausübt!
Gegenwärtig iſt die elektriſche Wirkung in noch viel höherem
Grade
durch die Anwendung von Magneten geſteigert.
Hierbei ſpielt nicht einmal eine Berührung zwiſchen Eiſen
und
Magneten die Hauptrolle, ſondern nur die Annäherung
und
das Entfernen der beiden Teile des magneto-elektriſchen
Apparates
iſt die Grundurſache der wirkſamen Ströme.
Dabei
iſt
die Kraft eines Magneten für unſere Sinneswahrnehmung
ſo
geringfügig, daß wir die Pole des allerſtärkſten
254122 mit der Hand berühren können, ohne auch nur eine Spur von
der
Kraft zu merken, die in demſelben ſchlummert.
Wenn wir
nicht
wiſſen, daß wir einen Magneten in Händen haben, ſind
wir
nicht imſtande, durch unſere ſonſt ſo feinen Sinnes-
werkzeuge
den exiſtierenden Magnetismus nachzuweiſen.
Man
ſieht
den Magnetismus nicht, man hört ihn nicht, man fühlt,
man
ſchmeckt und riecht ihn nicht, und gleichwohl hat dieſer
eine
gewaltige Macht, wenn man ein Stück Eiſen in deſſen
Nähe
bringt.
Es tritt hier alſo eine ganz immenſe Wirkung
in
einer für unſere Wahrnehmung ganz und gar unmerklichen
Kraft
auf.
Aber nicht bloß in den phyſikaliſchen und chemiſchen Er-
ſcheinungen
erweiſt es ſich, daß kleine Kräfte große Wirkungen
ausüben
, ſondern auch in den lebenden Gebilden der organiſchen
Welt
ſpielen die kleinen und kleinſten Kräfte eine Hauptrolle in
der
Wirkung.
Bevor uns die Naturwiſſenſchaft einen Aufſchluß über
das
Wachstum einer Pflanze gab, hatte man keine Ahnung
davon
, daß Millionen und Millionen von ganz kleinen Kräften
hierbei
thätig ſind.
Erſt das Mikroſkop lehrte uns, daß ſelbſt
im
kleinſten Blättchen einer kleinen Pflanze Tauſende von ganz
kleinen
Öffnungen vorhanden ſind, in welche die unendlich
kleinen
Atome der atmoſphäriſchen Luft eintreten und wieder
austreten
.
In unſerer Atmoſphäre befindet ſich eine ſehr geringe
Spur
von Kohlenſäure, deren Exiſtenz wir nur durch die
feinſten
und empfindlichſten chemiſchen Unterſuchungen nach-
weiſen
können.
Aber die äußerſt feinen Öffnungen in jedem
Blättchen
der Pflanzenwelt verſtehen die Kunſt, die Kohlenſäure
einzuſaugen
, den Kohlenſtoff dabei in ſich aufzunehmen und zu-
rückzuhalten
und den Sauerſtoff wieder auszuhauchen.
Die
Säfte
der Pflanze, welche von der Wurzel in außerordentlich
feinen
Kanälen aufſteigen, werden dadurch kohlenhaltig, und
dieſer
Kohlenſtoff bildet den Hauptbeſtandteil der Feſtigkeit
255123 Pflanzen, das Holzgerüſt, das zu ihrer Exiſtenz unumgänglich
nötig
iſt.
Es lebt und wächſt der allerkräftigſte Stamm des
rieſigſten
Baumes nur durch die außerordentlich kleinen Kräfte
heran
, die in den für das gewöhnliche Auge ganz unmerkbaren,
kleinen
Öffnungen der Tauſende von Blättern exiſtieren, die
in
die Luft hineinragen.
Die Kraft iſt klein; aber die Wirkung der kleinen Kräfte
iſt
groß.
III.
In viel entſchiedenerem Grade als in der Pflanzenwelt
treten
die kleinen Kräfte und die großen Wirkungen in dem
Organismus
der lebenden Tierwelt auf.
Es giebt organiſche
Gebilde
von höchſter Wichtigkeit, deren Wirkung man mit
hoher
Bewunderung wahrnimmt, die aber ſo außerordentlich
klein
ſind, daß ſelbſt das allerfeinſte Mikroſkop ihre Struktur
vergeblich
zu erforſchen ſucht.
Um einzelne Erſcheinungen dieſer Art hier vorzuführen,
wählen
wir aus der großen Reihe derſelben nur ſolche Vor-
gänge
, die im eigentlichen Sinne des Wortes noch immer
ſehr
verſchloſſene mechaniſche und phyſikaliſche Rätſel ſind,
wie
ſehr ſich auch die Lebenswiſſenſchaft, die Phyſiologie, be-
müht
, dem Grunde derſelben nachzuſpüren.
Man weiß es längſt, daß unſere Schleimhäute und
namentlich
diejenigen, welche die Luftwege zu unſeren Atmungs-
organen
einhüllen, die Eigentümlichkeit haben, die eingeatmete
Luft
zu filtrieren, damit unſere Lunge nicht unreine Stoffe
aufnehme
, welche in der Luft ſchweben.
Unſere Naſe, welche
einen
offenen Kanal für die Atmung bildet, iſt mit feinen
Härchen
beſetzt, woran der Staub ſich anſammelt, der die
256124 verunreinigt. Wir beobachten dies nicht bloß auf ſtaubigen
Straßen
, ſondern auch in unſeren Wohnungen, wenn die Stuben-
luft
mit Rauch oder dem Ruß einer blakenden Lampe vermiſcht
iſt
.
Es iſt dies eine Filtration, welche in unſerem Atmungs-
prozeß
von großer Wichtigkeit iſt.
Dieſe Filtration durch ein Haarnetz findet in unſerer
Mundhöhle
, welche ebenfalls einen offenen Weg zur Lunge
bildet
, nicht ſtatt;
dafür iſt die Feuchtigkeit der Schleimhaut
eine
vortrefflich wirkende Fange-Vorrichtung, welche gleichfalls
zur
Reinigung der in die Lunge eindringenden Luft dient.
Man merkt die Wohlthat dieſer Einrichtung ganz beſonders,
wenn
durch eine leichte Entzündung der Schleimhäute, wie
z
.
B. beim Schnupfen, dieſer Reinigungsprozeß unterdrückt
wird
.
Die Atembeſchwerde, welche dann zuweilen eintritt,
rührt
zum großen Teil von dem Mangel der Luftreinigung
her
, ſelbſt wenn die Entzündung ſelber ſich nicht bis in die
Luftröhre
erſtreckt.
Verdankt man dieſem Prozeß der Luftreinigung ſchon an
ſich
eine ſehr wohlthätige Wirkung, ſo iſt der Prozeß ſelber
mindeſtens
phyſikaliſch vollkommen erklärbar.
Wir ſind auch
imſtande
, durch künſtliche Vorrichtungen eine ſolche Luft-
reinigung
zu bewerkſtelligen.
Man kann durch ein Flöckchen
loſer
Baumwolle an einer Stelle, durch welche die Luft hin-
durchſtreicht
, die Kunſt, welche den Härchen der Naſe zuge-
wieſen
wird, recht wohl nachahmen.
Stellt man an die Stelle,
an
welcher die Luft vorüberſtreicht, eine Glasſcheibe mit etwas
Glycerin
befeuchtet auf, ſo ahmt ſie die Fangekunſt unſerer
Mundſchleimhaut
ebenfalls gut nach.
Ja, man iſt imſtande,
durch
ſolche Vorrichtungen an einer kleinen Öffnung in einer
Fenſterſcheibe
den Grad der Verunreinigung der Stubenluft
zu
meſſen und thut dies auch mit gutem Erfolge in Kranken-
zimmern
, wenn es gilt, die ſchädlichen Beimiſchungen der Luft
zu
beſtimmen.
257125
Aber in unſerem Organismus geſchieht viel mehr als dies.
Würden wir nur auf dieſe Filtration angewieſen ſein, ſo
würden
ſich die ſchädlichen Beimiſchungen der Luft in Mund-
und
Naſenhöhle anſammeln und ſchließlich die ganze wohl-
thätige
Vorrichtung unwirkſam machen.
Ja, die Anſammlung
der
ſchädlichen Teilchen würde unfehlbar Krankheitserſcheinungen
herbeiführen
, wenn nicht eine andere Fürſorge uns davon be-
freien
würde.
Um den Schaden abzuwehren, tritt in dem
oberen
Teile der Naſenhöhle ein Reiz ein, der uns zum Nieſen
zwingt
.
Sammeln ſich in dem hinteren Teile der Mund-
ſchleimhaut
die ſchädlichen Luftbeimiſchungen zu ſtark an, ſo
entſteht
ein nicht minder wahrnehmbarer Reiz, der unſeren
Kehlkopf
zwingt, ſich einen Moment zu ſchließen und die
Atmung
vorerſt einzuſtellen.
Zugleich aber erhalten hierdurch
unſer
Zwerchfell und unſere Bauchmuskeln Veranlaſſung,
plötzlich
gegen die Bruſthöhle anzuprallen und die Luft der
Lunge
gewaltſam gegen den verſchloſſenen Kehlkopf zu preſſen.
Der Kehlkopf öffnet ſich dadurch gewaltſam, und man huſtet,
wobei
der hintere Teil unſerer Mundhöhle von überflüſſigem
Schleim
und den ſchädlichen, angeſammelten Luftbeimiſchungen
befreit
wird.
Nieſen und Huſten ſind in ſolchen Fällen nicht Krank-
heitserſcheinungen
, ſondern Einrichtungen phyſiologiſcher Natur,
die
zur Reinhaltung der Luftwege ſehr wohlthätig wirken.
Beide Kunſtſtücke vermag man daher auch unter natürlichen
Umſtänden
willkürlich hervorzurufen, und thut es meiſt in der
Regel
, wenn man durch ein gewiſſes Gemeingefühl die Empfin-
dung
hat, daß eine Veranlaſſung dazu obwaltet.
Wenngleich dieſer Prozeß auf phyſiologiſchem Gebiet noch
in
manchen Beziehungen weiterer Erklärungen der Wiſſenſchaft
bedarf
, ſo iſt derſelbe doch mindeſtens theoretiſch begreiflich,
ſobald
man die noch immer ſehr rätſelhafte Rolle der Nerven
dabei
zu Hülfe ruft.
Die Vorrichtung, welche mechaniſch
258126 Reinigung der Luft von außen nach innen bewirkt, iſt wunder-
bar
genug begleitet von phyſiologiſchen Einrichtungen, welche
ſehr
wohlthätig Schädlichkeiten von innen nach außen be-
ſeitigen
.
Dieſe Kombination iſt an ſich ſehr merkwürdig und
verdient
unſer eifrigſtes Nachdenken;
aber man nimmt jeden-
falls
dabei wahr, daß ſich auch hierbei kleine Kräfte zu großen
Wirkungen
verbinden.
Nun ſollte man meinen, daß hiermit genug zum Schutz
des
Organismus geſchehen ſei.
Allein nähere Unterſuchungen
haben
erwieſen, daß noch ein ganz anderes Kunſtſtück im
Organismus
hierbei eine Rolle mitſpielt, welches ebenſo
mechaniſch
wie phyſikaliſch vollkommen rätſelhaft iſt und vor
welchem
die Phyſiologie ohne jeden Anhalt einer Erklärung
daſteht
.
Man macht nämlich die Bemerkung, daß die Schleimhäute
der
Luftwege und auch in anderen Körperteilen die Kunſt ver-
ſtehen
, kleine Teilchen, welche ſich an ihnen anſetzen, ſehr
langſam
von dort fortzutransportieren, wo ſie nicht hinge-
hören
.
Dieſer Prozeß geht nicht plötzlich vor ſich, ſondern
findet
ganz unmerklich immerwährend ſtatt.
Es geſchieht dies
durch
eigentümliche Organe, mit welchen die Schleimhäute
ausgeſtattet
ſind, die man mit bloßem Auge nicht ſehen kann,
und
die nur durch gute Mikroſkope in ihrer Thätigkeit bemerkt
werden
können.
Die Schleimhäute beſitzen nämlich ganz feine Flimmer-
härchen
, welche ſich unausgeſetzt hin und her bewegen und in
normalen
Zuſtänden die kleinſten, ſchädlichen Stoffe, welche ſich
an
die Schleimhaut anſetzen wollen, immer weiter fortſchieben,
bis
ſie aus dem Bereich ihres ſchädlichen Wirkens hinaus-
transportiert
ſind.
Dieſe Flimmerbewegungen, durch welche
ganz
zweifellos ſehr ſchädliche in den Körper eingedrungene
Stoffe
ausgeſchieden werden, ſind von Kräften dirigiert, welche
wir
nicht kennen.
Da die Organe, die Flimmerhärchen,
259127 außerordentlich klein ſind, ſo müſſen die Kräfte, welche ihre
Thätigkeit
anregen, ganz unendlich klein ſein.
Da man
jedoch
allen Grund hat, zu vermuten, daß durch dieſe Flimmer-
bewegungen
viele giftige Anſteckungsſtoffe, wie Bakterien,
Bazillen
, verhindert werden, ſich in dem Körper anzuſetzen,
ſo
können wir von ihnen ganz beſonders ſagen, daß ſie eine
ſehr
große Rolle in dem Organismus der lebenden Weſen
ſpielen
.
Es ſind dies eben kleine Kräfte von ſehr großer,
mächtiger
Wirkung.
IV.
Noch bewunderungswürdiger als in dem organiſchen Ge-
bilde
zeigt ſich das Zuſammenwirken kleiner Kräfte zu großen
Effekten
in der Thätigkeit unſerer Sinneswerkzeuge.
Wie außerordentlich groß die Empfindlichkeit des Auges
iſt
, haben wir vorhin ſchon geſehen.
Hier ſei dem noch hinzu-
gefügt
, daß, wenn man einen Millimeter in hundert Teile teilt,
aus
ſolchen Teilchen ein Quadrat bildet und nach dieſem kleinen
Maß
die Netzhaut unterſucht, man darauf mehr als 150 licht-
empfindliche
, kreisförmig gruppierte Nerven-Organe findet.
Das
heißt
mit anderen Worten:
unſer Auge iſt mit ſo kleinen
organiſchen
Gebilden ausgeſtattet, daß viel mehr als fünf-
zehntauſend
derſelben den Raum eines Stecknadelknopfes ein-
nehmen
.
Von der Feinheit unſeres Ohrs hat man bis auf unſere
Zeit
nur ſehr dunkle Vorſtellungen gehabt.
Erſt unſer Helm-
holtz
hat die allerfeinſten Werkzeuge unſeres Gehör-Organs
erkannt
und erläutert.
Abgeſehen von den feinen, kleinen
Knöchelchen
, welche am Trommelfell liegen und dazu dienen,
das
Trommelfell nicht nachſchwingen zu laſſen, wenn
260128 und Ton vorüber ſind, befindet ſich in der Schnecke des Ge-
hörganges
ein wirkliches Inſtrument, in welchem feine, ausge-
ſpannte
Membranen ganz ſo wie die Seiten eines Klaviers in
Mitſchwingung
geraten, wenn ein ihrem Eigenton entſprechender
Ton
erſchallt.
Neben dieſem muſikaliſch gebauten Organe be-
findet
ſich auch noch eine kleine Höhle mit körniger Flüſſigkeit
im
Hör-Apparat, der nicht Töne, ſondern Geräuſche auf die
Nerven-Enden
überträgt.
Zu dieſen Geräuſchen gehört auch
unſer
Sprechen, das nicht nach muſikaliſchen Geſetzen erfolgt.
Und trotz der Kleinheit all dieſer Vorrichtungen ſind ſie doch
ſo
empfindlich und wirkſam, daß ſie die magnetiſchen Schwin-
gungen
einer Eiſenplatte im Telephon in all ihren Variationen
vernehmbar
machen, wenngleich dieſe Schwingungen ſo fein
und
ſo klein ſind, daß man ſie durch kein Mikroſkop zu be-
obachten
imſtande iſt!
Gemeinhin nimmt man an, daß unſer Geruchsſinn ma-
teriellerer
Natur iſt und der Feinheit entbehrt, die dem Auge
und
dem Ohr verliehen iſt;
aber auch dies hat ſich als eine
irrige
Anſchauung ergeben.
Das Riechorgan unſerer Naſe iſt
nur
für Gaſe eingerichtet.
Eine Flüſſigkeit, mit welcher man
die
Naſe füllt, und wäre es ſelbſt Eau de Cologne, nimmt
unſer
Geruchsſinn nicht wahr, ſo lange ſie nicht verdunſtet.
Nur das Gas in der Miſchung der eingeatmeten Luft wird
empfunden
;
aber wie unendlich fein dieſe Empfindung iſt, da-
für
hat man längſt ein Beiſpiel am Moſchusgeruch.
Selbſt
die
allerfeinſte chemiſche Wage iſt außer ſtande, nachzuweiſen,
wie
viel ein Körnchen Moſchus an Teilchen ſeines Gewichts
durch
Verdunſtung während 24 Stunden verloren hat, während
der
Geruchsſinn es noch nach Jahren herausfindet, wenn ein-
mal
ein Moſchus-Körnchen auch nur eine einzige Minute im
Zimmer
gelegen hat.
Weniger erforſcht iſt unſer Geſchmacksſinn. Man weiß
es
nicht cinmal genau anzugeben, an welcher Stelle der
261129 und des Gaumens dieſer Sinn ſeinen Hauptſitz hat, weil die
Flüſſigkeiten
, mit welchen man Verſuche anſtellt, ſich in der
ganzen
Mundhöhle verbreiten.
Selbſt über die Frage, ob die
Zungenſpitze
Geſchmacksnerven hat, iſt man nicht ganz im
Reinen
.
Im Berliner phyſiologiſchen Inſtitut iſt vor Jahren
von
jungen Forſchern hierüber ein eigentümliches Erperiment
mit
Elektrizität angeſtellt worden.
Man weiß es, daß der
eine
Strom eine Säure, der andere Strom einen alkaliſchen
Stoff
anzieht.
Da ſtellten ſich denn zwei junge Studenten
einander
gegenüber, ſtreckten ihre Zungenſpitzen einander zu,
ſo
daß ſie ſich berührten, während der eine den poſitiven, der
andere
den negativen Pol einer Batterie in die befeuchtete
Hand
nahm.
Der Strom ging auch durch die Zungenſpitzen
und
die Empfindungen beider Experimentatoren waren auch
verſchieden
;
aber ſie mußten dabei doch erſt die Zungenſpitzen
an
den Gaumen bringen, um zu erkennen, was ſie ſchmeckten.
Es ſprach die Wahrſcheinlichkeit dafür, daß wohl die Feuchtig-
keit
der beiden Zungen durch den Strom zerſetzt wurde, daß
aber
der Geſchmack ſelber erſt hervortrat, als die zerſetzten
Stoffe
tiefer in die Mundhöhle eingedrungen waren.
Gleichwohl haben wir allen Grund zu behaupten, daß
auch
das verſteckteſte Gebilde unſerer Sinneswirkungen in
äußerſt
kleinen Partikelchen verborgen liegt.
Es giebt viele
chemiſche
Stoffe, namentlich auf dem Gebiet der organiſchen
Chemie
, welche in allen Beziehungen eine Ähnlichkeit haben
und
ſich ſchwer unterſcheiden laſſen.
Da nimmt denn der
Chemiker
auch zum Geſchmacksſinn Zuflucht, und dieſer
ſpürt
oft aus, was nicht die feinſte Wage noch die ent-
ſcheidenſten
Reagentien der Chemiker auszuſpionieren im-
ſtande
ſind.
Auch der Taſtſinn iſt äußerſt fein. Man ſpürt ein
Härchen
auf der Zunge, das man mit bloßem Auge nicht ſieht.
Als ein anderes Beiſpiel für die Feinheit des Taſtſinnes führen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIII.
262130
wir die Thatſache an, daß man die allerfeinſten Glas-Linſen
unſerer
Fernrohre nicht durch die exakteſten Maſchinen ſchleift
und
poliert, ſondern ſich hierin lieber auf den feinen Taſtſinn
der
Hand eines geübten Glasſchleifers verläßt.
Erſt in neuerer
Zeit
giebt man äußerſt feinen Schleif-Inſtrumenten den Vorzug.
Wir wiſſen nur ſo viel, daß der der Wiſſenſchaft fruchtreichſte
Hohlſpiegel
, durch den man die tiefſten Tiefen des Weltalls
in
glänzendſtem Maße durchforſcht hat, von dem unſterb-
lichen
William Herſchel (1738—1822) mit eigner Hand ge-
ſchliffen
und poliert wurde.
Ehre ſeinem jahrelangen Mühen
und
ſeinem Angedenken!
Zum Schluß unſeres heutigen Themas, das wir nur
flüchtig
berührt haben, mögen hier noch ein paar Worte der
Betrachtung
über die kleinen Kräfte und die großen Wirkungen
auf
dem Gebiete des geiſtigen Fortſchritts der Menſchheit folgen.
Die ehemals geltenden Vorſtellungen über die Exiſtenz
großer
Kräfte in den Naturerſcheinungen waren Ausgeburten
der
Unwiſſenheit früherer Jahrtauſende.
So lange man den
großen
Donnerer im Himmel fürchtete, kam man nicht zur
Unterſuchung
dieſes erſchreckenden Gepolters.
Ja, es würde
als
Ketzerei aufgenommen worden ſein, wenn es jemand ge-
wagt
haben würde, die Hand Gottes im Gewitter fortzuleugnen.
Wir dürfen uns nicht wundern, wenn im Altertum und im
Mittelalter
jeder unverſtandene Vorgang in der Natur der
Willkür
, dem Zorn oder dem Wohlwollen der Götter zuge-
ſchrieben
wurde, die zu ihrer Verherrlichung Wunder thun.

Zwiſchen
Himmel und Erde erdichtete man damit eine Scheide-
wand
, laut welcher im Himmel die Wunder ihren Sitz haben
und
die Erde als der Spielball erſchien, auf dem ſich die
Götterkraft
offenbarte.
Um dies Bild zu vervollſtändigen,
wurde
zu dieſer Scheidewand noch eine zweite erſonnen, welche
eine
angebliche Unterwelt von der Erde ſonderte.
Vorſtellungen
dieſer
Art vererbten ſich bis in die neuere Zeit, in
263131 dergleichen noch als beſeligender Glaubens-Inhalt vielfach feſt-
gehalten
wird.
Wann wurde die Mauer dieſer Vorſtellung durchbrochen?
Als Kopernikus (1473—1543) auftrat und zeigte, daß
die
Erde im Weltall ſchwebt und wir Erdenkinder in demſelben
Himmel
exiſtieren, worin die Sterne alle dahin wandern.
Da
fiel
nicht bloß die alte Scheidewand, ſondern auch die Geiſtes-
mauer
wurde erſchüttert und zerriſſen, die die Menſchheit in Un-
wiſſenheit
hielt.
Langſam ſank Stein um Stein aus dem alten
Glaubensbau
mit jedem Schritt des Wiſſens, den ausgewählte
Geiſter
errungen.
Von der Unterwelt ſchweigen jetzt ſelbſt die
Gläubigſten
, ſeitdem die Tiefen des Meeres von Kabeln durch-
zogen
ſind und Lokomotiven durch Tunnels in die Eingeweide
der
Erde hinein und wieder jenſeits der mächtigſten Felſen-
wände
munter in den Tag hinein rennen.
Der Blitz der Tele-
graphie
wirkt zündender auf die Welt als ehedem der Blitz-
ſtrahl
aller zürnenden Götter;
und der elektriſche Lichtſtrahl
verſcheucht
viele Geiſter der Nacht ſamt der Finſternis, in
welcher
ſie meiſt ihr Weſen getrieben.
Wie aber lautet die Signatur unſerer lichteren Zeit?
Sie lautet, begründet durch die Summe großer Forſchungen,
wie
folgt:
Es giebt nicht eine Kraft der Willkür in der Natur, ſon-
dern
eine Kombination kleiner Kräfte, welche wir durch Geiſtes-
arbeit
ſtudieren, beherrſchen und zu großen Wirkungen im
Dienſte
der Menſchheit benutzen könuen und entſprechend
der
Geiſteswürde des Menſchenweſens auch benutzen ſollen!
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
264
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265
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Jünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Wotonié und R. Hennig.
Vierzehnter Teil.
15[Figure 15]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
266
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
267
Inhaltsverzeichnis.
11
## Geite
## Anleitung zu chemiſchen Experimenten für Anfänger.
I
. # Wie man Glasrohr gut brechen kann # 2
II
. # Wie man Glasrohr biegt # 4
III
. # Ein drittes Kunſtſtück # 6
IV
. # Probiergläschen # 7
V
. # Eine Kochflaſche # 8
VI
. # Gute Pfropfen und deren Vorrichtung # 11
VII
. # Die pneumatiſche Wanne # 12
VIII
. # Wie man ſich Waſſerſtoffgas machen kann # 13
IX
. # Wie man Gas in einem Gefäß auffangen kann # 16
X
. # Wie man einen kleinen Luftballon füllen kann # 17
XI
. # Wie man Sauerſtoff macht und auffängt # 18
XII
. # Einige Verſuche mit Waſſerſtoff # 20
XIII
. # Einige Verſuche mit Sauerſtoff # 22
XIV
. # Sauerſtoff mit Schwefel und Phosphor # 22
XV
. # Sauerſtoff und Eiſen # 24
XVI
. # Die Hitze, in welcher ſich Waſſerſtoff und Sauerſtoff ver-
# binden # 25
XVII
. # Etwas vom Stickſtoff # 27
XVIII
. # Etwas vom Kohlenſtoff # 29
XIX
. # Wie man Kohlenſtoff mit Sauerſtoff chemiſch verbindet # 31
XX
. # Einige Verſuche mit Silber # 33
XXI
. # Einige Verſuche mit reinem Silber und mit Höllenſtein # 36
## Praktiſche Heizung.
I
. # Die Wiſſenſchaft und die Praxis # 39
II
. # Verbrennung und Erwärmung # 43
III
. # Wir brennen ein Stück Kien an # 46
IV
. # Der Zug und das Feuer # 50
V
. # Der Zug im Ofen # 53
VI
. # Lufttransport und Ofen-Konzert # 57
VII
. # Ofen und Kamin # 60
VIII
. # Der Kachelofen # 64
IX
. # Material, Farbe und Glaſur des Ofens # 67
X
. # Der Ofen innerlich #
11268IV ## Geite
XI
. # Die Züge im Ofen # 74
XII
. # Die Züge und das Brennmaterial # 77
XIII
. # Die Schornſtein-Frage # 80
XIV
. # Die verſchiedenen Brennmaterialien # 83
XV
. # Die Unterſuchungen der Brennmaterialien # 86
XVI
. # Die Verſuche über die Heizkraft # 89
XVII
. # Über den Wert des Kien- und Büchenholzes # 92
XVIII
. # Der Brennwert des Eichenholzes # 96
XIX
. # Der Heiz- und der Geldwert # 98
XX
. # Der Torf # 101
XXI
. # Der Heizwert des Torfes # 104
XXII
. # Für und gegen den Torf # 107
XXIII
. # Der Koks # 110
XXIV
. # Die Heizkraft des Koks # 113
XXV
. # Der Koks wiſſenſchaftlich und wirtſchaftlich # 116
XXVI
. # Die Steinkohle # 119
XXVII
. # Gegen die Steinkohlen # 123
XXVIII
. # Die Braunkohle # 125
XXIX
. # Die Heizung und die Geſundheit # 130
XXX
. # Die Nebenumſtände der Erwärmung # 133
XXXI
. # Wände, Stubendecke und Schornſtein-Öffnung # 136
XXXII
. # Die einmalige Heizung # 139
XXXIII
. # Der zu ſchnell heizende Ofen # 142
XXXIV
. # Der eiſerne Ofen # 146
XXXV
. # Schädlichkeit des eiſernen Ofens # 149
XXXVI
. # Anwendbarkeit und Unanwendbarkeit des eiſernen
# Ofens # 152
XXXVII
. # Wie man den Torf praktiſcher macht # 155
XXXVIII
. # Die luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren # 157
XXXIX
. # Eine Erklärung # 159
XL
. # Das Kochen im Ofen # 162
XLI
. # Heizgas, ein Ausblick in die Zukunft # 165
## Die Heizung im Großen.
XLII
. # Die Warm-Waſſerheizung # 169
XLIII
. # Die Niederdruck-Dampfheizung # 181
269
Anleitung zu chemiſchen Grperimenten für
Anfänger.
Schon wiederholt haben wir bei Beſprechung chemiſch-
phyſikaliſcher
Dinge Anweiſungen zur Anſtellung von Experi-
menten
gegeben.
Wer die Natur wirklich verſtehen will, muß
ſich
die Antworten auf die an ſie geſtellten Fragen ſo viel wie
möglich
ſelber holen.
Die Natur läßt ſich oft zwingen auf
eine
beſtimmte Frage eine beſtimmte Antwort zu geben und
zwar
dadurch, daß man Verſuche anſtellt.
Die eigene An-
ſchauung
, die eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Natur-
wiſſenſchaften
ſind der wichtigſte Beſtandteil der Kenntniſſe eines
Forſchers
und überhaupt eines jeden, der über die Natur nach-
denkt
.
Auch für den freundlichen Leſerkreis iſt es daher von
großer
Wichtigkeit die Mittel kennen zu lernen, die zu Aut-
worten
der Natur führen und wir wollen daher einmal in dem
folgenden
Kapitel insbeſondere eine Anleitung der allererſten
Grundlagen
zu chemiſchen Experimenten geben.
Für jeden Freund der Naturwiſſenſchaften, der ſich einen
Einblick
in das Schaffen und Wirken der Chemie aneignen will,
iſt
es alſo ſehr ratſam, ſich mit den Handgriffen der Chemiker
zu
befreunden, ja es iſt für den Anfänger ſogar wichtig, ſich
die
einfachſten Inſtrumente und Apparate womöglich ſelber an-
zufertigen
.
In den nachſtehenden Blättern wird gezeigt, wie
man
das anfängt, wie man mit ein wenig Handgeſchicklichkeit
und
mit ſehr wenig Geld ſich ſo manches ſchaffen kann, was
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
2702
eben ſo viel Vergnügen wie Belehrung gewährt, und wie man
ſich
dadurch im Kleinen eine Einſicht erwirbt, welche das Ver-
ſtändnis
für größere und vollſtändigere Einrichtungen außer-
ordentlich
erleichtert.
Wie in allen guten Dingen heißt es auch hier: ſelbſt iſt
der
Mann! Was man ſich ſelber machen kann, iſt lehrreicher,
als
was man ſich vormachen läßt oder gar für Geld fertig
kaufen
mag.
Probieren iſt beſſer als Studieren. Darum wollen
wir
denn gleich mit dem Probieren anfangen;
das Studieren
wird
dann ſpäter viel leichter werden.
Alſo zur Sache.
I. Wie man Glasrohr gut brechen kann.
In jeder guten Glashandlung bekommt man für wenige
Pfennige
ein Meter Glasrohr.
Man thut gut, wenn man es
nicht
dicker nimmt wie etwa ein Bleiſtift und ſich ſolches Rohr
geben
läßt, das dünnwandig und leicht ſchmelzbar iſt.
Der
Glashändler
weiß dann ſchon, wie er es zu geben hat.
Der Anfänger muß nun lernen, wie man ſich von ſolchem
langen
Rohr beliebige Stücke gut abbrechen kann.
Dies macht
man
in folgender Weiſe, wie es das nebenſtehende Bildchen 1
zeigt
.
Man macht vorerſt mit einer kleinen, dreikantigen Feile,
welche
in jeder Eiſenhandlung zu haben iſt, einen leichten Strich
an
der Stelle, wo man abbrechen will.
Es genügt, wenn
man
mit der Feile nur einen ganz kleinen, feinen Riß macht.
Wenn man das Rohr auf den Tiſch legt, den Finger an der
Stelle
hält, wo man den Bruch machen will, und mit der Kante
der
Feile zwei-, dreimal über das Glas hinfährt, ſo gelingt
dies
ganz gut.
Nunmehr hält man das Rohr mit beiden Händen,
2713 es ſo, daß der Feilenſtrich oben iſt, ſetzt unten die beiden
Daumennägel
an und bricht ganz dreiſt ab.
Das Rohr bricht
dann
ganz glatt, ohne zu ſplittern, an der angeritzten Stelle.
Da die Bruchſtelle ein wenig ſcharfkantig und ſchneidend
iſt
, ſo thut man gut, ſie durch Schmelzen abzuſtumpfen.
Dazu
iſt
eine Spirituslampe nötig, wie man ſie in guten Glashand-
lungen
für ein paar Groſchen kaufen kann.
Dieſe Ausgabe
darf
man nicht ſcheuen, weil wir die Lampe noch ſehr vielfach
brauchen
werden.
16[Figure 16]Fig. 1.
Zu ſolcher Lampe gehört auch eine kleine Blechhülſe und
ein
guter Docht.
Von ganz beſonderer Wichtigkeit iſt aber
der
hierzu paſſende Glasdeckel, der gut aufgeſchliffen ſein muß.
Jeder ordentliche Glashändler liefert dies alles in gutem Zu-
ſtande
.
Die Lampe wird mit gutem Spiritus gefüllt, der Docht
mäßig
hoch herausgezogen und zum Gebrauch angezündet.

(Nach dem Gebrauch aber muß immer der Deckel regelrecht
aufgeſetzt
werden, damit der Spiritus nicht verdampft und der
Docht
nicht verdirbt.)
Nun kann man ganz dreiſt die Bruchſtelle des Rohrs in
die
Flamme der Lampe, und zwar in den oberen Teil der
Flamme
, wo ſie am heißeſten iſt, hineinhalten und dabei
2724 Rohr ein wenig drehen. Man wird bald bemerken, daß das
Glas
zu glühen und nach und nach zu ſchmelzen anfängt, wo-
durch
die ſcharfe, ſchneidige Kante hübſch glatt und abgerundet
wird
.
Wenn man das Rohr aus der Flamme nimmt, ſieht das
geglühte
Ende recht klar aus, und man meint oft, daß es auch
ſchon
wieder kalt ſei, aber das iſt durchaus nicht ſobald der
Fall
.
Wer ſich nicht die Finger verbrennen will, muß ſich
hüten
, die geglühte Stelle anzufaſſen, wenngleich das Rohr ſonſt
ganz
kalt iſt.
Daraus lernt jeder Denkende ſehr leicht, daß
Glas
ein ſchlechter Wärmeleiter iſt;
denn ſonſt würde das ganze
Rohr
ſtark erhitzt worden ſein.
In vielen Haushaltungen hat man eine Berzeliuslampe.
Eine ſolche iſt viel beſſer als die Spirituslampe und kann mit
Vorteil
in allen Fällen anſtatt derſelben gebraucht werden.
Nunmehr kommen wir zu einem zweiten Kunſtſtück.
II. Wie man Glasrohr biegt.
Man nimmt das Glasrohr, wie das Bildchen 2 zeigt, mit
beiden
Händen und erwärmt die Stelle des Rohrs, wo es ge-
17[Figure 17]Fig. 2.
2735 bogen werden ſoll, ein wenig durch Hin- und Herführen in
der
oberſten Flammenſpitze, am beſten einer Spirituslampe
oder
eines Gas-Bunſen-Brenners, ſo daß dieſe Gegend des
Rohrs
recht klar und ſchön ausſieht, indem jedes Stäubchen und
jede
Feuchtigkeit, die ſich daran befindet, dadurch verbrannt
und
verflüchtigt wird.
Nunmehr bringt man die Stelle, wo
man
das Rohr biegen will, in die Flamme und dreht dabei
das
Rohr langſam mit den Fingern.
Nach einiger Zeit wird
man
ſehen, wie die Stelle zu glühen anfängt und hübſch roſen-
18[Figure 18]Fig. 3. rot wird.
Man muß nun Geduld haben und das Drehen
ruhig
fortſetzen, bis man merkt, daß das Glas weich wird
und
einem recht ſanften Biegen nachgiebt.
Während des
Biegens
muß man das Rohr ein wenig mit beiden Händen
ziehen
, als ob man es länger machen wollte.
Es wird denn
auch
hierin nachgeben und ſich ganz hübſch um die Ecke in
einen
rechten Winkel biegen laſſen.
Nach einiger Erfahrung
wird
man den richtigen Zeitpunkt, wo man mit Ziehen und
Biegen
anfängt, von ſelber herausfinden.
War man ungeduldig
und
hat damit zu früh begonnen, ſo wird das Rohr brechen.
Aber man darf ſich darum nicht grämen. Es iſt ein
2746 Lehrgeld, das gute Dienſte leiſtet, wenn man ſich’s richtig merkt.
Es wird beim zweiten und dritten Mal ſchon beſſer gehen und
dem
Anfänger Freude machen.
Die Formen, in welche man die Glasröhren biegen muß,
ſind
ſehr verſchieden.
Vorerſt genügt es, ſie in der Weiſe zu
geſtalten
, wie die Zeichnung (Fig.
3) andeutet.
III. Ein drittes Kunſtſtück,
das man nunmehr probieren muß, iſt ſehr leicht.
Wir werden zu den kleinen Experimenten, die wir noch
ausführen
wollen, kleine Glasröhren mit feiner Spitze brauchen,
durch
welche Gaſe, die wir uns ſelber herſtellen werden, in
dünnem
Strahl ausſtrömen.
SolcheAusſtrömungsröhren”
ſtellt
man in folgender Weiſe dar.
Man behandelt das Glasrohr ſo, als wollte man es
biegen
;
aber man biegt es nicht, ſondern zieht es, wenn es
weich
geworden iſt, ſanft mit beiden Händen, ſo daß es wirklich
nach
und nach länger wird.
Die erweichte Stelle wird dabei
dünner
.
Nun erwärmt man die dünne Stelle weiter und
zieht
endlich das Rohr mit beiden Händen ſo, daß das Glas
nur
noch einen dünnen Faden bildet, der bei weiterem Ziehen
abreißt
.
Man legt nunmehr beide Stäbe zum Abkühlen hohl hin,
indem
man die heißen Stellen auf ein Stückchen Glasrohr legt.
Wenn die Abkühlung erfolgt iſt, bricht man die Spitze ſoweit
ab
, daß die Öffnung ungefähr einen Millimeter beträgt und
etwa
eine gewöhnliche Stopfnadel hineingeht.
Dieſe Bruchſtelle
bringt
man dann wieder auf einen Moment in die Flamme,
ſo
daß die Öffnung ihre Schärfe verliert.
2757
Man kann mehrere ſolche Ausſtrömungsröhren brauchen
und
macht ſie ungefähr einen Finger lang.
Wenn man ſparſam
ſein
will und Sparſamkeit iſt auch in der Chemie eine
große
Tugend ſo verwendet man hierzu alle verunglückten
Bruchteile
des Rohres und ſammelt ſich einen kleinen Vorrat
von
ſolchen Röhren an.
IV. Probiergläschen.
In jeder guten Glashandlung bekommt man für ein paar
Groſchen
eine ganze Maſſe Probiergläschen, von denen in
Figur
3 links eines dargeſtellt iſt.
Ein Dutzend iſt ausreichend.
Es ſind dies ſpannenlange, ſchmale Gläſer, für welche man ſich
aus
einer alten Zigarrenkiſte
19[Figure 19]Fig. 4. und einem Stück Pappe ein
Geſtell
machen kann, wie es
die
nebenſtehende Zeichnung
(Fig.
4) darſtellt.
Mit ſolchem Probier-
gläschen
(“Reagensgläschen”)
kann
man ſofort ein kleines,
lehrreiches Experiment
machen
, das für den An-
fänger
recht überraſchend iſt.
Man füllt nämlich ſolch ein
Gläschen
etwas über drei
Viertel
mit Waſſer, faßt es unten mit der Hand an und hält
es
dort, wo oben das Waſſer ſteht, in ſchräger Stellung in
die
Spiritusflamme.
Nach kurzer Zeit wird man bemerken,
daß
dort, wo die Flamme herumſchlägt, im Waſſer erſt kleine
und
dann große Blaſen entſtehen, die platzen und Dampf
2768 ſtrömen laſſen. Das Waſſer oben kocht und entwickelt Dampf,
während
unten, wo man das Gläschen in den Fingern hält,
keine
ſonderliche Wärme herrſcht.
Man lernt hieraus, wie
man
ein kochendes Waſſergefäß ruhig in der Hand halten kann,
ohne
ſich zu verbrennen.
Es iſt dies darum möglich, weil
Waſſer
ein ſchlechter Leiter der Wärme iſt.
Die obere Hitze
dringt
nicht nach unten.
Man ſieht aber auch dabei, was da
vorgeht
, wenn Waſſer erhitzt wird.
Es verwandelt ſich das
Waſſer
in Gas und bildet erſt kleine und dann größere Blaſen;
die Blaſen ſteigen nach oben und bilden beim Ausſtrömen in
die
Luft Waſſerdampf.
Waſſerdampf iſt Waſſer, welches über
100
Grad Celſius heiß iſt und nunmehr Luftgeſtalt annimmt.
V. Eine Kochflaſche.
In guten Glashandlungen bekommt man auch ſehr billig
eine
Kochflaſche, die wir zu verſchiedenen Experimenten brauchen
werden
.
Es iſt dies eine Flaſche aus dünnem Glaſe, welche
unten
rund iſt und alſo nicht ſtehen kann.
Mit ſolcher Koch-
flaſche
kann man viele ſchöne Experimente anſtellen, ſobald
man
ſich dazu einer Vorrichtung bedient, durch welche man
die
Flaſche über die brennende Lampe bringen kann.
In
ordentlichen
Laboratorien hat man dazu Ständer, ſog.
Retorten-
halter
.
Es beſteht ein ſolcher aus einem Stock, der auf einem
breiten
Brett befeſtigt iſt.
An dieſem Stock befindet ſich ein
drehbarer
Arm, den man beliebig hoch oder niedrig ſtellen
kann
und der vorne zwei Brettchen hat, zwiſchen welchen man
den
Hals der Flaſche ſteckt und ſie durch eine Schraube ſo
aneinander
bringt, daß ſie die Flaſche feſthalten.
Wer ſich
einen
ſolchen Ständer kaufen kann, der etwa zwei Mark koſtet,
der
thut gut daran.
Wer jedoch die Ausgabe ſcheut, kann
2779 mit einiger Handgeſchicklichkeit wohl einen ſolchen herſtellen;
aber er muß dabei mit großer Umſicht verfahren, weil bei
Gebrauch
desſelben in vielen Experimenten leicht ein Unfall
paſſieren
kann, der zehnmal mehr beſchädigt, als ein gut her-
geſtellter
Ständer koſtet.
Wenn man die Koch-
20[Figure 20]Fig. 5.80° 90° 100° 100° flaſche an den Ständer ſo
befeſtigt
hat, daß man
die
Spirituslampe bequem
unter
die Flaſche ſtellen
kann
, füllt man die Flaſche
zur
Hälfte mit Waſſer
und
zündet die Lampe an,
worauf
dann bald das
Waſſer
ins Kochen gerät
und
der Dampf oben aus
der
Flaſche ſtürmiſch ent-
weicht
.
Man kann auch die
Kochflaſche
auf einen Drei-
fuß
ſtellen, worauf ein
Dreieck
gelegt wird, auf
welches
die Flaſche ſo zu
ſtehen
kommt, wie es das
nebenſtehende
Bildchen
(Fig.
5) darſtellt. Wenn
das
Kochen einige Minuten
angehalten
hat und das
Waſſer
recht kräftig wallt, nimmt man die Lampe fort und
verſchließt
die Öffnung der Flaſche recht ſchnell mit einem dazu
vorbereiteten
, guten Korkpfropfen.
Das Kochen wird aufhören,
und
allem Anſchein nach iſt es im Innern der Flaſche wieder
ſo
, wie es war vor dem Kochen;
allein in Wahrheit iſt der
Zuſtand
ein anderer.
Der Dampf nämlich hat während
27810 Herausſtrömens die atmoſphäriſche Luft aus der Flaſche hin-
ausgetrieben
.
Der Pfropfen verhindert, daß wieder Luft in
die
Flaſche eindringt.
Der ſcheinbar leere Raum in der Flaſche
iſt
nunmehr mit Waſſerdampf gefüllt.
Wartet man nun eine
Weile
, bis ſich die Flaſche ſo weit abgekühlt hat, daß man ſie
in
der Hand halten kann, ſo nimmt man ſie aus dem Ständer
und
hält ſie umgekehrt mit dem Pfropfen nach unten.
Gießt
man
nunmehr aus einem Töpfchen etwas kaltes Waſſer auf die
Flaſche
, ſo wird man mit Überraſchung wahrnehmen, daß das
Waſſer
in der Flaſche nochmals zu kochen anfängt, und zwar
deſto
ſtürmiſcher, je kälter das Waſſer iſt, welches man auf
die
Flaſche gießt.
Der Grund dieſer intereſſanten Erſcheinung
iſt
, daß in der Flaſche anſtatt Luft jetzt nur Waſſerdämpfe
exiſtieren
.
Durch das kalte Waſſer, welches man über die
Flaſche
gießt, verwandelt ſich der Dampf in der Flaſche in
Waſſer
, und es entſteht da ein leerer Raum.
Da aber das Waſſer
in
der Flaſche noch warm iſt, ſo beginnt es ſofort wieder zu
verdampfen
, und ſo ſtürmiſch, daß es in ſtarke Wallung gerät,
wie
wenn es recht heftig kochen würde.
Man kann das hübſche
Experiment
, wobei man ohne Feuer ſcheinbar das Waſſer ins
Kochen
bringt, ſo lange wiederholen, bis das Waſſer in der
Flaſche
ſehr ſtark abgekühlt iſt.
Hierbei hat man Gelegenheit, eine wichtige Wahrheit zu
lernen
.
Es lautet dieſelbe dahin, daß Waſſer in Berührung
mit
der atmoſphäriſchen Luft erſt kocht, wenn man es bis auf
100
Grad Celſius erhitzt.
Schon beim Ausſtrömen des Dampfes
kühlt
er ſich auf circa 90 Grad ab, und oben in der Luft ver-
wandelt
ſich der Dampf bei 80 Grad in feine Waſſertropfen.
Die Luft drückt nämlich auf das Waſſer und verhindert die
ſchnelle
Verdampfung.
Wenn man jedoch die Luft austreibt,
ſo
kocht das Waſſer bereits, wenn es auch nur ſehr mäßig
erwärmt
wird.
Dieſe Erfahrung macht man auch ſchon,
wenn
man auf ſehr hohen Bergen Waſſer kocht.
Dort
27911 iſt die Luft dünn, und außerdem iſt die Luftſäule über dem
Waſſer
weniger hoch und drückt deshalb weniger auf das
Waſſer
.
Es gerät deshalb das Waſſer ins Kochen, wenngleich
dasſelbe
noch keineswegs 100 Grad Celſius warm geworden iſt.
Wir werden die Kochflaſche noch öfter brauchen.
VI. Gute Pfropfen und deren Vorrichtung.
Wer ein wenig Chemie treiben will, muß ſich gute Pfropfen
kaufen
.
Im allgemeinen nennt man ſie franzöſiſche oder ſpa-
niſche
Korke;
man kann indeſſen ganz gut die Pfropfen benutzen,
womit
unſere gewöhnlichen Selterswaſſerflaſchen verſchloſſen
werden
.
Es iſt gut, wenn man ſich etwas Vorrat davon hält.
Sie dürfen nicht ſo porös ſein, wie ſie bei unſeren Bierflaſchen
im
Gebrauch ſind, weil ſie dann die Luft durchlaſſen.
Man
muß
auch darauf achten, daß ſie gut zur Kochflaſche und zu
den
Probiergläschen paſſen und nach dem Einpreſſen feſt
ſchließen
.
Nunmehr aber muß man mehrere Pfropfen mit ſolchen
Löchern
verſehen, in welche ein Glasrohr gut und feſt hinein-
paßt
.
Um die Löcher zu machen, nimmt man einen Eiſen-
draht
, der etwa halb ſo dick iſt wie das Glasrohr, glüht den
Draht
im Feuer, bis er gehörig rot iſt, und ſteckt ihn langſam
in
den Pfropfen hinein.
Der Kork verkohlt dabei, und es
entſteht
ein Loch, das man, wenn das Glasrohr noch nicht
hineingeht
, mit der Feile ein wenig erweitert.
Sodann macht
man
das Glasrohr ein wenig naß und ſchiebt es mit einiger
Gewalt
durch den Pfropfen.
In ſolche durchlöcherte Pfropfen bringt man die Aus-
ſtrömungsröhrchen
hinein, wie es in unſerer Figur 3 zu ſehen
iſt
.
Stopft man damit ein Probiergläschen oder die
28012 ſlaſche zu, ſo ſtrömen die etwaigen Gaſe, welche man ent-
wickelt
, durch die feine Öffnung der Glasröhre in dünnem
Strahl
heraus.
Auch die gebogenen Glasröhren müſſen mit ſolchen Pfropfen
verſehen
ſein, wie wir bald ſehen werden.
Noch eine kleine Ausgabe iſt nötig. Man muß ſich etwas
Gummiſchlauch
anſchaffen, welcher ein klein wenig enger iſt als
das
Glasrohr.
Man bekommt für ein paar Groſchen einen
ganzen
Meter davon, und es iſt gut, wenn man ſich mit etwas
Vorrat
verſorgt, obwohl man immer nur kleine Enden davon
gebrauchen
wird.
Mit einer gewöhnlichen Scheere ſchneidet
man
das Gummirohr ganz gut ab, ſoviel man benutzen will.
Wenn man das Glasrohr in die etwas engere Gummiröhre
hineinbringen
will, ſo geſchieht dies am beſten, wenn man
das
Ende der Glasröhren mit dem Munde ein wenig an-
feuchtet
.
VII. Die pneumatiſche Wanne.
Das letzte Stück, was man ſich anſchaffen muß, iſt eine
pneumatiſche
Wanne.
Man kann dazu auch eine gewöhnliche
Waſchſchüſſel
gebrauchen;
aber man muß dazu eine Bank aus
Blech
oder Zink herſtellen, welche in der Waſchſchüſſel gut
ſtehen
kann und zwar ſo niedrig ſein muß, daß ſie unter
21[Figure 21]Fig. 6. Waſſer ſteht, wenn man die
Schüſſel
zur Hälfte mit Waſſer
füllt
.
In der Mitte der Bank
macht
man ein Loch, mit einem
Nagel
und erweitert dies mit
der
Feile ſo ſtark, bis es un-
gefähr
ſo groß iſt wie die
Öffnung
der Glasröhre.
28113
Das vorſtehende Bildchen (Fig. 6) zeigt die pneumatiſche
Wanne
zum fertigen Gebrauch, den wir näher kennen lernen
werden
.
Die Bank darf nicht wackeln und muß feſt und breit
genug
ſein, um eine umgekehrte Flaſche oder ein Glas ſicher
tragen
zu können.
Wenn man ſich all das angeſchafft hat, ſo kann man die
chemiſche
Kunſt ſofort anfangen.
VIII. Wie man ſich Waſſerſtoffgas machen kann.
Waſſerſtoffgas kommt als ſolches in der Natur nur ganz
ſelten
vor.
Das Gas, wenn es ſich irgendwo, wie z. B. in vul-
kaniſchen
Gaſen, frei entwickelt, ſteigt ſofort in der Luft in die
Höhe
, weil es an vierzehnmal leichter iſt als unſere atmoſphäriſche
Luft
.
Es iſt daher auch kein Wunder, daß man dieſes Gas
erſt
ſeit etwa hundert Jahren genauer kennt, obwohl es als
Hauptbeſtandteil
des Waſſers in gar gewaltigen Maſſen in
der
Natur exiſtiert.
Das Waſſer beſteht aus einem Maß
Sauerſtoff
und zwei Maß Waſſerſtoff.
Wenn man nun ein
Mittel
anwendet, wodurch man einer Maſſe Waſſer den Sauer-
ſtoff
entzieht, ſo wird der Waſſerſtoff frei, und bei einer geeig-
neten
Vorrichtung kann man denſelben ganz gut auffangen.
Man hat viele Mittel, dies zu erreichen; wir jedoch wollen
es
in der leichteſten und bequemſten Manier verſuchen.
Man ſchüttet in eine gewöhnliche Flaſche eine Handvoll
kleine
Stückchen Zink, wie ſie jeder Klempner für ein paar
Pfennige
abläßt.
Auch eine Handvoll kleine Nägel iſt dazu
brauchbar
.
Sodann gießt man verdünnte Schwefelſäure in die
Flaſche
, ſo daß ſie etwa halb voll wird.
Man wird ſofort
ſehen
, daß von dem Zink oder den eiſernen Nägeln Luftblaſen
aufſteigen
und als Gas aus der Flaſche hinausſtrömen.
28214 verſchließen wir die Flaſche mit einem Kork, worin ein Aus-
flußrohr
ſteckt.
Das in der Flaſche ſich entwickelnde Gas
wird
danach aus der feinen Öffnung des Rohres ausſtrömen.
Da muß man denn vorerſt warten, bis das Gas alle
atmoſphäriſche
Luft, welche in der Flaſche war, hinaus-
getrieben
hat;
denn Waſſerſtoff mit atmoſphäriſcher Luft
bildet
in beſtimmter Miſchung Knallgas, und wenn man eine
Flamme
daran bringt, ſo entzündet ſich dieſe Miſchung mit
heftigem
Knall und zerſprengt in gefährlicher Weiſe die ganze
Flaſche
.
Auch nach einer kleinen Weile thut man gut, erſt zu
probieren
, ob der Waſſerſtoff jetzt rein iſt, und das macht man
in
folgender Weiſe.
Man hält ein Probiergläschen umgekehrt
über
das Ausflußrohr und läßt ſo das Gas in das Gläschen
einſtrömen
, wobei die Luft, welche im Gläschen war, verdrängt
wird
von dem leichten Gaſe.
Das Gas bleibt auch in dem
Gläschen
ſolange, wie man es mit der Öffnung nach unten
hält
.
Nun entfernt man das Gläschen recht weit von der
Flaſche
, zündet ein Zündhölzchen an und hält es an die
Öffnung
des Gläschens.
Das Gas wird ſofort aufflammen.
War
nun in der Flaſche das Gas noch mit Luft gemiſcht, ſo
wird
es beim Aufflammen knallen, ohne jedoch infolge ſeiner
geringen
Menge einen Schaden anzurichten;
iſt jedoch in der
Flaſche
die Luft bereits verdrängt, ſo wird das Aufflammen
ruhig
vor ſich gehen.
Wenn man dies einige Male probiert und ſich überzeugt
hat
, daß kein Knallgas mehr in der Flaſche iſt, ſo kann man
ohne
Beſorgnis ein brennendes Zündholz an das Ausflußrohr
bringen
.
Das ausſtrömende Gas wird ſich entzünden und
mit
einer wenig leuchtenden, bläulichen Flamme fortbrennen:
Waſſerſtoff iſt ein brennbares Gas.
Obwohl die reine Waſſerſtoffflamme wenig leuchtet, iſt ſie
doch
ſehr heiß;
will man ſie ein wenig leuchtend machen, ſo
muß
man etwas Kohlenſtoff dazu bringen.
Es genügt,
28315 man die Kohle des Zündhölzchens in die Flamme bringt; auch
ein
wenig Cigarrenrauch, den man in die Flamme bläſt, bringt
ein
helleres Aufflammen hervor.
Unſer gewöhnliches Leucht-
gas
enthält auch Kohlenſtoff und beſteht demnach aus Kohlen-
waſſerſtoff
, der bekanntlich hell und ſchön leuchtet, aber dafür
weniger
heiß iſt als eine eben ſo große, reine Waſſerſtoffflamme.
Was aber iſt in der Flaſche vorgegangen? Woher kommt
der
Waſſerſtoff?
In der Flaſche hat das Metall, Zink oder Eiſen, die Schwefel-
ſäure
zerſetzt.
Das Metall hat eine große Neigung, ſich mit
Sauerſtoff
und Schwefel zu verbinden.
Da nun Schwefelſäure
ans
Waſſerſtoff, Schwefel und Sauerſtoff beſteht, ſo wird der
Waſſerſtoff
frei, wenn das Metall ſeiner Neigung folgt, und
tritt
als Gas aus der Flaſche heraus.
Wenn nach einer Weile die Ausſtrömung ſchwach wird,
ſo
öffnet man die Flaſche ein wenig, gießt ſchnell etwas Schwefel-
ſäure
zu und ſetzt den Kork ſofort wieder ein.
Die Ausſtrömung
wird
dadurch wieder lebhafter.
Man muß jedoch hierbei
wiederum
die Vorſicht brauchen, nicht früher das Gas anzu-
zünden
, als bis man ſich überzeugt hat, daß es nicht mehr
mit
atmoſphäriſcher Luft gemiſcht iſt.
Will man dieſen Vorgang längere Zeit erhalten, ſo thut
man
gut, wenn man ſich in der Glashandlung einen kleinen
Trichter
kauft, der ein recht langes, dünnes Rohr hat.
Man
macht
dann in den Kork ein zweites kleines Loch, ſteckt das
Rohr
des Trichters hinein, und zwar ſo tief, daß es faſt bis
auf
den Boden der Flaſche reicht.
Man kann nun durch den
Trichter
immer friſche Schwefelſäure hineingießen, ohne den
Kork
zu lüften, und den Ausſtrömungsprozeß ſo lange unter-
halten
, bis alles Metall aufgelöſt iſt.
Das Metall nämlich verwandelt ſich in ein Salz. Es
iſt
dies entweder ſchwefelſaures Zinkoxyd (Zinkſulfat) oder
ſchwefelſaures
Eiſenoxyd (Eiſenvitriol).
Dieſes Salz löſt
28416 im Waſſer auf, während der eine Beſtandteil des Waſſers
als
Waſſerſtoffgas ausſtrömt.
IX. Wie man Gas in einem Gefäß auffangen kann.
Will man eine größere Maſſe Gas in einem Gefäß auf-
fangen
, ſo macht man es ſo, wie es unſere Figur 7 andeutet.
Man füllt die pneumatiſche Wanne mit Waſſer, ſo daß
das
darin befindliche Bänkchen völlig unter Waſſer ſteht.
So-
dann
füllt man ein hohes Glas, z.
B. ein langes Weißbier-
glas
oder auch eine Flaſche mit mäßig weitem Hals ganz voll
mit
Waſſer.
Sodann deckt man das Glas oder die Flaſche
mit
einem dünnen Brettchen oder mit einem Stück ſteifen
Papier
zu, hält die Hand auf dieſen Deckel und kehrt das
Glas
oder die Flaſche um.
Das Waſſer fließt nicht aus, und
man
ſetzt das ſo umgeſtülpte Gefäß in die pneumatiſche Wanne,
nimmt
unter Waſſer den Deckel fort und ſtellt das Gefäß mit
der
Öffnung auf das Bänkchen dort, wo ſich das Loch des-
ſelben
befindet.
Nunmehr bringt man ein in rechten Winkeln gebogenes
Rohr
, wie unſere Zeichnung zeigt, mit einem guten Pfropfen
auf
die Flaſche, worin ſich das Gas entwickelt.
Solch ein
Rohr
nennt man dasEntbindungsrohr”.
Nun ſteckt man
das
andere Ende dieſes Rohres unter das Bänkchen und unter
das
Loch desſelben.
Man wird ſofort ſehen, daß Gasblaſen aus dem Ende
des
Rohres aufſteigen und in das umgeſtülpte Gefäß hinauf-
wandern
.
In demſelben Maße, wie das geſchieht, ſinkt das
Waſſer
in dem Gefäß und fließt in die pneumatiſche Wanne.
Wenn alles Waſſer ausgefloſſen iſt, ſo iſt das Gefäß mit Gas
gefüllt
.
28517
Nunmehr hebt man das Gefäß umgekehrt mit der Öffnung
nach
unten heraus und ſtellt es umgekehrt auf den Tiſch.
Da
Waſſerſtoff
leichter iſt als die atmoſphäriſche Luft, ſo bleibt
das
Gas darin, auch wenn man das Gefäß unten frei und
offen
läßt.
Dieſe Art und Weiſe wendet man auch beim Sauerſtoff
an
, wie wir das noch zeigen werden.
Der Anfänger lernt
hierbei
, wie man Gaſe auffangen und in ein Gefäß bringen
kann
.
Zuweilen paßt das Entbindungsrohr nicht, weil es zu
kurz
oder zu lang iſt.
Da muß man ſich zu helfen wiſſen.
Man bricht in der angegebenen Weiſe das Entbindungsrohr
entzwei
und ſetzt zwiſchen die Stücken ein Stück Gummiſchlauch
ein
, das biegſam und allenthalben paſſend iſt.
Der Prozeß
der
Entbindung wird dadurch nicht geändert.
X. Wie man einen kleinen Luftballon füllen kann.
In guten Gummihandlungen kauft man für ein paar
Groſchen
einen kleinen Beutel von feinem Gummi, an dem ein
Röhrchen
angebracht iſt, durch welches man mit dem Munde
den
Beutel zu einem mäßig großen Ballon aufblaſen kann.
Der Ballon iſt freilich dann ſehr leicht; aber die Luft, welche
wir
mit dem Munde hineinblaſen, iſt zu ſchwer, um den Ballon
in
die Höhe zu treiben.
Um ihn ſteigen zu laſſen, muß man
ihn
mit Waſſerſtoff füllen.
Dies bewirkt man, wenn man den
gut
ausgedrückten, leeren Gummibeutel durch ein Röhrchen
Gummiſchlauch
mit der Waſſerſtoffflaſche in Verbindung ſetzt
und
das Gas einſtrömen läßt.
Anfangs geht die Ausdehnung
nur
langſam vor ſich;
aber wenn man nur Geduld hat, ſo
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
28618
wird ſich nach und nach der Ballon ganz mächtig ausdehnen.
Schnürt man dann den Ballon mit feinem Bindfaden zu, ſo
daß
das Gas nicht ausſtrömen kann, ſo ſteigt er in die Höhe
und
giebt ein Bild eines wirklichen Luftballons ab.
XI. Wie man Sauerſtoff macht und auffängt.
Sauerſtoff iſt gemiſcht mit Stickſtoff in der Luft, welche
wir
atmen, enthalten.
Wäre man nun imſtande, irgend einen
Stoff
aufzufinden, der ſtarke Neigung hat, ſich chemiſch mit
Stickſtoff
zu verbinden, ſo könnte man in irgend einem ge-
ſchloſſenen
Luftraume den Stickſtoff fortſchaffen, und man
würde
dann den Sauerſtoff der Luft einfangen.
Allein der
Stickſtoff
iſt durchaus nicht chemiſch verbindungsluſtig, und da
muß
man denn Sauerſtoff in anderer Weiſe zu gewinnen
ſuchen
.
Es giebt nun einige Salze, welche viel Sauerſtoff in ſich
haben
und ihn beim Erhitzen von ſich geben.
Solch ein Salz
iſt
das chlorſaure Kali, das ſehr billig in jeder Apotheke oder
Droguenhandlung
zu haben iſt.
Dieſes in feinen Kryſtallen
käufliche
Salz vermiſcht man mit ungefähr halb ſoviel Braun-
ſteinpulver
und thut dies Gemiſch in die Kochflaſche.
Sodann
bringt
man die Kochflaſche ſo an dem Ständer an, daß man
die
Spirituslampe gut darunter ſtellen kann.
Man ſteckt nun
einen
Kork mit einem Entbindungsrohr auf die Flaſche und
bringt
das Ende des Entbindungsrohrs in die pneumatiſche
Wanne
.
Zündet man nun die Lampe an, ſo wird zuerſt durch
die
Wärme die Luft ausgetrieben, welche in der Kochflaſche
und
im Rohr iſt.
Dieſe Luft iſt kein reiner Sauerſtoff, und
man
fängt ſie deshalb nicht auf.
Bald aber wird die
28719 in der Kochflaſche ſchmelzen und Blaſen ausſtrömen laſſen.
Da ſetzt man denn auf das Loch des Bänkchens der pneu-
matiſchen
Wanne ein mit Waſſer gefülltes Glas oder eine
Flaſche
ebenſo, wie man es mit dem Waſſerſtoff gemacht hat,
und
wie es die folgende Fig.
7 andeutet. Es ſteigen nunmehr
Sauerſtoffblaſen
auf.
Sie füllen das Gefäß und verdrängen
22[Figure 22]Fig. 7. das Waſſer.
Wenn dies nun voll Sauerſtoff iſt, ſo dreht man
das
Geſäß um, deckt es mit einem Brettchen oder mit einem
Stück
ſteifem Papier zu und ſtellt es beiſeite, um noch andere
Gläſer
oder Flaſchen zu füllen.
Aus dem Gemiſch kann man
wohl
fünf bis ſechs große Gefäße mit Sauerſtoff füllen.
Nunmehr muß man das Entbindungsrohr ſofort aus dem
Waſſer
herausnehmen, und erſt dann darf man die
28820 lampe auslöſchen, weil ſonſt ſehr leicht beim Aufhören des
Ausſtrömens
und der Abkühlung der Kochflaſche Waſſer durch
das
Entbindungsrohr in die Kochflaſche hineinſteigt und eine
Exploſion
in derſelben hervorruft, die leicht einen Unfall her-
beiführen
kann.
Um das Zurückſteigen des Waſſers in die
Kochflaſche
zu verhüten, iſt es empfehlenswert, das Entbindungs-
rohr
zu zerbrechen und die beiden Enden durch einen Gummi-
ſchlauch
zu verbinden, dann ſchneidet man mit einer Scheere
einen
kleinen, ſchrägen Schlitz in die Gummiröhre.
Es entweicht
dann
zwar zuweilen ein wenig Sauerſtoff aus dem Schlitz,
aber
man hat dabei den Vorteil, daß, wenn man die Lampe
zu
früh fortgenommen, die Luft durch den Schlitz eindringt
und
es verhindert, daß Waſſer in die Kochflaſche ſteigt.
Am
beſten
iſt es freilich, wenn man, bevor man die Lampe aus-
löſcht
oder fortnimmt, das Entbindungsrohr aus dem Waſſer
heraushebt
.
XII. Einige Verſuche mit Waſſerſtoff.
Wir haben bereits erwähnt, daß Waſſer aus den zwei
Gaſen
, Waſſerſtoff und Sauerſtoff, beſteht.
Jetzt wollen wir
einmal
zeigen, wie man ſich auf chemiſchem Wege Waſſer
machen
kann.
Man hat ſchon im gewöhnlichen Leben ſehr oft Gelegen-
heit
, dies Kunſtſtück zu ſehen;
allein man achtet in der Regel
nicht
darauf.
Wenn man eine Petroleumlampe anſteckt und
den
Cylinder aufſetzt, ſo wird wohl ſchon jeder unſerer Leſer
beobachtet
haben, daß im erſten Moment der Cylinder inwendig
wie
angehaucht erſcheint, dann aber bald nach und nach klar
wird
.
Dies iſt beſonders recht bemerkbar, wenn der Cylinder
kalt
war.
Was verurſacht dieſen Hauch? Es iſt
28921 wirkliches Waſſer, welches ſich beim Ausſtrömen des brennenden
Petroleums
bildet.
Petroleum iſt nämlich eine Verbindung
von
Kohlen- und Waſſerſtoff, und beim Brennen verbindet
ſich
der Waſſerſtoff mit dem Sauerſtoff der Luft.
Im erſten
Momente
, wo der Zug durch den Cylinder noch ſchwach iſt,
ſchlägt
ſich dieſes gasartige Waſſer an die Wände des Cylinders
nieder
und läßt ihn ſo erſcheinen, als wenn man in denſelben
hineingehaucht
hätte.
Bald aber wird der Cylinder heiß und
der
Zug durch denſelben ſtark.
Dadurch verdampft das an-
gehauchte
Waſſer, und der Cylinder wird wieder ganz klar.
Ein zweiter Verſuch, den wir anſtellen wollen, iſt ſchon
ein
kleines chemiſches Kunſtſtück und wird auch die Bildung
von
Waſſer recht deutlich machen.
Man ſteckt auf die Flaſche mit Waſſerſtoff einen Kork mit
einem
Stück Glasrohr, das man nicht zugeſpitzt hat, und hält
die
Öffnung einige Zeit mit dem Finger zu, damit das Gas
ſich
ſtark anſammelt und, wenn man den Finger fortnimmt,
recht
ſtark ausſtrömt.
Nun zündet man das Gas an und hält
recht
ſchnell eine Glasglocke, z.
B. eine Butter- oder Käſe-
glocke
, darüber.
Da wird man denn ſehen, wie ſich an die
Glocke
recht ſtarke Waſſertropfen anſetzen.
Hält man die Glocke
ein
wenig ſchräg, ſo ſammeln ſich am unteren Rande die
Waſſertropfen
und ſließen ordentlich ab.
Wenn man das
Experiment
recht lange fortſetzt, kann man ſich in ſolcher Weiſe
ſchon
ein halbes Weinglas Waſſer fabrizieren.
Woher dies Waſſer kommt, das iſt leicht einzuſehen. Der
Waſſerſtoff
brennt nur im Sauerſtoff der Luft, und es entſteht
dabei
aus den beiden Gaſen das Waſſer, das ſich in Tropfen
niederſchlägt
und ſich bei richtiger Haltung der Glocke auch
anſammelt
.
29022
XIII. Einige Verſuche mit Sauerſtoff.
Die Gefäße, welche wir mit Sauerſtoff gefüllt haben,
bieten
uns manchen Stoff zu recht auffallenden Experimenten.
Wir nehmen einen dünnen Holzſ@ahn und zünden ihn an,
blaſen
ihn aber wieder aus und laſſen nur ein wenig glim-
mende
Kohle daran.
Dieſen glimmenden Holzſpahn ſtecken wir
recht
ſchnell in ein Gefäß, worin Sauerſtoff iſt, und da werden
wir
ſehen, wie er in heller Flamme zu brennen anfängt, in
viel
hellerer Flamme, als er in der Luft brennen würde.
Der
Sauerſtoff
ſelber brennt nicht;
aber er befördert die Ver-
brennung
gar mächtig, denn die Verbrennung iſt eben gar nichts
Anderes
als eine chemiſche Verbindung des Sauerſtoffs mit
der
glühenden Kohle.
Die Verbrennung hält auch nicht lange
an
.
Der Sauerſtoff verbindet ſich eben mit der Kohle und
bildet
ein Gas, welches Kohlenſäure heißt, ein Gas, welches
als
ein Beſtandteil des Selterswaſſers ſehr bekannt iſt.
Wenn
in
dem Gefäß noch ein wenig Waſſer iſt, ſo merkt man auch
beim
Schmecken, daß es etwas Kohlenſäure aufgenommen hat;

es
ſchmeckt ein wenig ſäuerlich und erinnert an abgeſtandenes
Selterswaſſer
.
Wenn man bei dem vorhergehenden Verſuch ein Waſſer-
fabrikant
war, ſo lehrt uns der jetzige Verſuch, wie man Kohlen-
ſäure
machen kann.
Viel leichtere Methoden, Kohlenſäure zu fabrizieren, werden
wir
auch bald kennen lernen.
XIV. Sauerſtoff mit Schwefel und Phosphor.
Man befeſtigt mit einem Schwefelfaden an einem Draht
ein
Stückchen feſten Schwefel und zündet ihn an.
Er
29123 mit gelblicher, ſchwacher Flamme brennen. Wenn man jedoch
den
Draht ſamt dem brennenden Schwefel in ein Gefäß mit
Sauerſtoff
hineinſteckt, ſo wird man ſofort ſehen, wie der
Schwefel
mit hellem, blauen Lichte darin verbrennt.
Auch bei
der
Verbrennung in der atmoſphäriſchen Luft findet eine Ver-
bindung
von Schwefel mit Sauerſtoff ſtatt, woraus eine Luft-
art
entſteht, die man im Waſſer auffangen und löſen kann:
man erhält dann die ſogenannteſchweflige Säure”. Dies iſt das
Gas
, welches ſo unangenehm riecht, wenn man ein Zündhölzchen,
woran
Schwefel brennt, unter die Naſe hält.
In reinem
Sauerſtoff
geht die Verbrennung oder Verbindung von Schwefel
und
Sauerſtoff und die Bildung des Gaſes noch viel ſchneller
und
lebhafter vor ſich.
Wartet man nun einige Minuten und
verſucht
das etwa in dem Gefäß noch befindliche Waſſer, ſo
findet
man, daß es einen brennenden, ſauren Geſchmack hat.

Man
muß noch ein paar Löffel Waſſer hinzuthun, um den
brennenden
Geſchmack zu mildern und die Säure deutlicher zu
empfinden
.
Ein noch ſchöneres Experiment bietet ein wenig Phosphor
dar
, welches man in Sauerſtoff verbrennt.
Doch iſt dabei
Vorſicht
von nöten, da der Phosphor ſich ſehr leicht entzündet.
Um dies zu bewerkſtelligen, muß man ein Stückchen Kreide an
einen
Eiſendraht befeſtigen.
Die Kreide höhlt man ein wenig
aus
, legt darauf ein erbſengroßes Stückchen Phosphor und ſteckt
es
in das Gefäß mit Sauerſtoff.
Sodann erhitzt man ein Stück
Draht
an der Lampe und berührt damit den Phosphor.
Der-
ſelbe
wird ſofort mit glanzvollem Lichte zu brennen anfangen,
wobei
ſich im Gefäß weiße Dämpfe bilden, welche darin
ſchwebend
bleiben, wenn das Brennen aufgehört hat.
Nach
einer
Weile ſenken ſich dieſe Dämpfe auf den Boden des
Gefäßes
, und wenn ſich dort ein wenig Waſſer angeſammelt
hat
, ſo ſaugt dies die Dämpfe ein und bildet eine andere
Säure
als die des Schwefels.
Es iſt dies
29224 welche ſich im Waſſer auflöſt. In g@höriger Verdünnung hat
ſie
einen angenehmen, ſauren Geſchmack, ſo daß man ſie mit
Zucker
recht gut als Limonade gebrauchen kann.
XV. Sauerſtoff und Eiſen.
Schwefel und Phosphor brennen auch, wie wohl jeder-
mann
weiß, in der gewöhnlichen Luft, obwohl nicht mit ſo
heller
Flamme wie im reinen Sauerſtoff.
Man ſieht aus den
vorangegangenen
Verſuchen, daß der eigentliche Verbrennungs-
akt
in einer Verbindung des Sauerſtoffs mit den in Flammen
verſetzten
Stoffen beſteht, woraus bei vervollſtändigter Ope-
ration
auch Schwefelſäure und Phosphorſäure fabriziert wird.
Dagegen gelingt es keineswegs mit gewöhnlichen Mitteln,
ſchwere
Metalle, wie z.
B. Eiſen, in der Luft in Brand zu
ſetzen
.
In reinem Sauerſtoff aber findet die Verbrennung von
Eiſen
ſehr leicht und mit großer Lebhaftigkeit ſtatt, wie fol-
gendes
Experiment beweiſt.
Man nimmt einen feinen Eiſendraht, wie man ihn etwa
zur
Befeſtigung der Pfropfen auf den Selterswaſſerflaſchen
gebraucht
und wickelt das eine Ende um eine dünne Bleifeder
oder
einen Griffel ſo auf, daß der Draht, wenn man ihn her-
unterzieht
, wie ein Pfropfenzieher ausſieht.
An die Spitze
dieſes
Drahtes ſteckt man ein Stückchen Feuerſchwamm.
Das
andere
Ende des Drahtes läßt man gerade und befeſtigt es an
ein
Brettchen, welches man als Deckel auf das Gefäß mit
Sauerſtoff
auflegt.
Nun zündet man den Feuerſchwamm an und
ſteckt
den Draht in das Gefäß.
Man wird ſofort bemerken,
wie
der Schwamm lebhaft zu flackern anfängt.
Aber er ent-
zündet
auch den Eiſendraht;
das Eiſen brennt mit faſt blendender
Flamme
im Sauerſtoff und bildet daſelbſt kleine Kügelchen,
29325 abfallen. Dieſes helle Verbrennen des Eiſens dauert ſolange
fort
, bis der Sauerſtoff aufgezehrt iſt.
Was iſt aus dem Eiſen geworden?
Wir haben bei den vorigen Experimenten geſehen, wie die
Kohle
in ihrer Verbindung mit Sauerſtoff ein GasKohlen-
ſäure”
bildet.
Ferner: wie beim Verbrennen des Schwefels
eine
Verbindung desſelben mit Sauerſtoff entſteht.
Beim Ver-
brennen
des Phosphors ſind Dämpfe entſtanden, welche bei der
Verbindung
desſelben mit Waſſer die Phosphorſäure bildet.
Aus dem Eiſen jedoch iſt kein Gas und kein Dampf, ſondern
ein
feſter Körper, jene Kügelchen, entſtanden, welche von dem
brennenden
Draht abgefallen ſind.
Wir lernen daraus, daß
aus
einem ſo feſten Stoffe wie Eiſen und einem ſo leichten
Stoffe
wie Sauerſtoff ein neuer feſter Körper entſtehen kann.

Er
heißt Eiſenoxyd.
Merkwürdig iſt noch beſonders hierbei die gewaltige Hitze
dieſer
Kügelchen im Moment ihrer Entſtehung.
Wenn man
das
Gefäß näher unterſucht, findet man, daß die Kügelchen
beim
Abfallen in den Boden des Glaſes hineingedrungen ſind,
indem
ſie das Glas geſchmolzen haben.
Selbſt wenn man ein
wenig
Waſſer in das Gefäß gethan hat, verhindert dies nicht
das
Einſchmelzen der Eiſenoxydkügelchen in den Boden des
Glaſes
.
Die Hitze, unter welcher ſich Eiſen und Sauerſtoff
verbunden
haben, iſt eine ſo große, daß ſie trotz des den Boden
des
Gefäßes bedeckenden Waſſers noch ausreicht, das Glas zu
ſchmelzen
und in dasſelbe einzudringen.
XVI. Die Hitze, in welcher ſich Waſſerſtoff und
Sauerſtoff verbinden.
Nunmehr wollen wir in einem Experiment darthun, wie
leicht
man ſich mit den beiden Gaſen einen gewaltigen
29426 von Hitze herſtellen und welch ſchönes, helles Licht von blen-
dendem
Glanz man damit machen kann.
Wir füllen eine Schweinsblaſe mit Sauerſtoff. Dazu iſt
iſt
nicht viel Kunſt nötig.
Man macht die Blaſe mit Waſſer
naß
, wodurch ſie weich wird und ſich leicht zuſammendrücken
läßt
.
Nun ſteckt man in die Öffnung der Blaſe einen Pfropfen
mit
einem kurzen Glasrohre und bindet Blaſe und Pfropfen
23[Figure 23]Fig. 8. mit ein wenig Bindfaden feſt.
Sodann drückt man die Blaſe
ſo
zuſammen, daß keine Luft mehr drin iſt, und bringt ſie
mit
Hilfe eines kleinen Stückchens Gummiſchlauch an das Ent-
bindungsrohr
des Apparates, wo man Sauerſtoff ausſtrömen
läßt
.
Der Sauerſtoff ſtrömt ſomit in die Blaſe ein und dehnt
ſich
wieder ſo aus wie früher, als atmoſphäriſche Luft darin
war
.
Um den Sauerſtoff nicht wieder aus der Blaſe aus-
fließen
zu laſſen, genügt es, wenn man das Gummirohr mit
den
Fingern zuſammendrückt, dann mit einem Bindfaden um-
windet
und einen Knoten daran macht.
29527
Nunmehr richtet man ein Geſtell durch eine Fußbank oder
mehrere
Ziegelſteine ſo ein, daß die darauf gelegte Blaſe mit
ihrem
Rohre ſo hoch ſteht, wie die Spitze des Ausflußrohrs
auf
der Waſſerſtoffflaſche, ungefähr ſo, wie Fig.
8 es zeigt.
Nachdem man das Waſſerſtoffgas wieder vermittelſt eines
Probiergläschens
unterſucht und ſich überzeugt hat, daß es
nicht
Knallgas enthält, zündet man den Waſſerſtoff an, zieht
den
Gummiſchlauch von dem Ausſtrömungsrohr der Blaſe ab
und
läßt, durch einen ſanften Druck der Hand befördert, den
Sauerſtoff
gerade in die Waſſerſtoffflamme recht munter hinein-
ſtrömen
.
Die Waſſerſtoffflamme biegt ſich, von dem Strom des
Sauerſtoffs
getrieben, ab und ſpitzt ſich recht ſcharf zu.
Hier
in
dieſer Spitze entſteht eine ſo gewaltige Hitze, daß darin ein
Eiſendraht
ebenfalls in Glut gerät und abſchmilzt.
Da bringen
wir
denn ein Stück Kreide in dieſe Spitzflamme, und gar bald
werden
wir wahrnehmen, wie da ein höchſt blendendes Licht
entſteht
, in das man kaum hineinblicken kann.
Es iſt dies das
Drummondſche Kalklicht”, welches freilich nicht ſo hell wie das
elektriſche
Licht ſtrahlt, aber doch demſelben an Glanz ſehr
nahe
kommt.
XVII. Etwas vom Stickſtoff.
Stickſtoff iſt ein Gas, welches frei in der Natur, und zwar
gemiſcht
mit Sauerſtoff, in unſerer Luft exiſtiert.
Unſere Luft,
die
Atmoſphäre, in welcher wir leben, beſteht größtenteils aus
vier
Teilen Stickſtoff und einem Teil Sauerſtoff.
Wenn man
daher
eine Vorrichtung herſtellt, durch welche man einer Maſſe
eingeſchloſſener
Luft den Sauerſtoff entzieht, ſo bleibt in ihr
der
Stickſtoff übrig.
Man kann dies auch in ſehr einfacher Weiſe
29628 machen. Man ſchneidet eiu Brettchen oder einen recht breiten
Kork
in der Größe eines ſilbernen Fünfmarkſtückes und legt
darauf
ein Stück Fenſterſchwamm, der mit gutem Spiritus
angefeuchtet
wird.
Dies läßt man auf einem Teller, der zur
Hälfte
mit Waſſer angefüllt iſt, ſchwimmen und zündet den
Spiritus
an.
Sodann ſtülpt man darüber ein gewöhnliches
leeres
Bierglas.
Man wird nun ſofort gewahr, daß ein Teil
des
Waſſers in das Glas hinaufſteigt und endlich die Flamme
des
Spiritus erliſcht.
Der Grund dieſer Erſcheinung beſteht
darin
, daß der Sauerſtoff der Luft, welcher ſich im Glaſe be-
funden
hat, eine Verbindung mit dem brennbaren Waſſerſtoff
des
Spiritus eingegangen iſt.
Der Sauerſtoff, der den fünften
Teil
der Luft ausmacht, iſt demnach ausgeſchieden.
Im Glaſe be-
ſteht
faſt nur noch der Stickſtoff, welcher vier Teile des Raumes
einnimmt
.
Ein Fünftel des Raumes wird von dem einge-
ſtiegenen
Waſſer eingenommen.
Man kann dasſelbe Kunſt-
ſtück
auch mit einem brennenden Fidibus machen, weil bei der
Verbrennung
des Papiers ebenfalls der Sauerſtoff aufgezehrt
wird
.
Der im Glaſe befindliche Stickſtoff iſt indeſſen nicht
ganz
rein, da die Atmoſphäre auch noch andre Stoffe als Stick-
ſtoff
und Sauerſtoff in minimaler Menge enthält.
Will man
reinen
Stickſtoff erhalten, ſo muß man zu einem andern Mittel
Zuflucht
nehmen.
Man legt auf das Brettchen oder den Kork ein Stückchen
Phosphor
, zündet dasſelbe an und ſtülpt das Glas darüber.
Bei der Verbrennung des Phosphors entſteht Phosphor-
ſäure
, die ſich als weißer Nebeldampf bemerkbar macht.

Das
aufſteigende Waſſer hat indeſſen eine ſtarke Neigung,
die
Phosphorſäure aufzunehmen.
Nach einer Weile ver-
ſchwinden
die Nebeldämpfe, und im Glaſe bleibt reiner Stick-
ſtoff
übrig.
Stickſtoff beſitzt faſt gar keine Verbindungsluſt. Man muß
ihm
durch beſondere Kunſtſtücke im Moment ſeines
29729 auflauern und ihm den Stoff, mit welchem er ſich verbinden
ſoll
, ebenfalls im Moment ſeines Freiwerdens zuführen, worauf
denn
die Verbindung des Stickſtoffs mit dem anderen Stoff
leicht
hergeſtellt wird.
Für den Anfänger ſind ſolche Künſte
viel
zu umſtändlich, um ſie mit einfachen Mitteln zu bewerk-
ſtelligen
.
In großen chemiſchen Anſtalten jedoch wird der-
gleichen
im großen Maßſtab ausgeführt.
Wenn man die
Verbindung
des Stickſtoffs in ſolcher Weiſe mit Sauerſtoff
herſtellt
, ſo entſteht daraus die Salpeterſäure.
Wenn man
Stickſtoff
mit Waſſerſtoff zur Verbindung bringt, ſo bilden ſie
zuſammen
Ammoniak.
Salpeterſäure wie Ammoniak werden
zu
mannigfachen Gewerben in großen Maſſen gebraucht.
XVIII. Etwas vom Kohlenſtoff.
Der Kohlenſtoff iſt mit ſo wunderbaren chemiſchen Eigen-
ſchaften
ausgeſtattet, daß man ihn nicht mit Unrecht als den
Urſtoff
der lebenden Welt bezeichnet.
Wir werden von dieſem
Stoff
noch ſehr, ſehr viel in den folgenden Abhandlungen
unſern
Leſern vorführen.
Für jetzt, wo wir nur eine Seite
desſelben
berühren, welche auch dem Anfänger Gelegenheit
bietet
, ſich mit ihm zu befaſſen, begnügen wir uns mit der
Andeutung
, daß dieſer Stoff in drei verſchiedenen Geſtaltungen
in
der Natur vorkommt.
Erſtens in Kryſtallform, @ er als
Diamant
erſcheint;
zweitens in einer Art feinen Puluers,
welches
den Namen Graphit, auch Waſſerblei führt, und drittens
in
der Form, in welcher wir ihn ſehr leicht herſtellen, wenn
wir
irgend einen Stoff der Pflanzenwelt, z.
B. Holz erhitzen
und
in Kohle verwandeln.
Holzkohle kennt ein jeder. Nicht
minder
iſt Lampenruß wirkliche Kohle in feiner Verteilung.
Auch Knochen laſſen ſich durch Hitze verkohlen. Mit
29830 Wort: ſämtliche Pflanzenſtoffe und tieriſche Subſtanzen, aus
welchen
man durch Hitze die in ihnen enthaltenen Gaſe, be-
ſtehend
aus Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff, verdrängt,
laſſen
Kohle und noch etwas Aſche übrig, die aus verſchiedenen
Salzen
beſteht, welche in den pflanzlichen und tieriſchen Stoffen
in
geringer Menge enthalten ſind.
Reine Kohle hat die Eigentümlichkeit, daß man ſie weder
durch
Hitze ſchmelzen, noch durch irgend welche Flüſſigkeit auf-
löſen
kann.
Der Diamant freilich beweiſt uns, daß auch ein
Grad
von Hitze exiſtieren muß, in welchem die Kohle ſchmilzt
und
im langſamen Erkalten ſich in einen Kryſtall verwandelt.
Auch Graphit, welchen man in der Erde findet, kann wohl durch
einen
Prozeß entſtanden ſein, bei dem geſchmolzene Kohle die
Hauptrolle
geſpielt und deſſen Kryſtalliſation durch irgend
welche
Erſchütterung verhindert worden iſt.
Die Auflöſung
des
Kohlenſtoffs in einer Flüſſigkeit iſt bisher nicht gelungen.

Gold
löſt ſich in einer Flüſſigkeit auf, die aus Salzſäure und
Salpeterſäure
beſteht (Königswaſſer).
Silber löſt ſich in
Salpeterſäure
auf, Kupfer in kochender Schwefelſäure, Eiſen,
Zink
u.
ſ. w. in kalter, verdünnter Schwefelſäure. Für Kohle
iſt
die Flüſſigkeit, welche ſie auflöſt, noch nicht erfunden worden.

Kohle
iſt gewiſſermaßen der beſtändigſte, feſteſte Stoff aller Lebe-
weſen
ſowohl in der Pflanzen- wie in der Tierwelt.
Trotz dieſer Beſtändigkeit hat die Kohle die merkwürdige
Eigenſchaft
, daß ſie ſich ſehr leicht mit Sauerſtoff, Waſſerſtoff,
Stickſtoff
und anderen Gaſen verbindet und in dieſer Ver-
bindung
ebenfalls Gasform annimmt oder in einer Flüſſigkeit
oder
unter Umſtänden auch in feſter Form exiſtiert.
Nur der
reine
Kohlenſtoff iſt ſo merkwürdig widerſtandsfähig;
in
chemiſcher
Verbindung mit anderen Stoffen iſt er ſehr gefügig.
29931
XIX. Wie man Kohlenſtoff mit Sauerſtoff chemiſch
verbindet.
Die Verbindung des Kohlenſtoffs mit Sauerſtoff iſt ſehr
leicht
herzuſtellen.
Zunächſt wollen wir uns ein wenig reine Kohle machen.
Man nimmt einen trockenen, langen Holzſpahn, zündet ihn an
und
hält ihn zum Teil in ein Probiergläschen.
Man wird
bald
bemerken, daß der Spahn, ſoweit er in das Gläschen hin-
einragt
, zu brennen aufhört und nur verkohlt, jedoch weiter
flammt
, ſoweit er aus dem Gläschen hinausragt.
Bläſt man
den
Spahn nun aus, ſo bemerkt man, daß er oben, wo er im
Gläschen
geſteckt hat, verkohlt iſt.
Zur vollen Verbrennung
gehört
Sauerſtoff, der im Gläschen nicht reichlich genug vor-
handen
iſt.
Allenthalben, wo man Holz in einem Raum in
Brand
ſetzt, worin man keinen hinreichenden Luftzug zuläßt, ver-
wandelt
ſich das Holz in Kohle.
Holzkohle wird in ähnlicher
Weiſe
auch in Kohlenmeilern fabriziert.
Zünden wir aber reine
Kohle
in einem Raume an, wo hinreichend Sauerſtoff zuſtrömen
kann
, ſo verſchwindet die Kohle;
ſie zehrt ſich, wie man im ge-
wöhnlichen
Leben ſagt, auf.
In Wahrheit aber geht da eine
Verwandlung
, ein chemiſcher Prozeß vor ſich.
Aus der Kohle
wird
mit dem ſich damit verbindenden Sauerſtoff ein Gas,
welches
Kohlenſäure heißt.
Kohlenſäure iſt ein Gas, das wohl jeder oft im Selters-
waſſer
genoſſen hat, worin dieſes Gas die Hauptſache aus-
macht
.
Man kann dies Gas auch ſehr leicht entwickeln. Wenn
man
für ein paar Pfennige kohlenſaures Natron in ein Glas
ſchüttet
, darauf Waſſer gießt und irgend eine Säure, z.
B.
Eſſig oder etwas Schwefelſäure oder Salzſäure hineintröpfelt,
ſo
verdrängt dieſe Säure die Kohlenſäure aus dem Natron
Nimmt
man dies in einer Flaſche vor und ſchüttct
30032 Weinſteinſäure anſtatt einer andern Säure hinzu, ſo erhält
man
Selterswaſſer, das nur weniger rein iſt als das käufliche,
weil
noch die Salze darin ſind.
Man kann auch in gleicher
Weiſe
wie aus dem Natron aus einem Stückchen Kreide, die
eigentlich
kohlenſaurer Kalk iſt, die Kohlenſäure durch irgend
eine
ſtärkere Säure verdrängen.
Aber man kann auch das
Umgekehrte
machen und aus Kalk Kreide fabrizieren.
In jeder Apotheke bekommt man für einige Pfennige ein
Fläſchchen
voll Kalkwaſſer.
Es iſt dies gewöhnlicher gelöſchter
Kalk
, den man in reinem, deſtillierten Waſſer aufgelöſt hat.
Das Kalkwaſſer iſt daher auch vollkommen klar. Wenn man
in
dieſe Flüſſigkeit ein wenig Kohlenſäure hineinbringt, ſei es,
daß
man eine Flaſche Selterswaſſer öffnet und die ausſtrömende
Kohlenſäure
durch ein Glasrohr in das Kalkwaſſer leitet, oder
daß
man ein wenig Selterswaſſer in das Kalkwaſſer hinein-
gießt
, ſo wird man gleich bemerken, daß das Kalkwaſſer trübe
und
weiß wird.
Der Kalk nimmt ſofort die Kohlenſäure auf
und
verwandelt ſich dadurch in Kreide.
Aus dem Kalkwaſſer
wird
ſomit Kreidewaſſer.
Bekanntlich atmen wir auch Kohlenſäure aus. Wenn man
daher
ein Glasrohr in klares Kalkwaſſer hineinſteckt und mit
dem
Munde hineinbläſt, trübt ſich ebenfalls das Waſſer und
bekommt
ein ſchwach milchiges Anſehen.
Wir haben da mit
unſerm
Atem aus Kalk wirklich Kreide gemacht.
Aber auch Kreide löſt ſich in Waſſer auf, worin ſehr viel
Kohlenſäure
enthalten iſt.
Daher wird das milchige Ausſehen
des
Kreidewaſſers auch verſchwinden, wenn man recht viel
Kohlenſäure
in das Waſſer hineinpumpt.
30133
XX. Einige Verſuche mit Silber.
Für Anfänger iſt es ſehr lehrreich, einige Verſuche anzu-
ſtellen
, deren Ergebniſſe ſich dem Auge ſehr leicht ſichtbar
machen
und die merkwürdige Wirkung der chemiſchen Kräfte
außerordentlich
ſchnell verraten.
Zu dieſem Zwecke iſt folgendes
Experiment
ſehr geeignet.
In ein Probiergläschen thut man eine kleine Silbermünze,
z
.
B. ein Fünfzigpfennigſtück hinein, übergießt dies mit
Salpeterſäure
, welche man durch etwas Waſſer verdünnt hat,
und
läßt es ruhig ſtehen.
Nach einiger Zeit wird man be-
merken
, daß die ſonſt klare Flüſſigkeit anfängt, ſich bläulich zu
färben
.
Die blaue Farbe rührt daher, daß in dem kleinen
ſilbernen
Geldſtück auch Kupfer enthalten iſt, weil reines Silber
zu
weich iſt und ſich im alltäglichen Gebrauch der Münzen
ſehr
leicht abnutzen würde.
Eine Miſchung von Silber und
Kupfer
, die man eine Legierung nennt, giebt ein feſteres und
dauerhafteres
Metall ab, weshalb man all unſer Silbergeld
kupferhaltig
macht.
Nach und nach wird man aber auch bemerken, daß das
Silber
der kleinen Münze von der Salpeterſäure angegriffen
und
die Münze vollſtändig aufgelöſt wird.
Hieraus kann man
entnehmen
, daß ſowohl Kupfer wie Silber der auflöſenden
Kraft
der Salpeterſäure nicht widerſtehen, und es fragt ſich
zunächſt
, ob man wohl imſtande iſt, die in der Flüſſigkeit ent-
haltenen
beiden Metalle von einander zu ſondern.
Der chemiſchen Kunſt iſt es gelungen, dieſe Scheidung
durch
einen leichten Prozeß vollkommen zu bewerkſtelligen.
Zu dieſem Zweck löſe man in einem andern Probiergläschen
einen
halben Theelöffel voll gewöhnliches Kochſalz in gewöhn-
lichem
Waſſer auf und warte ab, bis dieſe Löſung vollkommen
klar
iſt.
Gießt man dieſe Flüſſigkeit tropfenweiſe in die Löſung
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
30234
der beiden Metalle, ſo bemerkt man bei jedem Tropfen, daß ſich
ein
weißer, käſeartiger Niederſchlag bildet, der zu Boden fällt.
Setzt man dieſen Prozeß fort, ſo findet man, daß ſich nach und
nach
eine ganze Maſſe käſigen Niederſchlags gebildet hat, der
ſich
bei ruhigem Stehenlaſſen ganz zu Boden ſetzt, und eine
klare
, bläuliche Flüſſigkeit ſteht darüber.
Was hierbei eigentlich vorgegangen iſt, läßt ſich leicht nach-
weiſen
.
In der verdünnten Salpeterſäure befanden ſich Kupfer und
Silber
in eine Flüſſigkeit verwandelt.
Im Salzwaſſer hat
ſich
Kochſalz befunden.
Nun aber beſteht Kochſalz aus zwei
Grundſtoffen
.
Der eine iſt ein Metall, welches Natrium heißt,
und
der zweite iſt eine Luftart, die den Namen Chlor hat.
Chlor aber hat eine große Verbindungsluſt zum Silber, und
infolgedeſſen
verläßt das Chlor ſeinen bisherigen Genoſſen
Natrium
, verbindet ſich mit dem Silber und bildet Chlorſilber,
welches
eben die weiße, käſige Subſtanz iſt, die ſich im Waſſer
nicht
auflöſt und, weil ſchwerer, zu Boden geſunken iſt.
Mit einiger Behutſamkeit kann man die Flüſſigkeit, welche
über
dem Chlorſilber ſteht, abgießen.
Bringt man nun reines
Waſſer
zum Chlorſilber, ſo kann man damit dasſelbe immer
mehr
reinigen und ganz von der Säure befreien.
Läßt man
dieſes
nun einige Zeit ruhig ſtehen, ſo ſetzt ſich das Chlor-
ſilber
wiederum zu Boden, und bei nochmaligem Abgießen des
Waſſers
erhält man die Chlorſilbermaſſe ziemlich gut gereinigt,
mit
welcher man ein ſehr einfaches, hübſches Experiment machen
kann
.
Zu dieſem Zweck beſtreicht man ein Blättchen reines Papier
mit
einem kleinen Teil Chlorſilber.
Das Papier bleibt anfangs
rein
und weiß;
wenn man es jedoch dem Tageslicht oder noch
beſſer
dem hellen Sonnenlicht ausſetzt, ſo bemerkt man, daß
ſich
das Papier erſt zu röten anfängt, ſodann bläulich zu
werden
beginnt und ſchließlich, bei längerem Liegen im
30335 tiefblau und nach und nach ganz ſchwarz mit einigem metalliſchen
Glanz
wird.
Daß hierbei das Licht eine beſondere Rolle ſpielt, bemerkt
man
ſehr leicht, wenn man das Chlorſilberpapier durch einen
undurchſichtigen
Gegenſtand teilweiſe vor der Wirkung des
Lichtes
ſchützt.
Die geſchützte Stelle bleibt weiß, während die
ungeſchützte
Stelle ſchwarz wird.
Wenn man auf das Chlor-
ſilberpapier
ein dünnes Blättchen Papier legt, das auf der
einen
Seite bedruckt iſt, ſo daß die ſchwarzen Buchſtaben auf
das
Chlorſilberpapier zu liegen kommen, ſo wird man bemerken,
daß
nach einiger Zeit das Chlorſilberpapier die Buchſtaben
in
weißer Schrift auf ſchwarzem Grunde enthält.
Sorgt man
durch
ein auf beide Papiere aufgelegtes Stückchen Glasſcheibe
dafür
, daß die Papiere recht dicht aufeinanderliegen, ſo kann
man
die ganze Schrift in weißen Buchſtaben vom Chlorſilber-
papier
leſen, wobei ſie freilich als Spiegelſchrift, d.
h. in ver-
kehrter
Geſtalt erſcheint.
Wenn man vorher das Chlorſilberpapier im Dunkeln hat
trocken
werden laſſen, ſo wird die Spiegelſchrift ſehr klar und
deutlich
.
Dieſes Schwärzen des Chlorſilberpapiers im Lichte iſt
die
Grundlage der jetzt ſo allgemein bekannten Photographie.
Bei einiger Aufmerkſamkeit auf dieſen Prozeß wird man auch
ſehr
leicht einſehen, daß, wenn man anſtatt des bedruckten
Papiers
ein ſchwarzes Bildchen auf das Chlorſilberpapier
auflegt
, man ein weißes Bildchen erhält, ſobald man das Licht
darauf
einwirken läßt.
Da wir uns hier nicht mit der Kunſt der Photographie
zu
beſchäftigen haben, ſo wollen wir uns jetzt wieder zu dem
vor
unſeren Augen vorgegangenen chemiſchen Prozeß wenden.
Wir haben zunächſt Chlorſilber vor uns; das Silber hier-
zu
hat die kleine Geldmünze hergegeben, und das Chlor hat
das
Kochſalz geliefert.
Wo aber ſteckt jetzt die
30436 das Kupfer und das Natrium des Kochſalzes? Dieſe Stoffe
ſind
in der abgegoſſenen Flüſſigkeit enthalten und können durch
weitere
chemiſche Operationen auch alle wiederum dargeſtellt
werden
.
Es ſind dieſe Operationen indeſſen zu weiläufig für
den
Anfänger, um ſie durchzuführen.
Für unſern jetzigen Zweck
iſt
es Hauptſache, einmal zu zeigen, wie die zwei verſchiedenen
Urſtoffe
, Silber und Chlor, ihre frühere Verbindung verlaſſen
und
gegenſeitig eine andere Verbindung geſchloſſen, welche in
ihrer
käſeartigen Geſtalt alle Ähnlichkeit mit ihren wirklichen
Beſtandteilen
verloren hat.
XXI. Einige Verſuche mit reinem Silber und
mit Höllenſtein.
In feinen Metallhandlungen und auch bei Goldſchmieden
kann
man für einige Groſchen ein paar Gramm chemiſch reines
Silber
kaufen.
Wenn man das Silber mit Salpeterſäure übergießt, ſo
löſt
dieſe das Metall auf, ohne eine bläuliche Farbe anzunehmen.
Da iſt es denn zunächſt wichtig, ſich durch einen Verſuch zu
überzeugen
, wie dieſer Auflöſungsprozeß ein durchaus anderer
iſt
, als eine Auflöſung von Zucker oder Salz im Waſſer.
Läßt man Zuckerwaſſer oder Salzwaſſer kochen, ſo ver-
dampft
das Waſſer, und man erhält dann den Zucker oder das
Salz
in Form von feinen Kryſtallen in der Kochſchale.
Macht
man
es aber mit dem in Salpeterſäure aufgelöſten Silber
ebenſo
, bringt man dies in einer Porzellan- oder Glasſchale
zum
Kochen, ſo verdampft wohl die Flüſſigkeit, aber anſtatt
des
Silbers, das zurückbleiben ſoll, findet man nach der Ver-
dampfung
eine eigene Art Salz, welches man
30537 ſalpeterſaures Silber, ſonſt auchHöllenſtein” nennt, und das
ganz
merkwürdige Eigenſchaften hat.
Schon beim Kochen dieſer Flüſſigkeit muß man ſich ein
wenig
in acht nehmen, weil die Verdampfung unter heftigem
Spritzen
vor ſich geht.
Hat man ſich den Finger mit der
Flüſſigkeit
benetzt, ſo bekommt man davon nach einiger Zeit
einen
ſchwarzen Fleck, den man durch Waſchen durchaus nicht
fortbringen
kann.
Selbſt das zurückgebliebene, trockene Salz
erhält
die Eigenſchaft, die Haut zu ſchwärzen, wenn man es
ein
wenig anfeuchtet.
Auch die Wäſche wie überhaupt jede
Pflanzenfaſer
wird nach und nach ſchwarz an der Stelle, welche
man
mit einer verdünnten Löſung von ſalpeterſaurem Silber
beſtreicht
, und dieſe Schwärze läßt ſich dann durch Waſchen
nicht
wieder entfernen.
Man benutzt daher dieſe Flüſſigkeit
als
unverlöſchliche Tinte und zeichnet die Wäſche damit, wozu
man
ſich jedoch eines Pinſels oder einer Gänſefeder bedienen
muß
.
Eine gewöhnliche Stahlfeder würde durch das ſalpeter-
ſaure
Silber ſtark angegriffen werden, wie wir ſpäter noch
ſehen
werden.
Da das Herſtellen von ſalpeterſaurem Silber für den An-
fänger
aber umſtändlich iſt, ſo thut ein ſolcher am beſten,
ſich
in einer Apotheke für ein paar Groſchen Höllenſtein zu
kaufen
.
Es iſt dies nichts anderes als geſchmolzenes ſalpeter-
ſaures
Silber, welches man in Form einer Federpoſe erhält.
Den NamenHöllenſtein” verdankt es eben der Eigenſchaft,
daß
es ſchwärzt, wenn man es ein wenig anfeuchtet und damit
einen
Strich oder ſonſt ein Zeichen auf die Haut macht, den
man
nicht durch Waſchen, ſondern nur durch chemiſche Mittel
fortbringen
kann.
Man ſtelle das Probiergläschen mit der Höllenſtein-
Löſung
aufrecht hin, ſo daß ſich die Flüſſigkeit darin nicht
bewegt
;
ſodann nehme man einen dünnen Streifen Zinkblech,
der
etwas länger iſt als das Probiergläschen und ſtecke
30638 in die Flüſſigkeit. Es wird ſich da ſehr bald ein eigentüm-
liches
Schauſpiel zeigen.
Man wird dann bemerken, daß ſich an das Zinkſtäbchen
feine
, graue Flöckchen anſetzen, als ob es einen Bart bekäme.
Die Flöckchen vergrößern ſich bald und werden zweigartig, als
ob
ſich in der Flüſſigkeit eine Art Trauerweide bildete.
Läßt
man
den Prozeß ganz ungeſtört, ſo wird der Anblick unge-
mein
intereſſant.
Bei guten, ſauberen Flüſſigkeiten nehmen die
Flöckchen
das Anſehen von Silberblättchen an, welche an dem
Zinkſtreifen
wachſen.
Was aber iſt hier vorgegangen?
In der Höllenſtein-Löſung war eine chemiſche Verbindung
von
Silber und Salpeterſäure.
Nun aber hat die Salpeter-
ſäure
eine viel größere Neigung, ſich mit Zink zu verbinden,
als
mit Silber.
Nachdem man nun den Zinkſtreifen in die
Flüſſigkeit
hineingeſetzt hat, verließ die Salpeterſäure das Silber
und
verband ſich mit dem Zink.
All dieſe kleinen Experimente ſind unterhaltend und für
den
denkenden Anfänger auch ſehr lehrreich.
Sie leiten zum
Verſtändnis
vieler anderer chemiſcher Prozeſſe an, die für den
Anfänger
nicht ſo leicht herzuſtellen ſind.
Sie zeigen, wie ſich
im
chemiſchen Prozeß die Stoffe verändern, wenn ſie neue Ver-
bindungen
eingehen, und wie ſie oft einander aus beſtehender
Verbindung
verdrängen und zu neuen Geſtaltungen gelangen,
die
man ohne Vorkenntnis der Naturprozeſſe nur blind an-
ſtaunen
kann, ohne ſie zu begreifen.
Wer an ſolchen kleinen Experimenten Vergnügen findet,
dem
wird es durch Beſchäftigung damit auch viel leichter
werden
, ſich in wiſſenſchaftlichen Werten weiter zurecht zu finden.
307
Praktiſche Heizung.
I. Die Wiſſenſchaft und die Praxis.
Die Naturwiſſenſchaft ſteht oft vor den Forderungen des
praktiſchen
Lebens in derſelben Verlegenheit, wie der junge
Mediziner
vor dem Krankenbette.
Im Buch und im Kollegium ſind die Krankheiten immer
ſehr
ordentlich, ihre Urſachen ſind ſehr klar, ihre Entwickelungen
ſehr
zutreffend, ihr Verlauf ſehr beſtimmt, ihre Behandlung
ſehr
ſicher, und ihr Ausgang ſehr zuverläſſig.
Im Bette da-
gegen
wird eine Krankheit oft ſo unordentlich, daß man ſie
gar
nicht wieder erkennt, werden die Urſachen oft ſo unklar,
daß
man ſie nicht herausfindet, nimmt die Entwickelung oft
eine
ſo unerwartete Wendung, daß ſie aller Bücherregeln
ſpottet
, und werden Verlauf und Ausgang ſo widerſpenſtig, als
ob
ſie jeder Art von Behandlung Trotz bieten wollten.
Was überhebt den jungen Mediziner endlich dieſer
ſchlimmen
Verlegenheit?
Nichts anderes, als daß er, wie man
es
ſo nennt, einpraktiſcher Arztwird.
Er geht im
vollen
Sinne des Wortes, wenn er die mediziniſche Schule
verlaſſen
hat, noch einmal beim praktiſchen Leben in die
Schule
, bis er die Krankheiten in ihrer unordentlichen Er-
ſcheinung
, die Krankheit im Bette, kennen lernt;
und verſteht
er
es dann, ſich zurecht zu finden und das Allgemeine aus
den
Büchern und Schulen für jeden beſonderen Fall ſich
30840 ſonders zuzurichten, ſo wird er zwar nicht Wunder wirken,
aber
je nach den Umſtänden richtig einzugreifen wiſſen.
Dem Naturforſcher und namentlich dem Teutſchen geht es
ſehr
häufig ſo.
Die Regeln der Naturwiſſenſchaft ſind vortrefflich, ihre
Verſuche
vorzüglich, ihre Beweiſe und Berechnungen unum-
ſtößlich
;
aber die praktiſchen Zuſtände ſind nicht dazu ein-
gerichtet
, um die Reſultate rein und ungetrübt zu bewahr-
heiten
.
Die Umſtände werden im praktiſchen Leben äußerſt
verſchieden
und bringen oft eine ſolche Änderung in den
Wirkungen
der Naturgeſetze zu Wege, daß nichts übrig bleibt,
als
auch hier bei der Praxis noch einmal in die Schule zu
gehen
.
Zu dieſen Äußerungen werden wir durch das Thema ver-
anlaßt
, welches wir in einer Reihe von Aufſätzen hier be-
handeln
wollen, das Thema ֦von der Heizung”, wobei wir
von
dem Wunſche ausgehen, daß es uns gelingen möge, die
vorzüglichen
Reſultate der wiſſenſchaftlichen Forſchungen neuerer
Zeit
, die an ſich wenig zu wünſchen übrig laſſen, ſo den
faktiſchen
Zuſtänden angemeſſen darlegen zu können, daß ſie
dem
Volke im praktiſchen Leben auch die richtigen Vorteile
bringen
.
Dieſes Ziel zu erreichen iſt nicht leicht. Die Schwierig-
keit
liegt darin, daß die Naturforſcher bei ihren Arbeiten ſtets
geordnete
und einfache Zuſtände vor Augen haben.
Man
lernt
bei ihnen gewiſſermaßen die Krankheit im Buche
kennen
, und die iſt niemals gar zu ſchwierig.
In der An-
wendung
fürs praktiſche Leben aber ſieht man, gleich dem
jungen
Mediziner, die Krankheit im Bette, und bei dieſer
ſpielen
eine ſolche Maſſe Nebendinge eine Hauptrolle, daß
man
die Hauptſache oft ganz und gar aus den Augen verliert.
Ein Beiſpiel wird das, was wir meinen, deutlicher
machen
.
30941
Geſetzt, es wollte ein Fabrikbeſitzer eine Feuerung neu
einrichten
, und zwar in einem neu anzulegenden Feuerraum für
ein
beliebig zu wählendes Brennmaterial mit den vorteil-
hafteſten
Luftzügen und der zweckmäßigſten Einrichtung des
Schornſteins
, ſo würde das ſchon nicht wenig Mühe machen,
ihm
in all’ dem den beſten Rat zu erteilen.
Man würde nicht
nur
über jeden dieſer genannten Punkte eine ganz genaue
Benutzung
der bisherigen Forſchung anzuwenden haben,
ſondern
man müßte auch eine große Reihe von Neben-
umſtänden
berückſichtigen, die eigentlich nicht direkt mit der
Feuerung
im Zuſammenhang ſtehen.
Wie z. B. , ob der er-
leichterte
Transport des ſchlechten Brennmaterials ihm die
Vorteile
des für ihn ſchwieriger zu transportierenden, beſſeren
Brennmaterials
aufwiege?
Ob er die Aſche verwerten kann?
Ob er durch ſein aufzuftellendes Maſchinenwerk ein Luftgebläſe
nebenher
mit geringen Koſten wird betreiben können.
Die
Beantwortung
ſolcher Haupt- und Nebenfragen bietet im
praktiſchen
Leben nicht wenige Schwierigkeiten, aber ſie gehören
noch
immer zu den Dingen, wo aus der Wiſſenſchaft guter
Rat
zu holen iſt, und wir dürfen es mit Genugthuung ſagen,
daß
für dieſes Fach manch praktiſcher Mann und praktiſches
Buch
vorhanden iſt.
Ganz anders geſtalten ſich aber die Dinge, wenn man,
wie
es für das Volk nötig iſt, in gegebenen vorhandenen, ſo-
genannten
bürgerlichen Zuſtänden Rat erteilen ſoll, die ſich
oft
von den Zuſtänden, wie ſie die Naturforſchung vorausſetzt,
eben
ſo ſehr unterſcheiden, wie die Krankheit im Bette von
der
Krankheit im Buche.
Was man auch Schönes über vorteilhafte Einrichtungen
von
Stuben-Öfen beſitzt, wie gewiſſenhaft und vorzüglich auch
die
Unterſuchung über die Heizkraft der verſchiedenen Brenn-
materialien
geführt worden iſt, es wird doch in der Praxis
immer
darauf ankommen, die beſonderen Umſtände, die
31042 verſchieden ſind, zu berückſichtigen. Ein Ofen, der in der
Parterre-Wohnung
, wo der Schornſtein noch ſechzig Fuß Höhe
hat
, bevor er ſeinen Inhalt in die weite Welt ſendet, vortreff-
liche
Dienſte leiſtet, muß notwendig im dritten Stock, wo die
Ofenröhre
faſt ſelber in die Luft hinein mündet, unbrauchbar
werden
.
Ein Brennmaterial, das im Keller lagert, wo es
ſtets
Feuchtigkeit in ſich aufnimmt, wird anders, wenn es in
der
Dachkammer aufbewahrt wird, wo es gut austrocknet.
Ein herrſchaftliches Zimmer mit tapezierten Wänden und be-
legtem
Fußboden, das man alle Morgen lüftet und dann mit
Doppelthüren
und Doppelfenſtern wohl verſchließt, das man
um
ſieben Uhr morgens heizt, das aber erſt um elf Uhr warm
zu
ſein braucht, um bis Mitternacht gemütlich zu bleiben
ſolch
ein Zimmer läßt ſich durchaus nicht in gleicher Weiſe
mit
einer Stube behandeln, wo die Hausfrau den Kaffee und
das
Mittagbrod im Ofen kochen will und froh iſt, wenn es
abends
um ſieben Uhr auf die drei Stunden gemütlich wird,
wo
der Mann Feierabend macht und die Kleinen zu Bette ge-
bracht
ſind.
Die gleichmäßige Erwärmung weiter Räume erfordert
eine
ganz andere Art der Heizung, als die ſchnelle Erwärmung
des
engen Raumes eines möblierten Zimmers, in welchem
ſich
ein Junggeſelle in der ſpäten Abendſtunde ſeines Daſeins
freuen
will.
Man ſieht wohl, daß hier glattweg die An-
wendung
der Wiſſenſchaft auf Schwierigkeiten ſtößt.
Die
Krankheit
ſieht eben ganz anders aus, wenn ſie ſich im Bette
produziert
.
Da wir aber gerade in dieſen Artikeln dem Volke einen
Nutzen
darbieten, und auf die Zuſtände des Volkes, wie es
lebt
, ja ſogar auf ſeinen Geſundheitszuſtand dabei Rückſicht
nehmen
möchten, ſo ſei man uns nicht gram, wenn wir neben
dem
allgemeinen wiſſenſchaftlichen Teil dieſer Aufgabe, ſo weit
er
über die Heizung handelt, unſer Augenmerk auch auf
31143 Wände, auf die Fenſter, auf die Thüren, auf den Keller, auf
den
Boden, ja ſogar den Topf der Hausfrau und die Hantierung
des
Mannes richten, die zwar nicht auf die Heizung, aber
doch
auf die Erwärmung Einfluß haben.
Denn im Grunde
genommen
iſt ja das Praktiſche der Heizung eben die Er-
wärmung
.
II. Verbrennung und Erwärmung.
Bei der Heizung in unſeren Küchen und in unſeren
Stubenöfen
ſpielen eine große Reihe von Naturerſcheinungen
eine
Rolle, die man freilich alle kennen muß, wenn man ſich
die
Aufgabe der Sparſamkeit bei der Heizung ſtellen will.
Wir müſſen deshalb unſern Leſern vor allem die Reſultate all
der
Forſchungen deutlich machen, welche die Naturwiſſenſchaft
über
dieſes Thema angeſtellt hat.
Wir wollen uns jedoch
hierbei
nicht all zu lange aufhalten, ſondern uns vorerſt mit
einer
kurzen Darſtellung begnügen, indem wir im Verlauf
unſeres
Themas oft genug Gelegenheit haben werden, einzelne
theoretiſche
Wahrheiten an praktiſchen Fällen klarer und faß-
licher
machen zu können.
Die Hauptrolle bei unſerer gewöhnlichen Heizung ſpielt
die
Verbrennung von zwei Stoffen, welche in unſerem Brenn-
material
vorhanden ſind.
Da ſie beide chemiſche Stoffe ſind
und
auch die Verbrennung ein chemiſcher Vorgang iſt, ſo
müſſen
wir ſchon ein wenig in die Chemie hineinzublicken
ſuchen
, um das, was hierbei vorgeht, zu verſtehen.
Die Chemie lehrt durch unumſtößliche Thatſachen, daß alle
Verbrennungen
, welche im gewöhnlichen Leben vorkommen,
nichts
ſind, als die chemiſche Verbindung von dem Kohlenſtoff
des
Brennmaterials mit dem Sauerſtoff der Luft;
in
31244 Fällen iſt es auch die Verbindung des Waſſerſtoffs des Brenn-
materials
mit dem Sauerſtoff der Luft, in beſonderen Fällen
endlich
iſt es eine Miſchung von Kohlenſtoff und Waſſerſtoff,
welche
die chemiſche Verbindung mit dem Sauerſtoff der Luft
eingeht
, und welche Verbindung eben die Erſcheinungen her-
vorbringt
, die wir bei der Verbrennung wahrnehmen.
Dieſe Lehre iſt durch öftere Wiederholung in gelehrten
und
ungelehrten Werken, in Vorträgen und Geſprächen ſo ge-
läufig
geworden, daß ſie wohl ſchon jeder, der ſich überhaupt für
Naturerſcheinungen
intereſſiert, zur Genüge gehört hat;
allein
da
es zu oft im Leben vorkommt, daß über die alltäglichſten
Dinge
am leichteſten ſich Irrtümer und Mißverſtändniſſe ein-
ſchleichen
, ſo müſſen wir von dieſer Lehre der Chemie noch
ein
paar Worte ſprechen.
Wir wollen dies bei Gelegenheit eines praktiſchen, ſehr
bekannten
Verſuches thun und zu dieſem Zweck einmal wirklich
eine
Verbrennung vornehmen.
Wie fangen wir dies an? Wir nehmen ein Schwefel-
Phosphor-Zündhölzchen
und reiben deſſen Spitze, und ſofort
beginnt
eine Verbrennung.
Woher kommt die, und was iſt dies für ein Vorgang?
Das Zündhölzchen hat an der Spitze ein wenig Phosphor.
Der Phosphor aber iſt ein chemiſcher Stoff, der, wenn er ein
wenig
erwärmt wird, ſich ſehr ſchnell mit dem Sauerſtoff der
Luft
verbindet.
Es genügt, den Phosphor nur mit der warmen
Hand
zu berühren, um ſogleich deſſen Verbindungsluſt zum
Sauerſtoff
zu wecken;
wie denn ſchon jeder bemerkt haben
wird
, daß im Finſtern eine Art flammender Rauch aus einem
Bündchen
Schwefelhölzer aufſteigt, wenn man mit der warmen
Hand
darüber hinfährt.
Das iſt auch eine Verbrennung, aber
eine
ſehr ſchwache Verbrennung, die aufhört, ſobald die um-
gebende
Luft den Phosphor wieder abkühlt.
Reiben wir in-
deſſen
den Phosphor des Zündhölzchens ſtärker, ſo erhält
31345 Phosphor eine höhere Erwärmung; in dieſer verbindet er ſich
ſchnell
mit dem Sauerſtoff der Luft und erzeugt dabei eine
Wärme
, welche hinreicht, das bißchen Schwefel zu erhitzen,
welches
das Zündhölzchen gleichfalls an der Spitze hat.
Dies bringt nun wieder eine Verbrennung zu Wege: die
Verbrennung
des Schwefels.
Schwefel nämlich hat auch
eine
ſtarke Neigung, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu ver-
binden
;
aber er thut dies nur, wenn er ſtark erwärmt wird.
Die Wärme des brennenden Phosphors iſt ausreichend, um
der
dünnen Schicht Schwefel dieſe Wärme zu erteilen, und die
Verbrennung
des Schwefels beginnt.
Die Wärme des
brennenden
Schwefels aber iſt ſtark genug, um eine neue Ver-
brennung
hervorzurufen, und zwar die des Hölzchens ſelber.
Holz nämlich beſteht aus drei chemiſchen Stoffen: aus
Kohlenſtoff
, Waſſerſtoff und Sauerſtoff.
Die beiden letzteren
Stoffe
, den Waſſerſtoff und Sauerſtoff des Hölzchens, wollen
wir
für jetzt nicht weiter berückſichtigen, da ſie hierbei keine
für
unſere Betrachtung weſentliche Rolle ſpielen;
der Kohlenſtoff
dagegen
hat bei ſtarker Erwärmung große Neigung, ſich mit
dem
Sauerſtoff der Luft zu verbinden.
Der brennende
Schwefel
erhitzt den Kohlenſtoff nun ſo ſtark, daß er die nötige
Portion
Wärme erhält, welche er zu ſeiner Verbindung mit
Sauerſtoff
braucht, und es beginnt demnach dieſe Verbindung,
die
Verbrennung des Hölzchens.
Was aber iſt denn die Flamme, welche wir hierbei ſehen?
Die Flamme iſt nichts als der Raum, in welchem dieſe
Verbindung
des brennenden Stoffes mit dem Sauerſtoff vor
ſich
geht.
Die Flamme hat in den meiſten Fällen auch noch eine
Leuchtkraft
;
dieſe jedoch, die Leuchtkraft oder das Licht, iſt
eine
ganz aparte Erſcheinung bei der Verbrennung, die uns
hier
nichts angeht.
Wir haben uns nur das Eine zu merken,
daß
gewiffe Stoffe ſich bei der Erwärmung mit
31446 verbinden, daß dieſe Verbindung wieder andere Gegenſtände
zu
erwärmen imſtande iſt, und, falls ſie Stoffe enthalten, die
ſich
mit Sauerſtoff verbinden können, auch dieſe zur Ver-
brennung
anzuregen.
So ſehen wir denn, wie die Reibung des Phosphors ein
wenig
Wärme erzeugt, und wie dieſe Wärme eine chemiſche
Verbindung
des Phosphors mit dem Sauerſtoff der Luft be-
günſtigt
.
Wir ſehen ferner, wie dieſe chemiſche Verbindung
einen
höheren Grad der Erwärmung hervorruft, die ſich dem
Schwefel
mitteilt.
Wir ſehen endlich, wie dieſer in der höheren
Erwärmung
nun auch fähig wird, ſich mit dem Sauerſtoff der
Luft
zu verbinden und alſo auch zu brennen anfängt.
Dieſe
Verbindung
erzengt wieder einen noch höheren Grad der Er-
wärmung
, und dieſe Erwärmung macht den Kohlenſtoff fähig
zur
chemiſchen Verbindung, und ſomit brennt das Zündhölzchen,
mit
welchem wir uns gleich ein Stückchen Kien anſtecken wollen,
um
ordentlich Feuer anzumachen.
Kien? Warum brennt denn Kien ganz anders und
weit
ſchneller, als gewöhnliches Holz?
Nun, das wollen wir gleich ſehen.
III. Wir brennen ein Stück Kien an.
Brennen wir am Zündhölzchen ein Stückchen Kienholz
an
, ſo gewahrt man zunächſt die Verbrennung eines neuen
Stoffes
.
Kienholz iſt nämlich von Natur aus mit Terpen-
tin
getränkt, einem Gemiſch von Harz und Terpentinöl.
Dieſes
beſteht
aus zwei Stoffen, welche ſehr leicht in der Wärme
Verbindungen
mit Sauerſtoff eingehen, nämlich aus Kohlen-
ſtoff
und Waſſerſtoff.
So wie nun das Terpentin durch das
Zündhölzchen
ſo warm gemacht wird, daß die
31547 vor ſich gehen kann, ſo tritt ſie ſofort ein. Hierbei entſteht
im
erſten brennenden Körnchen Terpentin eine ſolche Wärme,
daß
der nächſtliegende Terpentin auch entzündet wird, und ſo
verbreitet
ſich mit großer Schnelligkeit eine Flamme über das
Kienholz
, noch ehe das Holz ſelbſt wirklich in Brand gerät.
Erſt ſpäter, wenn der Terpentin faſt ausgebrannt iſt, beginnt
das
Holz ſelbſt zu brennen.
Beim Brennen des Kienholzes haben wir aber Gelegen-
heit
, eine Reihe von Beobachtungen zu machen, die über die
Verbrennung
Aufſchluß gewähren und auch für die Heizung
von
Wichtigkeit ſind;
und dieſe Gelegenheit wollen wir
benutzen
.
Woher mag es wohl kommen, daß Kien ganz anders
brennt
als ſonſt ein Gegenſtand, den wir bisher angebrannt
haben
?
Warum flackert Schwefel nicht ſo weit und ſo flammig
auf
, warum brennt Kien mit röterer Farbe als Holz, und
weshalb
ſchickt er ſoviel Ruß von ſich aus?
Um dieſe Frage klar zu beantworten, müſſen wir einen
Hauptlehrſatz
von der Verbrennung hier aufführen, der im
Volke
zu wenig gekannt iſt, weshalb die ganze Verbrennungs-
lehre
leider zu ſelten richtig aufgefaßt wird.
Wir haben es bereits geſagt, und es iſt tauſendfältig auch
ſchon
anderweitig deutlich gemacht worden, daß die gewöhnliche
Verbrennung
im wahren Sinne des Wortes nichts iſt als die
Verbindung
irgend eines Stoffes mit Sauerſtoff.
Nun aber
iſt
es allbekannt, daß auch Eiſen, Zink u.
ſ. w. ſich mit
Sauerſtoff
verbinden.
Eiſen roſtet, Zink belegt ſich in der
Luft
mit einer weißen Kruſte, die ebenfalls Roſt oder richtiger
eine
Verbindung von Sauerſtoff mit dem Metall iſt.
Da nun
auch
dieſe Metalle ſich mit Sauerſtoff verbinden, weshalb
kann
man denn nicht auch mit ihnen und noch mit vielen
anderen
Dingen, die ſich mit Sauerſtoff verbinden, Feuer an-
machen
?
31648
Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende:
Es iſt zur Bildung einer Flamme nötig, daß der Stoff,
welcher
ſich mit Sauerſtoff verbindet, dies in Luftform thut;
denn das, was wir in Flammen brennen ſehen, iſt eigentlich
nicht
der Stoff, ſondern das Gas, welches dieſer Stoff bei
der
Erhitzung erzeugt oder ausſondert.
Der erhitzte Stoff
verwandelt
ſich in Gas oder läßt die in ihm enthaltenen gas-
artigen
Stoffe ausſtrömen, oder er nimmt im Augenblick der
Verbindung
mit dem Sauerſtoff Gasform an;
in all’ ſolchen
Fällen
bildet ſich um dieſen brennbaren Stoff eine Gashülle,
in
welcher die Verbindung vor ſich geht, und dieſe Gashülle
in
ihrer chemiſchen Thätigkeit erſcheint eben als Flamme,
welche
ven brennbaren Stoff umgiebt.
Würde man Eiſen leicht durch Erhitzung in Gasform
verwandeln
können, und wäre Roſt, dieſe Verbindung von
Eiſen
und Sauerſtoff, ein gasförmiger Körper, ſo würde man
eine
Stricknadel ebenſo gut anzünden können, wie ein Holz-
ſpänchen
, und würde eben ſo eine die Stricknadel einhüllende
Flamme
erblicken, wie man ſie am brennenden Zündhölzchen
ſieht
.
Da Eiſen jedoch unter gewöhnlicher Erhitzung nicht in
Gas
verwandelt werden kann und auch nicht in der Verbin-
dung
mit Sauerſtoff Luftform annimmt, kann man es zwar
glühen
, aber nicht wie Holz verbrennen.
Indem wir über weitere Unterſchiede, die in Bezug auf
die
Wärme zwiſchen Eiſen und Holz ſtattfinden, noch ſpäter-
hin
ſprechen werden, wollen wir uns für jetzt nur die eine
Regel
merken, daß eine flammende Verbrennung ſtets nur
dann
ſtattfindet, wenn der brennbare Stoff bei der Erhitzung
oder
der chemiſchen Verbindung in den gasartigen Zuſtand
verſetzt
wird.
Hieraus folgt, daß wir eigentlich von jeher nie eine
andere
, als eine Gasheizung beſeſſen haben;
denn Alles, was
im
Torf, im Holz, in der Steinkohle und im Koks
31749 iſt eigentlich Gas; der Unterſchied zwiſchen ſolcher Heizung
und
der Heizung durch Leuchtgas beſteht nur darin, daß wir
in
unſeren gewöhnlichen Oefen eine kleine Gasanſtalt be-
ſitzen
, indem wir zuerſt das Brennmaterial erhitzen und die
Gaſe
, die es enthält, austreiben oder entwickeln;
wir fabri-
zieren
das Gas, das wir verbrauchen, ſelber, während bei
Leuchtgasheizung
das Gas anderweitig in Anſtalten be-
reitet
wird.
Da wir auch hierüber noch zu ſprechen haben werden,
wollen
wir jetzt wieder zu unſerem brennenden Kien zurück-
kehren
und die Erſcheinung an demſelben uns zu erklären
ſuchen
.
Der Terpentin, der eigentlich beim Anzünden des Kien-
ſpans
zunächſt brennt, iſt ein Stoff, der außerordentlich leicht
in
Gasform übergeht.
Alle Hausfrauen werden ſchon wiſſen,
daß
Kienbretter im Küchenſpinde allen aufbewahrten Speiſen
den
Terpentingeſchmack verleihen, weil ſich eben Terpentin ſo
leicht
in Gasform verbreitet und in die Speiſen dringt.
Dieſe
Eigenſchaft
des leichten Uebergangs in Gas iſt, wie wir
wiſſen
, für die Verbrennung ſehr günſtig.
Allein zu ſtark
darf
ſie auch nicht ſein;
denn wenn ſich ein Stoff zu leicht in
Gasform
verwandelt, ſo dehnt er ſich bei dem Verbrennen zu
weit
von der Stelle der eigentlichen Erwärmung aus, wodurch
er
erkaltet und zu unvollſtändig verbrennt.
Dies iſt mit dem
Kien
der Fall.
Die Beſtandteile des Terpentins dehnen ſich
zu
weit von der eigentlichen Verbrennungsſtelle aus, ſie ſind
zu
flüchtig, deshalb erkalten die entfernten Teile zu ſchnell,
und
es bleibt hauptſächlich der Kohlenſtoff darin unverbrannt
und
ſliegt als Ruß davon, der zugleich die Flamme trübt
und
rötet.
Was wir uns alſo bei der Verbrennung des Kienſpans
und
ſeiner Erſcheinung merken wollen, das iſt die Thatſache,
deren
Wichtigkeit wir ſpäter noch darthun werden, daß eine
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
31850
Verbrennung, bei welcher Rauch entſteht, eine unvollſtändige
Verbrennung
iſt, bei welcher brennbarer Stoff unnütz ver-
loren
geht.
IV. Der Zug und das Feuer.
Aufmerkſame Hausfrauen haben gewiß oft ſchon am
brennenden
Kien manche Beobachtungen gemacht, die zu Be-
lehrungen
wichtiger Art Gelegenheit geben.
Sie werden oſt genug wahrgenommen haben, daß ein
Stück
fettes Kienholz, auf dem Herd verbrannt, ungemein ſtark
raucht
und weit mehr blakt, als wenn es im Ofen verbrannt
wird
.
Kocht man mit fettem Kienholz auf dem Herd, ſo
legt
ſich eine dicke Schicht Ruß an Topf und Keſſel, die das
ſchnellere
Kochen der Speiſen verhindert;
ja, der Ruß dringt
ſogar
in die Speiſen ein und giebt ihnen einen ſo räucherigen,
widerlichen
Geſchmack, daß der Gebrauch des Kienholzes auf
dem
Herde mit Recht ſehr gemieden wird.
Brennt man
indeſſen
Kienholz im Ofen, ſo zeigt es keineswegs dieſe
ſchlimme
Eigenſchaft in ſo hohem Maße, es rußt weniger und
blakt
auch die Speiſe, die man hineinſchiebt, nicht ſo be-
deutend
an.
Woher kommt das?
Es rührt dies daher, daß in unſerem Ofen der Zug weit
ſtärker
iſt, als auf dem gewöhnlichen, offenen Kochherd.
Wir wiſſen bereits, daß der Ruß nichts iſt als unver-
branntes
Brennmaterial;
wir wiſſen ferner, daß die Ver-
brennung
eigentlich die chemiſche Verbindung des Brenn-
materials
mit dem Sauerſtoff der Luft iſt.
Nun aber haben
Unterſuchungen
aufs entſchiedenſte gelehrt, daß, wenn man
einem
brennenden Körper recht viel Luft und ſomit auch
31951 Sauerſtoff zuführt, er bei weitem vollſtändiger verbrennt als
ſonſt
.
Im Ofen alſo, wo bekanntlich der Zug bei weitem
ſtärker
iſt als auf dem offenen Herd, rußt ein fettes Stück
Kienholz
bei weitem weniger, weil eben dort der Zug, das
Zuſtrömen
der friſchen Luft, in ſtarkem Grade ſtattfindet, und
ſomit
mehr Sauerſtoff mit dem Brennmaterial in Berührung
kommt
als auf dem Herde.
In dieſem Ueberſchuß von
Sauerſtoff
verbrennt demnach mehr von dem Brennmaterial
als
auf dem Herde, das heißt, es verbrennt im Ofen der-
jenige
Teil, der auf dem Herde als Ruß unverbrannt bleibt,
oder
einfacher ausgedrückt:
im Ofen hat der beſſere Zug das
Brennmaterial
vollſtändiger verbrannt als auf dem offenen
Herd
.
Wir wollen uns dies vorläufig merken, denn es wird uns
weiterhin
ſehr zu Nutzen kommen.
Woher aber mag es wohl kommen, daß beim Feuermachen
im
Ofen der Kien ganz gemütlich brennt, ſo lange die Ofen-
thür
offen ſteht und oft ſofort erliſcht, wenn man ſie zumacht
und
der Zug ſo recht durch die Thürklappe zieht?
Jede Hausfrau wird mit Recht hierauf antworten, daß
der
Zug die noch ſchwache Flamme ausgeblaſen habe;
allein
wenn
ſtarker Zug eine Flamme ausbläſt, wie vermag er unter
anderen
Umſtänden gerade das Feuer anzufachen?
Um dieſe Frage zu beantworten, müſſen wir wiederum
einen
Lehrſatz der Verbrennung ins Auge faſſen und zugleich
einige
Nebenumſtände hierbei erwägen, die von Wichtigkeit
ſind
.
Wir wollen aber auch dieſen Lehren einige praktiſche
Beiſpiele
voranſchicken.
Die Kinder wiſſen es ſchon, daß man ein brennendes
Licht
auspuſten kann, daß man aber, ſobald der Docht noch
glimmt
, durch Puſten das Licht wieder zum Brennen zu
bringen
vermag.
Woher kommt dieſer merkwürdige Widerſpruch?
32052
Es rührt dies von folgenden Urſachen her.
Wir haben es bereits geſagt, daß die Flamme eigentlich
nur
aus Gas beſteht.
Die Flamme iſt nur der weite Raum,
in
welchem die Verbindung des brennbaren Gaſes mit dem
Sauerſtoff
der Luft vor ſich geht.
Dies iſt auch bei Talg-,
Wachs-
und ſonſtigen Lichten und ebenſo bei Oellampen der
Fall
.
Wir beſitzen eigentlich ſchon ſeit vielen, vielen Jahr-
tauſenden
Gaslicht;
wir wußten es nur nicht, und vicle
Menſchen
wiſſen dies auch jetzt noch nicht.
Steckt man ein
Talglicht
an, ſo thut man im wahren Sinne des Wortes nichts
anderes
, als daß man vorerſt den Talg, der am Dochte ſitzt,
erhitzt
und dadurch in Gas verwandelt.
Dieſes Gas iſt brenn-
bar
und entzündet ſich zur Flamme.
Wer ein Talglicht
brennt
, brennt eigentlich ſelbſtfabriziertes Gas, und das iſt
mit
Oel, Wachs, Stearin u.
ſ. w. auch der Fall. Nun
aber
iſt es bekannt, daß Gaſe ſehr leicht beweglich ſind;
puſtet man in die Flamme, ſo puſtet man eigentlich in das
Gas
und bewegt es fort vom Docht.
Durch dieſe Trennung
verhindert
man, daß das brennende Gas den am Docht auf-
ſteigenden
, neuen Brennſtoff in neues Gas verwandelt und an-
zündet
;
und dadurch erliſcht die Flamme.
Hierzu kommt noch ein zweiter Umſtand, der ebenfalls
auf
das Erlöſchen einwirkt, und der liegt darin, daß die Luft,
die
wir in die Flamme hineinpuſten, viel kälter iſt, als das
brennbare
Gas ſein muß, wenn es brennen ſoll.
Wir puſten
alſo
mit dem Munde das ſchon brennende Gas vom Dochte
fort
und kühlen zugleich das neu entſtehende Gas ab, ſodaß
aus
doppelten Urſachen das Fortbrennen unterbrochen iſt.
Nun aber iſt oft der Docht, oder richtiger die Kohle des
Dochtes
, noch ſo heiß, daß er, wenn wir zu blaſen aufgehört
haben
, fortglimmt und unten noch Gas entſtehen läßt, das
als
Blak, Ruß u.
ſ. w. aufſteigt. Iſt dies der Fall und
blaſen
wir nun in den Docht hinein, ſodaß wir dieſem
32153 ſtarke Portion Sauerſtoff zuführen, ſo erhöhen wir die Ver-
brennung
der noch glimmenden Dochtkohle und verwandeln
ſie
in eine Flamme.
Dieſe Flamme zündet das noch zu-
ſtrömende
Gas an, und wir haben das Licht wieder angepuſtet.
In ganz gleichem Maße iſt dies mit dem brennenden
Kien
im Ofen der Fall.
Wir haben es bereits geſagt, daß anfangs am Kien nur
das
Terpentingas brennt, und erſt ſpäter der Kohlenſtoff des
Holzes
zu brennen anfängt.
Laſſen wir den Luftzug ſofort
auf
den Kien einwirken, ſo führt er erſtens das brennende,
leicht
bewegliche Gas davon und kühlt zweitens das nach-
ſtrömende
Gas ſo ab, daß es ſich nicht entzündet, und das
Feuer
geht aus.
Haben wir aber dem Feuer Zeit gelaſſen,
den
Kohlenſtoff des Holzes zu entzünden, ſo kann zwar der
kalte
Zug ebenſo ſchädlich wirken, wenn er zu früh kommt,
allein
der friſch zuſtrömende Sauerſtoff befördert die Ver-
brennung
und ruft eine Flamme hervor, ſodaß das Gas im
Entſtehen
und Fortſtrömen ſich entzündet, und eine vollſtändigere
Verbrennung
entſteht als ohne Zug.
Hieraus haben wir Gelegenheit, wieder etwas zu lernen,
was
wir uns merken müſſen, und das iſt Folgendes:
Der Zug im Ofen iſt notwendig, damit die Verbrennung
vollſtändig
ſei.
Allein in ſehr vielen Fällen führt der Zug
das
Gas brennend davon, ſo daß die vollſtändige Verbrennung
nicht
im Ofen geſchieht, ſondern im Schornſtein, wo ſie uns
nichts
nützt.
V. Der Zug im Oſen.
Wie aber entſteht denn der Zug im Ofen?
Der Zug im Ofen entſteht ganz in derſelben Weiſe, wie
die
Zugluft in der Stube.
32254
Wenn man im warmen Zimmer die Thür ein ganz klein
wenig
öffnet, ſo braucht man nur ein brennendes Licht an die
Thürſpalte
zu halten, um zu ſehen, wie die Luft der warmen
Stube
mit der kältern Luft draußen ein Tauſchgeſchäft macht.
Hält man das brennende Licht nach unten, ſo merkt man, daß
da
die kalte Luft ins Zimmer ſtrömt, denn ſie weht die Flamme
in
die Stube hinein;
hält man dagegen die Kerze oben an die
Thürſpalte
, ſo ſieht man, daß die Stubenluft hinausſtrömt,
denn
ſie weht die Flamme zum Zimmer hinaus.
Der Grund hiervon iſt auch leicht einzuſehen. Die Wärme
dehnt
bekanntlich alle Dinge aus;
in der Kälte ziehen ſich die
Dinge
zuſammen.
Warme Luft iſt alſo gedehnter als kalte,
und
weil ſie eben gedehnter iſt, iſt ſie auch leichter als kalte.
Deshalb iſt es in der Stube an der Decke immer wärmer als
am
Fußboden, denn die warme und deshalb leichtere Luft
ſteigt
nach oben und ſchwimmt gewiſſermaßen auf der kältern
Luftſchicht
.
Deshalb frieren oft in der geheizten Stube die
Füße
, während einem der Kopf brennt;
deshalb ſetzen ſich die
Septemberfliegen
oben an der Stubendecke feſt, wenn es im
Zimmer
ſchon kalt wird, und darum freut ſich manche Haus-
frau
im dritten Stock darüber, wenn unter ihr im zweiten
Stock
die Stube gut geheizt worden;
die warme Stubendecke
im
zweiten Stock trägt in der That zur Erwärmung des Fuß-
bodens
im dritten Stock viel bei.
All’ dies und viele Bei-
ſpiele
aus dem Leben können jeden aufmerkſamen Menſchen
überzeugen
, daß allenthalben, wo kalte und warme Luft ſich
miſchen
, ſtets die warme Luft aufwärts ſteigt.
Macht man nun Feuer im Ofen an, ſo wird zunächſt die
Luft
im Ofen erhitzt, ſie ſtrömt deshalb, leichter geworden, nach
oben
durch die Klappe in den Schornſtein hinein.
Im Schorn-
ſtein
hat ſie ſo recht Bahn nach aufwärts zu ziehen und er-
regt
hier eine Strömung, die außerordentlich hoch über den
Schornſtein
hinaus ſteigt, wovon man ſich oft an
32355 Tagen überzeugt, wo die Schornſteine beträchtlich hohe Rauch-
ſäulen
emporſenden.
Dadurch aber entſteht eine Luftleere im
Ofen
, und wenn man die Zugklappe an der Ofenthür geöffnet
hat
, ſtrömt die kalte Luft der Stube mit Macht in den Ofen
hinein
, wird dort wiederum heiß und ſtrömt dann wieder zum
Schornſtein
hinaus.
Und das iſt der Zug.
Auf dem Feuerherd iſt dies zwar auch der Fall, aber in
weit
geringerem Maße.
Auf dem offenen Feuerherd iſt die
Luft
, welche zunächſt erhitzt wird, nicht eingeſchloſſen in einem
beſtimmten
Raum.
Sie dehnt ſich zwar durch die Erwärmung
aus
, aber ihr iſt der Weg nicht ſo beſtimmt zum Schornſtein hin-
aus
vorgeſchrieben, wie im Ofen, wo nur die eine Klappe den
Ausweg
öffnet.
Es ſtrömt dem Feuer auf dem Herd auch
kalte
Luft zu, aber dieſes Zuſtrömen findet nicht an einer be-
ſtimmten
Stelle ſtatt, wie beim Ofen, wo nur die Zugklappe
der
Ofenthür die kalte Luft zuläßt.
Es vertheilt ſich daher
das
Abſtrömen der heißen und das Zuſtrömen der kalten Luft
auf
einen weiten Raum in der Runde;
der Zug iſt alſo an
der
Feuerſtelle bei weitem nicht ſo ſtark.
Dies iſt auch die Urſache, daß die Witterung auf das
Feuer
auf dem Herd weit mehr Einfluß hat als auf das Feuer
im
Ofen.
Wenn das Feuer auf dem Herd nicht recht bren-
nen
will, und es in der Küche zu rauchen anfängt, ſo ver-
kündet
oft eine erfahrene Hausfrau hieraus eine Wetterver-
änderung
;
und ſie hat gar nicht ſo Unrecht, wie man meinen
ſollte
.
Der Luftzug auf dem Feuerherd ſteht in ſehr innigem
Zuſammenhang
mit dem Zuſtand der Luft im Schornſtein und
über
demſelben.
Wenn die Sonne ſo recht auf den Schorn-
ſtein
brennt, iſt oft die Luft oben ſo warm, daß ſie leichter
iſt
als die dort anlangende Luft, die vom Herd aufſteigt.
Der Rauch ſchlägt demnach in die Küche zurück. Setzt ſich der
Wind
in den Schornſtein, ſo drückt er oft den aufſteigenden
Luftſtrom
nieder und verhindert deſſen Abzug.
Entſteht
32456 oder Schnee in den höheren Luftſchichten, ſo wird ſtets die
Luft
hierbei wärmer, und der Zug im Schornſtein dadurch
ſchlechter
.
Eine erfahrene Hausfrau weiß auch oft, daß bei
Weſtwind
in dieſer, bei Oſtwind an einer andern Ecke des
Herdes
das Feuer beſſer brennt.
Mit einem Worte: ein
Feuerherd
oder richtiger der Zug im Schornſtein iſt zuweilen
ſo
abhängig vom Wetter, daß man ihn faſt zum Wetterpro-
pheten
machen kann.
Beim Zug-Ofen iſt dies zwar auch der
Fall
;
allein der ſtarke Zug der erhitzten, im Ofen einge-
ſchloſſenen
Luft, die nur den einen Ausweg hat, überwindet
leichter
all’ die Hinderniſſe des Schornſteins und läßt dieſen
nicht
ſo wetterwendiſch erſcheinen, wie er wirklich iſt.
Genug alſo, der Zug entſteht daher, daß wir durch den
Ofen
eine große Portion von heißer Luft erzeugen, welche
durch
den Schornſtein hinauszieht und den Ofen zwingt, durch
die
Zugklappe der Ofenthür neue, kalte Luft aus der Stube
einzuziehen
, ſo daß eine fortwährendes Strömen entſteht, wo-
bei
kalte Luft in den Ofen und warme Luft zum Schornſtein
hinausfliegt
.
Iſt dies aber nicht ein ungeheuerer Verluſt an Wärme?
Ohne Zweifel iſt es ſo; und deshalb iſt eben das ſparſame,
richtige
Heizen ein wahres Kunſtſtück.
Der Ofen braucht Zug; es muß ihm friſche Luft zuge-
führt
werden, die ihm den Sauerſtoff abgiebt;
allein unſere Luft
beſteht
nicht aus bloßem Sauerſtoff, ſondern ſie enthält vier-
mal
ſo viel Stickſtoff als Sauerſtoff.
Dieſer, der Stickſtoff, iſt
bei
der Verbrennung ganz unnütz;
da er aber kalt in den Ofen
kommt
und erwärmt zum Schornſtein hinauszieht, ſo thut er
dem
Feuer ungeheuren Abbruch.
Er kühlt vor Allem das
noch
nicht brennende Brennmaterial ab, ſo daß es ſich ſchwerer
entzündet
;
er weht auch oft das brennbare Gas ſo weit von
der
eigentlichen, heißen Stelle fort, daß es unverbrannt oder
nur
halbverbrannt in den Schornſtein kommt;
er nimmt
32557 lich noch beim Durchziehen durch den Ofen Wärme in ſich auf
und
heizt damit die weite Welt, die uns nichts angeht.
VI. Lufttransport und Ofen-Kouzert.
Es wäre eine herrliche Erfindung, welche es zu Wege
brächte
, daß irgend ein chemiſcher Stoff, vor die Zugklappe der
Ofenthür
gelegt, der einſtrömenden Luft den Stickſtoff entzöge,
ſo
daß nur Sauerſtoff in den Ofen ſpazierte.
Allein es iſt ſo
gut
wie gar keine Ausſicht für dieſe Erfindung vorhanden.
Der Stickſtoff iſt ein höchſt eigenſinniger, hageſtolzer Geſelle,
der
ſich, wie wir ja ſchon wiſſen, äußerſt ſchwer zu einer chemi-
ſchen
Verbindung verſteht;
ja er iſt gerade durch dieſe Eigen-
ſchaft
von ſo bedeutender Wichtigkeit im Haushalt der Natur,
daß
wir nicht einmal wünſchen dürfen, daß er verbindungs-
luſtiger
werde.
Genug, auf dieſe Erfindung müſſen wir ver-
zichten
und könnten ſchon zufrieden ſein, wenn dies der einzige
Nachteil
wäre, den uns der ſo notwendige Zug im Ofen zu-
zieht
.
Er hat aber in Wahrheit noch einen andern Nachteil, auf
den
die Männer der Wiſſenſchaft bisher wenig Rückſicht ge-
nommen
haben, weil ſie in ihren gewiſſenhaft geführten For-
ſchungen
ihre Aufmerkſamkeit nicht auf die Zuſtände richten,
die
im praktiſchen Leben den Hausfrauen ſelten entgehen.
Durch den Schornſtein geht, wie wir geſehen haben, in-
folge
des Zuges eine große Portion heißer Luft in die weite
Welt
hinein;
dafür ſtrömt aber eine eben ſo große Portion
kalter
Luft aus der Stube in den Ofen.
Wie aber, müſſen wir fragen, wird dadurch nicht die Stube
luftleer
?
Keineswegs; denn dergleichen iſt nicht möglich. Würde
32658 die Stube keine neue Luft eindringen, ſo würde der Ofen auch
nicht
ziehen;
im Gegenteil, bei einer wirklichen Luftverdünnung
in
der Stube würde der Luftdruck im Schornſtein den Rück-
zug
bewirken, und Feuer, Rauch und Luft würden durch die
Zugklappe
der Ofenthür in die Stube hineinſchlagen, wie das
zuweilen
kommt, wenn ein plötzlicher Sturmſtoß in den Schorn-
ſtein
hineinfährt.
Eine Stube kann man überhaupt nicht
luftleer
machen, denn der Druck ver Luft von außen her würde
die
Fenſter zertrümmern, ſobald nicht Luftmaſſe genug in der
Stube
iſt, um den Gegendruck auszuüben.
In der That fehlt es in Stuben, wo der Zugofen brennt,
keineswegs
an Luft, obgleich der Ofen ſeinen großen Luftbe-
darf
aus der Stube bezieht;
denn kein Fenſter, keine Thür
iſt
ſo dicht, daß nicht die Luft von draußen reichlich einſtrömen
ſollte
.
Was aber iſt die Folge hiervon?
Dieſelbe Portion Luft, welche von der Stube in den Ofen hin-
eingezogen
wird, dieſelbe Portion ſpaziert fortwährend durch Thür-
und
Fenſterſpalten und ſonſtige ſichtbare und unſichtbare Riſſe in
die
Stube herein, und da dieſe Luft kalt iſt, ſo bildet der Zug im
Ofen
recht eigentlich eine Luftwanderung, bei welcher die kalte
Luft
in die Stube zieht, und weil ſie eben kälter und ſchwerer
als
die Stubenluft iſt, auf den Fußboden niederſinkt, und von
da
langſamen Weges bis vor die Zugklappe der Ofenthür
wandert
, um dort recht kräſtig im Wirbel gefaßt und durchs
Feuer
und den Ofen hindurch zum Schornſtein hinaus in die
weite
Welt expediert zu werden.
Zuweilen, wenn im Zimmer alles ruhig iſt und die tief-
liegende
Winterſonne ihren willkommenen, hellen Schein zum
Fenſter
herein und bis zur offenen Zugklappe des brennenden
Ofens
hinwirft eine Erſcheinung, die in der Naturgeſchichte
großer
Städte nur vier Treppen hoch zu ſpielen pflegt, zu-
weilen
kann man in ſolchen Momenten ein wenig
32759 den man am Fenſter aufwirbeln ließ, auf ſeiner Wanderung
durch
die Stube verfolgen, und man merkt, daß er eine Luft-
reiſe
macht, welche die Reiſe der Luft durch das Zimmer er-
kennen
läßt.
Das Tabakswölkchen zieht, weil es von der erhitzten Pfeifen-
luft
getragen wird, anfangs am Fenſter in die Höhe.
Hier ge-
rät
es in den Strom kalter Luft, der zum Fenſter hereinzieht,
um
die Luft zu erſetzen, welche die Stube an den Ofen abgiebt.
Das Wölkchen verliert ſeine ſchöne Kreiſelung und wird ziem-
lich
breitſpurig vom kalten Luftzug hinuntergetragen in die
Stube
.
Im Sonnenſchein ſieht man es nun deutlich in un-
förmiger
, wolkiger Maſſe ſeinen breiten Weg am Fußboden
entlang
nehmen, und langſam bis in die Nähe des Ofens hin-
ziehen
.
Hier aber wird es von einem zitternden Luftwirbel
gefaßt
, es zieht ſich in lange, krauſe Ringelfäden bis zur Nähe
der
Zugklappe, wo es ſchlangenartig hineinzieht, um wie
man
wiſſenſchaftlich ſich ganz richtig ausdrückt einer voll-
ſtändigen
Verbrennung entgegenzugehen, denn auch Tabaksrauch
iſt
eine Folge der unvollſtändigen Verbrennung.
Was hilft uns aber die vollſtändige Rauchverbrennung,
wenn
der hierzu nötige Zug ſo viel kalte Luft in die Stube
bringt
?
Wahrlich, daß iſt eine wichtige, ſehr wichtige Frage, deren
Beantwortung
für praktiſche Zwecke und für bürgerliche Stuben-
heizung
leichter manchem Gelehrten den Kopf als ein kaltes
Zimmer
warm machen kann.
Wir werden zu dieſer Frage noch kommen, wenn es ſich
darum
handeln wird, ob man von draußen oder von der Stube
aus
heizen ſoll, ob Öfen freien Zug oder luftdichte Thüren
haben
müſſen;
aber ſo weit ſind wir noch nicht, denn der
Zug
nimmt unſer Ohr in Anſpruch und macht uns ein
Heizungs-Konzert
.
Warum klappert denn der Zug ſo? Warum läßt er
32860 weilen einen haſtigen Zapfenſtreich, zuweilen einen Lokomo-
tiventakt
, zuweilen ein Blaſebalgbrauſen hören, bei dem nicht
ſelten
alle loſen Fenſterſcheiben muſikaliſch angeregt werden?
Hierüber ließe ſich viel ſprechen, aber wir wollen’s kurz
machen
.
Der kalte Zug macht viel Wirtſchaft im Ofen. Er puſtet
in
einem Atem das Feuer aus und an.
Er verdichtet durch
ſeine
Kälte das Gas im Ofen, und dehnt ſich und das wieder
anbrennende
Gas im ſelben Moment aus.
Seine Wirkung iſt
auch
deshalb auf verſchiedene Holzarten verſchieden:
Kienholz
hat
wegen der Flüchtigkeit ſeines Gaſes ein anderes Heizungs-
Konzert
als Büchenholz.
Dies bringt nun das Flattern und
Klappern
der Luft im Ofen hervor;
hiervon wird die Ofenthür
ergriffen
und hin und her gerüttelt, und auch die einſtrömende
Luft
ſelber ſchon vor dem Ofen in ein Zittern verſetzt, das ſich
ſogar
einem Fidibus mitteilt, den man durch die Zugklappe
ſtecken
will.
Das macht es aber auch, daß an jeder Luftöffnung der
Stube
ein ähnliches, unbeobachtetes Konzert ſtattfindet, wo die
kalte
Luft nach dem Takt der Ofenmuſik ins Zimmer hinein-
tanzt
.
Genug. Der Zug iſt notwendig; aber er wird uns noch
viel
, zu ſchaffen machen.
VII. Ofen und Kamin.
Wir ſind für jetzt ſo weit, daß wir das Feuer ruhig bren-
nen
laſſen und uns derweilen ein wenig nach dem Ofen um-
ſehen
müſſen.
Denn das wollen wir unſern Leſern lieber
gleich
ſagen eine gute, praktiſche Heizung iſt darum ſolch
ein
ſeltenes Kunſtſtück, weil da viele Dinge durcheinander
32961 Rolle ſpielen und die Aufgabe verwirren; und Eines dieſer
vielen
Dinge iſt der Ofen.
Wozu dient denn eigentlich der Ofen?
Es weiß ja jedes Kind, daß der Ofen an ſich kalt iſt, und
daß
man ihn erſt erwärmt, damit er die Stube wärme, daß
man
ihm die Hitze eigentlich nur in Kommiſſion giebt, damit
er
ſie uns wieder gebe.
Wozu aber hat man das nötig?
Weshalb erwärmt man die Zimmer nicht durch einen offenen
Kamin
, der ſeine Hitze gleich in die Stube ſendet?
Jeder unſerer Leſer wird es wohl ſchon wiſſen, daß man
in
der That in früheren Zeiten keine Öfen und ſtatt deren nur
Kamine
hatte, daß es Länder giebt, wo noch jetzt die Öfen, dieſe
echt
deutſchen, gemütlichen Winterfreunde, eine Seltenheit ſind,
und
wo ſtatt des warmen Sitzes an ihrer Seite der Platz am
Kamin
der Ehrenplatz des Hauſes an kühlen Tagen iſt.
Hiernach könnte es freilich ſcheinen, als ob der Ofen wirk-
lich
ein überflüſſiger Kommiſſionär und eine unpraktiſche, deutſche
Erfindung
wäre;
denn man ſagt es ja alle Tage von uns, daß
wir
Deutſchen ein unpraktiſches Volk ſeien.
Allein man
thäte
hiermit dem Deutſchen und noch mehr ſeinem Ofen ſehr
Unrecht
.
Das deutſche Volk iſt als Volk unpraktiſch. Im Vergleich
mit
anderen Völkern denkt es ſehr viel und handelt ſehr wenig.
Der Deutſche iſt auch im Geſellſchaftsweſen und im öffenlichen
Leben
unbeholfener und unpraktiſcher, als viele geiſtig weit
unter
ihm ſtehende Nationen;
allein auf den Deutſchen in ſeiner
Häuslichkeit
laſſen wir nichts kommen, und namentlich am
Ofen
zuweilen auch hinterm Ofen iſt er wirklich geſcheit,
ſparſam
und wohlüberlegt;
mit einem Worte: hier iſt er prak-
tiſch
.
Das iſt wirklich wahr.
Ein Blick auf jene Länder, wo keine Öfen und ſtatt der-
ſelben
Kamine im Gebrauch ſind, lehrt, daß es nicht ein wirt-
ſchaftliches
Sparſamkeitsſyſtem iſt, welches dieſen Zuſtand
33062 recht erhält. In warmen Ländern, wo wenig Brennmaterial
gebraucht
wird, wie im ſüdlichen Fraukreich, hat man nicht
Urſache
, mit den Heizmitteln zu ſparen.
In Polen, wo frei-
lich
die Kälte ſtark genug iſt, um die beſtändigere Wärme des
Ofens
der nur flüchtigen des Kamins vorzuziehen, iſt Brenn-
material
in ſo reicher Fülle vorhanden, daß ſie aufs Sparen
nicht
angewieſen ſind;
auch liegt es nicht im Charakter der
Vermögenden
der polniſchen Nation, zu ſparen, während der
Arme
dort in Zuſtänden lebt, wo es ihm bequem und ange-
nehm
iſt, Küche und Stube in einem Raum zu beſitzen.

Daß
aber in England der Kamin ſich noch behauptet, das hat
ſeinen
Grund teils in dem mildern See-Klima Englands, teils
in
der Heizung der Steinkohlen, die in der That, wie wir noch
ſpäter
ſehen werden, eine andere Art von Feuer liefern als
Holz
, wie hauptſächlich in der Hartnäckigkeit und Zähigkeit des
engliſchen
Charakters, welche eine Änderung der häuslichen
Einrichtung
ſtets zurückweiſt, ſobald ſie einmal durch das Her-
kommen
und die Sitte ihm lieb geworden iſt.
Übrigens hat
trotz
des ſtarren Feſthaltens am Herkommen in der That der
praktiſchere
Ofen in neuen Häuſern Londons den Kamin
verdrängt
.
Worin liegt aber das Praktiſche des Ofens? Warum
bedient
man ſich dieſes Kommiſſionärs, dem man die Hitze
zunächſt
zuführt, um ſie von ihm der Stube zugehen zu
laſſen
, und bedient ſich nicht der Wärme des Feuers aus erſter
Hand
?
Die Antwort hierauf iſt folgende.
Der Ofen iſt eine gute Sparbüchſe der Wärme, die, ohne
läſtig
zu werden, viel Hitze auf einmal einnimmt und ſie
ohne
weſentlichen Verluſt langſam nach und nach wieder ab-
giebt
.
Freilich iſt es wahr, daß der Ofen hiernach einge-
richtet
ſein muß!
Die Unterſchiede zwiſchen der Wirkung eines
33163 und einer Ofenheizung ſind jeder einſichtigen Hausfrau ſicher
ſchon
durch Erfahrung klar geworden.
Ein Kaminfeuer verbreitet all’ ſeine Wärme ſchnell durch
Ausſtrahlung
.
Ein Ofenfeuer hat einen anderen Zweck. Es
erhitzt
den Ofen durch unmittelbare Berührung.
Ein Kamin-
feuer
ſendet während des Brennens wärmende Strahlen in die
Luft
des Zimmers;
dieſe ſteigt erwärmt aufwärts, läßt die
untere
, kältere Luft zuſtrömen und wiederum erwärmen, und da
dies
ſchnell genug und nach allen Seiten hin geſchieht, ſo iſt
die
Luft des Zimmers auch ſehr bald in hohem Grade er-
wärmt
und gewährt eine ſchnelle Behaglichkeit, ſo lange dieſe
Wärmequelle
thätig iſt.
Ein Ofen dagegen erfüllt ſeinen
eigentlichen
Zweck nur, wenn er nach allen Seiten hin die
Flamme
ſo umgiebt, daß die Wärme nicht die Luft trifft.
Denn die wärmende Luft im Ofen, das wiſſen wir ja, fliegt
in
den Schornſtein.
Der Ofen muß die Wärme durch un-
mittelbare
Berührung aufnehmen.
Auf die in die Ferne wir-
kenden
Wärmeſtrahlen des Feuers muß man bei einem Ofen
verzichten
.
Es liegt im Prinzip des Ofens, dem Feuer nir-
gends
einen Raum zur Ausſtrahlung der Wärme darzubieten,
ſondern
von allen Seiten dem Feuer friſche Flächen entgegen-
zuſtellen
, deren Erhitzung unmittelbar geſchieht.
Erliſcht dann
das
Feuer, ſo bleibt der erhitzte Ofen zurück und giebt die
empfangene
Wärme dem Zimmer ab.
Zwar wiſſen wir, daß der Zug im Ofen eine ſtarke
Portion
Wärme in den Schornſtein führt;
allein der Kamin
erfordert
einen bei weitem freiern Abzug des Rauches in den
Schornſtein
, und das Feuer erleidet dadurch einen unverhält-
nismäßig
größern Verluſt an Wärme, ſo daß eine Kaminheizung
in
jedem Falle mehr dem Schornſtein, als dem Zimmer zu
gute
kommt.
33264
VIII. Der Kachelofen.
Unſere Leſer werden unſerem Lobe des Ofens ſchon an-
gemerkt
haben, daß wir eigentlich damit den üblichen Kachelofen
meinen
, und dem iſt auch ſo.
Wir wollen auch vorerſt dieſen
kennen
lernen und uns die nähere Bekanntſchaft der übrigen
Öfen
auf ſpäter vorbehalten.
Iſt es wohl zufällig, daß man den Ofen aus ſolchem
Material
baut?
Iſt es zufällig, daß man den weißen Ofen
einem
dunkelfarbigen vorzieht?
Hat es ſeinen guten Grund,
daß
man die Ofenkacheln glaſiert und ſich nicht mit einer
andern
Art von Zierde derſelben begnügt?
Um dieſe Fragen zu beantworten, muß man auf den Zweck
eines
Kachelofens zurückgehen und auch in die Natur der Wärme
ein
wenig hineinblicken.
Der Zweck des Kachelofens iſt, wie bereits erwähnt, daß
man
ihm eine Portion Wärme mit einemmale zuführt, damit
er
ſie einzeln der Stube abgeben ſoll;
will man aber dieſen
Zweck
erreichen, ſo muß man ſich’s klar machen, was es eigent-
lich
mit dem Geben und Abgeben der Wärme für eine Be-
wandtnis
hat.
Was Wärme iſt, wollen wir an dieſer Stelle nicht er-
örtern
.
Dieſe ſtreng wiſſenſchaftliche Frage ſoll uns jetzt nicht
den
Kopf warm machen;
allein das wollen wir uns merken,
daß
die Wärme ein Ding iſt, das man erzeugen kann, z.
B.
durch Reiben; ferner, daß man ſie ſteigern kann, bis die
Dinge
, in welchen ſie angehäuft wird, ſich chemiſch und phyſi-
kaliſch
ganz und gar verändern.
So verändert ſich z. B. Holz
chemiſch
bei Steigerung der Hitze und zerfällt in verſchiedene
Gasarten
, in Kohle und in Aſche;
während Waſſer bei ge-
ſteigerter
Hitze ins Kochen gerät und ſich phyſikaliſch in Dampf
verwandelt
.
Endlich weiß man von der Wärme, daß ſie
33365 Ding iſt, das man durch nichts in der Welt einſperren kann,
denn
ſie iſt durch und durch kommuniſtiſch geſinnt und verteilt
ſich
gleichmäßig durch die ganze Welt, und wenn ſie deshalb
durch
die dickſten Mauern wandern muß.
In dieſer Beziehung ſind Licht und Wärme, die beide ſehr
nahe
verwandt zu ſein ſcheinen, außerordentlich von einander
verſchieden
.
Licht kann man eben ſo leicht einſperren wie aus-
ſperren
.
Man kann eine Stube erleuchten, und, wenn man nur
ringsum
alle Öffnungen mit undurchſichtigen Wänden ver-
ſchließt
, ſo wird nicht eine Spur von Licht hinausdringen.
Eben
ſo
leicht kann man Licht ausſperren und einen Raum herſtellen,
der
allenthalben zu iſt, in den alſo kein Licht eindringen kann.
Mit der Wärme dagegen läßt ſich dies nicht machen.
Bringt
man einen heißen Körper in irgend einen kalten Raum
hinein
, ſo wird ſich die Wärme nicht nur in dieſem Raum
verbreiten
, ſondern ſie geht durch die dickſten Mauern hindurch,
und
verliert ſich nach und nach durch immer weitere Ver-
teilung
, bis ſie alles gleich warm gemacht hat.
Die Wärme
läßt
ſich alſo nicht einſperren, man kennt kein Ding, durch
welches
ſie nicht hindurchdringt, und deshalb läßt ſie ſich auch
nicht
ausſperren;
man kann keinen Behälter herſtellen,
welcher
imſtande iſt, der Wärme von außen her völlig
zu
widerſtehen.
Sie wandert durch Alles aus und dringt in Alles
hinein
.
In dieſer Beziehung ſind wir alſo eigentlich ſchlimm
daran
, wenn wir uns die Aufgabe ſtellen, irgend etwas in
einem
einmal erzeugten Grad von Wärme zu erhalten.
Der
Verluſt
iſt unvermeidlich.
Es giebt hierin nur ein einziges
Mittel
, und das beſteht darin, daß man die Wärme mit
ſolchen
Dingen umſchließt, welche ſie nicht ſo ſchnell durch-
bricht
.
Es giebt nämlich Dinge, durch welche die Wärme mit
fabelhaſter
Leichtigkeit hindurchſpaziert, und wiederum andere
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
33466
Dinge, durch welche es ihr ſehr ſauer wird, hindurchzudringen,
durch
welche ſie ſo zu ſagen enorm langſam durchkriecht.
Warum das ſo iſt, das weiß man nicht; genug es iſt ſo,
und
jedermann wird bei Erwähnung einiger Beiſpiele ſchnell
genug
einſehen, daß er das oft ſchon erfahren hat.
Durch Metalle wandert die Wärme mit fabelhafter
Leichtigkeit
hindurch.
Hält man eine Stricknadel mit der einen
Spitze
kurze Zeit in ein brennendes Licht, ſo erwärmt ſich
nicht
nur dieſe, ſondern die ganze Nadel.
Die Wärme bleibt
alſo
nicht an der Stelle, wo ſie entſteht, ſondern läuft durch
die
Nadel der Länge nach davon.
In einem nicht emaillierten,
eiſernen
Topf kühlt ſich das Eſſen außerordentlich ſchnell ab,
denn
die Wärme geht durch die Metallwände des Topfes ſehr
ſchnell
hindurch und verteilt ſich nach außen.
Unter einem
Zinkdach
iſt es im Sommer vor Hitze und im Winter vor Kälte
nicht
auszuhalten, denn die Wärme des Sonnenlichts geht
durchs
Zink mit Schnelligkeit hindurch, während im Winter die
Wärme
, die unter dem Zinkdach künſtlich erzeugt wird, ebenſo
ſchnell
durchs Zink hindurch nach außen wandert.
Es giebt aber auch Dinge, wo die Wärme ſehr langſam
eindringt
, und durch welche ſie deshalb auch nur langſam hin-
durchgehen
kann.
Durch dicke Mauerwerke, durch Erdſchichten,
durch
Geſteine dringt die Wärme zwar ein;
allein es geſchieht
dies
ſehr langſam.
Es dauert deshalb lange, ehe man einen
Ziegelſtein
heiß macht, denn die Wärme dringt langſam in
denſelben
ein, aber er bleibt dann auch lange warm, denn die
Wärme
geht wiederum ſehr langſam durch denſelben fort.
In
Aſche
dringt auch die Wärme äußerſt langſam ein;
daher
bleibt
auch Aſche, wenn ſie heiß iſt, lange warm.
In guter
Aſche
halten ſich Kohlenſtückchen brennend oft von einem Tag
zum
andern.
Durch Wolle, durch Federbetten dringt die
Wärme
ſehr ſchwer durch;
deshalb bleibt der Leib warm, wenn
man
ihn in wollene Decken oder Betten einhüllt.
33567
Mit einem Worte: die Wärme durchdringt Alles und läßt
ſich
nirgend ſeſthalten;
allein es giebt Dinge, durch welche ſie
ſich
ſchnell hindurchdrängt, und dieſe nennt man gute Leiter
der
Wärme, denn ſie leiten, transportieren die Wärme ſchnell
hinweg
;
es giebt aber auch Dinge, durch welche die Wärme
ſchwerer
hindurchmarſchiert;
dieſe nennt man ſchlechte Wärme-
Leiter
.
Und da es uns beim Heizen gerade oft drum zu
thun
iſt, die Wärme, die im Ofen entſteht, nicht ſchnell davon
zu
laſſen, ſo iſt die Herſtellung des Ofens aus Materialien,
welche
die Wärme ſchlecht leiten, ſehr vorteilhaft.
Wir werden ſehen, daß der Kachelofen dieſen Vorteil
darbietet
.
IX. Material, Farbe und Glaſur des Ofens.
Auf die Leitung der Wärme hat aber noch etwas Einfluß,
und
das iſt die Farbe eines Dinges.
Woher das kommt, das weiß man leider auch nicht; denn
man
kennt das innerſte Weſen der Dinge gar zu wenig;
aber
es
ſteht feſt, daß hellfarbige Dinge weit ſchwerer zu erwärmen
ſind
, als dunkelfarbige.
Ja man kann es nachweiſen, daß die
Wärme
, wenn ſie auf einen hellen, weißen Gegenſtand
trifft
, zurückzuſtrahlen anfängt, weil ſie eben wegen der
weißen
Farbe nicht in den Gegenſtand eindringen kann;
während
ſie
in dieſelbe Maſſe leicht eindringt, ſobald ſie ſchwarz ange-
ſtrichen
iſt.
Viele Erſcheinungen dieſer Art ſind ſchon im gewöhnlichen
Leben
bekannt genug.
Von einer weiß angeſtrichenen Mauer
prallt
die Wärme der Sonnenſtrahlen derart zurück, daß man
es
oft in ihrer Nähe kaum aushalten kann, während die Mauer
ſelbſt
ziemlich kühl bleibt.
Iſt ſie ſchwarz angeſtrichen,
33668 dringt die Wärme in ſie ein, ohne zurückzuſtrahlen. Deshalb
gedeiht
der Wein, der viel Wärme braucht, immer beſſer an
einem
dunkeln als an einem hellen Zaun;
denn der dunkle
nimmt
mehr Wärme in ſich auf.
Deshalb ſchützt ein heller
Sonnenſchirm
ein Damengeſicht beſſer vor der Sonnenhitze als
ein
dunkler.
Ein heller Hut iſt kühler als ein ſchwarzer. Die
Frauen
handeln ganz richtig, daß ſie ſich im Sommer hell, im
Winter
dunkel kleiden;
durch helle Kleidung dringt die Wärme
von
außen her nicht ſo ſchnell ein wie durch dunkle.
Aus
gleichem
Grunde ſieht man ſtets, daß der durch Fuhrwerke und
Fußgänger
ſchmutzig gewordene Schnee ſchneller ſchmilzt, als der
neben
ihm liegende helle.
Beſtreut man den vereiſten Bürgerſteig
mit
ſchwarzer Aſche und Kohlenſtaub, ſo thaut er viel ſchneller
auf
als der mit weißem Sand beſtreute.
Auf ſchwarzem Boden
gedeiht
und grünt alles früher als auf hellerm.
Hängt man
zwei
Thermometer, das eine weiß, das andere ſchwarz ange-
ſtrichen
in die Sonne, ſo ſteigt das ſchwarz angeſtrichene be-
trächtlich
höher als das andere.
Ganz in derſelben Weiſe aber, wie die weiße Farbe ein
Schutz
iſt, daß die Wärme nicht ſchnell durch ſie eindringt,
ganz
in demſelben Maße iſt ſie auch ein Schutz, daß die
Wärme
nicht ſchnell verloren geht.
Weiße Gefäße halten
Flüſſigkeiten
länger warm als dunkle.
In einer weißen
Taſſe
wird der Kaffee nicht ſo ſchnell kalt als in einer
ſarbigen
.
Zwei weiße Hemden ſchützen im Winter beſſer vor
Kälte
als zwei ſchwarze Röcke;
eine weißwollene Unterjacke hält
beſſer
warm als eine blaue oder braune;
denn die weiße Farbe
läßt
die Wärme des Körpers nicht nach außen hin ſtrömen,
und
verhütet ſomit den Verluſt der natürlichen Leibeswärme.
All’ dieſe Thatſachen, die Viele im Leben ſchon oft an
ſich
ſelbſt erfahren haben, ſind durch wiſſenſchaftliche Unter-
ſuchungen
beſtätigt worden.
Füllt man ein weißes und ein
ſchwarzes
Gefäß von gleicher Maſſe und gleicher Dicke
33769 gleich heißem Waſſer und ſetzt in jedes ein Thermometer
hinein
, ſo zeigt es ſich, daß nach einiger Zeit das Waſſer im
ſchwarzen
Gefäß ſchneller erkaltet als im weißen.
Will
daher
eine Hausfrau den Thee ſchnell fertig haben und lange
warm
halten, ſo wird ſie das Waſſer in der Metall-Kaſſerolle
kochen
, welche die Wärme ſchnell dem Waſſer abgiebt, und den
Thee
in der weißen Kanne aufbrühen, die die Wärme nicht ſo
leicht
davon läßt.
Die Wärme hat aber noch etwas Eigenes an ſich. Sie
dringt
durch eine glatte, blanke, glänzende, glaſierte Oberfläche
bei
weitem ſchwerer ein, als durch eine rauhe, und ebenſo läßt
ein
blankes, glattes, glänzendes, glaſiertes Gefäß weit lang-
ſamer
die Wärme ausſtrahlen, als eines mit rauher Außen-
ſeite
.
In der blanken Kaffeemaſchine bleibt dieſes gemütliche
deutſche
Getränk länger warm, als in der ungeputzten;
in der
glaſierten
Kaffeekanne wärmer, als in der unglaſierten.
Ein
Atlaskleid
hält wärmer, als ein eben ſo dickes Wollenkleid.
In gewichſten Stiefeln verliert man weniger Wärme des Fußes,
als
in ungewichſten.
Die ſchwarze Haut der Neger würde die
Sonnenwärme
ihnen unerträglich machen, wenn nicht die
ſtarke
Abſonderung der Talgdrüſen der Haut derſelben einen
glänzenden
Überzug verleihen würde, der das Eindringen der
Wärme
erſchwert;
die Wilden in kalten Weltgegenden würden
im
halbnackten Zuſtande ihre Körperwärme ſchnell verlieren,
wenn
ſie nicht durch Einreiben der Haut mit Fiſchthran, der
die
Wärme ſchlecht leitet, ihr noch jenen blanken Anſtrich
geben
würden, der die Körperwärme nicht ausſtrömen läßt.
Kommen wir nun auf den Ofen zurück, ſo müſſen wir
ſagen
, daß es praktiſch, wie wiſſenſchaftlich ausgemacht iſt, daß
das
Material, woraus der übliche Kachel-Ofen beſteht, daß alſo
Lehm
und gebrannter Thon ſehr ſchlechte Leiter der Wärme
ſind
, daß ſie alſo die Wärme, die man in ihnen erregt, zu-
ſammenhalten
und ſie nur langſam von ſich geben, daß
33870 dieſe Materialien dem Zwecke des Ofens vollkommen ent-
ſprechen
.
Ferner iſt auch der Umſtand von Wichtigkeit, daß der Ofen
inwendig
dunkel und auswendig weiß iſt.
Durch die inwendige,
dunkle
Farbe nimmt er die Wärme leichter auf;
durch die
weiße
Farbe von außen giebt er ſie nur langſam ab.
Ein
weißer
Kachelofen iſt alſo eine gute Sparbüchſe der Wärme.
Endlich iſt es auch nicht zufällig, daß man ihn von innen
rauh
läßt und von außen glaſierte Kacheln nimmt.
Die rauhe
Innenfläche
nimmt die Wärme beſſer auf;
die glaſierte Ober-
fläche
giebt ſie langſam ab;
er erfüllt alſo auch in dieſer
Weiſe
die Anforderung, die man gemeinhin an ihn ſtellt.
Das
Glaſieren
der Kacheln iſt ſo wichtig, daß ohne dasſelbe ein
ſchwarzer
Ofen für dieſen Zweck, den wir vorerſt im Auge
haben
, den Zweck des Aufſparens der Wärme, ſehr unbrauch-
bar
wäre.
Wir werden von anderen Arten von Öfen, namentlich von
eiſernen
Öfen, noch viel zu ſprechen haben;
vorerſt müſſen wir
uns
aber noch an viele andere Dinge halten, die von weſent-
lichem
Einfluß beim Heizen ſind, und das ſind zunächſt die
Ofenzüge
und der Schornſtein, die wir nunmehr in ihrem Wert
und
Unwert kennen lernen wollen.
X. Der Ofen innerlich.
So ähnlich alle Öfen einander ſind, wenn man ſie von
außen
anſieht, ſo unähnlich ſind ſie ſich innerlich;
und ſo un-
ähnlich
ſie ſich innerlich ſind, ſo unähnlich ſind ſie ſich oft in
ihren
Eigenſchaften.
Von außen ſehen ſich alle Öfen und namentlich in neuerer
Zeit
gleich an.
Alle haben auf der einen Seite die Ofenthür
33971 einer Zug-Öffnung, auf der andern das Ofenrohr, welches zum
Schornſtein
führt, und in der Mitte des Ofens die ſogenannte
Röhre
, die nicht ſelten ein unentbehrlicher Behälter in der
Wirtſchaft
iſt.
Gleichwohl merken die achtſamen Hausfrauen
ſehr
wohl, daß man aufs äußere Anſehen beim Ofen nicht
viel
geben darf, und ihre erſte Frage iſt mit Recht:
wie
heizt
er ſich?
denn das iſt im Grunde genommen die Haupt-
ſache
.
Dieſe Hauptſache aber iſt von außerordentlich vielen Um-
ſtänden
im Bau des Ofens abhängig, die wir jetzt teilweiſe
kennen
lernen wollen.
Ehedem waren die Öfen von außen, vom Flur, von der
Küche
aus zu heizen, und der Bau der Öfen war ein durchaus
einfacher
.
Der Ofen war eigentlich nur ein Kaſten, der unten
die
Thür und oben das Abzugsrohr zum Schornſtein hatte.
Als einfacher Kaſten faßte er auch eine große Portion Brenn-
material
, und wenn er gehörig damit verſorgt war, wurde das
Feuer
in ihm oft mit großen Schwierigkeiten in Brand gebracht,
wobei
nicht ſelten die Küche voll Rauch, der Heizer voll Ruß,
der
Schornſtein im beſten Fall durch eine wahre Feuerſäule
geſchmückt
war, die ſich durch das Abzugsrohr hinausdrängte.
Mit der Verteuerung des Brennmaterials erkannte man
ſehr
bald das Unpraktiſche dieſer Heizung.
Durch die offene
Ofenthür
ſtrömte eine Portion Hitze hinaus in die Küche, mit
der
man faſt eine zweite Stube hätte heizen können.
Schloß
man
die Ofenthür aber zu zeitig, ſo ging das Feuer aus, weil es
ihm
an Luft ſehlte.
Bald lernte man auch einſehen, daß Rauch
und
Ruß unverbrannte Teile des Heizmaterials ſind, die richtig
geleitet
und mitverbrannt die Wärme des Ofens erhöhen
würden
.
Endlich war auch das unbequeme und ſchwierige, oft
ſchmierige
Heizen von außen ein läſtiges Geſchäft, das man
ſich
wo möglich erleichtern wollte.
Mit der Aufgabe, den Ofen von drinnen, das heißt
34072 der Stube aus zu heizen, war aber durchaus ein anderer
innerer
Bau des Ofens notwendig.
Wer es weiß, welch’ ein
feuer-
und rauchſpeiendes Weſen ein Ofen nach alter Manier
für
die Küche war, der wird ſofort einſehen, daß ſolches Un-
getüm
in der Stube nicht geduldet werden kann;
es verſtand
ſich
von ſelbſt, daß man dem Heizen einen ganz andern An-
ſtrich
geben mußte, und dies geſchah dadurch, daß man die
Zug-Öfen
einrichtete.
Dieſe Einrichtung beſteht darin, daß nicht ein gerader
Weg
von der Thür des Ofens zum Abzugsrohr gelaſſen, ſon-
dern
dem Feuer Umwege dargeboten werden, durch welche es
ſich
hindurchzwängen muß, daß Hinderniſſe ihm in den Weg
gelegt
werden, gegen welche es anprallen und die es beſonders
erhitzen
muß, bevor der Abzug des Rauches nach mehreren
Hin-
und Hergängen im Ofen möglich iſt.
Man ſollte meinen, daß dies das Rauchen nur noch
fördern
müßte;
allein man hat zugleich hierbei den Ofen ſo
eingerichtet
, daß der eigentliche Brennraum, die Stelle, wo
man
das Brennmaterial einlegt, ſehr klein iſt im Vergleich
zum
ganzen Ofen;
dadurch wird der Ofen eigentlich in zwei
Teile
geteilt, in den Brennraum, den man ſofort vor ſich hat,
wenn
man die Ofenthür öffnet, und in den Luftraum, der ſich
über
ihm hin und her ſchlängelt bis zum Rohr, das in den
Schornſtein
führt.
Macht man nun im Brennraum Feuer an,
ſo
erhitzt man zunächſt die Luft im Luftraum, in den Zügen;
dieſe ſtrömt mit Macht ins Abzugsrohr und veranlaßt das
Nachſtrömen
der Luft des Zimmers in den Ofen.
Dieſes
Nachſtrömen
, das eigentlich der Zug iſt, verhindert das Rauchen,
dabei
iſt die Zugklappe ſo angebracht, daß die friſche Luft ſo
recht
in die Mitte des Brennraumes hineinſtrömt;
hier bewirkt
ſie
vermöge des Sauerſtoffs eine vollſtändigere Verbrennung,
wobei
der Rauch zum Teil mitverbrannt wird.
Die brenn-
baren
Gaſe, die aus dem Holz ſich entwickeln,
34173 wenigſtens teilweiſe gut innerhalb der Luftzüge des Ofens,
die
Flamme ſchlängelt ſich hierbei durch alle Hin- und Her-
gänge
des Ofens und giebt an den Wänden zur Seite und
hauptſächlich
an den Stellen, wo ſie anſchlagen und umbiegen
muß
, ihre Hitze ab, ſo daß alles, was in den Schornſtein
ausſtrömt
, ſchon bis zu einem gewiſſen Grade ſeine Wärme
abgegeben
hat.
Die Kinder machen ſich oft das Vergnügen, alle Kacheln
des
Ofens zu unterſuchen, um zu ſehen, welche am ſchnellſten
warm
wird;
wenn man ihnen dieſes harmloſe Vergnügen
nachmacht
und dieſe naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung nur mit
ein
wenig Umſicht und Nachhilfe ergänzt, ſo hat man ungefähr
einen
Maßſtab für die Lage der Züge im Ofen, oder richtiger
für
die Bahn, welche die Flamme vom Brennraum aus bis
zum
Rohr, das nach dem Schornſtein führt, zurücklegt.
Die-
jenigen
Kacheln, gegen welche der Zug geht, und an der er
aufwärts
ſteigend umkehrt, um nach dem entgegengeſetzten Ende
des
Ofens hinzuziehen, die werden eben am erſten warm.
Wer nun verſchiedene Öfen in dieſer Weiſe mit Umſicht
unterſucht
, der wird es bald herausfinden, daß oft zwei Öfen
in
einer und derſelben Wohnung von außen ganz und gar
gleich
ausſehen, daß Fuß, Farbe, Thüren und Verzierungen
darauf
ſchließen laſſen, daß beide auch innerlich gleich be-
ſchaffen
ſind;
allein ſie heizen ſich doch ganz verſchieden, weil
eben
die Lage der Züge im Ofen eine verſchiedene iſt.
Wie aber müſſen die Züge eingerichtet ſein, um ein gün-
ſtiges
Reſultat zu erzielen?
Dieſe Frage iſt mit eine Hauptſache bei der Heizung; wir
wollen
ſie, ſo gut es geht, beantworten, aber von vorn herein
ſagen
, daß die Umſtände hierbei ſo verſchiedenartig ſind, daß
eine
allgemein gültige Antwort zu den ſchwierigſten dieſes
Themas
gehört.
34274
XI. Die Züge im Ofen.
Wie bei allen Ofeneinrichtungen, muß man ſich auch
bei
Einrichtung der Züge des Ofens klar zu machen ſuchen,
zu
welchem Zweck und unter welchen Umſtänden ſie nützlich ſind
Bekanntlich geben verſchiedene Brennmaterialien ver-
ſchiedene
Flammen und entwickeln verſchiedene Arten von
Hitze
, wie wir dies weiterhin noch ausführlicher darlegen
werden
;
für jetzt wollen wir nur das Eine hier erwähnen,
was
bereits alle wirklichen Hausfrauen wiſſen, daß nämlich
gewiſſe
Brennmaterialien mit großer, ſtürmiſcher Gasent-
wicklung
, andere mit geringerer und langſamerer brennen.
Jene, z. B. Kienholz, brennen, wie die Frauen ſagen, mit
langer Flamme, dieſe, z.
B. Büchenholz, mit kurzer Flamme.
Mit
noch kürzerer Flamme brennt Torf, und mit außerordent-
lich
kurzer brennt Koks.
Da wir bereits wiſſen, daß die
Flamme
eigentlich nichts iſt als ausſtrömend brennendes Gas
rings
um das erhitzte Brennmaterial, ſo wollen wir die lang-
ſlammigen
Materialien die flüchtigen, die kurzflammigen die
weniger
flüchtigen nennen.
Nun aber müſſen wir noch einen Unterſchied kennen
lernen
, der in der Wirkung des Feuers ſtattfindet.
Ein jedes Feuer wärmt bekanntlich auch in der Ferne;
ſtärker wird die Erwärmung, wenn man den zu erwärmenden
Gegenſtand
dem Feuer näher bringt;
am allerſtärkſten aber
iſt
ſie, wenn man denſelben unmittelbar der Flamme ausſetzt.

Die
Erwärmung in die Ferne nennt man die ſtrahlende
Wärmung
, und die Geſetze dieſer Erwärmung kann man ſehr
genau
auf wiſſenſchaftlichem Wege deutlich machen;
die Er-
wärmung
durch das Anſchlagen der Flamme ſelbſt wollen wir
die
Erwärmung durch Berührung nennen und wollen nur
ſagen
, daß bei dieſer außerordentlich verſchiedenartige
34375 obwalten können, durch welche die Erwärmung ſehr geſteigert,
aber
auch ſehr vermindert werden kann.
Von den Geſetzen der ſtrahlenden Wärme wollen wir nur
das
Eine beſonders hier hervorheben, daß die Wärmeſtrahlen
ganz
ſo wie Lichtſtrahlen nur in gerader Linie wirken.
Um
ſich
vor der ſtrahlenden Wärme eines hellen Feuers zu ſchützen,
braucht
man nur irgend einen Gegenſtand als Schirm zwiſchen
ſich
und das Feuer zu bringen, und wenn er noch ſo dünn
iſt
, er wird hinreichen, die Wärme abzuhalten.
Die ſtrahlende
Wärme
der Sonne wird ja bekanntlich durch den feinen
Sonnenſchirm
der Frauen hinreichend unwirkſam gemacht.
Die
ſtrahlende
Wärme wärmt alſo nicht um die Ecke, und demnach
auch
nicht in die Züge eines Ofens.
Wir müſſen aber auch ein Geſetz von der Erwärmung
durch
die unmittelbare Flamme näher betrachten, und dies iſt
das
Geſetz von den verſchiedenen Graden der Wärme an den
verſchiedenen
Stellen einer und derſelben Flamme.
Man kann ſich durch zwei Stricknadeln, die man an ver-
ſchiedenen
Stellen in eine Lichtflamme hält, leicht überzeugen,
daß
dieſe verſchiedenen Stellen eine ſehr verſchiedene Wärme
haben
.
Hält man nämlich eine Stricknadel an den unteren,
nur
bläulich brennenden Teil der Flamme, eine zweite an den
oberſten
, mit gelblicher Flamme brennenden, ſo wird man bald
gewahren
, daß die letztere Nadel bei weitem ſchneller zu
glühen
anfängt, zum Zeichen, daß an dieſer Stelle der höhere
Grad
von Hitze exiſtiert.
Es iſt mit der Flamme des Feuers
ebenſo
, wie mit der Flamme eines Lichtes.
Die Flamme iſt
ſtets
an der Spitze, kurz vor dem Ende derſelben, am heißeſten,
ja
, ſie iſt bei ſtarkem Luftzug, der ſo eingerichtet iſt, daß das
Ende
der Flamme ſich wirklich zuſpitzt, ſo heiß, daß ſie Kupfer
und
Eiſen ſchmilzt.
Man nennt dieſe Spitze die Stichflamme,
und
obwohl unſere Stubenöfen nicht ſo eingerichtet ſind, daß
ſie
wirkliche Stichflammen erzeugen, wollen wir dieſen
34476 beibehalten, um dadurch die heißeſte Spitze der Flamme zu
bezeichnen
.
Stellen wir uns nun einen Ofen vor, der ſo gebaut iſt,
daß
die Züge desſelben etagenweiſe aufwärts dreimal hin- und
hergehen
, bevor ſie durch das Abzugsrohr in den Schornſtein
münden
, ſo wird ſich der Vorteil und der Nachteil ſolcher
Einrichtung
leicht einſehen laſſen, wenn wir uns einmal den-
ſelben
mit einem recht flüchtigen und ein andermal mit einem
weniger
flüchtigen Brennmaterial geheizt denken.
Geſetzt, wir füllen den Feuerraum eines ſolchen Ofens
mit
recht fettem Kienholz, das, wie bereits geſagt, ſehr lang-
flammig
brennt, ſo wird im unteren Brennraum nicht Platz
genug
für die ganze Flamme ſein, ſie wird in die erſte Etage
des
Ofenzuges einſtrömen und hier noch als Flamme wirken;
ja, ſie wird unter Umſtänden, wenn nämlich der Luftzug ſo
geleitet
werden kann, daß ſie in dieſer erſten Etage noch mit
friſcher
Luft geſpeiſt wird, hier alle ſchwerer brennenden Gaſe,
die
ſich aus dem Holz entwickeln, entzünden und eine neue,
noch
heißere Flamme erzeugen, die aufwärts bis in die zweite
Etage
des Zuges ſteigt.
Eine Flamme dieſer Art wird einen
langen
Raum des Ofens durch unmittelbare Berührung er-
hitzen
, und wenn dies eine Zeit anhält, ſo wird, wenn das
Feuer
ausgebrannt und die Ofenthür feſt verſchloſſen worden
iſt
, um das Einſtrömen weiterer Luft, die den Ofen wieder
kühlen
würde, zu verhindern, der Ofen heiß genug ſein, um
der
Stube eine erwünſchte Wärme zu erteilen.
Wie aber iſt
es
, wenn der Zug der Luft nicht ſtark genug iſt, um in der
erſten
Etage des Ofenzuges die Gaſe zu entzünden?
Dann
wird
eine eigentlich heiße Flamme, die Stichflamme, nicht
entſtehen
, die Gaſe werden unverbrannt, unter Blak und Ruß
in
den Schornſtein ſtrömen, und die Züge noch den Nachteil
haben
, daß nicht einmal die ſtrahlende Wärme den Ofen
34577 hitzen kann, was wohl der Fall wäre, wenn der Ofen ein
bloßer
Kaſten ohne Züge wäre.
Wie ganz anders es ſich herausſtellen würde, wenn wir
denſelben
Ofen mit kurzflammigem Brennmaterial heizen
würden
, das wollen wir ſoſort zeigen.
XII. Die Züge und das Brennmaterial.
Würden wir denſelben Ofen mit ſeinen Zügen in drei
Etagen
vermittelſt eines kurzflammigen Brennmaterials heizen,
ſo
würde der untere Brennraum vollkommen ausreichen, alle
Flammen
ſpielen zu laſſen.
Es würde kein brennbares Gas
unverbrannt
in die erſte Etage des Zuges gelangen;
es würde
vielmehr
hier nur die glühende Luft einſtrömen, welche im
Brennraum
unten erzeugt wird.
Hier wird ſie an die Wände
der
Züge etwas Wärme abgeben;
ein Gleiches wird in der
zweiten
und dritten Etage des Zuges ſtattfinden, ſodann
aber
wird ſie durch das Abzugsrohr in den Schornſtein hin-
einziehen
.
Welche Wirkung aber wird das haben?
Eine außerordentlich verſchiedene, je nachdem das
Material
und der Bau des Ofens und ſeiner Züge ver-
ſchieden
iſt.
Im unteren Brennraum wird ein ſehr hoher Grad von
Wärme
ſtattfinden, denn alle kurzflammigen Brennmaterialien,
das
heißt alle Materialien, welche nicht die Gaſe ſo leicht und
ſo
weit von ſich ausſtrömen laſſen, verbrennen zwar ſchwerer,
aber
unter größerer Hitze.
Iſt nun dieſer Brennraum ſo ein-
gerichtet
, daß die kurze Flamme allenthalben Wände vorfindet,
die
es berührt und erhitzt, ſo wird eine tüchtige Portion
Wärme
in die Ofenwände, in dieſe Sparbüchſen der
34678 einziehen, die ſpäter der Stube zu gute kommt. Iſt dies
aber
nicht der Fall, ſind die Wände nicht ſo geſtellt, daß ſie
das
Brennmaterial ordentlich einſchließen und von der Flamme
gehörig
berührt werden, ſo werden die Wände nur durch
Strahlung
Wärme empfangen, die viel zu geringfügig iſt, um
namentlich
die Wände eines guten Kachelofens zu durchhitzen.
Es wird vielmehr die einſtrömende Luft ihr Spiel mit den
Wänden
treiben;
denn je mehr Platz der Brennraum für die
Luft
läßt, deſto mehr Luftmaſſe wird erhitzt, ausgedehnt und
in
die Etagen der Züge hineingetrieben.
Es wird unter
ſolchen
Umſtänden eine Art Luftheizung innerhalb des Ofens
ſtattfinden
, aber eine Heizung, die nur dem Schornſtein zu
gute
kommt.
Iſt der Brennraum bei einem kurzflammigen Brenn-
material
nicht gehörig eingezwängt, ſo iſt es beſſer, einen
Oſen
ohne Züge und ohne ſtarken Luftzug zu haben, weil bei
ſolchem
das Brennmaterial langſamer verbrennt und mindeſtens
den
ganzen Ofen durch ſtrahlende Wärme erhitzt.
Die alt-
modiſchen
Öfen, von außen zu heizen, die bloß wie Kaſten
gebaut
waren, haben bei einer kurzflammigen Torfheizung
ihre
Dienſte geleiſtet, beſſere Dienſte, als ein kurzſlammiges
Brennmaterial
im weiten Brennraum eines Zug-Ofens.
Blicken wir nun auf die Wirkung der Züge ſelber beim
Gebrauch
eines kurzflammigen Brennmaterials, ſo können dieſe
unter
gewiſſen Umſtänden vorzüglich, unter gewiſſen Umſtänden
aber
auch ſehr ſchädlich wirken.
Nehmen wir an, daß im unteren Brennraum alles in
Ordnung
iſt und die Wände hinreichend der Flamme ausge-
ſetzt
ſind, ſo wird es nur erhitzte Luſt ſein, welche durch die
Züge
hindurch zum Schornſtein geht;
die Aufgabe dieſer Züge
iſt
es nun, der hindurchſtreichenden Luft die Hitze zu entziehen,
damit
ſie der Stube zu gute komme, und dies wird erreicht
werden
können, wenn entweder die Züge recht weit
34779 viel Fläche der hindurchſtreichenden Luft darbieten, ſodaß ſie
allenthalben
etwas Hitze abgeben muß und ſtark abgekühlt
wird
, oder wenn die Züge ſelbſt aus einem Material gebaut
ſind
, das die Wärme ſchnell leitet uud demnach der heißen
Luft
auch auf kurzem Wege die Hitze entzieht.
In der That wird dieſes Syſtem von Heizung in ſolchen
Gegenden
befolgt, die viel Braunkohle oder Steinkohle haben.
Hier wird der Brennraum für dieſes kurzflammige Brenn-
material
ſehr ſchmal und aus Kacheln gebaut;
aber auf dieſem
ſehr
kleinen Kachelofen bringt man einen Aufſatz von eiſernen
Luſtzügen
an, den man Zirkulier-Ofen nennt, und der drei bis
vier
Etagen hoch, nur aus einer hin und hergehenden Bahn
für
die heiße Luft beſteht, die nach dem Schornſtein eilt.

Da
nun das Eiſen ein Material iſt, welches ſchnell die Hitze
aufnimmt
und ſie ſchnell der Stube abgiebt, ſo kühlen dieſe
Züge
die heiße Luft des Ofens ſtark ab, und der Verluſt an
Wärme
iſt ein geringfügiger.
Wir werden ſpäter noch ein Näheres über dieſe Verbin-
dung
des Kachelofens mit dem eiſernen Ofen vorführen, für
jetzt
wollen wir uns nur das eine merken, daß die Züge eines
Ofens
unter gewiſſen Umſtänden vorteilhaft, unter gewiſſen
aber
eine wahre Quelle der Wärme-Verſchwendung ſind, und
daß
hierbei nicht der Bau des Ofens, ſondern hauptſächlich
das
verſchiedene Brennmaterial eine Rolle ſpielt, womit man
denſelben
heizt.
Sehr oft kommt es vor, daß ein Ofen, der äußerlich ganz
dasſelbe
Anſehen hat, wie ſein Stubennachbar, eine andere
Behandlung
beanſprucht;
hierbei iſt auf Züge, Brennraum und
Brennmaterial
genau Rückſicht zu nehmen.
Iſt der Brenn-
raum
eng, ſind die Züge des Ofens lang, ſo muß man ein
kurzflammiges
Brennmaterial darin heizen;
ſind Brennraum
und
Züge weit, dann wird ein langflammiges Brennmaterial
mit
Vorteil benutzt werden.
Sind dieſe Einrichtungen
34880 ganz entſchieden in der einen oder der anderen Weiſe, ſo muß
man
es mit einer gemiſchten Heizung verſuchen.
Es giebt
ſehr
häufig Öfen, welche zuerſt mit langflammigem Kienholz,
ſodann
mit etwas Torf darauf traktiert ſein wollen.
Das Kien-
holz
bewirkt die Heizung der oberen, meiſt dünn gebauten
Etagen
, und der Torſ giebt den dickeren Wänden des Brenn-
raums
ſeine nachhaltige Portion Hitze.
Ja, nicht ſelten thut
es
gut, wenn man hinterher auf den Torf noch ein paar
Stücke
Holz aufwirft, damit die kurze und die lange Flamme
zugleich
ausgebrannt ſei, wenn man den Ofen ſchließen will.
Mit einem Worte: faſt jeder Ofen verlangt je nach ſeinem
Bau
ſeine eigene Behandlung, und wenn man ſich beim Mieten
der
Wohnung bei den alten Mietern nach den einzelnen Öfen
und
ihrem Befinden erkundigt, ſo unterlaſſe man nicht, ſich
auch
das Brennmaterial zu merken, mit welchem der alte
Mieter
ſeine Erfahrungen gemacht hat.
XIII. Die Schornſtein-Frage.
Über die Heizkraft eines Ofens hat auch der Schornſtein
ein
Wort mit drein zu ſprechen, und er thut es in ſolcher
Weiſe
, daß man nicht ſelten Urſache hat, mit dem Schornſtein
zu
hadern, wenn man meint, mit dem Ofen unzufrieden ſein
zu
müſſen.
Der Schornſtein iſt der Kanal, der den heißen, engen
Ofen
mit der kalten, weiten Welt draußen verbindet.
Solange
die
Ofenthüre offen iſt, verläßt unausgeſetzt erhitzte Luft den
Ofen
und ſtrömt zum Schornſtein hinaus ins Freie.
Daß
dies
einen Verluſt an Wärme hervorbringt, der ungemein groß
iſt
, das läßt ſich denken.
Man darf ohne Übertreibung an-
nehmen
, daß ſelbſt an den beſten Öfen und den
34981 Schornſteinen immer noch die Luſt ſo heiß in den Schornſtein
einſtrömt
, daß man imſtande iſt, dadurch eiskaltes Waſſer zum
Kochen
zu bringen, wenn man es unmittelbar der Hitze der
ausſtrömenden
Luft ausſetzt.
Hierbei iſt meiſt der Schornſtein ſo wetterwendiſch, daß
man
noch froh ſein kann, wenn er nur eben die heiße Luft
ſortziehen
läßt;
denn bei der jetzigen Einrichtung, wo die
Öfen
von der Stube aus geheizt werden, iſt nichts unange-
nehmer
, als wenn der Schornſtein ſeinen böſen Tag hat und
den
Zug nicht recht in Ordnung hält, ſodaß Rauch und ſchäd-
liche
Dünſte ins Zimmer hineinſchlagen und die ganze Heizerei
vergällen
.
Dazu kommt noch, daß mit dem Schornſtein nicht
viel
zu ſpaßen iſt.
Ein guter Mieter findet wohl noch bei
unſeren
teueren Zeiten zuweilen einen reſpektabeln Hauswirt,
der
einen ſchlechten Ofen umbauen läßt;
zu jenem Gedanken
eines
goldenen Zeitalters aber ſich zu erheben, wo ein Haus-
eigentümer
zum Vorteil ſeiner Mieter einen einmal verpfuſchten
Schornſtein
umbaut, dazu iſt ſelbſt die wohlmeinendſte Phan-
taſie
des beſten Mieters zu zaghaft.
Ein ſchlechter Schornſtein
gehört
zu den unheilbaren Schäden eines Hauſes.
Was aber beim Schornſtein die Sache noch ſchlimmer
macht
, iſt der Umſtand, daß man theoretiſch den Schornſtein,
wie
er ſein ſoll, recht gut anzugeben weiß, daß man aber in
der
Praxis hierbei auf verſchiedenartige Umſtände ſtößt, die
alle
Theorie zu Schanden und ſomit allen klugen Rat über-
ſlüſſig
machen.
Könnte man von jedem Kamin, von jedem Ofen aus einen
beſonderen
Schornſtein bis zum Dach hinausbauen, ſo ließen
ſich
die gründlichen Reſultate der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung
ganz
gut anwenden.
Man würde die Weite des Schornſteins
im
richtigſten Verhältnis zur Höhe desſelben und zur Zug-
Öffnung
bringen können, wie man das in der That bei Fabrik-
Anlagen
thut, wo man den Schornſtein für die beſtimmte
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
35082
Feuerung, für den beſtimmten Luftzug laut Berechnung und
Theorie
anlegt.
Daß dies aber in Wohnhäuſern nicht der
Fall
iſt, nicht der Fall ſein kann, das ſieht wohl jeder ein,
und
ſomit iſt die Schornſtein-Frage wirklich die verwickeltſte in
der
Heizungs-Praxis.
Was die Lehre von dem Luftzuge in den Schornſteinen
ergiebt
, das werden wir hier nur kurz berühren.
Ein Schornſtein führt deshalb die Luft aufwärts, weil die
Luftſäule
, die ſich in demselben befindet, von unten, vom
Heizraum
her erhitzt, ausgedehnt und alſo leichter wird,
während
die obere Schicht am Dache kalt, dicht, und alſo
ſchwer
iſt.
Die leichte Luſt hat das Beſtreben, nach oben zu
ſteigen
und nimmt in dieſem Aufſteigen die Rauchteilchen mit,
welche
dem Ofen entſtrömen.
Dieſes Ausſtrömen der Luft
zum
Schornſtein hinaus wird um ſo ſchneller vor ſich gehen,
je
heißer der Oſen und je kälter die Witterung iſt, weshalb
denn
bei hellem, kalten Wetter alle Schornſteine gut ziehen.
Der Zug hängt aber auch von Nebenumſtänden ab, die beim
Bau
des Schornſteins wohl beachtet werden müſſen.
Durch
Theorie
und praktiſche Verſuche hat man die Schornſteine als
die
richtigſten gefunden, welche etwa viermal ſo weit ſind, als
die
Öffnung des Ofenrohres, aus welchem der Rauch in den
Schornſtein
ſteigt.
Der Schornſtein ſoll z. B. keine Biegungen haben und in-
wendig
eine möglichſt glatte Fläche dem Rauch darbieten,
widrigenfalls
der Zug ſich ſehr verzögert.
Für alle dieſe
Regeln
hat man nun die Rechnungen ganz gut zur Hand,
und
wenn man eine beſtimmte Feuerung, einen beſtimmten
Brennraum
, ein beſtimmtes Brennmaterial und eine wenigſtens
zum
Teil beſtändig gleiche Hitze des Ofens vor ſich hat, ſo
läßt
ſich nach dieſen Regeln und Berechnungen die hierzu
nötige
Einrichtung des Schornſteins ganz gut angeben.
All’ dies aber läßt uns im Stich, wenn wir auf
35183 Heizung unſerer Wohuungen, und namentlich in großen
Städten
, blicken.
In Häuſern, wo ein und derſelbe Schorn-
ſtein
für vier Stockwerke dienen muß, wo zuweilen vier
Feuerherde
und zwölf bis ſechzehn Öfen ihre Öffnungen in
den
Schornſtein haben, wo abwechſelnd bald aus allen Öff-
nungen
, bald aus wenigen, bald aus den oberſten, bald aus
den
unterſten allein die erhitzte Luft ihren Auswen ſucht, wo
Thüren
und Fenſter der Küchen und Stuben bald geſchloſſen,
bald
geöffnet ſind und ſomit Nebenumſtände und Bedingungen
entſtehen
, die von weſentlichem Einfluß ſind und doch nicht
berechnet
werden können da hört alle allgemeine Regel
auſ
, und man muß nicht nur ſür jeden Ofen einen beſonderen
Arzt
anſtellen, ſondern auch noch dieſem die Sorge aufbürden,
beim
jedesmaligen Heizen ſich nach dem Befinden aller Nach-
bar-Öfen
zu erkundigen, die in den gemeinſamen Schorn-
ſtein
münden.
Hier läßt ſich in der That nur durch praktiſche Verſuche
an
jedem Ofen eine Erſparnis erzielen, und wir wollen zu-
frieden
ſein, wenn unſere weiteren Ausführungen zu ſolchen
Verſuchen
eine brauchbare Anleitung geben werden.
XIV. Die verſchiedenen Brennmaterialien.
Unſere Leſer werden ſicherlich einſehen, daß all’ das, was
wir
bisher über die einzelnen Umſtände des Heizens geſagt
haben
, nur geeignet iſt, die Schwierigkeit unſerer Aufgabe
darzuthun
, ja dieſelbe faſt als unüberwindlich darzuſtellen.
In der That iſt es wahr, daß die einzelnen Umſtände
bei
jedem Ofen ſo verſchieden und außerdem noch ſo unab-
hängig
von vielen, unberechenbaren Zufällen ſind, daß wir nur
ſehr
beſcheidene Anſprüche an den Gewinn machen dürfen,
35284 durch allgemeine Belehrungen zu erzielen iſt; das Meiſte wird
die
Erſahrung der Hausfrauen ſelber hierbei thun müſſen,
deren
Urteil wir eben nur auf die richtigen und wichtigen
Thatſachen
leiten wollen, die ſie bei ihren praktiſchen Er-
fahrungen
zu beobachten haben werden.
Wir haben aber einen Umſtand noch garnicht berührt,
und
das iſt in der Wirtſchaft ſicherlich die Hauptſache, wir
meinen
das Brennmaterial.
Wie weiches Holz ganz anders brennt als hartes, das
wiſſen
die Hausfrauen vortrefflich;
auch lehrt ſie die Erſahrung
die
richtige Verwendung der verſchiedenen Brennmaterialien
für
ſehr verſchiedene Zwecke;
wie es denn eine bekannte That-
ſache
iſt, daß eine wirtliche Hausfrau ſich gern mit allerhand
Brennmaterial
verſorgt, um für jeden beſonderen Fall ein be-
ſonderes
Feuer anmachen zu können.
Wie ſehr auch der Gatte zuweilen den Kopf dazu ſchütteln
mag
, ſo behält doch die Hausfrau Recht, wenn ſie ſich mit ein
ein
wenig Kienholz verſorgt, um im vorkommenden Fall das
Kaffee-
und Thee-Waſſer äußerſt ſchnell ins Kochen zu bringen;
wenn ſie ſich mit ein wenig Elſenholz verſieht, um Fiſche
leicht
gar zu haben und nicht anbrennen zu laſſen.
Eine
Überraſchung
mit einer Portion kleingehauenem Büchenholz
nimmt
eine Hausfrau ihrem Gatten niemals übel;
ſie weiß,
daß
das Mittagbrot dabei am beſten im Kochen erhalten
wird
, ohne zu viel Aufmerkſamkeit zu erſordern und ohne
Geſchirr
, Speiſen, Hände und Geſicht anzurußen.
Ein paar
tüchtige
büchene Kloben hebt ſich die wirtliche Hausfrau ſo
gewiß
zur Wäſche auf, daß der Hausherr ſchon der Waſch-
Laune
aus dem Wege zu gehen anfängt, wenn er den Feuer-
herd
mit ein paar Kloben derart geſchmückt ſieht.
Daß man
etwas
Torfgeruch zu den Annehmlichkeiten häuslicher Waſch-
Tage
zählt, beweiſt, daß auch der Torf in Sommermonaten
einige
Verwendung finden kann, wenn er wohlausgetrocknet
35385 die Hände einer wirtlichen Hausfrau gerät. Daß endlich ein
wenig
Kohlen zum Plätten gehören, giebt jeder Mann ſchon
deshalb
gern mit Vergnügen zu, weil mit der Glut des letzten
Bolzens
meiſt das Morgenrot der häuslichen Friedenskonferenzen
emporſtrahlt
und im ſchwarzen Meer der üblen Laune jedes
Kriegsſegel
bis zur Nacht der nächſten Wäſche abtakelt.
Genug, wir ſehen, wie die wirtliche Hausfrau jedes
Brennmaterial
anders zu verwenden weiß, auch wenn ſie es
nicht
zur Heizung benutzt.
Daß dies bei der Heizung noch
mehr
der Fall iſt, das iſt bekannt.
Daß die Eine mit Büchen,
die
Andere mit Elſen, die Dritte mit Kien, die Vierte mit
Koks
, die Fünfte mit Torf, die Sechſte mit Braunkohle und
die
Siebente mit Steinkohle beſſer zu heizen vermeint, das ſehen
wir
alltäglich;
wir wiſſen alſo, daß ſchon im gewöhnlichen
Leben
der Brenn- und Heizwert jedes Brennmaterials ſehr ver-
ſchieden
angeſchlagen wird, und deshalb wollen wir den Wert
der
gebräuchlichen Brennmaterialien etwas näher kennen lernen.
Zum Glück dürfen wir ſagen, daß keiner der Umſtände,
welche
bei der Heizung von Wichtigkeit ſind, mit ſolcher Gründ-
lichkeit
unterſucht worden iſt, wie die Heizkraſt des Brenn-
materials
, ſodaß wir in dieſem Punkte mit weit ſichereren
wiſſenſchaftlichen
Reſultaten vor unſere Leſer treten können
als
in allen übrigen.
Da es ein ſehr allgemeines Intercſſe hat, die wiſſen-
ſchaftlichen
Unterſuchungen hierüber kennen zu lernen, ſo wollen
wir
in aller Kürze die Geſchichte der Unterſuchung und die
Art
und Weiſe, wie ſie geleitet worden, hier unſeren Leſern
vorführen
, damit ſie die Gewiſſenhaftigkeit einſehen, mit
welcher
die Reſultate erforſcht worden ſind, welche nunmehr
als
ſicher und feſtſtehend betrachtet werden, und die Sorgfalt
und
den Fleiß achten leruen, welche zur Erreichung dieſer
Reſultate
auſgewendet werden mußten.
35486
XV. Die Unterſuchungen der Brennmaterialien.
Das vortreffliche Werk von Brix über die Heizkraft der
wichtigſten
Brennſtoffe des preußiſchen Staates enthält eine
Einleitung
, die Rechenſchaft ablegt von all’ den Einrichtungen,
die
getroffen werden mußten, um zu einem ſicheren Reſultat
zu
kommen, und aus ihr erſieht man, daß gerade die Haupt-
aufgabe
der geſamten Verſuche darin beſtanden hat, den prak-
tiſchen
Wert eines jeden Brennmaterials kennen zu lernen.
Wieviel Hitze ein Stück Holz beim Verbrennen entwickelt,
das
kann man auch durch Berechnung herausbringen, ohne
daß
man es zu verbrennen braucht.
Man kann das Stück
Holz
chemiſch unterſuchen, und daraus wird ſich ergeben,
wieviel
Kohlenſtoff, wieviel Waſſerſtoff, wieviel Sauerſtoff es
enthält
, wie viel unverbrennliche Teile darin ſind, welche als
Aſche
zurückbleiben werden, und da man weiß, unter welcher
Wärme
reiner Kohlenſtoff und reiner Waſſerſtoff verbrennt,
ſo
läßt ſich die Wärmeſumme dieſer Stoffe in dem Stück Holz
mit
Genauigkeit herausfinden.
Allein dieſe Berechnung iſt
für
die Praxis nicht maßgebend;
denn erſtens geht ein Teil
der
Wärme verloren, indem ſie in ſolche Teile eindringt, wo
ſie
unbenutzt bleibt.
Der Feuerherd, die Aſche, die umgebende
Luft
und ſelbſt der noch nicht brennende Teil des Brenn-
materials
wird mit erhitzt, ohne daß dieſe Wärme nutzbar ge-
macht
werden kann;
und zweitens liegt, wie wir ſchon gezeigt
haben
, die größte Schwierigkeit darin, eine praktiſche Ein-
richtung
zu finden, welche wirklich die nutzbare Verbrennung
aller
brennbaren Teile eines Materials möglich macht.
Was
hilft
uns die Berechnung, die uns zeigt, daß aus einem Stück
Holz
ſo viel Wärme entwickelt werden kann, wenn wir nicht
imſtande
ſind, zu verhindern, daß beim ſchönſten Verbrennen
ein
Teil des Materials unverbrannt auf und davon
35587 den Schornſtein fliegt, und auch, abgeſehen hiervon, wenn
Kohlenſäure
und Waſſer, welche ſich aus Kohle und Waſſer-
ſtoff
bei der Verbrennung bilden, ſelbſt im beſten Falle einen
Teil
Wärme in ſich behalten, zur Zeit, wo ſie den Brenn-
raum
verlaſſen!
Die Reſultate, die die Unterſuchungen von Brix ergeben,
haben
daher ihren Wert gerade darin, daß ſie nicht die ganze
Summe
der Heizkraft eines jeden Brennmaterials angeben,
ſondern
den nutzbaren Teil derſelben, der freilich ſtets kleiner
iſt
.
Eine Tabelle in dem Werke, welche eine Vergleichung
enthält
, zeigt, daß der Verluſt in der Praxis nicht gering und
daß
er bei verſchiedenen Brennmaterialien ſehr verſchieden iſt.
Selbſt bei dem in dieſer Beziehung vorteilhafteſten Brenn-
material
, dem Linumer Torf, laſſen ſich praktiſch nur 86 Pro-
zent
nutzbar machen, während 14 Prozent der Geſamtheizkraft
verloren
gehen;
bei anderen Sorten Brennmaterial, z. B. der
geformten
Braunkohle, iſt ſogar nur ein Nutzbarmachen der
Hälfte
der wirklichen Heizkraſt möglich.
Es läßt ſich denken, daß zur Feſtſtellung dieſer Unter-
ſuchungen
die ſorgfältigſten Einrichtungen getroffen werden
mußten
.
Die nähere Darlegung derſelben iſt äußerſt lehrreich;
wir müſſen uns indeſſen mit wenigen Andeutungen derſelben
begnügen
.
Vor allem mußte ein beſtimmtes Maß geſunden werden,
durch
welches man die durch die Verbrennung jedes einzelnen
Materials
hervorgerufene Wärme genau meſſen konnte.
Ein
Thermometer
iſt hierzu keineswegs anwendbar, denn würde
man
auch ein ſolches an irgend einer Stelle eines Ofens an-
bringen
, der heute mit Kienholz, morgen mit Koks geheizt
wird
, ſo könnte es leicht möglich ſein, daß das langflammige
Kienholz
gerade dieſe Stelle des Ofens ſtärker erhitzt als der
kurzflammige
Koks, während der Ofen im ganzen beim Kien-
holz
kälter bliebe als bei der Koksheizung.
Außer
35688 Unbeſtimmtheit bietet das Thermometer noch viele andere
Unſicherheiten
, wenn man nicht die augenblickliche Hitze, ſondern
die
dauernde, anhaltende Heizkraſt eines Brennmaterials prüfen
will
.
Man mußte deshalb von einem anderen Maß der
Wärme
Gebrauch machen, und man that dies, indem man
einen
Waſſerkeſſel über dem Feuerraum eines eigens dazu ge-
bauten
Oſens anbrachte, und beim jedesmaligen Verſuch irgend
eines
Brennmaterials genau durch Inſtrumente ausmaß, wie
viel
Dampf dies Brennmaterial zu erzeugen imſtande iſt, von
welcher
Spannung dieſer Dampſ zu jeder Zeit iſt, und wie
diel
Waſſer man während dieſes Verſuches und nach vollen-
detem
Verſuche wieder in den Keſſel thun muß, um den
Waſſerſtand
herzuſtellen, wie er vor dem Verſuche war.
Wie ſich denken läßt, wurde die natürliche Wärme, welche
das
Waſſer ſchon vor dem Verſuch hatte, ſtets in Abrechnung
gebracht
, während man die Wärme des Waſſers nach dem
Verſuch
der Wirkung des Heizmaterials zurechnete.
Es ergab
ſich
ſomit, daß beim Verbrennen von ſo und ſo viel Pfund
Kienholz
z.
B. ſo und ſo viel Pſund Waſſer in Dampf ver-
wandelt
werden.
Vergleicht man dies mit einem gleichen
Gewicht
anderen Holzes oder eines anderweitigen Brenn-
materials
, ſo kann man an der Summe des gebildeten Dampfes
oder
an dem fehlenden Waſſer ſehen, ob dieſe Holzart oder
das
anderweitige Brennmaterial mehr Hitze entwickelt.
Um
nun
einen gleichen Maßſtab zu haben, wurde ſtets durch
Rechnung
ermittelt, wie viel Waſſer von einem Pſund jedes
Brennmaterials
vom Gefrierpunkt bis über den Kochpunkt er-
hitzt
werden kann, und dieſes Maß wurde die Wärme-Einheit
genannt
.
Hierbei wurde nun mit beſonderer Sorgfalt in allen Ver-
ſuchen
darauf geſehen, daß die vorteilhafteſte Lagerung des
Brennmaterials
ſtattfinde, daß der Roſt je nach dem Bedarf
vergrößert
und verkleinert werden konnte.
Es wurde
35789 Inſtrumente die Temperatur der Luft gemeſſen, welche in den
Ofen
einſtrömte;
es wurde ferner die Einrichtung getroffen,
daß
der Rauch verbrannt wurde, eine Einrichtung, von der
wir
weiterhin noch ſprechen werden;
und endlich zeigten In-
ſtrumente
, wie heiß jedesmal die ausſtrömende Luft war, als
ſie
in den Schornſtein kam.
Um aber unſeren Leſern deutlich zu machen, wie zugleich
mit
dieſem Hauptumſtande eine große Reihe wichtiger Neben-
umſtände
bei jedem Verſuch beobachtet und in jedem Reſultat
in
Rechnung gebracht wurde, wollen wir beiſpielshalber ein-
mal
das aufzählen, was bei einem einzigen Verſuch zu thun
nötig
war.
XVI. Die Verſuche über die Heizkraft.
Jedem einzelnen Verſuche von Brix über die Heizkraft
eines
Brennmaterials mußte eine Reihe von Unterſuchungen
und
Beobachtungen vorangehen.
Geſetzt, der Verſuch ſollte über die Heizkraft von einem
Pfund
Kienholz angeſtellt werden, ſo iſt es vor allem klar,
daß
man eine ſehr bedeutende Maſſe dieſes Holzes verbrennen
mußte
, um nur den Feuerraum, die Wände des Ofens, die
Roſte
, die Luft in den Zügen und im Schornſtein und endlich
die
Keſſelwände zu erhitzen, bevor noch irgend eine Wirkung
auf
das Waſſer im Keſſel verſpürt werden konnte.
Erſt
dann
, wenn all’ dies ſo erhitzt war, konnte von einem Nutzen
der
Heizkraft die Rede ſein.
Ferner wird auch jedermann leicht einſehen, daß ein
ſolcher
Verſuch, bei welchem das in Dampf verwandelte
Waſſer
den eigentlichen Maßſtab abgeben ſollte, nicht mit
einer
Heizung durch ein oder zwei Stunden abgethan
35890 konnte. In der That wurde zu jedem Verſuch ein Feuern
durch
faſt regelmäßig zehn Stunden fortgeſetzt, wobei im
erſten
Verſuch über die Heizkraft des Kienholzes 889 Pfund
dieſes
Brennmaterials verbrannt wurden.
Nun aber ſpielt bei der Heizkraft die Feuchtigkeit oder
Trockenheit
eines Brennmaterials eine außerordentlich große
Rolle
;
da ſich aber kein Brennmaterial von vollſtändiger
Trockenheit
herſtellen läßt, ſo mußte ermittelt werden, wie viel
Pfund
Waſſer in dieſen 889 Pfund Kienholz ſtecken.
Beim
erſten
der erwähnten Verſuche ergab ſich, daß 180 Pſund
Waſſer
darin enthalten waren.
Da aber auch von jedem Holz
Aſche
zurückbleibt, die aus unverbrennlichen Teilen beſteht und
zur
Heizung nichts beiträgt, ſo muß auch die Summe der
Aſche
abgezogen werden, und dies ergab beim erſten Verſuch,
daß
eigentlich noch weniger als rund 700 Pfund Brennſtoff
bei
demſelben wirkſam waren.
Aus dem, was wir unſeren Leſern bereits bei der ge-
wöhnlichen
Heizung vorgeführt haben, wiſſen wir ſchon, daß
die
Witterung auf das Brennen des Feuers, namentlich auf
den
Zug, von Einfluß iſt.
Bei der Genauigkeit der von Brix
angeſtellten
Verſuche dürfte dieſer Umſtand nicht unberückſichtigt
bleiben
;
wir finden daher auch den jedesmaligen Stand des
Barometers
beim jedesmaligen Unterſuchen des ganzen Vor-
ganges
angegeben.
Außerdem aber mußte ſtets die Wärme
des
Waſſers beim Beginn des Verſuches unterſucht werden;
ferner die Wärme der Luft draußen, ebenſo wie die des
Brennraumes
, der Luftzüge und des Schornſteins.
Schritt man nun zum Verſuch und begann endlich das
Brennen
des Feuers, ſo mußte fortdauernd ermittelt werden,
unter
welchen Umſtänden der beſte Erfolg von dem Brenn-
material
zu erzielen iſt.
Zu dieſem Zwecke wurden ſehr ver-
ſchiedene
Einrichtungen nötig, um Veränderungen des Raumes
der
Roſte, der Luftzüge, der Vorrichtung zur
35991 und der Ausſtrömung zum Schornſtein möglich zu machen, je
nachdem
man das eine oder das andere Brennmaterial vor
ſich
hatte.
Selbſt während des Brennens eines und desſelben
Materials
treten ſehr verſchiedene Zuſtände ein, wenn man
neues
Brennmaterial zuführt, oder wenn man das Aufſchütten
friſchen
Brennmaterials verzögert.
All’ dies mußte durch Be-
obachtung
erſt feſtgeſtellt werden.
Von weſentlichem Wert iſt es für die Praxis zu wiſſen,
wann
eigentlich die Wirkung eines Feuers den höchſten und
den
niedrigſten Grad erreicht, unter welchen Umſtänden die
Dampfentwickelung am günſtigſten, unter welchen die Auf-
ſchüttung
neuen Brennmaterials am wenigſten ſtörend auf
dieſe
einwirkt.
All’ dieſe Fragen laſſen uns die ſorgfältig dar-
gelegten
Beobachtungen dieſer Verſuche mit weit größerer
Sicherheit
entnehmen als bisher.
Auch über die Fragen über
die
Erweiterung oder Verkürzung der Noſtfläche, der Fugen-
ſläche
und der Fläche des Keſſels, an welche die Flamme an-
ſchlägt
, geben die Notizen der Verſuche reichhaltigen Aufſchluß.
Zudem findet ſich genau von Stunde zu Stunde der ge-
ſamte
Zuſtand aller einzelnen beim Verſuch gebrauchten Appa-
rate
angegeben, wie z.
B. die Spannung des Dampfes, die
wechſelnde
Wärme des Keſſels, die Wärme-Steigerung der
über
dem Keſſel beſindlichen Gaſe.
Ferner ſindet ſich mit
Sorgfalt
die jedesmalige Stellung aller Schieber und Klappen
und
Luftplatten hier angegeben, die den Zug regulieren, und
verſolgt
man all’ dies mit Genauigkeit auf der durch Zeich-
nung
und Beſchreibung deutlich gemachten Darlegung der
ganzen
Einrichtung, ſo kann man aus der Geſchichte der
Heizungs-Verſuche
eines Tages eine große Reihe von Auf-
ſchlüſſen
erhalten, die bei ähnlichen Fener-Anlagen von be-
deutendem
Nutzen ſein müſſen.
Indem wir nun die Heizung unſerer Stubenöfen zu
unſerem
eigentlichen Thema gemacht haben, ſo müſſen
36092 uns mit dieſen Andeutungen der vortrefflich ausgeſührten Ver-
ſuche
begnügen, die weſentlich für Fabrik-Anlagen und Dampſ-
apparate
überhaupt von Vorteil ſind.
Was aber für uns auch
wichtig
iſt, das iſt das Endreſultat eines jeden Verſuches, in
welchem
ſich’s herausſtellt, wie viel Heizkraſt ein Pſund eines
jeden
Brennmaterials beſitzt.
Dies ergiebt z. B. beim erſten
Verſuch
, der mit jungem, friſchen Kienholz angeſtellt wurde,
daß
ein Pfund dieſes Brennmaterials, wenn es trocken iſt,
circa
4 {1/2} Pfund eiskaltes Waſſer in Dampſ verwandeln kann.
Wer alſo eine Einrichtung beſitzt, wo er von jedem Pſund
ſolchen
Holzes weniger Dampf erhält, der weiß nun, daß es
bei
ſeiner Heizung nicht richtig zugeht, und daß ſein Oſen,
ſein
Keſſel, ſein Zug oder ſein Schornſtein u.
ſ. w. einer
Verbeſſerung
bedarf, oder mindeſtens, daß eine ſolche mög-
lich
iſt.
Dadurch aber, daß bei jedem Brennmaterial dieſe Angabe
gemacht
iſt, haben wir auch darin ein wichtiges Material ſür
die
Stubenheizung;
denn wir werden ſehen, daß man dadurch
in
den Stand geſetzt iſt, zu berechnen, wie man bei der
Stubenheizung
am billigſten die beſte Erwärmung erzielen kann.
XVII. Über den Wert des Kien- und Büchen-
holzes.
Mit Bezug auf unſer Thema wollen wir von den Re-
ſultaten
der von Brix ausgeführten Verſuche nur diejenigen
hier
vorführen, die für die Heizung der gewöhnlichen Stuben-
öſen
von beſonderer Wichtigkeit ſind;
und unter dieſen verſtehen
wir
die Holzgattungen, die als Brennholz üblich ſind, wie auch
den
Torf in verſchiedener Sorte, die Kohlen und endlich
36193 Koks, obgleich dieſer meiſt nur für eiſerne Öfen gebraucht
wird
, über welche wir erſt in der Folge ſprechen werden.
Die Verſuche von Brix ergeben das gewiß viele unſerer
Leſer
überraſchende Reſultat, daß die Heizkraft der Holzarten
durchaus
nicht ſehr verſchieden iſt;
ja, daß das ſogenannte
weiche
Holz mehr Heizkraft beſitzt als hartes.
Mit einem Pfund Kienholz hat Brix durchſchnittlich
4
Pfd.
und 21 Lot eiskaltes Waſſer in Dampf verwandelt,
während
er mit einem Pfund Weißbüchenholz nur durchſchnitt-
lich
4 Pfd.
und 6 Lot desſelben Waſſers in Dampf ver-
wandeln
konnte.
Ein Pfund Elſenholz, das ebenfalls zur
leichten
Gattung gezählt wird, verſetzt 4 Pfund 15 Lot
Waſſer
in die Verdampfungshitze, während ein Pfund Rot-
büchenholz
durchſchnittlich nur 4 Pfund und 10 Lot Waſſer
verdampfte
.
Birken- und Eichenholz ergaben ſich ſo ziemlich
gleich
ſtark in der Heizkraft, obgleich man Eichen zu den
harten
, Birken zu den weniger harten Holzarten zählt;
ſie
haben
beide pro Pfund Holz circa 4 Pfund 12 bis 15 Lot
Waſſer
verdampft.
Man ſieht alſo, daß der Unterſchied in
den
Holzgattungen, die zum Heizen dienen, nicht ſo beträchtlich
iſt
, wie man meint, und daß gerade weiches Holz pro Pfund
mehr
Hitze entwickelt, als hartes.
Indeſſen iſt es doch nicht
ein
bloßes Vorurteil der Hausfrauen, wenn ſie dem harten
Holz
beſonders zugethan ſind.
Vor allem muß man nämlich bedenken, daß ein Pfund
Büchenholz
weniger Raum einnimmt, als ein Pfund Kienholz.
Da man aber Holz nicht nach dem Gewicht, ſondern nach
dem
Maß kauft, ſo erhält man in der That in einer Klafter
Büchenholz
mehr Heizkraft, als in einer Klafter Kienholz.

Eine
Klafter Büchenholz wiegt ca.
3000 Pfund; rechnet man
in
jedem Pfund eine Brennkraft, die 4 Pfund und 6 Lot
eiskaltes
Waſſer in Dampf verwandelt, ſo können damit
12600
Pfund Waſſer verdampfen.
Dagegen iſt eine
36294 Kienholz nur ca. 2640 Pfund ſchwer, und wenn auch jedes
Pfund
15 Lot Waſſer mehr zu verdampfen imſtande iſt als
Büchenholz
, ſo beſitzt man doch in der ganzen Klafter nur
eine
Heizkraft, die etwa 12400 Pfund eiskaltes Waſſer in
Dampf
verwandeln kann.
Gleichwohl ſieht man, daß der Heizwert der Klafter Büchen-
holz
bei weitem geringer iſt, als man ihn im Vergleich mit
Kienholz
vermuten ſollte, wenn man den Preis beider Holz-
arten
zum Maßſtab nimmt.
Vergleicht man die Heizkraft
beider
Holzarten, und beſtimmt man nach ihnen den Preis,
ſo
müßte der des Kienholzes mit dem des Büchenholzes faſt
gleich
ſein;
wenn ein Haufen Kienholz 30 Thaler koſtet, ſo
dürfte
man für einen Haufen Büchenholz nicht mehr als
30
{1/2} Thaler bezahlen.
Wir wiſſen aber, daß dem nicht ſo iſt,
daß
Büchenholz um mehr als zweimal ſo teuer iſt als Kien-
holz
, daß alſo das Büchenholz im Vergleich zum Kienholz
viel
zu hoch bezahlt wird.
Wollte man indeſſen hieraus ſchließen, daß in dem
Gebrauch
von teuerem Büchenholz eine Verſchwendung liegt,
ſo
müſſen wir dem doch widerſprechen.
Würde nur der wiſſenſchaftlich ermittelte Heizwert eine
Rolle
ſpielen, ſo würde dies freilich der Fall ſein;
allein in
der
Praxis ſtellen ſich die Dinge durch weſentliche Einflüſſe
anders
.
Vor allem muß man berückſichtigen, daß ſelbſt gut ge-
haltenes
Holz nicht waſſerfrei iſt;
es iſt alſo in einer Klafter Holz
eine
Portion Waſſer enthalten, die ſehr verſchieden iſt.
Weiches
Holz
ſaugt ſich ſeiner Natur nach ſchneller mit Waſſer an als
hartes
, wenn beide Sorten auf dem Holzplatz dem Regen aus-
geſetzt
ſind.
Selbſt aber, wenn ſie mittelmäßig trocken ſind,
muß
man eine mittlere Feuchtigkeit in beiden Sorten von dem
Brennſtoff
in Abrechnung bringen.
Nun ergaben die Unter-
ſuchungen
, daß Büchenholz circa 14 Prozent Waſſer,
36395 Kienholz ungefähr 20 Prozent Waſſer enthält, das heißt: in
einer
Klafter Büchenholz von 3000 Pfund kauft man 430
Pfund
Waſſer mit;
in einer Klafter Kienholz dagegen von
2640
Pfund Gewicht bekommt man 520 Pfund Waſſer.
Zieht
man
nun von beiden Brennmaterialien das Waſſer ab, ſo
kauft
man eigentlich in einer Klafter Büchenholz 2570 Pfund
Brennmaterial
, während man in einer Klafter Kienholz nur
2120
Pfund Brennmaterial bekommt, und hiernach ſteigert ſich
ſchon
der Wert des Büchenholzes um etwas mehr als ein
Zehntel
des Preiſes.
Ferner darf man nicht vergeſſen, daß bei den Unter-
ſuchungen
von Brix die Vorrichtung der Rauchverbrennung
angewendet
wurde.
Kienholz, das langflammig und blakend
brennt
, hat im gewöhnlichen Ofen viel Ruß und Rauch;
kann
man
dieſen nicht mit verbrennen, ſo geht ein beträchtlicher
Teil
des Materials verloren.
Büchenholz dagegen brennt
kurzflammiger
und bei weitem weniger rauchend, namentlich
wenn
es gut kleingehauen und getrocknet iſt;
es iſt alſo für die
gewöhnliche
Stubenheizung von viel größerem Wert.
Endlich darf man nicht außer acht laſſen, daß der Gebrauch
von
Kienholz auf dem Herd ſehr zu widerraten iſt.
Das
Anblaken
des Eſſens, das Einrußen der Geſchirre, das An-
ſchwärzen
nicht nur der Hände, ſondern ſogar nicht ſelten der
Stirn
, Naſe und Wangen unſerer Hausfrauen gehört zu den
nicht
angenehmen Eigenſchaften des Kienholzes, die das Büchen-
holz
wertvoller machen.
Schließlich iſt die Kohle des
Büchenholzes
lang andauernd und erhält das Eſſen im Kochen,
wenn
auch die Flamme erloſchen iſt;
die leichte Kohle des
Kienholzes
dagegen verliſcht zu ſchnell und macht zuweilen zum
Verdruß
des ganzen Hauſes ein nochmaliges Feueranmachen
nötig
.
Rechnet man noch hierzu, daß die Büchenaſche wegen
der
Salze, die ſie enthält, zum Scheuern und Waſchen ſehr
vorteilhaft
iſt, ſo dürfte alles in allem den großen Vorzug
36496 Büchenholzes vor dem Kien rechtfertigen, obgleich die wiſſen-
ſchaftliche
Unterſuchung ſie ſehr nahe gleich an Wert er-
geben
hat.
XVIII. Der Brennwert des Eichenholzes.
Was den Preis des Büchenholzes noch außerdem ver-
teuert
, das liegt nicht in ſeinen Eigenſchaften als Brenn-
material
, ſondern als Nutzholz überhaupt, weil dieſe Holzart
auch
in kleinen Stücken zu einer Maſſe von Geräten benutzt
werden
kann, wie z.
B. zu feſtern Drechslerarbeiten, zu denen
weiche
Hölzer unbrauchbar ſind.
Dies ſteigert demnach die
Nachfrage
nach Büchenholz ſo ſehr, und wer einmal von deſſen
Benutzung
als Brennmaterial nicht abgehen will, muß es in
der
That über ſeinen Wert hinaus bezahlen.
Vergleicht man die zwei allgemeinſten Brennholzarten,
das
Kien- und Büchenholz, mit anderen Gattungen, wie z.
B.
mit Eichen-, Birken- und Elſenholz, ſo ergiebt die Unterſuchung
von
Brix, daß der Vorzug dem Eichenholz gebührt.
Ein
Klafter
Eichenholz enthält noch etwas mehr Gewicht als
Büchenholz
, und da man mit einem Pfund Eichenholz durch-
ſchnittlich
4 Pfund 15 Lot eiskaltes Waſſer verdampfen kann,
alſo
auch der Heizwert in dieſer Beziehung größer iſt als der
des
Büchenholzes, ſo müßte man eigentlich dem Eichenholz den
Vorzug
geben, zumal es faſt um ein Achtel billiger auf dem
Holzplatz
zu haben iſt.
Allein man darf bei der Anwendung
wiſſenſchaftlicher
Unterſuchungen für die Praxis nie die be-
ſonderen
Umſtände außer acht laſſen, unter welchen die Verſuche
angeſtellt
worden ſind.
Bei den Unterſuchungen von Brix kam es auf Transport
und
Preis eines angewandten Brennmaterials nicht an.
36597 Materialien wurden von dort hergeſchafft, wo ſie am beſten
vorhanden
waren.
Die Eigentümer lieferten ſie meiſt umſonſt,
und
die Eiſenbahnen beeiferten ſich zum Nutzen der Wiſſen-
ſchaft
den Transport unentgeltlich zu beſorgen.
Es läßt ſich
alſo
denken, daß bei der Unterſuchung ein Eichenholz in An-
wendung
kam, wie man es vergeblich auf allen Holzplätzen
ſuchen
würde.
In der That beſtand dieſes unterſuchte Holz, wie
Brix
in ſeinem mit der größten Gewiſſenhaftigkeit und Genauigkeit
gearbeiteten
Werke mitteilt, aus großen, meiſt ſehr knorrigen,
aber
geſunden Kloben, welche von einem alten Beſtande etwa
300
jähriger Stämme aus der Neumark herrühren.
Brix fügt dem
hinzu
, daß ſo altes Holz ſich in dem Forſt, dem es entnommen
iſt
, nicht mehr vorfinden ſolle.
Wir ſehen alſo, daß die Unter-
ſuchung
keineswegs für das gebräuchliche Eichenholz volle
Geltung
haben kann.
Es ſpricht vielmehr eine große Wahr-
ſcheinlichkeit
dafür, daß das auf den Holzplätzen käufliche
Eichenholz
ganz andere Reſultate ergeben würde.
Man darf aber ſolche und ähnliche Umſtände, die in der
Praxis
der Wirtſchaft eine große Rolle ſpielen, niemals außer
Augen
laſſen, wo es eben der Wirtſchaft gilt.
Wir können uns ſehr wohl denken, daß es bei wiſſen-
ſchaftlichen
Unterſuchungen nicht darauf ankommt, wie viel
Holz
beim Kleinmachen einer Klafter verloren geht.
Knorrige
Kloben
werden in der Praxis beim Kleinmachen ganz un-
barmherzig
zugerichtet.
Was ſich nicht leicht ſpaltet, wird
entweder
unzerkleinert bei ſeite geſchoben oder mit der Axt ſo
zerſplittert
, daß ein Teil davon wertlos wird.
Dies ſpielt in
der
Wirtſchaft eine große Rolle, die bei wiſſenſchaftlichen
Unterſuchungen
unberückſichtigt bleibt, und würde ſchon einen
Unterſchied
zwiſchen den Wirtſchafts- und den wiſſenſchaftlichen
Reſultaten
zeigen, ſelbſt wenn dasſelbe Eichenholz käuflich
wäre
, das der Unterſuchung zur Verfügung geſtanden hat.
Dies iſt aber nicht einmal der Fall. Geſundes Eichenholz
A. Bernftein. Naturw. Bolksbücher XIV.
36698
iſt als Nutzholz ſehr wertvoll. Die großen Kniee, welche die
vom
Zweig abgehenden Stämme bilden, werden auf den großen
Schiffswerften
ſehr teuer bezahlt;
ſelbſt die kleinen Kniee,
ſobald
ſie nur geſund ſind, ſtehen beim Schiffsbau in großem
Wert
.
Da jedes Stück gerades Eichenholz nicht minder als
Nutzholz
geſucht iſt, ſo bleibt für Brennholz gewöhnlich nur
ungeſundes
, knüppliges, knorriges Gezweige zurück.
Zudem iſt
die
Eichenborke für Gerberei ein geſuchter Artikel;
das Holz
wird
demnach ſchon im Walde gehörig abgepellt, und bleibt
nackt
dem Wetter ausgeſetzt, unter welchem es nicht wenig
leidet
, bevor es als Brennholz verſchifft wird.
Auf dem Holz-
platz
angelangt, weiß der Händler noch jede halbgeſunde Klobe
beſſer
zu verwerten, als auf den aufgeſchichteten Klaftern
oder
Haufen, und ſo wird man denn auf Holzhöfen ſchwerlich
ein
Eichenholz vorfinden, das auch nur entfernt an das heran-
reicht
, welches zur Unterſuchung gedient hat.
Beim Büchenholz kann man das nicht ſagen. Es giebt
jetzt
bei weitem mehr Buchen- als Eichenwaldung in unſerem
ſonſt
wegen ſeiner Eichen berühmten Vaterlande.
Man findet
auf
Holzhöfen zwar teueres, aber geſundes Büchenholz in glatten,
leicht
klein zu machenden Kloben, während das Eichenholz,
das
als Brennholz käuflich zu haben iſt, höchſt ſelten dieſe
Eigenſchaften
zeigt.
Wir dürfen uns alſo auch hier nicht
wundern
, daß die Wiſſenſchaft und Wirtſchaft nicht in den
Reſultaten
übereinſtimmen und der Preiscourant des Holzhofes
in
großem Widerſpruch mit dem Brennwert ſteht, der den
beiden
Holzarten, wenn ſie gleich gut ſind, gegeben werden muß.
XIX. Der Heiz- und der Geldwert.
Während Birkenholz ſeinem Gewichte nach zu den leichten
Holzarten
zu zählen iſt, hat es gewiſſe Eigenſchaften mit
36799 harten Holz gemein, die es beliebt machen, wenn es gut aus-
getrocknet
iſt.
Allein käuflich iſt es ſelten in Gegenden gut
zu
haben, wo es nicht wächſt.
Die junge Birke iſt zu ſaftig
und
deshalb ſchwer trocknend, während älteres Holz dieſer
Gattung
außerordentlich häufig ſtockig und wurmfraßig iſt.
Da der geſunde Teil guter Stämme als Nutzholz für Möbel
ſehr
gebräuchlich iſt, ſo gelangt es als Brennholz nur in den
minder
guten Teilen auf den Markt, weshalb es denn auch
weniger
Liebhaber findet als andere Sorten, die zuverläſſiger in
ihren
Reſultaten ſind.
Dagegen iſt das Elſenholz beliebt, trotzdem die wiſſen-
ſchaftliche
Unterſuchung ergeben hat, daß ſeine Heizkraft gering
iſt
.
Ein Pfund Elſenholz vermag zwar mehrere Pfund eiskaltes
Waſſer
in Dampf zu verwandeln;
allein das Holz iſt an ſich
leichter
als alle andern genannten Holzarten;
eine Klafter Elſen-
holz
wiegt etwa 2300 Pfund, zieht man hiervon noch den
Waſſergehalt
ab, ſo beſitzt man davon nur das Material, um
circa
9000 Pfund Waſſer zu verdampfen, ſo daß es an Wirk-
ſamkeit
den andern Holzgattungen nachſteht.
Wenn gleichwohl das Elſenholz beſſer bezahlt wird, als
das
bei weitem heizkräftigere Kienholz (in Berlin iſt es faſt
um
{1/3} teurer), ſo darf man dies auf Rechnung vieler Umſtände
ſetzen
, die in der Wirtſchaft weſentlich ſind, während ſie in
wiſſenſchaftlichen
Unterſuchungen unberückſichtigt bleiben müſſen.
Das Kienholz hat, wie bereits oft erwähnt, zu leicht-
flammige
Eigenſchaften;
in unſern Öfen geht von dieſem Brenn-
material
zu viel in Rauch und Ruß verloren.
Auf dem Herd
blakt
es Gefäße und Speiſen an.
All’ dieſe Eigentümlichkeiten
fehlen
dem Elſenholz.
Es brennt leicht und ziemlich rein;
wenn es feucht iſt, wird es auf einem luftigen Boden nach
kurzem
Lagern ſchnell trocken.
Es teilt auch den Vorzug mit
dem
Kienholz, daß es ſich gut ſpalten und brechen läßt, was
in
der Wirtſchaft das Kleinmachen des Holzes erleichtert
368100 ſomit der Sparſamkeit förderlich iſt. Ja, man darf bei unſerer
gewöhnlichen
Einrichtung der Stubenöfen die Vermutung aus-
ſprechen
, daß von der Heizkraft des Elſenholzes verhältnis-
mäßig
weniger verloren geht, als von der des Kienholzes, und
ſomit
iſt es möglicherweiſe ſein Geld für die Wirtſchaft wert,
wenngleich
es nach den wiſſenſchaftlichen Verſuchen am niedrigſten
im
Preiſe hätte ſtehen ſollen.
Wir wollen zwar nicht in Abrede ſtellen, daß, wie in
vielen
Dingen im Leben, auch im Holzverbrauch mannigfache
Vorurteile
herrſchen.
Dieſe Vorurteile mögen zu außer-
ordentlichen
Verteuerungen des Büchenholzes und zum ge-
ſteigerten
Preis des Elſenholzes das ihrige beitragen;
allein wenn
wir
den großen Unterſchied zwiſchen den Preiſen der Holzarten
auf
unſern Holzplätzen und denjenigen erwägen, die ſie nach
ihrem
wiſſenſchaftlich feſtgeſtellten Heizwert haben ſollten, ſo
können
wir nicht umhin, bei aller Hochſchätzung ſo wertvoller,
wiſſenſchaftlicher
Unterſuchungen, der Praxis unſerer Haus-
frauen
einige Rechnung zu tragen.
Vorurteile gehören zwar
zu
der Gemütlichkeit des Frauenlebens;
allein in Geldſachen,
wo
die Gemütlichkeit bekanntlich aufhört, pflegen die Vor-
urteile
nicht gar zu ſtark fehl zu greifen, und man hat ein
Recht
, die Gründe aufzuſuchen, die ſo tief wie hier den Wirt-
ſchaftsbeutel
berühren.
In der That iſt der Abſtand zwiſchen Wiſſenſchaft und
Wirtſchaft
etwas zu ſtark.
Nach wiſſenſchaftlicher Berechnung
ſollten
ſich die Preiſe etwa folgendermaßen ſtellen.
Wenn
junges
Kienholz wie gewöhnlich 90 Mark der Haufen koſtet,
ſo
müßte ein Haufen vom beſten Büchenholz kaum mit
114
Mark bezahlt werden;
ein Haufen Eichenholz müßte mit
105
Mark bezahlt ſein.
Birken würde 102 Mark koſten und
Elſen
müßte auf 84 Mark der Haufen herabſinken.
Statt deſſen
ſtehen
die Preiſe auf dem Holzhof ganz und gar anders.
Während Kienholz mit 90 Mark verkauft wird, geht
369101 holz bis auf 126 Mark hinauf; Birken koſten 141, Eichen
ſtehen
auf 162 Mark, und Büchenholz wird gar mit 186 Mark
bezahlt
.
Eine ſo ungeheure Abweichung der Praxis von
den
Reſultaten der Wiſſenſchaft verdient eine gründlichere Be-
leuchtung
;
ja, wir meinen, es wäre eine Unterſuchung der
Brennmaterialien
in Bezug auf den Gebrauch für unſere ge-
wöhnlichen
Stubenöfen und Kochherde eine ſchöne Aufgabe,
die
dieſelbe Bedeutung für die häusliche Wirtſchaft gewinnen
könnte
, wie ſie die Unterſuchungen von Brix für die Maſchinen-
und
Fabrikheizung haben.
Wir wollen nunmehr auf die Heizwerte des Torfes über-
gehen
, dem wir deshalb eine beſondere Aufmerkſamkeit ſchenken
müſſen
, weil man von ihm ſagen darf, er iſt weit beſſer als
ſein
Ruf, und er verdient eine gründlichere Kenntnis ſeines
Wertes
, als man im allgemeinen beſitzt.
XX. Der Torf.
In keinem Punkte ſcheinen uns die wiſſenſchaftlichen Ver-
ſuche
von Brix für die Praxis des gewöhnlichen Lebens ſo
wichtig
und belehrend als in dem, was ſie über den Wert und
die
Heizkraft des Torfes ergeben haben.
Der Torf iſt bekanntlich ein Brennmaterial, das gegraben
wird
.
Er beſteht aus den Reſten verweſter Sumpfpflanzen,
die
mit der Länge der Zeit die Eigenſchaft der Steinkohle
annehmen
würden, welche auch nur ein Überreſt ehemaliger
Pflanzen
iſt.
Dieſe Überreſte ſind ihrer Natur nach verſchieden.
Rühren ſie von Blättern her, die ſich angeſammelt haben, ſo
iſt
er leichter und weniger brennſtoffhaltig.
Machen die Wurzeln
der
verweſenden Pflanzen ſeinen Hauptteil aus, ſo kann er
ſchon
beſſere Eigenſchaften zeigen.
Hat er ſich aber
370102 Pflanzen gebildet, in welchen die Holzzelle vorherrſcht, ſo wird
er
unter Umſtänden den reichhaltigſten Brennſtoff in ſich haben.
Es verſteht ſich indeſſen von ſelbſt, daß er in allen Fällen
mehr
oder weniger mit Erdteilen gemiſcht und beim friſchen
Ausſtechen
ſehr waſſerhaltig iſt, was ſeinen Wert ganz außer-
ordentlich
verſchieden macht.
Was nun den Reſultaten der Unterſuchungen des Torfes
beſonderen
Wert für die gewöhnliche Praxis der Wirtſchaft
verleiht
, iſt der Umſtand, daß beim Torf das nicht vorkommen
konnte
, was beim unterſuchten Holz vermutet werden muß, daß
nämlich
nur die beſten Sorten zu den Verſuchen verwandt
wurden
, welche ſonſt nicht als Brennholz auf den Markt
kommen
, ſondern beſſer als Nutzholz verwertet werden.
Der
Torf
kann zu nichts als zum Verbrennen gebraucht werden,
und
man iſt imſtande, ihn ſich in derſelben Güte zu verſchaffen,
in
welcher er den Verſuchen unterworfen wurde.
Im Vergleich mit den ebenfalls der wiſſenſchaftlichen
Unterſuchung
unterworfenen anderen Brennmaterialien, wie den
Koks-Arten
, der Stein- und der Braunkohle hat die Unter-
ſuchung
des Torfes einen anderen Vorzug, der für die häus-
liche
Wirtſchaft von großer Bedeutung iſt.
Koks, Braun- und Steinkohlen ſind Materialien, zu
deren
vollſtändiger und völlig nutzbarer Verbrennung beſondere
Einrichtungen
der Brennräume erforderlich ſind.
Fabrikanlagen
ſind
imſtande, ihre Feuerungen ſo einzurichten, daß ſie denen
mehr
oder weniger gleichen, wie ſie Brix angewendet hat, und
ſomit
vermögen ſie ſich die Aufgabe zu ſtellen, ein gleiches oder
mindeſtens
nahe günſtiges Reſultat der Verbrennung zu er-
reichen
.
In den Wirtſchaften des Hauſes iſt dergleichen gar
nicht
voraus zu ſehen, weshalb denn die Reſultate der Unter-
ſuchungen
des Koks, der Braun- und der Steinkohle von ge-
ringerem
praktiſchen Erfolg für das Haus ſind.
Dies iſt aber
beim
Torf nicht ſo.
371103
Der Torf brennt zwar allein ſchwierig; da er jedoch in
Häuſern
ſtets mit gleichzeitiger Verbrennung von leicht bren-
nenden
Holzarten benutzt wird, ſo darf man unſere gewöhn-
lichen
Stubenöfen als verhältnismäßig der Torfheizung günſtige
Anlagen
bezeichnen, und ſomit erhalten die wiſſenſchaftlichen
Unterſuchungen
ihren praktiſchen, häuslich-wirtſchaftlichen Wert.
Ja, wir vermuten, daß vielleicht mit Ausnahme des
Büchenholzes
kein gewöhnlich übliches Brennmaterial eine ſo
entſprechende
Feuerungsanlage in unſern Stuben-Öfen vor-
findet
, als der Torf, wenn er zweckmäßig mit leichtflammigem
Kien-
oder Elſenholz benutzt wird.
Wir ſprechen alſo dem
Torf
als ſparſames und vorteilhaftes Brennmaterial ſehr das
Wort
, wenn wir gleich nicht verkennen, daß er manche Un-
annehmlichkeiten
bereitet, die ihn im Hauſe unbeliebt machen,
und
die wir im Verlauf unſeres Themas noch berühren
werden
.
Bevor wir jedoch zu den fünf Torfſorten kommen, welche
Brix
unterſucht hat, wollen wir einige Thatſachen hier an-
führen
, die von größter Wichtigkeit für die Benutzung des
Torfes
ſind.
Bei keinem Brennmaterial, mit Ausnahme der Braun-
kohlenſteine
, ſpielt das Waſſer eine ſo böſe Rolle wie beim
Torf
.
Daß naſſes Holz erſt ordentlich ſein Waſſer heraus-
kocht
, bevor es zu brennen anfängt, das werden die Haus-
frauen
ſchon oft bemerkt haben;
dies verzögert nicht nur die
Verbrennung
, ſondern nimmt einen tüchtigen, oft den beſten
Teil
der Hitze in Anſpruch, und verteuert die Heizung ganz
entſetzlich
.
Der Torf, wenn er naß iſt, wird nicht nur in
dieſer
Beziehung widerwärtig, ſondern er quillt auch noch
tüchtig
.
Kauft man daher eine Klafter naſſen Torf, ſo erhält
man
eine ſehr beträchtliche Menge Torf-Soden, oder, wie die
Hausfrauen
ſagen, Torf-Sohlen weniger, als wenn er gehörig
ausgetrocknet
iſt.
Der Unterſchied kann, wie Brix’
372104 ſuchung zeigt, dahin führen, daß ein Torfmaß, welches
83
trockne Torf-Soden enthält, ſchon gefüllt werden kann mit
66
derſelben Torf-Soden, wenn ſie naß ſind.
Auf einen zweiten bedeutenden Übelſtand beim Torf-Ein-
kauf
muß man gleichfalls ſein Augenmerk haben.
Er betrifft
das
Maß desſelben.
Die geübten Gehülfen der Torfkähne ver-
ſtehen
das Hohlmeſſen ſo vorzüglich, daß ſie den geaichten
richtigen
Wagen geſtrichen voll machen, obgleich noch ein viertel
Haufen
fehlt.
Brix ließ einen genau ausgemeſſenen Wagen
von
ſeinen Heizern mit Torf füllen und fand deſſen Gewicht
auf
4100 Pfund;
ſodann ließ er denſelben Wagen mit dem-
ſelben
Torf durch zwei Leute füllen, welche den Sommer über
damit
beſchäftigt ſind, den Torf aus den Kähnen in die Maß-
wagen
zu tragen, und das Gewicht des vollen Wagens Torf
betrug
nur 3080 Pfund.
Sie hatten richtig 1020 Pfund
Torf
weniger, alſo den vierten Teil was man ſo nennt,
eingemeſſen
.
Ein gefährliches Kunſtſtück, das den Torf nicht
wenig
verteuert.
XXI. Der Heizwert des Torfes.
Vom Torf gilt im vollen Sinne das Sprüchwort: was
billig
iſt, kommt teuer zu ſtehen.
Billige Torfſorten ſind bei
weitem
ſchlechter, als ſie ihrem Preiſe nach ſein dürften, wes-
halb
wir beim Torf einen andern Grundſatz zur Regel machen
müſſen
, als beim Holz.
Während wir den Gebrauch der teuren
Holzſorte
, des Büchenholzes, höchſtens verteidigen dürfen,
müſſen
wir den Gebrauch der teuren Torfſorten empfehlen.
Erfahrene Hausfrauen verſtehen ſich ſchon auf gute Torf-
ſorten
;
den weniger erfahrenen wollen wir die Merkzeichen hier
angeben
.
373105
Ein guter Torf darf vor allem, wenn er trocken iſt, nicht
leicht
ſein.
Ein Stück Torf guter Sorte muß 1 Pfund und
18
bis 24 Lot wiegen.
Ein guter Torf muß hart ſein, und
wenn
er trocken iſt, muß jedes Stück eingefallene Backen haben,
ſo
daß die Kanten und Ecken hervorragen, und die Flächen,
namentlich
die breiten Flächen recht gehörig eingedörrt er-
ſcheinen
.
Sind die Stücke dadurch ein wenig krumm geworden,
ſo
thut das der Zierlichkeit zwar Abbruch, aber es iſt ein
gutes
Zeichen für die Trockenheit und den Brennwert.
Ein guter Torf darf auch nicht beim Bruch verraten, daß
er
aus Pflanzen beſteht.
Wo ſich die Wurzeln und Faſern
leicht
herausfinden laſſen, da verrät er, daß er nicht tief genug
in
der Erde gelegen und nicht lange genug daſelbſt gelagert
hat
.
Zwar zeigt auch der gute Torf Spuren und Reſte
von
Pflanzen;
allein in der Hauptmaſſe müſſen die Pflanzen-
reſte
nicht mehr erkennbar ſein;
dieſe muß ſchwarz, dürr, wie
erdige
Kohle ausſehen.
Ein jedes Stück Torf hat bekanntlich zwei breite, zwei
ſchmale
und zwei hohe Flächen;
ein guter Torf zeigt nun
folgende
Eigenſchaften in Bezug auf dieſe Flächen.
Legt man
ihn
auf die breite Fläche und verſucht ihn mit einem Handbeil
zu
ſpalten, ſo muß er Widerſtand leiſten und eher in Stücke
zerbrechen
, ehe er dem Beil den Durchgang geſtattet.
Stellt
man
ihn auf die lange Fläche und verſucht die Kunſt des
Handbeils
an ihm, ſo muß er, wenn der Schlag gut gezielt
iſt
, nachgeben und ſich ſchichtartig ſpalten laſſen, zeigt er aber
gar
auf der hohen Fläche ſchichtartige Riſſe, als ob er ſich
von
ſelber ſpalten wollte, ſo iſt dies ein vortreffliches Zeichen.
Damit man dieſe Merkzeichen nicht mißverſtehe, wollen wir
ſie
durch die Darlegung der Gründe deutlicher zu machen
ſuchen
, worauf ſie beruhen.
Ein jedes Stück Torf iſt nämlich,
wie
wir bereits wiſſen, der Überreſt eines Pflanzenlebens, das
einſt
den Moorgrund bedeckte.
Aber nicht von einem und
374106 Jahren rührt dieſer Reſt her, ſondern Schicht wuchs auf
Schicht
, wo immer die untere der Boden wurde, auf dem die
obere
wuchs.
Jedes Jahr hat nur eine verhältnismäßig dünne
Schicht
zu dieſem Stück Torf geliefert.
Wenn die Pflanze
auch
üppig war, ſie wurde nach ihrem Ableben ſehr dünn und
mit
dem Lauf der Jahre immer gepreßter und dünner durch
die
obern Schichten.
Ein Stück Torf iſt eine Art Buch, in
welchem
Schicht auf Schicht wie die Blätter des Buches liegen,
von
denen aber jedes Blatt einen vollen Jahrgang ausmacht.
Will man nun das Stück von der breiten Fläche aus
ſpalten
, ſo muß man ſämtliche Jahrgänge der Schichten durch-
ſchneiden
, und da deren Zahl beim guten Torf ſehr groß iſt,
ſo
geht das ſchwer;
verſucht man es jedoch von der Längen-
Fläche
aus, ſo trennt man nur die Schichten zweier Jahr-
gänge
von einander, und das gelingt dann meiſt ganz gut.
Zeigen
ſich
aber gar Riſſe in dieſer Richtung auf der hohen Fläche,
ſo
iſt dies ein Zeichen der ſcharfen Eintrocknung, wo Schicht
von
Schicht ſich trennen will, was eben nur bei gutem, alten,
ſchichtenreichen
Torf vorkommt, aber bei lockerm Torf nicht der
Fall
iſt, wo ſich nur die Jahrgänge weniger Schichten mit ein-
ander
verfilzt haben.
Die Unterſuchungen von Brix über die Heizkraft des
Torfes
umfaſſen fünf Sorten dieſes Materials und ſind in einigen
60
Verſuchen feſtgeſtellt worden.
Die Hauptſorten ſind unter dem Namen Büchfeld- und
Neulangen-Torf
und dem bekannten Linumer Torf aufge-
führt
.
Von dem erſtern kamen zwei Sorten, von dem letztern
drei
zur Unterſuchung, und ſie ergaben folgende wichtige
Reſultate
.
Eine Klafter vom beſten Büchfelder ſowohl wie vom
beſten
Linumer Torf wiegt 33 Zentner.
Dieſer Torf iſt alſo
um
2 Zentner ſchwerer als Büchen- und Eichenholz.
Hiervon
ſind
freilich zehn Prozent Aſche, alſo unbrennbare Teile
375107 Torf enthalten, während im Holz nur 1 Prozent Aſche ent-
halten
iſt.
Ferner iſt Torf im mittlern Zuſtand naſſer als
Holz
;
während in hundert Pfund Holz durchſchnittlich 15 Pfund
Waſſer
enthalten ſind, enthalten hundert Pfund Torf 25 Pfund
Waſſer
.
Rechnet man nun Aſche und Waſſer ab, ſo bleiben in
einer
Klafter Torf nur 2250 Pfund trockne, brennbare Teile.
In jedem Pfunde dieſer Klafter aber ſteckt mehr Heizkraft als
in
einem gleichen Pfund Holz, denn ein Pfund der Linumer
Sorte
bringt 5 Pfund 6 Lot Waſſer zum Verdampfen, ein
Pfund
Büchenfelder giebt etwas weniger Dampf.
Der Torf zweiter Sorte iſt bei den zwei genannten Torf-
Gattungen
ſchon ſehr verſchieden.
Linumer zweiter Sorte iſt
500
Pfund leichter als der erſter Sorte, während Büchfelder
zweiter
Sorte an 700 Pfund leichter iſt;
ein Pfund dieſes
Linumer
giebt nach Abzug des Waſſers und der Aſche 5 Pfd.
3 Lot Dampf, während Büchfelder nur 4 Pfund 21 Lot
Dampf
liefert.
Ja, ſelbſt Linumer dritter Sorte ſteht dem
Büchfelder
zweiter Sorte nicht viel nach.
Da nun der Preis des Torfes bedeutend billiger iſt als
der
des Holzes, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß Torf
ein
ſehr ſparſames Heizmaterial iſt.
XXII. Für und gegen den Torf.
Wir müſſen jetzt eine Reihe von Umſtänden anführen,
die
ſür und gegen den Gebrauch des Torfes in der Wirtſchaft
ſprechen
.
Für den Torf ſpricht erſtens ſein Preis, zweitens ſeine
Heizkraft
, drittens die Art ſeines Brennens.
Der Preis des Torfes iſt ſo mäßig, daß er das billigſte
Brennmaterial
iſt.
Ein Haufen Torf koſtet in Berlin
376108 etwa ſo viel als ein Haufen Holz, und gewährt noch den Vor-
teil
, daß man ihn nicht klein zu machen braucht.
Da nun die Heizkraft des Torfes die des beſten Holzes
übertrifft
, ſo iſt es ganz unzweifelhaft, daß der Torf ſich ſehr
als
Brennmaterial empfiehlt.
Dieſe Eigenſchaften allein würden
indeſſen
keineswegs den Ausſchlag für die Wirtſchaft geben,
denn
in dieſer kommt es auf die Art an, wie ſein Heizmaterial
verbrennt
.
Würde Torf z. B. ſo eigentümlich brennen, wie
etwa
Steinkohle, ſo würde er ſelbſt bei noch größerer Billig-
keit
keine rechte Anwendung in unſeren Öfen finden;
man
würde
die ganze Einrichtung der Feuerung umändern müſſen,
und
dies würde ihn für das Haus unpraktiſch machen.
Da
jedoch
der Torf außer der Billigkeit und dem Reichtum an
Brennkraft
noch die gute Eigenſchaft beſitzt, daß er ohne
Schwierigkeit
in den Stubenöfen, wie ſie gewöhnlich ſind, ver-
brennt
, ſo erfüllt er eigentlich alle Bedingungen eines guten
Brennmaterials
und empfiehlt ſich ſomit ganz außerordentlich
für
die Praxis.
Er hat aber wieder vieles gegen ſich, was man durchaus
nicht
unbeachtet laſſen darf.
Vor allem iſt Torf allein ein ſchlechtes Brennmaterial.
Er brennt ſehr kurzflammig, ja er glüht eigentlich nur. Die
Gaſe
, die in ihm ſind, ſind nicht flüchtig und brennen nicht im
langen
Strahl.
Brennt man nun Torf auf der einen Seite
des
Ofens an, ſo ſchlägt die Flamme des brennenden Teils
nicht
um den übrigen Torf, ſondern zieht ſich nur nach und
nach
und ſehr langſam bis dahin.
Das verzögert die Heizung
viel
zu ſehr, und wollte man bloß mit Torf heizen, ſo würde
der
eine Teil immer dem Erlöſchen nahe ſein, ehe der andere
Teil
abbrennt, oder mit anderen Worten:
der Ofen würde auf
der
einen Seite erſt anfangen ſich zu erhitzen, wenn er auf der
andern
Seite anfängt kalt zu werden.
Es weiß dies auch jede
Hausfrau
, die ſich um die Heizung kümmert.
Man muß
377109 ein tüchtiges, langflammiges Brennmaterial wie Kien- oder
Elſenholz
im Ofen anzünden, und auf dieſes, wenn es ſo recht
ins
Aufflammen geraten iſt, den Torf auflegen.
Der Torf
fängt
dabei, von allen Seiten gut angeflammt, von allen Enden
zu
brennen an, und leiſtet ſogar dem Holzfeuer den Dienſt,
daß
er die Gaſe, die ſonſt unverbrannt geblieben wären, ent-
zündet
.
Allein ſchon dieſer Umſtand, daß man es mit zwei Brenn-
materialien
ſtatt des einen zu thun hat, macht ihn unbeliebt.
Hat man ſeinen Arm voll Kienholz in den Ofen gethan
und
ſoll ihn noch nachträglich mit einer Portion Torf zum
Deſſert
füttern, ſo wird zuweilen manche geduldige Hausfrau
unmutig
, zumal, wenn’s nicht allzu kalt iſt, und man ſich zur
Not
mit der Hitze des Holzes begnügen kann.
Der Torf verlängert aber auch das Heizgeſchäft. Füttert
man
den Ofen mit einem Male ab, ſo iſt es ein Pläſir;
muß
man
aber abwarten, bis das Holz gerade in der rechten
Stimmung
iſt, den Torf in flammigſter Umarmung zu em-
pfangen
, ſo wird es ſchon langweilig.
Rechnet man hierzu,
daß
der Torf beim Heizen in der Stube weit mehr ſchmutzt
als
Holz, daß man beim Einlegen des Torfes in das recht
flammige
Feuer oft verunglückt mit der zweckmäßigen Lagerung
der
Soden, daß man bald eine Sode zu tief in den Ofen
wirft
, wo ſie erſt zu brennen anfängt, wenn man die Klappe
zumachen
will, daß bald eine andere aus dem Ofen heraus-
fällt
und Aſche, Kohlen und den durchdringenden, übeln Geruch
des
Torfes in der Stube verbreitet, ſo muß man einen ge-
wiſſen
Abſcheu vor dem Torf gerechtfertigt finden.
Hierzu kommen noch einzelne Umſtände, die weſentlich
ſind
.
Es giebt Tage, wo der Schornſtein ſeine üblen Launen
hat
und Rauch und Dunſt ſtoßweiſe in den Ofen hinabdrückt.
In ſolchen Fällen iſt Rauch ein Übel, das ſelbſt gute Öfen
heimſucht
.
Der Torf aber verbreitet bei der Verbrennung
378110 beſonderes wir glauben wiſſenſchaftlich noch nicht völlig be-
kanntes
Gas von durchdringendem Geruch, der ſich Tage
lang
in der Stube aufhält, ja ſogar ſich den Kleidern mit-
teilt
;
dringt dieſer Torfdunſt ins Zimmer, ſo verliert man oft
alle
Luſt zur Sparſamkeit, und läßt ſich nötigenfalls eher ein
wenig
Kälte, als ſolchen Umſtand gefallen.
Der Torf hinterläßt auch zehn Prozent Aſche, und dieſe
iſt
für die Wirtſchaft wertlos;
wenigſtens hat man ihre vor-
zügliche
Eigenſchaft, die Wärme ſchwer zu leiten, noch nicht
im
wirtſchaftlichen Gebrauch in Anwendung gebracht.
Sie
vermehrt
alſo den Unrat des Hauſes und macht das Reinigen
des
Ofens und der Züge öfter notwendig als ſonſt.
Endlich
macht
der Torf auch Arbeit.
Will man ihn gut verwenden,
ſo
muß man ihn ſpalten, wodurch er ſchneller brennt;
dies aber
iſt
ſogar nicht leicht und häuft nach und nach ſo viele Torf-
krümel
an, daß ein Teil des Materials verloren geht, wenn
man
es nicht unter dem Waſchkeſſel verwenden kann.
XXIII. Der Koks.
Erwägen wir Alles, was für und was gegen den Torf
ſpricht
, ſo ergiebt ſich, daß er ſelber eigentlich nicht Schuld
hat
an ſeinem Mißkredit.
Die guten Eigenſchaften des Torfes,
ſeine
Billigkeit, ſeine bedeutende Heizkraft und ſeine angemeſſene
Verbrennlichkeit
gehören ihm ſelber an.
Alle Übel ſeines Ge-
brauches
aber haften nicht an ihm, ſondern an dem, was drum
und
dran hängt.
Bald iſt es die Achtloſigkeit, bald die Scheu
der
Heizenden, bald iſt es der Ofen, bald der Schornſtein,
der
den Torf unbequem macht, und dies verurſacht es,
daß
man ihm Mängel aufbürdet, die in der That anderswo
liegen
.
379111
Erwägt man all dies, ſo ſtellt ſich ganz unzweifelhaft
heraus
, daß es eine Wohlthat wäre, wenn man die Einrich-
tungen
träfe, welche die Vorteile der Torfheizung gewähren,
ohne
die Nachteile beſorgen zu laſſen.
Wir werden nicht unterlaſſen, unſere Anſichten hierüber
unſern
Leſern vorzuführen;
für jetzt dürfen wir die Reihenfolge
unſerer
Betrachtungen nicht unterbrechen und müſſen zu den
übrigen
Brennmaterialien zurückkehren, von denen noch das
eine
, der Koks, ſehr in Aufnahme gekommen und von Wich-
tigkeit
geworden iſt, von denen aber auch die anderen, die
Braunkohle
und namentlich die Steinkohle immer mehr
ſich
Eingang verſchaffen und unſere volle Berückſichtigung ver-
dienen
.
Daß Koks ein billiges Brennmaterial und unter Um-
ſtänden
gar nicht durch andere Materialien zu erſetzen iſt, das
iſt
in großen Städten ſchon eine ganz bekannte Thatſache,
weshalb
denn auch der Verbrauch desſelben von Jahr zu Jahr
zunimmt
.
Obwohl nun mit der Zunahme des Verbrauchs
der
Koks teurer geworden iſt, iſt der Preis doch nicht ſo ge-
ſtiegen
, wie man hätte vermuten ſollen, und dies verdankt man
dem
Umſtand, daß der Koks ein Material iſt, das ſchon meiſt
bei
ſeiner Herſtellung einen Gewinn abgeworfen hat, alſo nur
den
Wert eines Nebenproduktes beanſprucht.
Es hat nämlich mit dem Koks eine eigene Bewandtnis;
er iſt ein bereits halb verbranntes Brennmaterial, er iſt die
Kohle
der Steinkohle.
Man ſollte nun glauben, es ſei Ver-
ſchwendung
, den Koks als Brennmaterial herzuſtellen, weil
bei
ſeiner Herſtellung ein Teil der Heizkraft der Steinkohle
verloren
geht.
Allein es ſind beſondere Umſtände, welche einen
Erſatz
dieſes Verluſtes bieten, und dies dürfen wir nicht un-
erwähnt
laſſen, weil ſie auf den Koks und ſeinen Brennwert
von
Einfluß ſind.
Die Steinkohle, wie ſie in der Erde gefunden wird,
380112 ſchon je nach dem Harzreichtum der Pflanzenſtoffe, welche zu
ihrer
Bildung gedient haben, verſchieden, und iſt es noch be-
ſonders
dadurch, daß ſich metalliſche Teile, namentlich ſchwefel-
haltige
, derſelben in verſchiedener Weiſe beimiſchen, je nach
der
Beſchaffenheit des Bodens, in welchem die Steinkohle ge-
funden
wird.
Erhitzt man die Steinkohle, ſo geſchehen ſowohl chemiſche
Verbindungen
wie Zerſetzungen all der Stoffe, die ſie enthält.
Alle Harzarten der Steinkohle verwandeln ſich in Gas und
blähen
entweder die Steinkohle auf, oder laſſen ſie zuſammen-
ſickern
.
In dem erſtern Falle wird die Steinkohle oft durch
die
Hitze zuſammenbackend, ſo daß ſich die kleinen Stücke der
Kohle
zu großen Stücken aneinanderfügen.
Haben ſich nun
durch
die Hitze die Gasarten aus der Kohle entfernt und die
fettigen
, harzigen Beſtandteile als Teer abgeſchieden, ſo bleibt
der
Kohlenſtoff der Steinkohle in aufgeblähten, ſchwammartig
durchlöcherten
Stücken zurück, und löſcht man dieſe zur rechten Zeit
ab
, ſo beſitzt man in denſelben den Koks, deſſen Eigenſchaften
wir
noch kennen lernen werden.
Je nach der Beſchaffenheit der Steinkohle, namentlich nach
deren
Reichtum an Harzarten und Schwefelkies, ſind die aus
der
erhitzten Steinkohle ſich entfernenden Gaſe verſchieden.
Steinkohlen, die viele harzige Teile enthalten, geben, wenn ſie
in
ringsum abgeſchloſſenen Behältern geglüht worden, reich-
haltig
das Kohlen-Waſſerſtoffgas von ſich, welches als Leucht-
gas
bekannt iſt.
Dieſes Gas iſt freilich mit verſchiedenen
andern
Gaſen, namentlich mit dem ſehr unangenehm nach
faulen
Eiern riechenden Schwefelwaſſerſtoff gemiſcht;
allein
man
hat in den Gasanſtalten Vorrichtungen, das Kohlen-
Waſſerſtoffgas
gereinigt herzuſtellen, um es zur Beleuchtung zu
verwenden
.
In ſolchen Anſtalten bleibt die Kohle der Stein-
kohle
als Koks zurück und iſt als ein Nebenprodukt verhält-
nismäßig
billig zu haben.
Gegenwärtig, wo man auch
381113 Teer der Steinkohle vielfach braucht und verwertet, ganz be-
ſonders
zur Herſtellung zahlloſer Farbſtoffe, wirkt auch dies
auf
die Billigkeit des Koks ein.
Bei der Wichtigkeit des
Koks
für den Hüttenbetrieb wird er aber ſehr viel als ein
Hauptprodukt
bereitet.
XXIV. Tie Heizkraft des Koks.
Es kommt beim Koks, wenn er zur Heizung benutzt
werden
ſoll, auf viele Umſtände an, welche ihn mehr oder
minder
vorteilhaft machen.
Vor Allem iſt der Hauptbeſtandteil des Koks, die Kohle,
nicht
in allen Koksarten gleich gut und reichhaltig.
Das
liegt
an der Steinkohle, aus welcher mar den Koks gebrannt
hat
.
Iſt die Steinkohle, oder richtiger iſt der Pflanzenſtoff,
aus
welchem die Steinkohle entſtanden, reich an Kohle ge-
weſen
, ſo wird auch der Koks reichhaltig an Kohle ſein, ſobald
er
zur rechten Zeit gelöſcht worden iſt.
Waren in der Stein-
kohle
viele gasartige Beſtandteile, ſo kann ſie ſehr reich an
Kohle
ſein;
aber bei der Verwandlung in Koks blähen die
Gaſe
den Koks auf und bilden aus ihm große, ſehr ſchwam-
mige
Stücke.
In ſolchem Falle wird der Koks leicht, und die
Tonne
, die man kauft, wird weniger wiegen und auch weniger
Kohlenſtoff
enthalten, als ſie ſoll.
War die Steinkohle an
ſich
ſchlecht, das heißt, enthielt ſie viele erdige Beſtandteile
metalliſcher
Natur, ſo wird der aus ihr gebraunte Koks zwar
nicht
ſo aufgebläht ſein und auch mäßiges Gewicht haben;
aber
er
wird zu ſtark an Aſche ſein.
Die Beſchaffenheit des Koks wird aber nicht bloß hiervon
abhängen
, ſondern auch von dem Zweck, zu welchem er her-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
382114
geſtellt worden iſt, und bis zu welchem Grad man die Ver-
treibung
der Gaſe gebracht hat.
Hat man die Steinkohle zur Bereitung von Leuchtg as
benutzt
, ſo entzieht man ihr möglichſt viel Kohlen-Waſſerſtoff-
gas
, und der zurückbleibende Koks hat nur wenig von dem-
ſelben
in ſich.
Die ſtädtiſche Gasanſtalt in Berlin treibt nur in
Rückſicht
auf den Verkauf des Koks die Entziehung des Leucht-
gaſes
aus der Steinkohle nicht ſo weit, als ſie könnte, weshalb
denn
der Koks, den ſie verkauft, beliebter war, als der der
engliſchen
Gas-Geſellſchaft.
Bei Steinkohlen indeſſen, die man
nur
zu dem Zweck verkokt, um Brennmaterial zu gewinnen,
wie
z.
B. viele Hüttenwerke thun, iſt der Brennwert durch-
ſchnittlich
ſchon beſſer.
Daß indeſſen alle Koksſorten noch während des Bren-
nens
andere Gaſe von ſich geben als Kohlenſäure, das hat
wohl
ſchon jeder erfahren, der den Verſuch gemacht hat, bren-
nenden
Koks mit Waſſer zu löſchen;
der unangeneme Geruch
nach
faulen Eiern entſteht aus dem Schwefelwaſſerſtoff, welcher
hierbei
aus der Kohle ausgetrieben wird.
Was nun die Heizkraft des Koks betrifft, ſo geben die
Unterſuchungen
von Brix hierüber weniger Aufſchluß, als man
erwarten
ſollte;
es rührt dieſes aber daher, daß die Unter-
ſuchungen
nicht für gewöhnliche Stubenheizung unternommen
worden
ſind, ſondern die Rückſicht auf den Bedarf der Maſchinen-
und
Fabrikanlagen im großen dabei leitend war.
Für ſolche An-
ſtalten
iſt die Steinkohle aber brauchbar und daher die Koks-
Verwendung
unratſam, weil dieſer immer ſchon ein halbver-
branntes
Material iſt.
Die Verſuche von Brix erſtrecken ſich nur über zwei
preußiſche
Koksſorten;
ſie ergeben ein nicht unweſentlich ab-
weichendes
Reſultat.
Die eine Koksſorte enthält in der Tonne
230
Pfund, von denen jedes Pfund der brennbaren Teile
8
Pfund und 12 Lot Waſſer zu verdampfen imſtande iſt.
383115 andere Koksſorte wiegt 250 Pfund pro Tonne, iſt aber kohlen-
reicher
, und jedes Pfund Koks dieſer Sorte hat 8 Pfund und
18
Lot Waſſer verdampft.
Nehmen wir dieſes Reſultat als durchſchnittlich für den
Koks
geltend, ſo würde ſich ſein Heizwert im Vergleich mit
andern
Materialien in folgender Weiſe herausſtellen.
Rechnen wir den Preis einer leichten Holzſorte ſo, daß
der
Haufen 25 bis 30 Thaler koſtet, ſo erhält man ungefähr
für
einen Groſchen 14 bis 15 Pfund Brennmaterial.
Da
jedes
Pfund dieſes Brennmaterials circa 4 {1/2} Pfund Waſſer
verdampft
, ſo würde man etwa für einen Pfennig Brenn-
material
drei Pfund Waſſer verdampfen können.
Rechnen
wir
dagegen den Koks zu 30 Silbergroſchen die Tonne und
das
Gewicht desſelben durchſchnittlich auf 240 Pfund, ſo würde
man
für einen Silbergroſchen 8 Pfund Brennmaterial er-
halten
, und da ein Pfund dieſes Materials an acht Pfund
Waſſer
verdampft, ſo würde man für einen Silbergroſchen
64
Pfund, alſo für einen Pfennig an 5 {1/3} Pfund Waſſer ver-
dampfen
können.
Vergleicht man den Koks mit dem Torf, ſo ergiebt ſich
der
Unterſchied nicht zu groß;
ſie ſind beide faſt gleich an
Billigkeit
im Verhältnis zu ihrer Heizkraft.
Wiederholt müſſen wir indeſſen bei dieſer Gelegenheit
darauf
aufmerkſam machen, daß bei dieſen Berechnungen immer
vorausgeſetzt
iſt, daß die ganze Heizkraft benutzt werden kann,
was
bekanntlich nicht der Fall iſt, da ein Teil derſelben nicht
für
das Waſſer, ſondern zur Erwärmung des Gefäßes, des
Feuerraumes
und der Luft verwendet werden muß.
Ferner
müſſen
wir nicht vergeſſen, daß dieſe Berechnungen voraus-
ſetzen
, es ſeien die Umſtände, unter welchen man die Ver-
brennung
vornimmt, für jedes Brennmaterial anders und zwar
ſo
vorteilhaft wie möglich;
ein Fall, der ſich eben auch nicht
leicht
im gewöhnlichen Leben verwirklicht.
Man darf ſich
384116 nicht wundern, wenn die obige Berechnung ergiebt, daß man
ſo
viele Heizkraft in ſo wenigem Brennmaterial beſitzt und
dennoch
über teueres Brennmaterial klagt.
Um indeſſen zu zeigen, wie die Zuſtände bei verſchiedenen
Brennmaterialien
verſchieden ſein müſſen, wollen wir den Blick
auf
die Verwendung des Koks in der häuslichen Wirtſchaft
richten
.
XXV. Der Koks wiſſenſchaftlich und wirt-
ſchaftlich.
Bei der Koksheizung ſieht man es ſo recht, wie die
Praxis
des Hauſes eine ganz andere Forderung an die Heizung
ſtellt
als die Theorie, wie die Wirtſchaft anders iſt als die
Wiſſenſchaft
.
Wiſſenſchaftlich ſteht es feſt, daß die Heizkraft des Koks
ſo
bedeutend iſt, wie die des Torfes;
wirtſchaftlich wird dies
zwar
keine Hausfrau in Abrede ſtellen, aber ſie wird den Ein-
wand
erheben, daß die Kokshitze ihr zu jähe, und deshalb
nur
für gewiſſe Fälle brauchbar iſt.
Und die Hausfrau hat recht.
Käme es in der Wirtſchaft auf eine Wette an, wie man
am
ſchnellſten einen Eimer Waſſer zum Kochen bringt, ſo
würde
jede Hausfrau ein brennendes Koksfeuer unbedingt
einem
Torffeuer vorziehen.
Will man eine große, luftige Stube
aufs
ſchnellſte für einige Stunden durchwärmen, ſo iſt nichts
beſſer
und zuverläſſiger, als ein Koksfeuer im eiſernen Ofen.
Will man aber ein Feuer haben, bei welchem nicht nur das
Eſſen
kocht, ſondern auch ſtundenlang warm bleibt, gilt es
ein
Zimmer in den Morgenſtunden zu heizen, um es
385117 in den Abend hinein warm zu haben, ſo wird man den Torf
unbedingt
vorziehen.
Es ſind hier wiederum die Brenneigenſchaften, welche
dem
Koks eine ganz andere Wirkſamkeit anweiſen, als dem
Torf
.
Koks brennt nicht einzeln und nicht langſam und nicht
bei
mäßigem Zug.
Man muß ein helles Holzfeuer bereits
angebrannt
haben, um auf dasſelbe Koks ſchütten zu dürfen.
Entzündet ſich an dieſem Feuer der Koks von allen Seiten,
und
iſt hinreichender Luftzug da, um die Verbrennung zu
unterhalten
, ſo brennt er fort;
iſt das nicht der Fall, ſo geht
der
angebrannte Koks ſofort aus.
Der Koks hat die keinem
der
üblichen Heizmaterialien zukommende Eigenſchaft, die
Wärme
ſtark zu leiten.
Brennt ein Stück Koks auf der einen
Seite
, ſo geht eine ſo bedeutende Portion Wärme durch das
ganze
Stück, daß man es kaum berühren kann;
bei Holz und
Torf
iſt das nicht der Fall;
wenn dieſe an der einen Seite
brennen
, können ſie am andern Ende ſehr wohl in der Hand
gehalten
werden.
Durch dieſe Eigenſchaft des Koks entſteht an
der
Brandſtelle ein Verluſt von Wärme, und wenn nicht der
Hitzegrad
der ganzen Koksmaſſe von vornherein ein ſehr hoher
iſt
, ſo kühlt ſich der Koks durch die Leitungsfähigkeit ſeiner
Wärme
zu ſchnell ab, um fortbrennen zu können.
Daher rührt
es
denn, daß man ein Koksfeuer nicht unter die Rotglüh-Hitze
ſinken
laſſen darf, wenn man es nicht will ausgehen laſſen.

Meiſt
brennt es mit wahrer Weißglüh-Hitze, und in ſolcher
vermag
es auch eine ungeheure Heizkraft in kurzer Zeit zu ent-
wickeln
.
Allein für die Wirtſchaft iſt dies in vielen Fällen
eher
läſtig als angenehm, und man vergißt bei ihm jene
Mäßigung
und Stetigkeit, welche einmal und mit Recht
den
Hantierungen wie den Charakteren der Hausfrauen ent-
ſprechen
.
Die jetzt ſehr übliche Heizung mit Koks geſchieht auch
386118 der That aus ganz anderem als wirtſchaftlichem Zweck.
Wenn man eine große Werkſtatt, in welcher die Thüren und
Fenſter
nicht gut geſchloſſen bleiben können, erträglich warm
halten
, wenn man einen Laden, der viel Ein- und Ausgänge
hat
, durchheizen, wenn man in einem ſonſt ungeheizten Zimmer
für
einen Abend eine wohnliche Wärme erzeugen, wenn man
einem
Junggeſellen, der den Tag über nicht zu Hauſe, die
möblierte
Stube für den Abend erträglich machen will, ſo iſt
ein
Koksfeuer im eiſernen Ofen unübertrefflich.
In der Wirt-
ſchaft
aber, wo es nicht auf ſo plötzliche und augenblickliche
Wirkungen
abgeſehen iſt, und man das Wohnzimmer möglichſt
durch
den ganzen Winter in gleichmäßiger erquicklicher Wärme
erhalten
will, thut der Koks bald zu viel, bald zu wenig.
Man hat nun zwar die Koksheizung praktiſcher zu machen
geſucht
durch die Einrichtung der gewöhnlichen Kachelöfen für
dieſe
Feuerung, und es läßt ſich nicht in Abrede ſtellen,
daß
dies zuweilen zweckentſprechend iſt;
allein es ſind dabei
beſondere
Umſtände, welche die Heizung im allgemeinen er-
ſchweren
.
Der Koks nämlich iſt verhältnismäßig das gasloſeſte
Brennmaterial
, das es giebt:
er brennt alſo mit äußerſt kleiner
Flamme
und glüht gewiſſermaßen nur fort, wenn er, gehörig
in
Brand geſetzt, im engen Raum übereinander liegt.
Im
großen
Raum erliſcht das Koksfeuer ſchnell.
Da nun der
Brenuraum
unſerer gewöhnlichen Öfen viel zu groß iſt für
ſolch
enges Feuer, ſo läßt man ſich meiſthin vom Töpfer
den
Brennraum des Stubenofens zur Koksheizung einrichten.
Er verengt nun den Raum dadurch, daß er im Ofenraum eine
Art
Häuschen baut, dem er nach hinten einen Thorweg offen
läßt
, durch welchen die Luft durchſtrömen muß.
Heizt man
dieſen
Raum mit Holz vor und thut Koks darauf, ſo brennt
er
an und erhält ſich auch im Brennen, und ſetzt man dies
durch
Auflegen von friſchem Koks fort, ſo erhitzt ſich
387119 der Kachelofen derart, daß er auch heiß bleibt, wenn der Koks
ausgegangen
iſt, und ſomit hat man freilich eine dauernde
Ofenwärme
.
So richtig dies aber auch iſt, ſo ſehr iſt man doch in der
Praxis
davon abgekommen.
Unſere Öfen nämlich werden mit
ihren
breiten Brennräumen viel zu dickwandig, wenn der
Töpfer
ſein Kokshäuschen noch hineinſetzt;
es dauert demnach
äußerſt
lange, ehe dieſer kleine Ofen im großen Ofen ſeine
Hitze
durch die verdickten Ofenwände hindurchdringen läßt.
Dabei iſt der außerordentlich ſtarke Zug, der erforderlich iſt,
um
den Koks in Brand zu halten, eine Urſache, daß durch
alle
Ritzen der Thüren und Fenſter kalte Luft zuſtrömt.
Die
Hitze
im Ofen iſt alſo groß, aber die Stube bekommt lange
Zeit
nichts davon ab, und ehe die Wärme ſich durch die dicken
Lehm-
und Thonwände des Ofens durcharbeitet, um der Stube
zu
gute zu kommen, iſt der halbe Tag in empfindlicher Kälte
vergangen
.
Es ſind demnach, wie geſagt, nur Einzelumſtände, welche
die
Koksheizung in der Wirtſchaft begünſtigen, obgleich er
wiſſenſchaftlich
allen Reſpekt vor ſeiner Heizkraft beanſpruchen
darf
.
XXVI. Die Steinkohle.
Wenn die Bedenken gegen die praktiſche Verwertung des
Koks
ſo zahlreich ſind, daß man ihn jetzt nur ſeltener in An-
wendung
ſieht und ſeine Benutzung als Heizmaterial in der
letzten
Zeit eher ab- als zunimmt, ſo hat man dafür gelernt,
die
Steinkohle ſelbſt in die Wirtſchaft einzuführen, und man
überzeugt
ſich leicht, daß der Verbrauch von Steinkohlen für
den
häuslichen Bedarf mit jedem Jahre an Umfang wächſt.
388120
In der That finden wir auch, daß die Übelſtände, welche
die
Koksheizung begleiteten, bei der Steinkohle entweder gar
nicht
oder nur in viel geringerem Grade vorhanden ſind;
da
gerade
die Fehler des Koks in den Eigenſchaften begründet
ſind
, welche dieſem Brennmaterial durch das Verkoken erteilt
werden
, während alle Vorteile der Koksheizung bei der Be-
nutzung
der Steinkohle dieſelben ſind.
Wir hatten erfahren, daß der Mangel an Gaſen ein großer
Nachteil
beim Brennen des Koks iſt.
Daher kam es nämlich,
daß
der Koks nicht mit Flamme brennt, ſondern nur glüht
und
die Erwärmung nur einem kleinen Raume der Ofenwände
mitteilen
kann.
Die Steinkohle unterſcheidet ſich aber gerade
dadurch
vom Koks, daß in ihr all’ jene Gaſe noch enthalten
ſind
.
Die Steinkohle brennt daher mit mehr oder minder
langer
Flamme und erhitzt einen größern Raum ganz gut, in
dem
der Koks erlöſchen würde.
Ein fernerer Nachteil des Koks lag in ſeiner guten Wärme-
leitung
.
Der Umſtand, daß ſich die Wärme durch ein Koks-
ſtück
ſchnell verbreitet, hat zur Folge, daß ein ſtarkes Feuer
zum
Entzünden des Koks notwendig und daß auch zum Er-
halten
des Feuers eine ſtarke Glut erforderlich iſt.
Die Stein-
kohle
teilt dieſe Eigenſchaft nicht, ſie leitet die Wärme nicht
fort
und brennt deshalb gut weiter, wenn ſie an einer Seite
entzündet
iſt.
Die Steinkohle brennt auch bei Rotglut weiter;
ja man kann ſogar nur ſchwach glimmende Steinkohlen durch
ſtarken
Zug wieder zum Brennen anfachen.
Die Heizkraft der Steinkohle iſt ferner nach den zahlreichen
Unterſuchungen
von Brix eine ſehr große.
Freilich zeigten die
verſchiedenen
Sorten der Steinkohlen bedeutende Unterſchiede.
Aber ſelbſt die ſchlechteſten Sorten können noch mit einem
Pfund
6 Pfund und 12 Lot Waſſer verdampfen und über-
treffen
ſomit an Heizkraft alle Holz- und Torfarten.
Die
beſten
Sorten von Steinkohle waren ſogar imſtande, pro
389121 Brennmaterial 8 Pfund und 27 Lot Waſſer in Dampf zu ver-
wandeln
.
Gerade dieſe bedeutende Heizkraft der Steinkohle iſt jedoch,
wie
bereits beim Koks angeführt, für den wirtſchaftlichen Be-
darf
nicht immer ein Vorzug.
In der Haushaltung kommt
es
nicht darauf an, eine ſehr große Hitze, ſondern eine mitt-
lere
und lang andauernde zu erzielen.
Es müſſen demnach
verſchiedene
beſondere Einrichtungen an den Öfen, und Hilfs-
mittel
herbeigezogen werden, um die ſtarke Wärme der brennen-
den
Steinkohlen in eine mäßige und anhaltende zu verwandeln.
Und dies wird auf zwei Wegen erreicht, je nach der Beſchaffen-
heit
des Ofens, in dem die Steinkohle verbrennen ſoll.
Bei eiſernen Öfen, auf deren Anwendung wir noch weiter
eingehen
werden, kann man durch ſtarkes Anfeuchten der Kohlen,
die
man friſch aufſchüttet, die Hitze etwas mildern und die
Verbrennung
länger hinziehen.
Iſt nämlich die Verbrennung
der
Steinkohlen ordentlich in Gang, ſo iſt die Hitze ſo groß
daß
die neu aufgeſchütteten Kohlen bald gleichfalls in Weiß-
glut
geraten, und nicht nur die bedeutende Wärme ſehr ſteigern,
ſondern
auch ſchnell verbrennen würden.
Hat man jedoch die
Steinkohlen
vorher tüchtig mit Waſſer begoſſen, ſo wird die
herrſchende
Hitze etwas gemildert, indem nun erſt das Waſſer
verdampfen
muß.
Außerdem aber werden die neuen Kohlen
nicht
ſo ſchnell bis zu dem Grade erhitzt, daß ſie brennen,
vielmehr
erfolgt ihre Erwärmung langſamer.
Die Hitze wird
alſo
durch dieſes Begießen der Kohlen einerſeits gemildert,
andererſeits
aber wird der Verbrennungsvorgang verlangſamt,
und
die Erwärmung der Stubenluft iſt eine länger anhaltende.
Wohl geht hierbei eine Menge von Wärme ganz verloren,
denn
die Wärme, welche das Waſſer verdampft, nützt uns
nichts
, aber die Steinkohlen erzeugen eine ſo große Hitze, daß
dieſer
Verluſt keine Rolle ſpielt gegen den Vorteil, eine gleich-
mäßigere
und anhaltendere Wärme in der Stube zu erhalten.
390122
Die zweite Art, die ſtarke Glut der Steinkohle in eine
anhaltende
, behagliche Wärme zu verwandeln, beſteht in der
Anwendung
luftdichter Ofenthüren.
Indem wir noch ſpäter auf die Bedeutung der luftdichten
Ofenthüre
zurückkommen, wollen wir hier nur ihren Wert
für
die Benutzung der Steinkohlen als Heizmaterial mit einigen
Worten
erwähnen und darthun, wie dieſelbe die Wärme der
Steinkohlen
mildert und aufſpart.
Wir wiſſen, daß die Wärme, die ein Brennmaterial er-
zeugt
, herrührt von ſeiner chemiſchen Verbindung mit Sauer-
ſtoff
, der durch den Zug in den Brennraum immer wieder
friſch
zugeführt wird und ſo das Brennen und die Bildung
der
Wärme erhält.
Wird die Luft abgeſperrt, ſo hört das
Brennen
und die Wärmebildung auf, wenn nicht auf einem
anderen
Wege noch Sauerſtoff zum Brennmaterial gelangen
kann
, was unter Umſtänden wohl möglich iſt.
Es kann näm-
lich
noch Sauerſtoff aus dem Brennmaterial ſelbſt hinzu-
kommen
, und die Verbrennung kann weiter ſtattfinden, wenn
der
Sauerſtoff einen chemiſchen Beſtandteil des brennenden
Körpers
ausmacht.
Dies iſt nun nicht nur beim Holze,
ſondern
auch in den Steinkohlen der Fall, die ſich aus vor-
weltlichen
Pflanzen gebildet haben und daher außer Kohlen-
ſtoff
auch noch Waſſerſtoff und Sauerſtoff enthalten.
Sie
können
deshalb mit ihrem eigenen Sauerſtoff die Verbrennung
ihres
Kohlenſtoffes unterhalten.
Damit aber der Sauerſtoff aus der Steinkohle frei wird
und
das Verbrennen des Kohlenſtoffs möglich mache, dazu iſt
eine
ſehr ſtarke Hitze erforderlich.
Daher kommt es, daß
Brennmaterialien
, die keine hohen Hitzegrade erzeugen, auch
ihren
Sauerſtoff nicht frei und zum Weiterverbrennen ver-
wendbar
machen können, ſie erlöſchen, ſo wie der Zutritt
friſcher
Luft von ihnen abgeſperrt iſt.
Die Steinkohlen aber
erzeugen
, wenn ſie ordentlich in Brand geraten, eine ſo
391123 Hitze, daß dieſe ausreicht, den in ihnen enthaltenen Sauerſtoff
frei
zu machen und das weitere Brennen zu unterhalten,
ſelbſt
wenn kein neuer Sauerſtoff von außen zugeführt wird.
Das Verfahren, ſich in Kachelöfen mit Steinkohlen eine
mäßige
und lang anhaltende Wärme zu verſchaffen, iſt daher
Folgendes
.
Mit etwas Holz wird ein leichtes Vorfeuer im Ofen an-
gemacht
, durch welches, ähnlich wie der Torf und Koks, die
Steinkohlen
entzündet werden.
Der Zug muß ein lebhafter
ſein
und der Sauerſtoff in reichlicher Menge zuſtrömen.
Bald
kommen
die Steinkohlen in Brand und werden in kurzem
gleichmäßig
weiß glühend.
Jetzt wird die luftdichte Ofenthür
geſchloſſen
.
Die Verbrennung der Steinkohlen geht nun weiter
vor
ſich, aber nicht ſo lebhaft und nicht ſo ſchnell.
Die
Wärme
, die erzeugt wird, iſt eine mäßige und wird ſehr lauge
durch
die langſam fortglimmenden Steinkohlen unterhalten.

Doch
muß man darauf achten, daß man die luftdichte Ofen-
thür
nicht zu früh ſchließe.
Denn wenn die Kohle noch nicht
den
hohen Hitzegrad erreicht hat, der zum Freimachen des in
ihr
enthaltenen Sauerſtoffes notwendig iſt, ſo kann ſie nicht
weiter
brennen und erliſcht bald.
XXVII. Gegen die Steinkohlen.
Die Steinkohle, welche nach den Unterſuchungen von Brix
die
größte Heizkraft von allen geprüften Brennſtoffen beſitzt,
iſt
auch ein ſehr billiges Brennmaterial.
Sie bietet vor allen andern Brennmaterialien den großen
Vorteil
, daß ſie ſtets gleich trocken iſt.
Während der Waſſer-
gehalt
der Holzarten und des Torfes ſehr verſchieden iſt und
bald
mehr, bald weniger des Gewichtes ausmacht, haben
392124 Steinkohlenſorten nur einen durchſchnittlichen Gehalt von drei
Prozent
Waſſer.
Von dieſer Seite kann alſo dem Käufer kein
Nachteil
erwachſen, er erhält ſtets reines Brennmaterial.
Anders verhalten ſich jedoch die Aſchenbeſtandteile. Dieſe
ſind
in den verſchiedenen Steinkohlen ſehr verſchieden.
Wäh-
rend
z.
B. die Steinkohle aus derKönigin-Louiſen-Grube”
in
Oberſchleſien nur 1 {1/2} Prozent Aſche enthält, betragen die
Aſchenbeſtandteile
der ZecheGlücksburg” bei Ibbenbüren
12
Prozent.
In derſelben Tonne der erſteren Kohle kauft
man
ſomit viel mehr Brennmaterial, als in einer Tonne der
zweiten
Sorte.
Im allgemeinen ſtellt ſich jedoch heraus, daß
die
Steinkohlen, welche mehr Aſche enthalten, auch ſchwerer
ſind
, und da man die Kohlen nicht nach dem Gewicht, ſondern
nach
Tonnen kauft, ſo gleicht dies bedeutendere Gewicht den
Nachteil
des größeren Gehalts an Aſche aus.
Berechnet man ferner die Koſten der Steinkohlenheizung
im
Vergleich mit den andern Brennmaterialien, ſo ſtellt ſich
heraus
, daß die Steinkohle gleichfalls zu den billigſten Brenn-
materialien
gehört.
Wenn wir gleichwohl dieſelbe noch nicht
ſo
allgemein eingeführt ſehen, als die bisher erwähnten Vor-
züge
dieſes Brennſtoffes es erwarten laſſen, ſo hat dies in den
Nachteilen
ſeinen Grund, welche auch an die Anwendung der
Steinkohlen
geknüpft ſind, und die wir nun erwähnen wollen.
Der Hauptnachteil bei der Benutzung der Steinkohlen be-
ſteht
in dem bereits erwähnten Umſtande, daß man nur durch
beſondere
Einrichtungen eine gleichmäßige, anhaltende Wärme
erzielen
kann.
Wo der Ofen ſolche Vorrichtungen nicht beſitzt,
da
kann man die Steinkohle nicht anwenden;
ſie erzeugt eine
zu
ſtarke Hitze und erfordert zu viel Brennmaterial, wenn
man
das Zimmer den ganzen Tag hindurch warm erhalten will.
Ein fernerer Übelſtand iſt die große Gefährlichkeit der
Gaſe
, welche die Steinkohle bei der Verbrennung in großen
Mengen
entwickelt.
Dieſe Gaſe ſind giftig und wirken
393125 ſchädlich, wenn ſie auch nur in geringen Mengen ſich der
Stubenluft
beimiſchen.
Wo Steinkohlen zum Heizen benutzt
werden
, da muß deshalb der Ofen einen ſehr kräftigen Zug haben,
der
all’ die ſchädlichen Gaſe ſicher fortführt.
Kann man nun
nicht
durch eine luftdichte Ofenthür die Verbrennung der
Steinkohlen
verlangſamen, ſo braucht man zu viel Kohlen, und
dies
Brennmaterial wird dadurch ſehr verteuert.
Die große Hitze endlich, welche die brennenden Steinkohlen
erzeugen
, und die man unter allen Umſtänden erhält, wenn
die
Kohlen ordentlich in Brand geraten, greift auch die Kachel-
öfen
ſehr ſtark an.
Die Kacheln bekommen leicht Sprünge und
Riſſe
, aus denen dann die ſchädlichen Gaſe entweichen und ſich
der
Stubenluft beimiſchen.
Man muß deshalb zum Schutze
der
Kacheln im Ofen einen kleinen, von den Kacheln getrennten,
eiſernen
Kaſten anbringen, in dem die Kohlen verbrennen.
Die Kacheln erhalten dann nur die Wärme, welche von dieſem
Kaſten
ausgeſtrahlt wird, und werden nicht beſchädigt.
Wir lernen hieraus, daß die Benutzung der Steinkohlen
eine
ganze Reihe eigener Vorrichtungen notwendig macht, die
man
nur ſelten antrifft.
Und da ohne dieſe Vorrichtungen die
Steinkohlen
teils ein teueres Brennmaterial, teils auch ſehr
ſchädlich
ſind, ſo iſt es vollkommen begreiflich, daß ſie noch
nicht
die andern Brennſtoffe verdrängt haben.
XXVIII. Die Braunkohle.
Obwohl die rohe Braunkohle kein Heizmaterial für das
Haus
geworden iſt, halten wir es doch nicht für überflüſſig,
hier
derſelben zu erwähnen, weil die Braunkohle ein bei uns
heimiſch
gewordenes Produkt iſt, das ja in der Form der
Briketts
jetzt ein Hauptheizprodukt des Städters geworden iſt.
394126
Die Braunkohle beſteht aus Pflanzen-Überreſten einer vor-
weltlichen
Zeit.
Sie iſt jünger als die Steinkohle, und ver-
rät
durch ihr zuweilen ſtellenweis holzartiges Gefüge bei
weitem
mehr als dieſe mit bloßem Auge den Charakter ihres
Urſprunges
.
Sie enthält aber weniger Kohlenſtoff und durch-
ſchnittlich
bei weitem mehr erdige Teile metalliſcher Natur,
welche
als Aſche zurückbleiben.
Die chemiſche Unterſuchung er-
gab
bei einigen Sorten, daß der vierte Teil des Gewichts
Aſche
iſt, während bei anderen wiederum ein ſehr günſtiges
Verhältnis
ſtattfindet.
Die Braunkohle kommt in größeren und kleineren Stücken
in
den Handel und iſt in dieſer Form leicht verbrennlich.
Sie
hat
meiſt harzige Beſtandteile in ſich, die es verurſachen, daß
ſie
langflammiger brennt als die Steinkohle und der Torf.
Was indeſſen den Gebrauch der rohen, einheimiſchen Braun-
kohle
ſehr behindert, ſind folgende Umſtände.
Vor allem iſt ihr Gefüge loſe, und deshalb entweichen
aus
dem noch nicht brennenden Teil Gaſe, die, wenn ſie ins
Zimmer
dringen, einen höchſt unangenehmen Geruch verbreiten.
Sie bedarf deshalb, wenn ſie erträglich werden ſoll, eines
ſtarken
Luftzuges, um das Rückſtrömen der Gaſe ins Zimmer
zu
verhindern.
Dieſer Zug iſt nun nicht ſchwierig herzu-
ſtellen
, weit ſchwieriger indeſſen gelingt es, ihn gut zu unter-
halten
.
Es treffen bei dieſem Brennmaterial eine ganze Reihe
von
Thatſachen zuſammen, welche die Regulierung des Zuges
hindern
.
Erſtens iſt die reiche Aſche ſehr ſtörend für den Zug. An
ſich
iſt ein ſtark aſchendes Brennmaterial unangenehm;
wo
aber
die Aſche wie die der Braunkohle nicht gar leicht iſt,
und
alſo nicht mit dem Zuge davongeführt wird, fällt ſie auf
die
Roſte nieder und verſtopft den Zug.
Dazu kommt zweitens,
daß
die Braunkohle viel Waſſer enthält.
Die Rauenſche ent-
hält
, wenn ſie noch grubenfeucht iſt, an fünfzig Prozent;
395127 ſelbſt wenn ſie abgelagert iſt, ſind in ihr noch an 24 Prozent
Waſſer
enthalten.
Dies macht es nun im Verein mit dem
loſen
Gefüge, daß ſie im Erhitzen und Eintrocknen bröckelt und
leicht
in kleine Stücke zerfällt.
Dieſe Stücke bleiben zwiſchen
den
Roſtſtäben ſtecken oder fallen brennend in den Aſchenraum.
Im erſteren Falle helfen ſie die Roſte verſtopfen, im letzteren
tragen
ſie zu dem üblen Geruch im Zimmer bei.
Rechnet
man
hierzu noch den Umſtand, daß ſie leicht zerreiblich ſind,
und
deshalb beim Abladen wie im Keller ſtark ſtauben, ſo
läßt
ſichs erklären, daß trotz der Wohlfeilheit dieſes Brenn-
materials
deſſen Benutzung für das Haus nicht Eingang findet.
Das ſtarke Stauben dieſer Kohle hat vor Jahrzehnten
auf
den Gedanken geführt, ein künſtliches Verbinden dieſer
Staubteile
herzuſtellen, und ſomit dieſelben in Form von Torf
zu
preſſen.
Dieſes Verbinden iſt gelungen, und man er-
hält
jetzt gut geformte Staubkohle, die in großen geräumigen
Öfen
wohl mit Vorteil verbraucht werden kann.
Indeſſen
iſt
trotz der Billigkeit derſelben auch dies Material noch
nicht
gebräuchlich, und unſeres Erachtens deshalb, weil die
üblichen
Stubenöfen für dieſe Heizung nicht eingerichtet ſind,
zumal
ſie für die Heizung von der Stube aus manche Unan-
nehmlichkeiten
bieten, wie z.
B. das Stauben und den leicht
zurückſchlagenden
Geruch.
Rechnet man Aſche und Waſſergehalt der Braunkohle ab,
ſo
ergiebt ein Pfund der brennbaren Teile eine Heizkraft,
welche
die des Torfes noch übertrifft, denn es vermag dasſelbe
ſechs
Pfund Waſſer zu verdampfen.
Heutzutage wird die Braunkohle bei uns in Norddeutſch-
land
in beſonders zubereiteter Form, nämlich in derjenigen des
jetzt
allbekannten Briketts ganz allgemein fürs Haus in Ver-
wendung
gebracht.
Der hohe Waſſergehalt iſt ein Haupthindernis für die
direkte
Verwertung der Braunkohle, z.
B. des
396128 Reviers, das Berlin reichlich mit Briketts verſorgt. Die
Kohle
wird daher in Pulverform getrocknet und dann unter
hohem
Druck in beſtimmte Formen gepreßt.
Im erwähnten Senftenberger Revier z. B. iſt das Ver-
fahren
das Folgende.
Die Braunkohle, welche in der Grube ſtückweiſe abgehauen
und
in Förderwagen geladen wird, wird mittelſt einer Förder-
kette
in die Brikettfabrik transportiert, dort kommt die Kohle
zunächſt
in das Sortierhaus, wo dieſelbe zerkleinert und geſiebt
wird
, alle Kohlenholzteile (die für die Brikettierung nämlich
unverwertbar
ſind) werden durch die Schüttelſiebe ſoviel als
möglich
ausgeſchieden und nach den Keſſelfeuerungen als
Heizmaterial
transportiert, während die ſortierte Kohle, welche
auf
eine Korngröße von 12 bis 15 mm gebracht worden iſt,
mittelſt
Elevator auf den Kohlenboden, welcher oberhalb der
Trockenöfen
liegt, transportiert wird.
Vom Kohlenboden aus wird die Kohle den Trockenöfen
durch
eine mechaniſche Vorrichtung zugeführt.
Die Trocken-
öfen
, ſogenannte Dampftelleröfen, beſtehen aus ſchmiedeeiſernen,
hohlen
Tellern, welche auf der oberen Tellerfläche ein Rühr-
werk
tragen.
Dem Hohlraum der Teller wird durch ver-
ſchiedene
Rohrſyſteme der Auspuffdampf ſämtlicher Maſchinen
zugeführt
, welcher hier beide Tellerplatten erwärmt und die
auf
den oberen Tellerplatten durch das Rührwerk bewegten
Kohlen
trocknet.
Außerdem beſitzt der Tellerofen eine Vor-
richtung
, auf welcher die halbtrockene Kohle geſiebt, gewalzt
und
von allem Unrat befreit wird.
Die Kohle beſitzt im
grubenfeuchten
Zuſtande einen Waſſergehalt von nicht weniger
als
58 bis 62 Prozent, mit dieſem Waſſergehalt kommt die
Kohle
in die Öfen und wird hier bis zu einem Waſſergehalt
von
14 bis 16 Prozent getrocknet.
Nachdem die Kohle den
unterſten
Teller der Trockenöfen paſſiert hat, wird dieſelbe
mittelſt
Schnecke” nach einem Miſchraum, genannt
397129 raum, transportiert, von da aus gelangt ſie in die Preſſen.
Hier wird die Kohle durch eine Verteilungswalze der Preſſe
gleichzeitig
zugeführt, ſodaß ein beſtimmtes Quantum trockene
Kohle
bei der Rückwärtsbewegung des Preſſenſtempels vor
dieſen
fällt und bei der Vorwärtsbewegung in eine Form ge-
drückt
wird.
Da die Brikettpreſſe eine offene Form beſitzt, in
welcher
die Reibung zwiſchen den in der Form befindlichen
fertigen
Briketts und den Wandlungen der Form den Wider-
ſtand
für den zur Preſſung nötigen Druck bildet, kann die
Preſſe
kontinuierlich arbeiten, ſodaß auf jede Umdrehung der
die
Preſſe treibenden Dampfmaſchinenwelle, deren Rotation
durch
direkte Verbindung die hin- und hergehende Bewegung
des
Preſſenſtempels hervorbringt, ein Brikett fertig wird.
Die hierdurch aus der Preſſenform hinter einander heraus-
kommenden
Briketts werden in eiſernen Rinnen von der Preſſe
ſelbſt
bis nach der Verladeſtelle gedrückt und dort in Eiſen-
bahnwaggons
verladen.
Das Preſſen der Briketts geſchieht mit einem Druck von
ca
.
1600 bis 1800 Atmoſphären. Die Preſſenform, welche
durch
die große Reibung ſtark erwärmt wird, muß durch Zu-
führung
von kaltem Waſſer gekühlt werden, damit die Tem-
peratur
der Form 90°C.
nicht überſteigt. Die Temperatur
der
Kohle vor dem Eintritt in die Preſſe beträgt 36°C.
, die
innere
Wärme der fertigen Briketts am Ausgang der Form
56°C
.
Die das Preſſenmundſtück mit der Verladeſtelle ver-
bindenden
, eiſernen Rinnen bezwecken eine ſchnelle Abkühlung
der
Briketts, da bei ſehr heiß verladenen Briketts leicht Ent-
zündungen
eintreten.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
398130
XXIX. Die Heizung und die Geſundheit.
Nachdem wir nunmehr die üblichen Brennmaterialien in
ihrem
Heizwert kennen gelernt haben, wollen wir einige Ver-
ſchiedenheiten
näher erwägen, welche bei dem Gebrauch der-
ſelben
beſtimmend einwirken;
hierbei aber wollen wir vor
allem
den weſentlichen Zweck der Heizung mit ein paar
Worten
beleuchten, um dann auf die verſchiedenen Arten, wie
man
dieſen Zweck billig und angemeſſen erreichen kann, näher
eingehen
zu können.
Der weſentlichſte Zweck des Heizens iſt die Erhaltung
unſerer
Geſundheit;
in dieſem Punkte aber herrſchen dennoch
Verſchiedenheiten
, die wir nicht unerwähnt laſſen dürfen.
Der Hauptzweck iſt zwar ſtets ein und derſelbe, nämlich
der
:
die Leibeswärme nicht in ſtärkerem Maße fortſtrömen zu
laſſen
, als ſie ſich naturgemäß erzeugt;
aber obwohl alle
Menſchen
innerlich eine ſtets gleiche Leibeswärme haben und
im
Winter in ganz gleichem Maße empfindlich dagegen ſind,
wenn
ſie frieren, das heißt, wenn die umgebende Luft ſo kalt
iſt
, daß ſich ihr von der Leibeswärme zu viel mitteilt, ſo ſind
die
Umſtände, unter welchen ſie dieſem Übelſtand abzuhelfen
haben
, doch ſehr verſchieden.
Unſer Blut iſt ſiebenunddreißig Grad warm und verträgt
weder
einen höheren noch einen niedrigeren Grad der Er-
wärmung
.
Man ſollte nun meinen, daß man in einem Zimmer
von
37 Grad Wärme ſich ſo recht behaglich fühlen müßte;
dem
iſt
jedoch nicht ſo.
Wir ſind einmal ſo eingerichtet, daß wir
eine
tüchtige Portion Wärme verlieren müſſen, wenn wir uns
behaglich
fühlen ſollen.
In einem Zimmer, wo 37 Grad
Wärme
herrſchen, würden wir gewiſſermaßen in der eigenen
Wärme
umkommen.
Die durch Stoffumſatz und Bewegung
ſich
ſtets erzeugende innere Wärme würde uns
399131 wenn unſer Leib nicht die merkwürdige Einrichtung hätte, daß
er
alle übrige Wärme zur Abſonderung des Schweißes ver-
wendet
und ſich dadurch wieder abkühlt.
Wir fühlen uns
in
der That nur in ſolchem Zimmer behaglich, wo die Luft
bedeutend
kälter iſt als unſer Leib, und wo wir alſo derſelben
eine
Portion Wärme abgeben.
Durch Erfahrung hat man gelernt, daß ein geſunder Menſch
ſich
am wohlſten fühlt bei einer Luftwärme von 18—20 Grad
Celſius
, und hieraus hat man das Recht zu ſchließen, daß
unter
gewöhnlichen Verhältniſſen im geſunden Körper gerade
in
jeder Minute ſo viel Wärme erzeugt wird, als er der Luft
von
neunzehn Grad in jeder Minute abgiebt.
Wer in einem
Zimmer
von neunzehn Grad Wärme fröſtelt, der iſt entweder
krank
, oder er verſetzt ſich augenblicklich durch Unthätigkeit und
Trägheit
in einen krankhaften Zuſtand;
im letzteren Falle be-
darf
es nur einiger Leibesbewegung, einer leichten Thätigkeit,
um
das richtige Gleichgewicht herzuſtellen.
Familienväter haben daher die Pflicht, darauf zu achten,
daß
die Zimmer und namentlich die der Kinder, nie wärmer
ſind
als neunzehn Grad Celſius;
wer den Kindern wohl zu thun
glaubt
, wenn er es ihnen recht warm macht, ſtimmt nur dadurch
ihre
natürliche, innere Thätigkeit herab und macht ſie träge und
ſchläfrig
.
Ein paar Grad weniger Wärme im Zimmer erhält
ſie
dagegen rege und munter und fördert ſomit ihre geiſtige und
körperliche
Geſundheit.
Anders ſchon iſt es bei bejahrten Menſchen. Im Alter
produziert
man naturgemäß nicht ſo viel Wärme als man bei
neunzehn
Grad Luftwärme verliert.
Alte Menſchen fröſteln
daher
bei ſolcher Wärme des Zimmers und fühlen ſich nur in
ſtärkerer
Kleidung behaglich, welche die Leibeswärme nicht
fortſtrömen
läßt.
Aber auch dieſe ſollten niemals ein wärmeres
Zimmer
wünſchen als von ein- oder zweiundzwanzig Grad;
denn eine höhere Luftwärme erzeugt eine zu hohe
400132 der Luft und entzieht dem Blute beim Ausatmen zu viel
Feuchtigkeit
, weshalb wir auch im heißen Zimmer ſtärkeren
Durſt
als im kühlen haben.
Ein Gleiches gilt von ſolchen Perſonen, welche ein leichtes
Lungenleiden
haben.
Sie empfinden in mäßiger Wärme ein
Fröſteln
, weil ſie infolge ihres Leidens nicht die volle Portion
Wärme
erzeugen können, welche ſie bei neunzehn Grad Luft-
wärme
verlieren.
Sie glauben ſich Wohlbehagen zu bereiten,
wenn
ſie ihr Zimmer zu höherem Grade erwärmen;
allein die
Trockenheit
der Luft, die ſie dadurch hervorrufen, iſt ihnen
ſchädlich
;
ihre Lunge wird dadurch beim Ausatmen, woſelbſt die
Luft
ſich mit Feuchtigkeit aus dem Blut ſättigt, beſonders an-
gegriffen
, und kann weſentliche Übel zur Folge haben.
Ein
wärmeres
Kleidungsſtück iſt ihnen zuträglicher als ein wärmeres
Zimmer
.
Junge Mädchen erzeugen, auch wenn ſie ſich mit Hand-
arbeiten
beſchäftigen, die ihnen wenig Leibesbewegung ge-
währen
, mehr Wärme, als ſie bei neunzehn Grad im Zimmer
verlieren
.
Man darf es ihnen deshalb nicht als Sonderbarkeit,
Eitelkeit
oder Laune auslegen, wenn es ihnen zu heiß iſt, wo
ältere
Perſonen ein Fröſteln emfinden.
Sie befinden ſich
wohler
in einem weit mäßigeren Grad der äußeren Wärme,
und
man erzeugt ihnen mehr Wohlbehagen, wenn man ſie zur
Leibesbewegung
anregt, als wenn man ihnen ein zu warmes
Zimmer
bereitet.
Im mittleren Lebensalter richtet ſich das Wohlbehagen
der
Zimmerwärme außerordentlich nach der Beſchäftigung.
Wer am Schreibtiſch ſitzen muß, dem brennt bei neunzehn Grad
Zimmerwärme
oft der Kopf, während ihm die Füße frieren.

Wer
dagegen ſeinen Körper rüſtig bei der Arbeit regt und be-
wegt
, kann ein bei weitem kälteres Zimmer vertragen.
Daher
muß
ein Beamtenzimmer ſtärker geheizt ſein als eine Werkſtatt,
und
unter den Werkſtätten diejenige an meiſten, welche
401133 wenigſten Leibesbewegung geſtattet. In der That würde der
Schmied
noch ſtärker frieren als der Schneider, wenn er wie
dieſer
genötigt wäre, in gekrümmter Stellung, die den Atem
beengt
, und mit untergeſchlagenen Beinen, wodurch der Blut-
lauf
behindert wird, ſeine Arbeit zu verrichten.
Durchſchnittlich alſo ſoll man die Heizung nicht viel über
neunzehn
Grad Zimmerwärme treiben;
in Rückſicht jedoch auf
die
verſchiedenen Beſchäftigungen können wir die Grenzen der
Heizungswärme
zwiſchen 15 und 22 Grad Celſius als die ange-
meſſenſten
bezeichnen.
XXX. Die Nebenumſtände der Erwärmung.
Iſt im allgemeinen eine nur mäßige Zimmerwärme rat-
ſam
, ſo iſt es am beſten, dieſe nicht vom Ofen allein ab-
hängig
zn machen, ſondern auch die Nebenbedingungen zu er-
füllen
, die zur Erhaltung der Zimmerwärme notwendig ſind.
Leider ſind gerade die Wohnungen unſerer ärmeren
Klaſſen
nicht nur in Bezug auf die Heizung unvorteilhaft,
ſondern
auch in Bezug auf die Nebenumſtände, welche die
Zimmerwärme
bedingen, außerordentlich ſchlecht verſorgt.
Die Öfen der kleineren Wohnungen ſind meiſt viel weniger
ſparſam
eingerichtet, als die der beſſeren Etagen des Hauſes.
Wenn in dieſen teueren Wohnungen gute, weiße Porzellan-
Öfen
ſtehen, die mit vorteilhaften Zügen verſehen ſind, ſo findet
man
nicht ſelten im dritten Stock den grauen oder ſchwarzen
Kachelofen
von äußerſt ſchlechtem Bau, der der Heizung un-
vorteilhaft
iſt.
Bedenkt man, daß der dritte Stock dem obern
Ausgang
der Schornſteine nahe liegt, daß demnach für einen
Ofen
in dieſem Stockwerk die vorteilhafte Höhe des Schorn-
ſteins
gar nicht mehr exiſtiert, ſo iſt ſchon dieſer gar nicht
402134 zuwendende Übelſtand ſehr zu beklagen, da er gerade die Klaſſe
unſerer
Mitbürger trifft, die hauptſächlich auf Sparſamkeit an-
gewieſen
iſt.
Kommt hierzu noch die Vernachläſſigung dieſer
Wohnungen
ſeitens der Wirte, ſo ſteigern ſich die Übelſtände
in
ſehr bedeutendem und beklagenswertem Maße.
Es gehört zu den ſehr gewöhnlichen Einrichtungen, daß
die
untern Stockwerke mit Doppelfenſtern verſehen ſind, daß die
Haupteingänge
vom kalten Flur her Doppelthüren haben, und
gerade
die Wohnungen der ärmeren Klaſſen, die am ſpar-
ſamſten
und vorteilhafteſten hergerichtet ſein ſollten, müſſen
dieſe
Vorteile entbehren! Ja, die Wände, die Stubendecken
der
oberen Stockwerke werden bei weitem leichter gebaut, als
die
der untern und tragen im Winter außerordentlich viel zur
ſchnellen
Abkühlung der Zimmer bei.
Hat noch gar der Wind
zu
den Dachluken freien Zutritt, ſo haben die Wohnungen,
die
dem Hausboden nahe ſind, noch vom Zuge ſo viel zu
leiden
, daß eine billige Erwärmung derſelben zu den unaus-
führbarſten
Dingen gehört.
Wenn wir nun in den folgenden Abſchnitten gerade die
kleineren
Wohnungen und deren vorteilhafte Erwärmung zum
Gegenſtand
unſerer Betrachtung machen wollen, ſo müſſen wir
vor
allem auf dieſe Nebenumſtände, welche die Erwärmung er-
ſchweren
, vorerſt unſern Blick richten, und hier, ſo weit es
geht
, mit praktiſchen Vorſchlägen zur Hand ſein.
Wer an der Heizung ſparen will, darf einige Ausgaben
und
häusliche Arbeiten beim Herannahen des Winters nicht
ſcheuen
.
Kann jemand durch einen kleinen Zuſchlag zur Jahres-
miete
den Wirt zur Herſtellung von Doppelfenſtern und Doppel-
thüren
bewegen, ſo wird er ſehr wohl daran thun.
Es iſt
keine
Verſchwendung, wenn man dem Wirt etwas mehr
Miete
für jedes herzuſtellende Doppelfenſter und jede Doppel-
thür
giebt.
Man erſpart dies ganz gut am Ofen und
403135 nur damit ſeinem Wohlbehagen und ſeiner Geſundheit ein
leichtes
Opfer.
Auch der Hauswirt fährt dabei nicht ſchlecht
und
erhält für ſeine Kapital-Auslage einen Zuſchlag als Zins,
der
durchaus beträchtlich iſt.
Er erfüllt, wenn er hierauf ein-
geht
, nicht nur eine Pflicht gegen den ärmern Mieter, die er dem
reichen
nicht verſagt, ſondern er verbeſſert dadurch ſein Grund-
ſtück
;
denn es iſt eine bekannte Thatſache, daß ein Doppel-
fenſter
weniger Reparaturen erfordert, als zwei einfache Fenſter.
Ein Doppelfenſter hat nämlich, wenn es gut gebaut iſt,
den
für Mieter und Wirt ſehr hoch anzuſchlagenden Vorzug,
daß
die Fenſter im Winter nicht zufrieren.
Denn wenn die
Innenfenſter
feſt zu ſind, dringt die Feuchtigkeit der Stube
nicht
hinaus zu den Außenfenſtern.
Sie belaufen nicht und
frieren
alſo nicht zu.
Schließen hierzu noch die Außenfenſter
gut
, ſo bleiben die feuchten Innenfenſter vor zu ſtarker Ab-
kühlung
durch die Straßenluft geſchützt und frieren gleichfalls
nicht
.
Ein zugefrorenes Fenſter iſt aber für Mieter und Wirt
eine
Plage.
Der Mieter verliert nicht nur eine ſtarke Portion
von
Stubenwärme während des Frierens, ſondern auch alltäg-
lich
während des Auftauens der Fenſter.
Es iſt für den-
jenigen
, der nicht die wiſſenſchaftliche Unterſuchung hierüber
kennt
, rein unglaublich, was ein einziges gefrorenes Fenſter für
Wärme
verſchluckt, wenn es auftaut.
Wer ſich hiervon einen un-
gefähren
Begriff machen will, der braucht nur ein Glas mit
Schnee
und Eis und ein zweites Glas mit eiskaltem Waſſer
in
die Ofenröhre zu ſetzen, und er wird ſehen, daß das eis-
kalte
Waſſer brühend heiß geworden iſt, bevor Eis und Schnee
im
anderen Glaſe geſchmolzen ſind.
Dies wird ihn belehren,
wie
gefrorenes Waſſer, wenn es ſchmilzt, ſo viel Wärme ver-
ſchluckt
, daß man damit eine gleiche Maſſe eiskaltes Waſſer
brühend
heiß machen kann.
Das Schmelzen der gefrorenen
Fenſter
nimmt eine gewaltige Portion Wärme täglich in An-
ſpruch
und koſtet den Winter über manchen Thaler an Heizung.
404136
Aber auch der Wirt gewinnt am Doppelfenſter. Am ein-
fachen
Fenſter richten auf der einen Seite die Stubenwärme
und
Feuchtigkeit und auf der andern Seite die Winterkälte
und
Trockenheit des Froſtes ganz entgegengeſetzte, zerſtörende
Wirkungen
aus und verurſachen eine ſehr ſchnelle Verwitterung
desſelben
, die bald eine gründliche Reparatur nötig machen.
Ein Doppelfenſter iſt ſolchem Übel nicht ausgeſetzt; es iſt jedes
der
Fenſter mehr einer gleichmäßigen Witterung unterworfen;

bei
Doppelfenſtern ſchützt eines das andere, und jedes von
ihnen
hält länger vor.
Rechnet man hierzu aber noch die
Feuchtigkeit
der tauenden Fenſter, welche Fenſterrahmen,
Fenſterbretter
, Mauerwerk und Fußboden mit der Zeit ruiniert,
ſo
handelt der Wirt gegen ſich ſelber, wenn er ein ſo gutes
Anerbieten
ſeines Mieters, wie wir es vorgeſchlagen, zurückweiſt.
XXXI. Wände, Stubendecke und Schornſtein-
Öffnung.
Ein außerordentlich ſtarker Verluſt an Wärme findet in
den
Wohnungen der Ärmeren ſtets durch Wände und Stuben-
decke
ſtatt.
Ziegel und Lehm ſind zwar an ſich ſchlechte Leiter der
Wärme
, und ſomit würden ſelbſt die dünnen Wände, wie ſie
jetzt
meiſt in dem dritten Stock gebaut werden, hinreichend die
Zimmerwärme
zuſammenhalten;
allein hierzu iſt eine Haupt-
bedingung
nötig, nämlich daß die Wände vollkommen trocken
ſind
, was eben bei ihnen weder von innen noch von außen der
Fall
iſt.
Lehm ſowohl wie Ziegelſteine ſchlechter Sorte ziehen
Waſſer
aus der Luft an, ſelbſt wenn ſie gut ausgetrocknet ſind.
Dies geſchieht bei dünnen Wänden ſowohl von innen wie von
außen
, und dieſe Feuchtigkeit, auf die man ſonſt wenig
405137 ſicht nimmt, iſt der Grund, daß ſich die Wärme ſchneller durch
Wände
mitteilt, als es ſein darf.
Den ſchwerſten Verluſt erleidet aber eine hoch unter dem
Boden
gelegene Wohnung an Wärme dadurch, daß die heiße
Luft
jedes Zimmers ſtets in die Höhe nach der Decke ſteigt.
Iſt nun die Stubendecke leicht gebaut, ſo zieht ein ſehr be-
trächtlicher
Teil der Wärme hindurch nach dem unter dem
Stein-
oder Zinkdach liegenden Bodenraum, der um ein be-
deutendes
kälter iſt als jeder ſonſt ungeheizte Raum.
Zwar kommt aus gleichem Grunde den höher gelegenen
Wohnungen
etwas von der Wärme zu gute, die in den Zimmern
der
unter ihnen liegenden Wohnungen herrſcht;
denn auch hier
durchheizt
ſich die Stubendecke und dringt Wärme durch den
Fußboden
;
allein der Gewinn iſt nur gering, weil man ſchon
des
Schallens halben die Stubendecke der untern Stockwerke
feſter
baut, damit die dortigen Mieter nicht jeden Schritt und
Tritt
des über ihnen Wohnenden hören.
Unter dem Boden-
raum
aber, der unbewohnt iſt, läßt man dieſe Rückſicht auf
das
Schallen anßer acht, und ſomit hat man in hochgelegenen
Wohnungen
eine viel ſchlechtere Stubendecke über ſich als
unter
ſich.
Übelſtänden dieſer Art läßt ſich nicht ganz ſo leicht ab-
helfen
.
An ſich iſt es zwar eine Ungerechtigkeit der Hauswirte,
wenn
ſie gerade auf die Wohnung des ärmeren weniger Rückſicht
nehmen
als auf die des reicheren Mieters.
In Berlin wenigſtens
iſt
es eine bekannte Thatſache, daß die kleinen Wohnungen
beſſer
rentieren als die großen;
dabei iſt das Kapital, welches
der
Bau des dritten Stockwerks koſtet, beträchtlich geringer als
das
für die unteren Stockwerke.
Wer ſtatt eines zweiſtöckigen
Hauſes
ein dreiſtöckiges baut, der hat nur eine geringe Zulage
von
Kapital für dieſen letzten Stock zu machen;
denn die
Wände
dieſes Stockwerks ſind nicht ſo hoch, und an Fundament
und
Dach braucht das Haus deshalb nichts Weſentliches mehr.
406138 Die Hauseigentümer haben indeſſen einen öfteren Ausfall der
Miete
im dritten Stock als in dem unteren zu gewärtigen
und
rechnen auf den öfteren Umzug und auf das ſchnellere
Ruinieren
der kleineren Wohnungen etwas, weil hier meiſt
mehr
im engen Raum bei einander leben.
Man wird daher die Hauswirte ſelten willig finden, für
die
Wärmung der kleinen Wohnungen etwas zu thun, und es
bleibt
dies meiſt den Mietern ſelbſt überlaſſen.
Was nun die Wände betrifft, ſo giebt es ein vortreffliches
Mittel
, die Leitungsfähigkeit der Wärme zu beſchränken, und
das
ſind Tapeten ſtatt des Anſtrichs.
Wer eine Ausgabe
für
eine ſchlichte Tapete nicht ſcheut und ſonſt ein wenig Zeit
und
Handgeſchicklichkeit beſitzt, kann billig und vorteilhaft
die
Tapezierung ſeiner kleinen Wohnung ſelber vornehmen.
Je ſtärker er eine Lage alten, gedruckten Papiers auf die
Wände
ankleiſtert, um die Tapete darüber zu kleben, deſto
mehr
wird er von dem beträchtlichen Schutz überraſcht werden,
den
dieſe Lage von Papier der Wärme des Zimmers gewährt.

Denn
hierbei ſpielt nicht ſowohl die Dicke des Papiers, als
vielmehr
der Umſtand die Rolle, daß Papier eine Maſſe iſt,
welche
die Wärme außerordentlich ſchlecht fortleitet.
Was bei kleinen Wohnungen noch beſonders dringend zu
empfehlen
iſt, das iſt der Verſchluß des Schornſteins.
Die
höher
gelegene Wohnung iſt dem durch den Schornſtein oft
toſend
eindringenden Wind zumeiſt und aus erſter Hand aus-
geſetzt
, und dafür geht jede Spur von Wärme aus der Küche
flugs
hinauf und zum Schornſtein hinaus.
Mährend die
unteren
Stockwerke meiſt mit Kochherden verſehen ſind, die
auf
die Erwärmung der Küche bedeutenden Einfluß haben,
findet
man in höher gelegenen Wohnungen dieſe Einrichtung
nicht
.
Sie iſt auch für kleinere Wirtſchaften nicht recht praktiſch.
Wenn eine Kochmaſchine nicht ſtundenlang in Brand gehalten
werden
kann, wenn es ſich darum handelt, das
407139 nicht nur ſo ſchnell wie möglich, ſondern auch das Feuer nur
kurze
Zeit vor der Mittagsſtunde anzumachen, dann iſt eine
ſolche
Maſchine nicht vorteilhaft.
Daher aber ſollte kein Wirt
unterlaſſen
, dafür zu ſorgen, daß in ſeinen kleinen Wohnungen
die
Öffnung zwiſchen Rauchfang und Schornſtein mit einer
Klappe
verſehen iſt, die bekanntlich wenig koſtet, und die einen
vortrefflichen
Schutz gegen die Kälte gewährt, ſo lange auf
dem
Herd kein Feuer brennt.
XXXII. Die einmalige Heizung.
Die Nebenumſtände, welche dazu beitragen, daß ein Zimmer
nicht
ſchnell erkaltet, alſo von der erzeugten Wärme nicht viel
verloren
geht, ſind oft von ſolcher Bedeutung, daß ſie in der
Praxis
wichtiger werden als der Bau des Ofens und die
Wahl
des Brennmaterials.
Wir können deshalb nur wieder-
holt
darauf hinweiſen, daß eine Vernachläſſigung der Wohnung
in
dieſer Beziehung ein Übelſtand iſt, der nicht wenig zur
Unbehaglichkeit
des Winters beiträgt, und daß eine vorſorgliche
Einrichtung
desſelben zur herannahenden kalten Jahreszeit eine
Hauptaufgabe
jeder ſoliden Wirtſchaft iſt.
Wenden wir uns nun zur praktiſchen Heizung, das heißt
zur
Behandlung des Ofens ſelber, ſo ſollte man meinen, daß
alles
geſagt ſei, wenn man das billigſte und heizkräftigſte
Brennmaterial
angiebt und die Verwendung desſelben empfiehlt.
Dem iſt aber keineswegs ſo. Ja, die Umſtände und die Zwecke
der
praktiſchen Heizung ſind in verſchiedenen Wirtſchaften ſo
verſchieden
, daß man durch bloß allgemeine Grundſätze eher die
Urteile
verwirrt als berichtigt.
Wir wollen uns deshalb nach den bisherigen, nur all-
gemeinen
Grundſätzen der Heizung zu den beſonderen
408140 ſtänden wenden, wie ſie gewöhnlich in den Familien und ihren
Wohnungen
ſind, und die Rückſicht auf Vermögen, Gewerbe,
Stand
und Einrichtung des Familienlebens nach Möglichkeit
obwalten
laſſen.
Wir haben, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, hierbei nicht den
Reichen
im Auge, der auch mit der Heizung ein wenig Luxus
treiben
kann, oder den Armen, der ſich den Winter über durch-
ſtümpern
muß, wie er eben kann, ſondern jenen Mittelſtand,
dem
der Winter ein Opfer koſtet, und der dies möglichſt ſparſam
verwenden
muß und verwenden will, und der vorſorglich genug
iſt
, ſeine Öfen und ſeine Zimmer nach ſeinen Bedürfniſſen, ſo
weit
es geht, herzurichten.
Es giebt Familien, die mindeſtens ein Zimmer ihrer
Wohnung
durch den ganzen Winter in gleicher, behaglicher
Wärme
zu haben wünſchen.
Für ſolche gilt die Regel, daß
ſie
Zimmer und Öfen ſo herrichten müſſen, daß eine einmalige
ſtarke
Heizung am Tage ausreiche, ihren Zweck zu erfüllen;
denn wie auch geheizt werden mag, es geht immer während
des
Heizens ſoviel Wärme durch den Schornſtein fort, daß
zweimal
leichtes Heizen unpraktiſcher iſt, als eine einmalige
tüchtige
Heizung.
Da aber mit dem Fortſtrömen der heißen
Luft
durch den Ofen zugleich ein Zuſtrömen kalter Luft durch
Thür-
und Fenſterritzen verbunden iſt, ſo entſteht ein Verluſt
an
Stubenwärme bei jedesmaliger Heizung, den man durch
Brennmaterial
erſetzen muß.
Im allgemeinen iſt das Be-
dürfnis
in den Feierſtunden des Winterabends, die gemütlich
warme
Stube zu genießen, vorwaltend, und da mit ſeltener
Ausnahme
die Morgenſtunden dem Geſchäft, der Schule und
der
häuslichen Wirtſchaft gewidmet ſind, ſo iſt es praktiſch, die
Heizung
des Zimmers gegen Mittag vorzunehmen, um den
vollen
Genuß der Wärme am Abend zu haben.
In ſolchem Falle iſt die Heizung von Kien- oder Elſen-
holz
, dem man, wenn es im guten Brennen iſt, Torf
409141 ſehr zu empfehlen, und ein einmaliges, tüchtiges Einlegen wird
ſich
, wenn der Ofen nicht gar zu eng iſt, vom beſten Erfolge
zeigen
.
Wo der Kachelofen mit einer luftdicht ſchließenden Thür
verſehen
iſt, da iſt es noch praktiſcher, ſtatt des Torfes Stein-
kohlen
aufzuſchütten, und wenn dieſe tüchtig in Brand ſind, die
luftdichte
Ofenthür zu ſchließen.
Bei Heizung dieſer Art gilt folgende Regel: Ein Ofen,
der
ſchnell heiß wird, kühlt auch ſchnell wieder ab.
Deshalb
iſt
für ſolche Heizung nur ein ziemlich dicker, langſam ſich er-
wärmender
Ofen vorteilhaft.
Alle Vorſchläge und Modelle von
Verbindung
des Kachelofens mit dem eiſernen Ofen ſind für
dieſe
Heizungsart nicht praktiſch.
In Gegenden, wo man
billige
Braunkohle heizt, hat man die Öfen entweder unten aus
Eiſen
und oben aus Kacheln oder auch umgekehrt unten aus
Kacheln
und oben aus Eiſen hergeſtellt.
Der Vorteil, den
dieſe
Verbindung bietet, beſteht darin, daß durch einen eiſernen
Teil
des Ofens die Erhitzung der Luft ſchnell das Zimmer
durchwärmt
, während die Kacheln noch eine Nachwärme er-
zeugen
, wenn das Feuer ſchon erloſchen iſt.
Allein für den
genannten
Zweck iſt dieſe Verbindung des Ofens nicht an-
wendbar
;
denn die Luftheizung, wie ſie eiſerne Öfen bewirken,
iſt
, wie wir noch weiter ausführen werden, eine ſehr flüchtige
und
vorübergehende.
Ein guter, feſter Kachelofen thut für die
angegebenen
Fälle die beſten Dienſte.
Wer einmal eine Prüfung ſeines Ofens und Zimmers in
dieſem
Punkte vornehmen will, der muß ſich zwei Thermometer
verſchaffen
, und das eine unmittelbar an den Ofen, das andere
womöglich
an das Fenſter, wo es freilich nicht ziehen darf,
hängen
.
Durch das Thermometer am Ofen wird man beob-
achten
können, wie lange es nach dem Heizen dauert, bevor der
Ofen
am heißeſten wird.
Findet man, daß dies erſt drei Stunden
nach
dem Einheizen der Fall iſt, ſo kann man mit dem
410142 zufrieden ſein. Nun aber gebe man acht, wie lange es
dauert
, ehe die Stube vollkommen durchwärmt iſt, und zu
dieſem
Zweck beobachte man das Thermometer am Fenſter.
Findet ſich’s, daß drei Stunden nach der höchſten Hitze am Ofen
die
Stube am heißeſten iſt, dann darf man auch mit dieſer ſich
zufrieden
geben.
Wirkt das Feuer auf den Ofen und dieſer
auf
die Stube viel ſchneller, ſo iſt das ein ſchlimmes Zeichen,
und
der Ofen muß anders behandelt werden.
Dauert aber
beides
länger, iſt erſt vier Stunden nach dem Einheizen
des
Ofens dieſer am heißeſten, und ſteigt dann wieder die
Heizung
der Stube in gleicher Zeit, ſo gehört dies ſchon zu
den
außerordentlich günſtigen Fällen, und iſt ein Zeugnis, daß
nicht
nur Ofen und Stube gut ſind, ſondern auch die Art des
Heizens
am richtigſten iſt.
XXXIII. Der zu ſchnell heizende Ofen.
Durch die zwei Thermometer, die wir zur Probe des Ofens
und
der Stube benutzt haben, erfahren wir freilich nur, wie
lange
es dauert, bis der Ofen am heißeſten, die Stube am
wärmſten
geworden;
und dies giebt an ſich noch keinen Maß-
ſtab
zur ſichern Beurteilung der angewandten Heizart.
Wollte
man
die Unterſuchung gründlich führen, ſo müßte man noch
zwei
Thermometer anwenden, das eine, ein Metallthermometer,
müßte
man in dem Ofen, das andere draußen auf der Straße
anbringen
.
Man würde dann ſehen, wann die Hitze im
Innern
des Ofens am größten, und wie hoch ſie dann war;
man würde ferner wahrnehmen, wie viel von dieſer Hitze dem
Ofen
mitgeteilt wurde und wie viel davon verloren ging, ohne
der
Stube zu gute zu kommen.
Würde man hierzu noch den
Wärmegrad
der Stube mit dem, der draußen auf der
411143 herrſcht, vergleichen, ſo würde man klarer den ganzen Verlauf
überſehen
, und köunte ſich genauere Rechenſchaft ablegen vom
Verbleib
der entwickelten Wärme, und von dem, was zu thun
iſt
, um mit der Wärme möglichſt ſparſam umzugehen.
Indeſſen iſt dies für die Praxis nicht notwendig; es reichen
vielmehr
die Erfahrungen, die jede Hausfrau macht, ſo weit
hin
, daß ſie wohl anzugeben weiß, wie lange es dauert, bis
der
Ofen nach dem Heizen am wärmſten iſt, und wie lange
Zeit
darauf es währt, bis die Stube am gemütlichſten wird;
und dieſe Erfahrungen genügen zur Not, um über das klar
zu
werden, was man zur möglichſt billigen Erwärmung des
Zimmers
zu thun hat.
Als Anleitung hierfür können wir folgende Regeln geben.
Ein Ofen, der eine Stunde, nachdem die Flamme inwendig
am
lebhafteſten war, ſchon ſeine höchſte Hitze auf der Ober-
fläche
erreicht hat und abzukühlen anfängt, verlangt eine andere
Behandlung
als einer, der erſt nach drei, vier Stunden dieſen
Grad
der Hitze entwickelt.
Der ſchnell erwärmte Ofen wird
die
Hitze eben ſo ſchnell abgeben.
Das Zimmer mag nun noch
ſo
gut gegen Abkühlung verwahrt ſein, es wird immer nur
eine
kurze Zeit die nötige Wärme haben.
Unter gewiſſen Um-
ſtänden
kann ſolch ein Ofen recht willkommen ſein, denn er
braucht
eben nur ſehr leicht geheizt zu werden.
Ein Arm voll
Holz
am Morgen und eine kleinere Portion Holz gegen Abend
thut
bei ſolchem Ofen oft ſeine ganz gute Wirkung.
Für Öfen
dieſer
Art iſt hartes Holz, deſſen Kohle ſich lange in Glut
erhält
, während die Klappe ſchon geſchloſſen iſt, ſehr anwendbar.
Wenn man für ſolchen Ofen gutes Eichenholz bekommen kann,
ſo
wird man hierbei am billigſten fortkommen.
Wäre Büchen-
holz
nicht ſo übermäßig teuer, ſo würde dieſes freilich allen
Holzarten
in ſolchem Falle vorzuziehen ſein, weil dieſe Holz-
ſorte
am längſten Kohlenglut im geſchloſſenen Ofen hält und
noch
nachheizt, wenn der Ofen bereits von der
412144 her die Hitze verliert. Sind nun die Verhältniſſe des Hauſes
der
Art, daß man den Tag hindurch wenig von der Wärme
des
Zimmers ſpürt und ſie etwa nur die Abendſtunden zu
genießen
imſtande iſt, ſo wird man bei ſolchem Ofen ſich zu-
frieden
ſtellen können.
Verlangt man jedoch eine dauernde Wärme, ſo wird man
an
ſolchem Ofen Vorrichtungen treffen müſſen, die ihn zur
Heizung
von Koks und Steinkohlen tauglich machen und die
zugleich
den hohen Hitzegrad, der in demſelben erzeugt wird,
nicht
ſo ſchnell an die Oberfläche desſelben leiten und ſomit
anch
die ſchnelle Abkühlung verhindern.
Dieſe Vorrichtungen, dieſe Herſtellung eines gewöhnlichen
Ofens
zur Koks- und Steinkohlenheizung ſind den Töpfern all-
bekannt
und werden von ihnen in wenigen Stunden und für einen
geringen
Lohn beſorgt.
Sie bauen im vorderen Feuerraum
des
Ofens ein kleines Häuschen aus Dachſteinen und Lehm,
das
ſie oben leicht überwölben und an deſſen Hinterwand ſie
eine
Öffnung laſſen, welche in den hinteren Feuerraum des
Ofens
führt.
Zündet man nun ein wenig kleines Holz in
dieſem
Häuschen an, ſo veranlaßt der enge Brennraum und
die
durch das Brennmaterial hindurchziehende Luft von der
Thürklappe
bis zur hinteren Öffnung einen ſehr hohen Hitze-
grad
, bei welchem eine Portion Koks oder Steinkohle leicht
anbrennt
.
Klopft man nun den Koks ſo klein, daß die Stücke
etwa
die Größe von Hühnereiern haben, ſo werden ſie ſchnell
genug
in Glut kommen, und da ſie ſparſam brennen, auch
lange
genug in Glut bleiben;
wirft man von Zeit zu Zeit etwas
Koks
nach, ſo durchheizt der Koks mit der Zeit nicht nur das
Häuschen
, ſondern auch die durch dasſelbe bedeutend verdickte
Ofenwand
, während der hintere und obere Teil des Ofens
durch
die heiße Luft erwärmt wird, welche durch die hintere
Öffnung
des Häuschens, durch die Gänge des Ofens und
endlich
zum Schornſtein hinauszieht.
413145
Die nunmehr bedeutend dicker gewordenen Ofenwände
halten
aber auch die Wärme beſſer, wenn das Feuer erloſchen
iſt
, und hierdurch iſt man imſtande, einen Ofen derart ſelbſt
unter
Umſtänden erträglich zu machen, wo man anhaltend im
Zimmer
eine gewiſſe Hitze haben will.
Hierbei hat man jedoch noch auf einen Umſtand zu achten,
durch
welchen man viel am Brennmaterial zu ſparen imſtande
iſt
.
Koks freilich iſt nicht reich an flüchtigen Gaſen und
entwickelt
dieſelben während des Brennens nur langſam.
Läßt
man
nun die Klappe, die zum Schornſtein führt, ganz offen,
ſo
ſtreift eine große Maſſe ſehr erhitzter Luft in denſelben
hinein
, ohne den Ofen zu erwärmen;
man thut daher gut,
wenn
man nur zur Zeit, wo man neuen Koks aufgeworfen
hat
, die Klappe vollſtändig offen läßt;
ſobald jedoch der Koks
ſo
recht in weißer Flamme glüht, kann man die Klappe halb
zudrehen
, wodurch der Zug vermindert und der Verluſt an
Wärme
geringer wird.
Es gehört freilich hierzu einige
Übung
und Aufmerkſamkeit, denn das zu frühe, völlige
Schließen
der Klappe kann lebensgefährlich werden;
will man
daher
ganz ſicher gehen, ſo zünde man, nachdem man die
Klappe
halb zugedreht hat, einen Fidibus an und halte ihn
vor
die Zugklappe der Ofenthür;
ſobald die Flamme des
Fidibus
ſtark in den Ofen hineinweht, ſo hat es keine Gefahr,
ſobald
dies nicht der Fall iſt, muß die Klappe ſofort wieder
geöffnet
werden.
Bei Anwendung der Steinkohle darf die Klappe gar nicht
geſchloſſen
werden.
Man erreicht jedoch hier denſelben Zweck,
nicht
zu viel Wärme zu verlieren, wenn man die Ofenthür
luftdicht
ſchließt, wie wir dies noch näher erörtern werden.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
414146
XXXIV. Der eiſerne Ofen.
Während man in Räumlichkeiten, in welchen kein ſchneller
Luftwechſel
ſtattfindet, mit dem Kachelofen am beſten fortkommt,
giebt
es außerordentlich viele Fälle, wo ein ſteter Luftwechſel
vorhanden
iſt, wie z.
B. in Werkſtätten, in öffentlichen Läden,
in
welchen es eben darauf ankommt, einen fortdauernden Erſatz
für
den ſteten Verluſt an Wärme zu haben, und hier iſt der
eiſerne
Ofen ganz und gar an ſeiner Stelle.
Außerdem giebt es einzelne Fälle, wo entweder große
Räumlichkeiten
ſchnell zu durchwärmen ſind, oder wo es ſelbſt
in
Wohnſtuben darauf ankommt, auf ſehr kurze Zeit eine
tüchtige
Hitze hervorzurufen;
auch hier nimmt man zum eiſernen
Ofen
ſeine Zuflucht, obwohl er im allgemeinen Nachteile mit
ſich
bringt, die ſeine Vorzüge weit überragen.
Der eiſerne Ofen heizt in ganz anderer Weiſe wie der
Kachelofen
.
Die Eiſenmaſſe des Ofens gerät durch den Brand der
Brennmaterialien
ſelber in Glut.
Die Luft, die ihn umgiebt,
wird
daher in hohem Grade heiß und ausgedehnt und bewegt
ſich
, leichter geworden, nach der Höhe.
Es ſtrömt ſomit neue
Luft
hinzu, die gleichfalls nach oben ſtrömt.
Die in den
höheren
Schichten des Zimmers ſich ſtets anſammelnde heiße
Luft
dringt endlich wieder nach unten, ſo daß eigentlich nur
der
Ofen die Veranlaſſung iſt, daß eine Zirkulation von er-
hitzter
Luft im Zimmer ſtattfindet, eine Zirkulation, die
unausgeſetzt
ſolange fortdauert, ſolange die Eiſenmaſſe des
Ofens
im Glühen verbleibt.
Wenn man die ſehr eindringliche, ſchnelle Wirkung eines
eiſernen
Ofens in recht kalten Tagen empfindet, ſo kann man
ſich
oft der Gefühle eines Wohlbehagens nicht entſchlagen,
weshalb
denn in der That der eiſerne Ofen für viele
415147 Verlockendes hat. Man braucht aber nur dieſes Wohlbehagen
längere
Zeit zu genießen, um bald eines beſſern belehrt zu
werden
.
Man mache es, wie man will, man wird immer
die
Mängel desſelben empfinden.
Heizt man den Ofen fort,
ſo
entſteht bald eine ſolche Hitze im Zimmer, daß man es kaum
aushalten
kann;
läßt man ihn ausgehen, ſo wird nach ſehr
kurzer
Zeit eine Abkühlung ſtattfinden, die man um ſo empfind-
licher
ſpürt, je behaglicher man ſich dem Genuß der Hitze über-
laſſen
hat.
Der eiſerne Ofen heizt eigentlich nur die Luft, weshalb
man
in der That dieſe Heizungsart die Luftheizung nennt.
Nun iſt aber die Luft ein Ding, das ſich einerſeits ganz eigen-
tümlich
zur Wärme verhält und dem andererſeits von der Wärme
derart
mitgeſpielt wird, daß ſie dieſelbe in ganz eigentümlicher
Weiſe
verbreitet.
Luft iſt, wie wir bereits öfter erwähnt haben, ein ſchlechter
Wärmeleiter
.
Luft nimmt die Wärme ſchwer auf und giebt
ſie
auch wieder ſehr ſchwer ab.
Wenn im Sommer auf der
Sonnenſeite
der Straße die Luft zu glühen ſcheint, braucht
man
nur wenige Schritte davon in den Schatten zu treten,
um
eine bedeutende Abkühlung zu empfinden.
Würde Luft die
Wärme
beſſer aufnehmen und von Teilchen zu Teilchen fort-
leiten
, ſo würde es im Schatten nicht kühler ſein, als im
Sonnenbrand
.
Unſer Körper, der 37 Grad Wärme braucht,
findet
ſich in Luft, welche nur 19 Grad warm iſt, ganz
behaglich
;
dagegen klappern uns die Zähne vor Froſt, wenn
man
in Waſſer von 19 Grad Wärme länger als eine
Viertelſtunde
verweilt.
Luft nimmt ſchwer die Wärme auf
und
giebt ſie auch ſchwer andern Körpern ab.
Zu dieſer
einen
Eigenſchaft der Luft kommt noch die zweite, daß ſie ſehr
leicht
beweglich und miſchbar iſt, und deshalb nicht am Orte
verbleibt
, wo ſie ſich befindet;
und endlich noch eine dritte,
nämlich
die, daß ſie von der Wärme, welche alle Dinge
416148 dehnt, ganz beſonders ſtark ausgedehnt wird, und ſomit wiederum
eine
Bewegung und Luftmiſchung erzeugt wird, deren Wirkung
ganz
eigentümlich iſt.
Man wird ſich ſchnell hiervon über-
zeugen
, wenn man ſich erinnert, daß alle Winde und Stürme
in
der Natur eben herrühren von dieſen Eigenſchaften der
Luft
und der Einwirkung der Sonnenwärme auf dieſelbe.
Wendet man dies nun auf die Luft im Zimmer an, ſo
wird
man leicht den großen Unterſchied zwiſchen der Wirkung
eines
Kachelofens und eines eiſernen Ofens einſehen können.
Der Kachelofen wirkt auch zunächſt auf die feine Luft-
ſchicht
, die ihn berührt;
allein da Kacheln ſchlechte Wärme-
leiter
ſind, alſo die Wärme ſchwer abgeben, und Luft ein noch
ſchlechterer
Leiter iſt und alſo die Wärme ſchwer aufnimmt,
ſo
iſt die Einwirkung ſehr gering.
Die Wärme, die der
Ofen
ausſtrahlt, begiebt ſich nun zwar auch mit der Luft etwas
zur
Höhe, aber nur in ſehr ſpärlichem Maße, ſie erreicht viel-
mehr
alle Gegenſtände des Zimmers und durchwärmt ſie langſam
und
nachhaltig.
Daher bleibt das Zimmer ſtets noch warm,
wenn
ſich auch der Ofen ſchon abkühlt.
Ganz anders iſt es mit dem eiſernen Ofen. Die Luft-
ſchicht
nimmt zwar auch die Wärme ſchwer auf;
allein die
Glut
des Eiſens und die Eigenſchaft, die Wärme mit Schnel-
ligkeit
abzugeben, überwindet die Trägheit der Luft in der
Aufnahme
der Wärme.
Ja, die Luft, die dicht am Ofen iſt,
gerät
ſelbſt in Glut, und da ſie leichter wird, ſteigt ſie wie im
Springbrunnen
nach oben, während von allen Seiten die
kältere
Luft heranſtrömt, um ebenſo nach oben befördert zu
werden
.
Hierbei erhält der Ofen ſtets neue Luftſchichten, denen
er
ſeine Hitze abgiebt.
Könnte man nun dieſe erhitzte Luft im
Zimmer
abſchließen, ſo ginge es noch an;
denn wie ſchlecht
auch
die Luft ihre Wärme andern Körpern abgiebt, ſie wird
es
endlich doch thun, und die Gegenſtände des Zimmers würden
demnach
doch durchwärmt werden;
allein die leichte
417149 lichkeit der Luft und ihre Ausdehnungskraft bringen es hervor,
daß
mit jedem Male, wo eine Thür geöffnet wird, eine große
Portion
heißer, geſpannter Luft oben hinausſtrömt und kalte
Luft
unten eindringt.
Dadurch erhalten die Gegenſtände des
Zimmers
ſo gut wie gar nichts von der heißen Luft, und geht
dann
der Ofen aus, ſo genügt ein mehrmaliges Betreten und
Verlaſſen
des Zimmers, um nach der Lufthitze eine recht
empfindliche
Kühle ſpürbar zu machen.
XXXV. Schädlichkeit des eiſernen Ofens.
So ſehr nun der eiſerne Ofen in den meiſten Fällen zu
widerraten
iſt, ſo oft treten beſondere Fälle ein, wo faſt kein
anderer
Ausweg bleibt als die Zuflucht zu ihm.
Als Regel kann man folgendes hierüber feſthalten: Der
eiſerne
Ofen bewirkt eine Heizung und Zirkulation der Luft;
er wird alſo dort am Orte ſein, wo gerade die kalte Luft am
leichteſten
Zutritt und man alle Unannehmlichkeiten der ſchnellen
Luftzirkulation
ohnehin zu tragen hat.
Öffentliche Läden,
große
Werkſtätten, wo durch die wiederholt geöffneten Thüren
der
Zuſtrom kalter Luft nicht gehindert wird, kann man nur
durch
eine fortdauernde Luftheizung, durch ein ſtetes Erzeugen
ſehr
erhitzter Luft und ein ununterbrochenes Miſchen derſelben
mit
der einſtrömenden, erträglich machen, und man wird auch
in
ſolchen Lokalen die Nachteile nicht ſpüren, die mit dieſer
Art
Heizung verbunden ſind.
Dieſe Nachteile ſind nicht ſowohl in wirtſchaftlicher, wie
hauptſächlich
in geſundheitlicher Rückſicht als ſehr weſentlich
hervorzuheben
;
denn es giebt nicht wenige Fälle, wo die
Beſeitigung
des eiſernen Ofens eine Reihe von Übeln oder
mindeſtens
die andauernde Urſache derſelben beſeitigt.
418150
Das Hauptübel dieſer Heizung beſteht darin, daß erhitzte
Luft
in hohem Grade verdünnt iſt.
Die Atmung wird be-
trächtlich
dadurch erſchwert, denn man erhält in jedem Atem-
zug
nicht die volle, nötige Portion Sauerſtoff, wie ſie die Lunge
und
das Blut erfordert.
Man iſt in ſolcher Luft genötigt,
etwas
ſchneller und tiefer zu atmen, als man es im gewöhn-
lichen
Zuſtand thut, und dadurch allein ſchon bürdet man den
Atmungswerkzeugen
eine Arbeit auf, die ſie nicht wenig ab-
ſpannen
.
Findet dies noch gar in Werkſtätten ſtatt, wo ohne-
hin
die Arbeit oder die Lage, welche der Körper dabei ein-
nimmt
, die Atmung beeinträchtigt, ſo iſt dies um ſo ſchäd-
licher
.
Ein Handwerker, der ſtarke Leibesbewegungen bei der
Arbeit
hat, wie z.
B. der Klempner beim Klopfen, der Tiſchler
beim
Hobeln u.
ſ. w. , muß ohnehin die Atmung ſehr erhöhen;
zwingt ihn nun gar die verdünnte Luft der Werkſtatt noch zu
regerem
Atmen, ſo iſt eine Überreizung der Muskeln, die zur
Atmung
dienen, die ganz natürliche Folge.
Der Schuhmacher,
der
Schneider hat zwar nicht ſo kräftige Bewegungen des
Leibes
auszuführen;
allein die gebückte Stellung, welche ihr
Körper
bei der Arbeit einnimmt, beengt die Atmung ohnehin;

die
verſchränkten Beine des Schneiders behindern noch dazu
den
freien Blutumlauf.
All’ das bewirkt, daß der ganze
Atmungs-Apparat
leidend wird, woher denn das meiſt bleiche
Anſehen
dieſer Handwerker rührt.
Kommt noch dazu, daß ſie
in
verdünnter Luft die Atmung vollziehen, ſo benehmen ſie ſich
dadurch
ſelber den vollen Atem und ſetzen ſich den böſen An-
fällen
aus, welche ſtets auf ſolche Beſchränkung des Atmens
folgen
.
Dazu kommt noch ein zweiter Umſtand, der mit den Übeln
des
erſten Hand in Hand geht, und deſſen wir ſchon vorüber-
gehend
hier erwähnt haben.
Heiße Luft iſt zugleich trocken.
Nun aber iſt es eine ausgemachte Thatſache, daß wir
419151 jedesmaligen Ausatmen ſtets in unſerem Körper die ausgeatmete
Luft
mit Waſſer ſättigen.
Dieſes Waſſer tritt aus den Blut-
kanälen
der Lunge in deren Luftwege und ſtrömt ſo reichlich
mit
dem Atem aus, daß wir bekanntlich eine kalte Scheibe
durch
unſeren Atem behauchen oder naß machen können.
Ent-
hält
nun die Stubenluft an ſich ihre naturgemäße Feuchtigkeit,
ſo
atmen wir ſie ſchon angefeuchtet ein und brauchen ihr in
jedem
Atemzuge nur wenig Waſſer aus dem Blute zu geben.
Das Austreten des Waſſers aus den Blutadern der Lunge in
die
Luftwege iſt dann mäßig.
Hat man es aber mit heißer,
trockner
Luft zu thun, ſo tritt das Waſſer ſehr energiſch durch
die
feinen Wände der Blutwege und greift dieſe derart an,
daß
nicht nur eine große Trockenheit der Lunge, ſondern auch
bei
fortdauerndem Zuſtand ein Zerreißen dieſer feinen Gewebe
der
Blutwege erfolgt, wodurch Blut in die Luftwege eintritt
und
ein Huſten und Blutſpeien erzeugt wird, das meiſt der
Vorläufer
größerer Übel iſt.
Dem geſellt ſich noch ein dritter Übelſtand bei, der bisher
wenig
beachtet worden iſt, und der eine gründliche Unterſuchung
verdient
.
Es hat wohl ſchon jeder die Bemerkung gemacht, daß
eiſerne
Öfen einen gewiſſen Geruch veranlaſſen, der ſehr charak-
teriſtiſch
iſt, obwohl es ſchwer hält, ihn genau zu bezeichnen.
Dieſer Geruch hat für die Dauer etwas Reizendes für die
Nerven
und verurſacht Kopfſchmerz ganz eigener Art.
Über
die
Quelle dieſes Geruchs iſt man wiſſenſchaftlich im Zweifel.

Teils
behauptet man, daß glühendes Gußeiſen einen Teil der
Kohle
verliert, die in ihm enthalten iſt, und dieſe als Kohlen-
dunſt
im Zimmer verbreitet.
Teils meint man, es rühre dieſer
Geruch
und deſſen Einwirkung von dem Waſſerblei her, mit
welchem
die eiſernen Öfen geputzt ſind.
In der That wird
ein
blankgeputzter, eiſerner Ofen an der Stelle, wo er geglüht
hat
, rötlich, ſo daß das Waſſerblei nicht mehr darauf iſt.
420152 Teils endlich ſchreibt man dieſen Geruch den organiſchen
Teilchen
zu, welche der Luft ſtets beigemiſcht ſind, und die an
dem
glühenden Eiſen verbrennen und durch die Luftzirkulation
durchs
Zimmer getrieben werden.
Durch genau angeſtellte Verſuche iſt es gegenwärtig feſt-
geſtellt
, daß durch die glühenden Wände des eiſernen Ofens
Verbrennungsgaſe
, ſowohl das giftige Kohlenoxyd wie andere
Gaſe
hindurchdringen.
Der ſo eigentümliche Geruch hat ſomit
höchſt
wahrſcheinlich in dieſen Gaſen ſeinen Grund.
Es iſt daher Grund genug vorhanden, von dem Gebrauch
der
eiſernen Öfen in abgeſchloſſenen Wohnräumen dringend
abzuraten
.
XXXVI. Anwendbarkeit und Unanwendbarkeit
des eiſernen Ofens.
Faſſen wir all’ das Geſagte zuſammen, ſo wird es ſich
für
jeden Denkenden leicht ergeben, unter welchen Umſtänden
der
eiſerne Ofen ratſam, unter welchen anwendbar, unter
welchen
unratſam, unter welchen entſchieden zu verwerfen iſt.
In Lokalen, wo ohnehin die Luft in ſtetem Wechſel iſt,
da
iſt der eiſerne Ofen oft in wirtſchaftlicher Beziehung rat-
ſam
;
man kann durch ihn Räumlichkeiten erträglich und an-
genehm
machen, die ohne ihn gar nicht für den Winter zu ver-
wenden
ſind.
In ſolchem Falle läßt ſich auch wegen der Ge-
ſundheit
kein Einwand erheben;
denn der Wechſel der Luft
vermindert
die Luftverdünnung, verhindert die Trockenheit der
Luft
und thut auch den ſchädlichen Einflüſſen des Geruchs,
deſſen
Urſache die hindurchdringenden Verbrennungsgaſe ſind,
jedenfalls
Abbruch.
Der eiſerne Ofen iſt alſo hier einerſeits
ratſam
und andererſeits anwendbar.
421153
In andern Fällen kann er ratſam ſein; aber er iſt wenig-
ſtens
nicht ohne beſondere Vorſicht anwendbar.
In großen Werkſtätten z. B. , wo die Thüren nicht allzu-
häufig
geöffnet werden, alſo das Einſtrömen friſcher Luft nicht
ſtattfindet
, da muß man zwar zum eiſernen Ofen ſeine Zuflucht
nehmen
, um das Lokal zu durchheizen;
allein die Beſitzer
ſolcher
Werkſtätten haben die dringende Pflicht, durch Vor-
richtungen
dafür zu ſorgen, daß ihre Sparſamkeit nicht auf
Koſten
der Geſundheit ihrer Arbeiter einen Vorteil ziehe.
Solche Lokale müſſen mindeſtens zweimal täglich gelüftet
werden
, wenn nicht eine fortwährende Ventilation, das heißt
ein
regelmäßiges Einſtrömen friſcher und Ausſtrömen heißer
Luft
direkt eingerichtet iſt, was freilich das allerbeſte in ſolchem
Falle
ſein dürfte.
Außerdem iſt das Verdampfen von Waſſer auf den eiſernen
Öfen
ein Hilfsmittel, um das Austrocknen der Luft zu ver-
meiden
.
Ein Gefäß mit Waſſer auf den Ofen geſtellt, iſt
überhaupt
in allen Fällen ratſam, wo Trockenheit der Luft
herrſcht
.
Dahingegen wiſſen wir kein Mittel ſicher anzugeben,
wodurch
man den der Geſundheit nachteiligen Geruch beſeitigt,
der
mit eiſernen Öfen verbunden iſt.
Wir wiſſen nur das
eine
, daß ein mäßiges Heizen, wobei der Ofen nicht in Glut
gerät
, das Übel im Allgemeinen milder auftreten läßt, da nicht
glühendes
Eiſen kein Gas durch ſich hindurch läßt.
Wenn trotz all den Übeln, die wir angeführt haben, der
eiſerne
Ofen in vielen Gegenden Deutſchlands Eingang ge-
funden
, ſo hat das ſeinen Grund in dem Brennmaterial,
welches
in jenen Gegenden vorherrſchend iſt.
Allenthalben,
wo
die den weiten Transport nicht lohnende Braunkohle
heimatlich
iſt, findet man entweder einen eiſernen Aufſatz über
einem
viereckigen Brennraum aus Kacheln, oder einen Kachel-
aufſatz
über einem eiſernen Brennraum.
Dieſe Einrichtung
geſtattet
den Gebrauch der billigen Kohle auch in den
422154 zimmern, weil die ſchnell erhitzten, eiſernen Teile des Ofens den
Luftzug
in demſelben befördern und die Gaſe der Kohle ab-
leiten
.
Zudem bietet der aus Kacheln beſtehende Teil des
Ofens
den Vorteil, daß dieſer, einmal erhitzt, nicht ſo leicht
abkühlt
und gut nachwirkt, wenn man das Feuer hat aus-
gehen
laſſen.
Die Billigkeit der Kohle in ſolchen Gegenden iſt alſo die
Urſache
, daß man auf die Unannehmlichkeiten des eiſernen
Ofens
nicht all zu ſehr achtet.
Wo man jedoch im eiſernen
Ofen
nur Koks verwendet wie das im allgemeinen in
Berlin
der Fall iſt da überwiegen die Nachteile und machen
den
Gebrauch des eiſernen Ofens nur in ganz beſonderen
Fällen
ratſam.
In großen Städten hat ſich indeſſen derſelbe dennoch ſtark
in
den Wohnhäuſern eingebürgert.
Es rührt dies daher, daß
es
hier gar zu häufig Fälle giebt, wo der Beſitzer eines
möblierten
Zimmers, und ſelbſt einer eigenen Wohnung, durch
den
Tag außer dem Hauſe beſchäftigt iſt.
Es bedarf alſo ein
ſolcher
nur eine flüchtige, ſchnell erregte und auch bald wieder
verwehende
Wärme für die wenigen Stunden, die er in ſeinen
vier
Pfählen zubringt, und dergleichen iſt in der That nur
durch
den eiſernen Ofen zu bewerkſtelligen.
Da es ſich hier
nicht
um einen dauernden Aufenthalt in den geheizten Räumen
handelt
, ſo treten in der That die Nachteile nicht ſo ſehr in
den
Vordergrund.
Zumeiſt ſind es auch nur junge Leute, die
ſich
dieſer Heizung bedienen, welche nicht allzu empfindlich in
Bezug
auf ihre Geſundheit ſind, und wenn in ſolchen Fällen
nicht
gar zu heftig geheizt wird, ſo ſchwinden auch die Nach-
teile
bedeutend.
Wenn wir trotzdem dieſe Heizung nicht
ratſam
finden, ſo iſt ſie doch in ſolchen Fällen mit nötiger
Vorſicht
mindeſtens anwendbar.
Dahingegen müſſen wir den dauernden Gebrauch des
eiſernen
Ofens in Familien-Zimmern ganz entſchieden
423155 werfen und ihn namentlich für junge Kinder und Perſonen in
höherem
Alter als ſchädlich bezeichnen.
XXXVII. Wie man den Torf praktiſcher macht.
Ein Hindernis für die Benutzung des Torfs in den Woh-
nungen
liegt zumeiſt ſchon in unſeren Witterungsverhältniſſen.
Im ganzen heizt man durchſchnittlich kaum durch fünf
Monate
des Jahres, in dieſen herrſcht bei gewöhnlichen Wintern
höchſtens
dreißig Tage über zehn Grad Kälte;
höhere Kältegrade
zählen
ſchon zu den Ausnahmen.
Hierzu kommt noch, daß oft die
kälteſten
Tage nicht aufeinander folgen, ſondern oft durch Thau-
wetter
unterbrochen ſind.
Nun aber iſt die Torfheizung eine
ſtarke
und nachhaltige, die in wirklich kalten Tagen ſehr vor-
teilhaft
iſt, die jedoch bei mildem Wetter nicht ſelten läſtig wird.
Da man nun durch den ganzen Winter weit mehr milde als
wirklich
ſtarke Froſttage hat, ſo entſchließen ſich viele Wirt-
ſchaften
nicht recht zur Torfheizung, die ihnen doch eigentlich
nur
in verhältnismäßig wenigen Tagen den vollen Nutzen ge-
währt
.
Ja, der Umſtand, daß man bei Torf doch ſtets etwas
Holz
zum Vorheizen nötig und alſo auch eine doppelte Heizung,
das
heißt eine doppelte Mühe und eine zwiefache Ausgabe hat,
dieſer
Umſtand bringt es zu Wege, daß Torf auch in der Zeit,
bevor
die Braunkohlenbriketts den weiten Eingang gefunden
hatten
, wie heute, dennoch unbeliebt war.
Dazu kommt noch, daß man mit Holz-Heizung ſchneller
fertig
iſt, daß der Torf weniger reinlich im Zimmer iſt und
im
Ofen zuviel Aſche hinterläßt.
Rechnet man hierzu noch
die
in der That ſchlimme Eigenſchaft vieler Torfſorten, bei
drückendem
, windigen Tauwetter einen durchdringenden,
424156 Geruch im Zimmer zu verbreiten, ſo erklärt ſich’s, daß man
den
Torf auch früher weit weniger in Gebrauch ſah, als er es
verdiente
.
Gleichwohl müſſen wir dem Torf das Wort reden.
Man ſpart in milden Wintertagen freilich nicht viel bei
ſeiner
Benutzung;
aber das eben iſt das Weſen der wahren
Sparſamkeit
, daß ſie in geringem Grade wahrgenommen wird.
Die Erſparnis mag durch den Tag gering ſein, durch den
ganzen
Winter iſt ſie nicht unbedeutend.
Der Umſtand, daß man ohnehin zum Torf noch Holz
braucht
, iſt freilich läſtig und oft ſchon in Bezug auf die Räum-
lichkeit
ſtörend.
Wenn man indeſſen guten Torf zeitig im
Hochſommer
ankauft und dafür ſorgt, daß er recht gut aus-
getrocknet
in den Keller oder Bodenraum gelangt, ſo iſt der
Holzverbrauch
zum Anbrennen ſehr mäßig und rechtfertigt
keineswegs
die Klage gegen den Torf.
Hat man ſich in den Beſitz
eines
guten, trockenen Torfes geſetzt, und ſorgt man dafür, daß
das
Holz zum Anfeuern gut kleingemacht iſt, wie ferner, daß
die
Torfſoden nicht ganz, ſondern in der Länge geſpalten und
möglichſt
hohl geſchichtet in den Ofen kommen, ſo wird das
Anbrennen
, wie überhaupt das Brennen des Torfes ſchnell
genug
vor ſich gehen und vielen Unannehmlichkeiten vorbeugen.
Was das Krümeln und Aſchen des Torfes betrifft, ſo
werden
wirtliche Hausfrauen hierin nicht um Rat verlegen
ſein
und leichtere Aushilfe finden, als wir ſie zu geben ver-
mögen
;
nur darauf wollen wir aufmerkſam machen, daß ſehr
guter
Torf und ſolchen können wir nur empfehlen eher
bröckelt
als krümelt, und weit weniger Aſche hinterläßt, als
ſchlechter
, daß alſo auch dieſe Übel ſich mäßigen, je umſichtiger
man
beim Einkauf des Materials iſt.
Der durchdringende Geruch des Torfes iſt freilich ein
Übelſtand
von Bedeutung und verdient eine ernſtliche Erwägung.
Es kann ſich nur darum handeln, ihn zu vermeiden und
425157 Vorrichtungen ſein Eindringen in die Zimmer zu verhindern.
Vermieden wird er, wenn der Zug im Ofen recht lebhaft
unterhalten
wird.
Ferner muß man ſich hüten, die Ofenthür
zu
öffnen, wenn brennender Torf dagegen liegt;
denn fällt ein
Stückchen
davon ins Zimmer, ſo hält es ſchwer, den Geruch
loszuwerden
.
Will man aber hierin am ſicherſten gehen,
ſo
thut man am beſten, ſich der Ofeneinrichtung mit luftdichter
Thür
zu bedienen, die überhaupt ſehr vieles für ſich hat, und
die
wir als eine weſentliche Verbeſſerung der praktiſchen
Heizung
nunmehr etwas näher betrachten müſſen.
XXXVIII. Die luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren.
Die Heizung mit luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren iſt im
vollen
Sinne des Wortes ein Thema der Praxis, denn es iſt
eine
unbeſtreitbare Thatſache, daß nur dieſe dieſen Fortſchritt
errungen
.
Der Stubenofen ſelbſt braucht zu dieſer Heizungsart nicht
beſonders
hergerichtet zu werden, wenn nur die Feuerungsſtelle
geräumig
und der Zug gut iſt.
Die ganze Einrichtung beſteht
darin
, daß man einen recht dichten Verſchluß an der Ofen-
thüre
anbringt, ſo daß, wenn die Thür geſchloſſen iſt, die Luft
des
Zimmers nicht mit der des Ofens in Verbindung ſteht.
Wie gewöhnlich befinden ſich an ſolchem Ofen zwei Thüren.
Die eine, die Feuerthür, meiſt aus Eiſen, hat die Zugklappe
oder
eine ſonſtige Öffnung, durch welche die Luft beim Brennen
des
Feuers in den Ofen einſtrömt;
die zweite iſt dick und be-
ſitzt
eine Vorrichtung, durch welche man ſie ſehr feſt an den
am
Ofen befeſtigten, metallenen Thürrahmen anſchrauben kann.

Hat
man dies gethan, ſo iſt freilich keineswegs ein völlig luft-
dichter
Verſchluß des Ofens entſtanden, aber es bewirkt
426158 eine Abſperrung des Ofens und eine andere Art der Ver-
brennung
des Brennmaterials als die früher übliche.
Man heizt nämlich einen ſolchen Ofen wie gewöhnlich mit
kleinem
, recht trockenen Holz und einer Portion Torf, oder noch
zweckmäßiger
mit Braunkohlenbriketts oder auch Steinkohle,
und
wartet ungefähr die Zeit ab, in der die Flamme die größte
Ausdehnung
gewonnen und das Aubrennen in allen Teilen
begonnen
hat.
Bis dahin unterhält man den Zug wie ge-
wöhnlich
dadurch, daß man die eiſerne Heizthür ſchließt und
die
daran befindliche Zugklappe offen läßt.
Sobald aber das
Brennen
ſo recht im Zuge iſt, ſchließt man nicht nur die Zug-
klappe
der Heizthür, ſondern auch die zweite Thür vermittelſt
der
angebrachten Vorrichtung, und zwar ſo feſt wie möglich,
und
überläßt das Brennmaterial und den Ofen nun ſich ſelber.
Man ſollte meinen, daß durch dieſe Unterbrechung des bis-
herigen
Luftzuges das Feuer ausgehen müſſe;
dies iſt aber
keineswegs
der Fall.
Das Feuer brennt fort, der Ofen nimmt
in
ſehr ſtarkem Grade an Wärme zu und heizt das Zimmer
beträchtlich
beſſer als bei offener Thür.
Es verſteht ſich von
ſelbſt
, daß man eine eventuell noch vorhandene Ofenklappe,
die
zum Schornſtein führt, nicht ſchließt.
Heutzutage wird ja
die
Ofenklappe überhaupt allermeiſt ganz weggelaſſen, da ſie
die
Veranlaſſung iſt, daß bei ihrem Verſchluß, während die
Feuerung
noch brennt, ſehr giftige Gaſe ins Zimmer gelangen.
Daß dieſe Heizungsart vorteilhaft iſt, das weiß jetzt jeder,
der
ſie praktiſch verſucht hat;
daß das Feuer fortbrennt trotz
der
luftdicht verſchloſſenen Thür, iſt eine Thatſache, von welcher
ſich
jedermann überzeugen kann, wenn er die Materialien, wie
man
ſie am andern Morgen vorfindet, mit dem Zuſtand vergleicht,
in
welchem ſie beim Schließen der Thür geweſen;
daß aber
die
Verbrennung von dem Augenblicke des Schließens der Thür
ab
eine andere iſt als die vorherige, iſt an ſich klar, und läßt
ſich
auch erkennen am Anblick der Überreſte des
427159 denn man findet oft, daß die Schichtung und Lagerung des
Brennmaterials
ſich gehalten hat, ſo daß man die Form der
Holzſtücke
in der zurückbleibenden Kohle, die Form der Torf-
ſoden
in der zurückbleibenden Aſche ſogar noch erkennt.
Iſt man erſt von der Richtigkeit dieſer Thatſachen durch
eigene
Erfahrung überzeugt worden, ſo muß man eingeſtehen,
daß
eine wiſſenſchaftliche Erklärung dieſer Erſcheinung äußerſt
wichtig
iſt.
So weit wir ſie zu geben imſtande ſind, ſoll es
im
nächſten Abſchnitt geſchehen;
hier wollen wir nur noch das
eine
hinzufügen, daß mit dieſer Heizungsart viele Unannehm-
lichkeiten
ſchwinden, die ſonſt den Torf, und wie wir bereits
angedeutet
, auch die Steinkohle unbeliebt machen.
Vor allem nimmt dieſe Heizung nicht viel Zeit in An-
ſpruch
;
man braucht ſich um das Abbrennen und das Schließen
der
Klappe nicht zu kümmern.
Iſt die Thür dicht, ſo hat
man
keinen üblen Torfgeruch und keinen gefährlichen Kohlen-
dunſt
zu befürchten, und endlich dürfen wir verſichern, daß
man
bei trockenem Torf nur wenig Holz zum Anfeuern braucht
ja
, wir glauben ſogar, daß, wenn man den richtigen Moment
zum
Schließen der Thür durch Erfahrung kennen gelernt hat,
der
Holzverbrauch noch geringer ſein kann, als beim Heizen
mit
offener Zugklappe.
XXXIX. Eine Erklärung.
Was wir naturwiſſenſchaftlich von der Heizung bei luft-
dicht
verſchloſſener Ofenthür zu ſagen haben, iſt Folgendes.
Es iſt eine bekannte und von uns auch in den vorhergehenden
Abſchnitten
öfter ausgeſprochene Thatſache, daß alle Ver-
brennungen
im gewöhnlichen Sinne nur geſchehen können
wenn
der Sauerſtoff der Luft zum Brennmaterial
428160 kann, wie endlich, daß jedes Feuer erliſcht, ſobald man den
Zutritt
der Luft verhindert.
Es giebt indeſſen bei der Verbrennung Momente, wo die
Umſtände
ſich weſentlich anders geſtalten als in gewöhnlichen
Fällen
.
Vor allem erinnern wir an die Selbſtentzündungen von
Pflanzenſtoffen
, die oft gerade dort entſtehen, wo der Zutritt
der
freien Luft verhindert wird.
Es iſt bekannt, daß friſch
eingeſtampftes
Heu in verſchloſſenen Schobern eine chemiſche
Selbſtentzündung
erzeugt.
Auch hier kann dieſe Entzündung
ſelbſtverſtändlich
nur bei Anweſenheit von Sauerſtoff ſtatt-
haben
;
allein der Sauerſtoff kommt hier nicht aus der Luft,
ſondern
er wird durch die chemiſche Zerſetzung frei, welche
inmitten
des feuchten Materials vor ſich geht.
Es giebt ferner noch andere Verbrennungsvorgänge,
welche
man abſichtlich bei abgeſchloſſenem oder mindeſtens ſehr
ſpärlichem
Luftzutritt vornimmt, wie z.
B. die Kohlen-
brennerei
, wo man gerade durch Verhinderung des freien Luft-
zutritts
eine Verbrennung der Gaſe des Holzes bewirkt, ohne
daß
der Kohlenſtoff desſelben verbrannt wird.
Endlich müſſen wir daran erinnern, daß zwar bei der
Heizung
mit luftdicht verſchloſſenen Ofenthüren der Luftzutritt
durch
die Zugklappe ſehr behindert iſt, daß aber die Klappe zum
Schornſtein
offen bleibt und ſomit der Zutritt der Luft nur
ſehr
vermindert, aber nicht ganz aufgehoben iſt.
In Anbetracht all’ dieſer Umſtände müſſen wir annehmen,
daß
wirklich im Moment, wo man die Ofenthür luftdicht ver-
ſchließt
, eine bedeutende Veränderung in dem Verbrennungs-
vorgang
eintritt.
Man muß nämlich nicht außer acht laſſen, daß in dem
Ofen
bei dem hohen Grad der Hitze eine bedeutende Luft-
verdünnung
ſtattfindet, und daß, ſelbſt wenn die verbrannten
Gaſe
aus dem Ofen in den Schornſtein ſtrömen,
429161 neben dieſen ein geringer Strom von Luft in den Ofen hinein-
ziehen
kann.
Es iſt leicht, durch Verſuche nachzuweiſen, daß bei unſeren
gewöhnlichen
Cylinderlampen etwas Ähnliches ſtattfindet, wenn
man
die Einſtrömung der Luft von unten verhindert.
Es ver-
liſcht
die Lampe dann keineswegs, ſondern ſie blakt langſam
fort
, und zwar geſpeiſt vom Sauerſtoff der Luft, der an der
einen
Seite des Cylinders abwärts zur Flamme ſinkt, während
auf
der andern Seite der Ruß in die Höhe ſteigt.
Dieſe Anſicht wird noch durch den Umſtand beſtätigt, daß
ſich
oft bei engen Ofenröhren Waſſer abſetzt und durch die
Röhren
an den Wänden entlang herabtröpfelt;
denn dieſes
Waſſer
entſteht von der Abkühlung des ausſtrömenden Waſſer-
dampfes
durch die einſtrömende, kalte Luft.
In engen Röhren
begegnen
Waſſerdampf vom Ofen und kalte Luft vom Schorn-
ſtein
herſtrömend einander, und bilden zuſammen den Nieder-
ſchlag
des Waſſers, das dann durch die Fugen der Röhren
ſickert
.
Iſt dieſe Erklärung begründet, ſo ergeben ſich die Vor-
teile
der Heizung mit luftdichten Ofenthüren von ſelber.
Vor allem entzieht der Ofen nicht dem Zimmer ſo viel
Luft
und nötigt dieſes nicht, friſche, kalte Luft durch Thür- und
Fenſterſpalten
einzulaſſen.
Ferner ſtrömt weniger heiße Luft
zum
Schornſtein hin, die jedenfalls eine bedeutende Portion
Wärme
dem Ofen entzieht.
Endlich findet eine langſamere
Verbrennung
ſtatt, die zwar nicht mit ſo hohem Hitzegrad vor
ſich
geht, wie eine ſchnelle, aber dafür weit angemeſſener iſt,
die
ſchlecht leitenden Kacheln des Ofens durch die andauernde
Erhitzung
zu erwärmen, was namentlich für die Benutzung der
Steinkohlen
von größter Wichtigkeit iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
430162
XL. Das Kochen im Ofen.
Bei Gelegenheit der praktiſchen Heizung haben wir noch
eine
Frage zu berühren, welche mancher nachdenkenden Haus-
frau
ſchon viel Kopfzerbrechen gemacht hat, nämlich die
Frage
:
ob es praktiſch vorteilhaft iſt, im Ofen zu kochen.
Zwar hat dieſe Frage für diejenigen kein Intereſſe, für
welche
das Kochen überhaupt oder doch das Kochen im Ofen
zu
unbequem iſt.
Es giebt aber nicht wenig kleine Wirt-
ſchaften
, wo der Wunſch des Sparens dieſe Frage ſehr ernſtlich
erwägen
läßt, und nicht wenige Frauen, die trotz mannigfacher
Erfahrungen
über dieſe Frage nicht ordentlich mit ſich ins
Reine
kommen können.
Was wir zur Erklärung und Belehrung hierüber zu ſagen
haben
, iſt Folgendes.
So eigentlich liegt beim Kochen im Ofen keine Erſparnis
im
Brennmaterial.
Es iſt nämlich eine Thatſache, die un-
zweifelhaft
feſt daſteht, daß dieſelbe Summe von Wärme, welche
das
Kochgeſchirr und die darin befindliche Speiſe erhitzt, dem
Ofen
entzogen wird.
Der Ofen verliert alſo dieſelbe Hitze,
welche
dem Eſſen zu gute kommt, und ſomit macht das Kochen
im
Ofen die Stube kälter.
Allein wenn man hieraus ſchließen
ſollte
, daß das Kochen im Ofen keine Erſparnis an Brenn-
material
zu Wege bringt, ſo würde man irren.
Ja, in gewiſſen
Fällen
iſt die Erſparnis recht bedeutend.
Die Erſparnis liegt darin, daß man durch das Kochen
im
Ofen imſtande iſt, wit außerordentlich wenigem Brenn-
material
ſeine Speiſe ins Kochen zu bringen, während auf dem
Herde
eine beträchtliche Summe des Brennmaterials nebenher
verloren
geht.
Bringt man einen Topf Waſſer im Ofen zum Kochen, ſo
entzieht
zwar jedes Pfund Waſſer dem Ofen eine
431163 Portion Wärme; allein jede Spur von Überſchuß an Wärme,
die
das Waſſer nicht aufnimmt, verbleibt dem Ofen.
Man
kocht
zwar auf Koſten des Ofens;
aber es geht hierbei nichts von
Wärme
verloren.
Kocht man aber denſelben Topf Waſſer
auf
dem Herd, ſo muß man ſoviel Feuer anmachen, daß ſo-
wohl
die Heizſtelle des Herdes, wie die Wände und die Luft
mit
erwärmt werden;
denn das Waſſer wird erſt ins Kochen
geraten
, wenn die ganze Umgebung des Feuers tüchtig erhitzt
iſt
.
Auf dem Herde alſo braucht man mehr Wärme, um das
Waſſer
ins Kochen zu bringen, als das Waſſer ſelber verſchluckt.
Auf dem Herd wird alſo Wärme verſchwendet; es geht eine
Portion
derſelben im Material des Feuerherdes und in der
Luft
verloren, die zu nichts nützt.
Dieſe auf dem Herd ver-
ſchwendete
Wärme iſt es, die im Ofen dieſem zu gute kommt,
und
deshalb iſt es wirklich ſparſam, im Ofen zu kochen.
Wer dies Verhältnis richtig auffaßt, der wird leicht ein-
ſehen
, wie es wohl ganz wahr iſt, daß durch das Kochen im
Ofen
der Ofen ſelber etwas Wärme einbüßt;
aber wenn man
bedenkt
, daß man ſonſt genötigt wäre, auf dem Herd zu kochen,
und
auf dieſem viel Wärme hätte verſchwenden müſſen, um
das
Waſſer im gewünſchten Maße zu erhitzen, ſo liegt im
Verluſt
, den der Ofen an Wärme erleidet, verglichen mit dem
Verluſt
an Wärme, die auf dem Herde hätte geopfert werden
müſſen
, dennoch eine Erſparnis.
Dies ſpüren auch wirtſchaftliche Hausfrauen ſehr wohl;
was ſie aber dennoch in dieſer Wahrnehmung ſtutzig macht, iſt
der
Umſtand, daß zuweilen, und namentlich gerade bei ſtrenger
Kälte
, der Ofen nicht recht warm werden will, ſolange man
in
demſelben kocht, und dadurch gerät man auf den Gedanken,
daß
das Kochen im Ofen dennoch ſeinen Haken haben mag.
Und auch dies hat ſeine Richtigkeit, wenigſtens unter ge-
wiſſen
Umſtänden;
es kommt nämlich darauf an, was man im
Ofen
kocht.
432164
Es giebt Speiſen, die fertig ſind, ſobald ſie nur einmal
aufgekocht
haben, z.
B. Gries-, Gier- oder Mehlſpeiſen, die
man
in Waſſer aufquellen läßt.
Es giebt aber auch Speiſen,
die
lange und fortdauernd im Kochen erhalten werden müſſen,
wenn
ſie genießbar werden ſollen, z.
B. Reis, Erbſen, Bohnen
oder
gar Fleiſch.
Nun iſt es mit dem Kochen von Waſſer ein
ganz
eigen Ding.
Bis zu dem Moment nämlich, wo Waſſer
zu
kochen anfängt, geht dies mit der Wärme ſehr haushälteriſch
um
und nimmt ſie nur in dem Maße auf, wie es dieſelbe
braucht
;
ſobald jedoch das Waſſer einmal kocht, wird es nicht
heißer
als achtzig Grad, und wenn man ganze Haufen darunter
anzünden
wollte.
Alle Wärme, die ihm jetzt noch zugeführt
wird
, verwendet es, um Dampf zu bilden.
Wenden wir nun dieſes einmal auf das Kochen im Ofen
an
, ſo iſt es klar, daß das heftige Feuer im Ofen bis zu dem
Moment
, wo das Waſſer kocht, ſehr gut verwendet iſt, denn
es
erhitzt das Waſſer ſchnell;
iſt das Waſſer aber im Kochen,
ſo
fängt es an Dampf zu entwickeln, und je heftiger das
Feuer
brennt, deſto ſtärker iſt die Dampfbildung.
Da aber
dieſe
Dampfbildung zu nichts nütze iſt und bedeutend viel
Wärme
verſchluckt, ſo iſt das Fortkochen im Ofen wirklich eine
Verſchwendung
, weil eine große Portion Hitze verwendet wird
zur
Bildung von Dampf, der durch den Schornſtein abzieht.
Muß man noch gar wegen des Kochens den Ofen länger offen
halten
, als man ſonſt thäte, ſo iſt der Verluſt an Wärme
ſehr
groß.
Aus all’ dem ergiebt ſich als Regel folgendes:
Speiſen, die gar ſind, ſobald ſie einmal aufgekocht haben,
ſind
vorteilhaft im Ofen zum Kochen zu bringen;
Speiſen
jedoch
, die lange kochen müſſen, ſind unter Umſtänden un-
vorteilhaft
, wenn man ſie im Ofen kocht, weil durch ſie eine
ganz
unnütze, ſtarke Dampfbildung im Ofen befördert wird, die
außerordentlich
viel Wärme dem Ofen entzieht.
Man thut
433165 ſolchen Speiſen am beſten, wenn man ſie nach dem erſten
Aufkochen
aus dem Ofen nimmt, und auf dem Herd bei mäßigem
Feuer
fertig kochen läßt.
XLI. Heizgas, ein Ausblick in die Zukunft.
Wenn man bedenkt, daß eigentlich in jedem Ofen nichts
anderes
heizt als das Gas des Brennmaterials, wenn man
erwägt
, daß jede Flamme nur aus der Gasart beſteht, welche
das
Brennmaterial in der Hitze von ſich giebt;
wenn man es
alſo
für ausgemacht betrachten darf, daß jeder gewöhnliche
Stubenofen
ſchon oft eine Gasanſtalt im Kleinen iſt, ſo ſollte
man
freilich meinen, daß die Einrichtung von großen Gas-
anſtalten
, wo man das brennbare Gas in außerordentlichem
Maße
für ganze Stadtteile erzeugt, ſehr leicht herzuſtellen ſein
müßte
, und daß es höchſt vorteilhaft wäre, wenn jeder zur
Heizung
ſeines Zimmers dieſes Heizgas eben ſo von der Anſtalt
beziehen
wollte, wie es mit dem Leuchtgas jetzt allgemein
geſchieht
, das für Heizzwecke ſich nicht hinreichend nach allen
Richtungen
hin bewährt hat.
Sollte es aber einmal dahin kommen, daß man auf billigem
Wege
z.
B. Waſſerſtoffgas gewinnen lernte und die Mög-
lichkeit
läßt ſich durchaus nicht in Abrede ſtellen ſo wird
dies
eine große Umwandlung hervorrufen.
Ein billiges Heizmaterial, zumal wenn man es in reiner
Gasform
erhält, iſt ſchon an ſich eine Erfindung, welche die
häuslichen
Verhältniſſe weſentlich umgeſtaltet.
Wenn man ſein
Brennmaterial
durch ein Rohr beziehen kann, das von einer
Gasanſtalt
hergeleitet wird, ſo werden Herd und Ofen eine
ganz
andere neue Einrichtung erhalten, die wir jetzt kaum an-
zugeben
wiſſen.
Da Waſſerſtoff ein Gas iſt, welches
434166 Brennen keinen Rauch oder Dunſt hinterläßt, und nur reines
Waſſer
bildet, das ſich bei der Hitze der Verbrennung in
Dampfform
verbreitet, ſo bedarf man keines Rauchfangs, keines
Schornſteins
und keines Zuges.
In geſchloſſenen Räumen wie
in
der Küche würde dann aber freilich die Luft leicht über-
mäßig
feucht werden und das gebildete Waſſer leicht alles be-
ſchlagen
und an den Wänden herabrieſeln.
Deshalb iſt eine
Vorrichtung
, die das Waſſer nach außen führt, unerläßlich.
Welche Umgeſtaltung durch ausſchließliche Heizgasbenutzung
allein
ſchon die Häuſer annehmen würden, läßt ſich leicht
denken
.
Jedenfalls werden große Räumlichkeiten des Hauſes
ohnehin
zu andern Zwecken als jetzt gebraucht und zur Be-
quemlichkeit
der Bewohner verwendet werden können.
Am
weſentlichſten
aber iſt die Zeiterſparnis, welche hierdurch er-
wachſen
würde.
Nicht das Feueranmachen, das Heizen allein,
ſondern
mehr noch die Zubereitung des Brennmaterials, das
Kaufen
, Kleinmachen, Packen und Zurichten desſelben würde
ſchwinden
und Zeit gewähren, die Menſchenkräfte zu anderen,
lohnenderen
Beſchäftigungen zu verwenden.
Welche Umwandlung aber würde dies in den gewerblichen
Verhältniſſen
hervorrufen?
Es läßt ſich dieſe Frage kaum
zum
kleinſten Teil überſehen.
Die Feuerung zu gewerblichen
Zwecken
hat ſchon durch die Ausbreitung des Steinkohlenabbaues
eine
ſolche Umwälzung erlitten, wie ſie kaum überſichtlich ge-
macht
werden kann.
Die Billigkeit des Eiſens und ſomit aller
andern
Metalle ſteht in genauem Zuſammenhang mit dem
Kohlenbau
, der mit der Eiſeninduſtrie aufs engſte verknüpft
werden
muß.
Eiſenbergwerke liegen unbebaut, und Schätze
bleiben
unter der Erde vergraben, wenn es in der Nähe dieſer
Orte
an Brennmaterialien fehlt, die zu ihrem Betriebe nötig
ſind
.
Wie im Großen, ſo iſt es faſt in jeder kleinen Werkſtatt
und
Fabrik, woſelbſt das Feuern eine Hauptbedingung der
Thätigkeit
iſt.
Nicht nur die Herde und Schmelzöfen
435167 Koſten und Raum in hohem Grade in Anſpruch, ſondern die
Hitze
muß durch Züge und Gebläſe geſteigert werden, die in
Anlagen
und Arbeit große Opfer erfordern.
Bedenkt man nun,
daß
Waſſerſtoffgas nicht nur eine beliebig zu regulierende, auf
kleine
Räume zu beſchränkende Flamme geben würde, ſondern
auch
eine von ſo hohem Hitzegrad, wie ſie kein ſonſtiger Brenn-
ſtoff
liefert, ſo läßt ſich der Aufſchwung, der hierdurch in die
Gewerbe
käme, mindeſtens ahnen, wenn auch nicht vorausſagen.
Aber auch im ganzen geſellſchaftlichen Zuſtand, in der
Landwirtſchaft
, wie im ſtädtiſchen Leben würde eine Erfindung
dieſer
Art eine Umwälzung hervorbringen, die weit über das
berechenbare
Maß hinausgeht.
Wenn ſich auch nicht annehmen
läßt
, daß die Folgen einer ſolchen Erfindung ſich ſchnell und
die
Verhältniſſe ſichtbar erſchütternd erzeugen werden was
freilich
mannigfache Übel mit ſich bringen würde ſo iſt doch
vorauszuſehen
, daß eine Entwertung des Brennholzes hieraus
hervorginge
und eine neue Verwendung desſelben die natürliche
Folge
wäre.
Bedenkt man, daß es jetzt gelungen iſt, aus Holz
ganz
in ähnlicher Weiſe, wie man ſeither Eſſig machte, Zucker
und
Spiritus zu fabrizieren und ſich’s zur Verwirklichung dieſer
Fabrikation
im großen nur um billige Feuerung handelt, ſo
iſt
es leicht möglich, daß wenige Jahre nach Erfindung eines
ſehr
billigen Waſſerſtoffgaſes die Holzfaſer als Material zur
Herſtellung
von Zucker und Alkohol verwendet wird, und der
bisherige
großartige Kartoffelbau, der nur zum Zweck der
Branntweinbrennereien
exiſtiert, weſentlich beſchränkt und das
Land
zum Bau notwendigerer menſchlicher Nahrungsmittel ver-
wendet
werden wird.
Und doch iſt dies nur eine Seite der Veränderungen, die
ſolch
eine Erfindung hervorrufen würde;
tauſendfältige andere
Einwirkungen
, die viel weſentlicher ſein mögen, laſſen ſich für
jetzt
noch garnicht berechnen und werden erſt auftreten, wenn
die
Verwirklichung ſich ſelber gezeigt haben wird.
Wie
436168 großen Erfindungen wird auch dieſe den Blick der Menſchen,
ihre
Unternehmungsgabe ſteigern, und ſomit werden auch die
größeren
geſellſchaftlichen Inſtitute, die Staaten, von dem
Fortſchritt
ergriffen und auf neue Stufen ihrer Entwickelung
geführt
werden.
Können wir nun mit Recht ſagen, daß mit dieſer Er-
findung
, deren Verwirklichung durchaus nicht zu den unwahr-
ſcheinlichen
Dingen gehört, eine neue Epoche für die Menſchheit
entſtehen
wird, ſo müſſen wir überhaupt nicht überſehen, daß
eine
ganze Reihe anderer großer Erfindungen zugleich mit dieſer
wird
verwirklicht werden können.
Billige Feuerung iſt etwas,
wodurch
faſt in jedem Zweig der Induſtrie, des Handwerks,
des
Maſchinenweſens und der Gewerke unendliche Verbeſſe-
rungen
möglich werden, und ſomit wird der direkte Fortſchritt
dieſer
Erfindung indirekt unberechenbare Fortſchritte anderer
Art
wecken und der Welt einen für jetzt noch ganz unbe-
rechenbaren
und unüberſehbaren Aufſchwung verleihen.
Darum eben konnten wir auch von dieſem Thema der
praktiſchen Heizung” nicht ſcheiden, ohne auf das, was mög-
licherweiſe
noch einmal in unſeren Zeiten praktiſch werden
wird
, den Blick zu richten, und deshalb ſchließen wir auch
dieſe
, den Ausſichten der Zukunft gewidmete Schlußbetrachtung
mit
dem Wahlſpruch:
Vorwärts!, dem ermunternden Zuruf,
dem
die Welt in Wahrheit auch Folge leiſtet, trotz des Strebens
nach
Verfinſterung und Verdumpfung des Geiſtes, welche geiſtige
Zwerge
unſererer Zeit zumuten.
437
Die Heisung im Großen.
Obwohl wir eigentlich nur diejenige Heizungsart im
Auge
haben, welche ein jeder unter den gewöhnlichen Um-
ſtänden
auszuführen imſtande iſt, ſo darf doch die Central-
heizung
das iſt die Beheizung einer größeren Anzahl von
Räumen
von einer Stelle aus nicht ganz mit Stillſchweigen
übergangen
werden.
Denn es iſt nicht abzuleugnen, daß in
der
Neuzeit die Centralheizungen ſehr in Aufnahme gekommen
ſind
.
Hauptſächlich haben zwei Arten der Centralheizung als
wirklich
brauchbar ſich Bahn gebrochen, nämlich die Warm-
waſſerheizung
und die Niederdruckdampfheizung.
Um nicht
zu
weit abzuſchweifen, ſollen deshalb im nachfolgenden nur
dieſe
beiden Heizſyſteme näher erläutert werden.
XLII. Die Warm-Waſſerheizung.
Der Plan, nach welchem die Warmwaſſerheizung z. B.
der Firma E. Angrick in Berlin durchgebildet wird, iſt in Fig. 9
1
11Die folgenden Angaben über Centralheizungen verdanken wir
dem
Heizingenieur Herrn E. Angrick in Berlin, der uns in liebenswürdigſter
Weiſe
mit ſeinem Rat zur Seite geſtanden hat.
438170 veranſchaulicht. Jeder der zu erwärmenden Räume erhält
einen
Ofen von entſprechender Heizkraft.
Im Keller ſteht der
gemeinſame
Keſſel mit der Feuerung.
Die Verbindung des
Keſſels
mit den einzelnen Öfen ſtellen je zwei Rohre, dieZu-
leitung”
und dieRückleitung” her.
Das ganze Heizſyſtem
24[Figure 24]Fig. 9.EXPANSIONS-GEFÄSS
LUFTLEITUNG
ZULEITUNG
RÜCKLEITUNG
REGULATOR
KESSEL
wird mit Waſſer gefüllt, wobei die Luft durch die hierfür vor-
geſehene
Luftleitung” ſelbſtthätig nach dem Expanſionsgefäß
aufſteigt
.
Das Expanſionsgefäß hat den Zweck, Raum für
die
mit der Erwärmung ſich ausdehnende Waſſermaſſe zu
ſchaffen
.
Das einmal aufgefüllte Waſſer bleibt ſtändig in der
Heizung
und man hat nur den, erſt nach längerem Betriebe
hervortretenden
, ſehr geringen Waſſerverluſt zu erſetzen.
439171
Bewegung in die Waſſerfüllung des Heizſyſtems wird un-
mittelbar
durch das Feuern des Keſſels gebracht, gemäß der
bekannten
Thatſache, daß erwärmtes, mithin leichteres Waſſer
ſtets
nach oben ſteigt, während kälteres Waſſer an ſeine Stelle
tritt
.
Dieſem Cirkulationsbeſtreben des Heizwaſſers entſprechend
wird
alſo in Fig.
9 die am höchſten Punkt des Keſſels ab-
zweigende
Zuleitung das erwärmte Waſſer nach den Heizkörpern
führen
, während die Rückleitung das im Heizkörper abgekühlte
Waſſer
wieder zum Keſſel herabſinken läßt.
Klar iſt auch, daß
man
den Kreislauf des Heizwaſſers durch jeden einzelnen Heiz-
körper
vermittelſt eines Abſperrventils behindern, die Wärme-
entwickelung
desſelben alſoregulieren” kann.
Jedoch erweiſt
ſich
dieſe von der Aufmerkſamkeit der verſchiedenen Rauminhaber
abhängige
Regulierung in der Praxis als nahezu entbehrlich,
da
in der richtigen Temperierung des Heizwaſſers ein noch be-
quemeres
Mittel vorliegt, mit welchem man vom Keſſel her
alle
Räume gleichzeitig regelrecht zu erwärmen vermag.
Soll
nun
aber dieſer der Waſſerheizung eigentümliche Vorzug der
centralen Regulierbarkeit” wirklich zur Geltung kommen, ſo
muß
man zurSelbſtregulierung” übergehen, das heißt, es
wird
die ſtändige Überwachung der Feuerung einem direkt
von
der Temperatur des Heizwaſſers abhängigen, verläßlichen
Automaten
zugewieſen.
Die normale Ausführung einer ſolchen Feuerungsanlage
wird
durch Fig.
10 veranſchaulicht. Der Keſſel iſt ein
ſtehender
Cylinder, von einem weiten und einem Bündel enger
Rohre
durchſetzt.
Das weite Rohr hat den Zweck, einen großen
Koksvorrat
aufzunehmen, durch die engen Rohre ſtreichen die
Feuergaſe
.
Auch der Keſſelmantel wird noch als Heizfläche
ausgenutzt
, bevor die Gaſe zum Schornſtein gelangen.
Das von oben her durch den Füllſchacht aufgegebene
Brennmaterial
kommt unterhalb des Keſſels in dem Maße zur
Entzündung
, als ihm durch den Roſt Verbrennungsluft
440172 wird. Da alle Verſchlüſſe des Keſſels luftdicht bearbeitet ſind,
ſo
kann die Verbrennungsluft nur durch das hierfür vorgeſehene
25[Figure 25]Fig. 10. Luftventil zum Feuer gelangen, wobei die eingeführte Luftmenge
ſich
nach der Eröffnung des Ventils richtet.
Dieſe
441173 bewirkt aber wieder der durch die Temperatur des Heizwaſſers
beeinflußte
Regulator es iſt alſo die Wärmeentwickelung des
Feuers
abhängig gemacht von dem gewünſchten, an der Regulator-
ſkala
eingeſtellten Wärmegrad des Heizwaſſers.
Der Angrick’ſche Feuerungsregulator wird deutlicher veran-
ſchaulicht
durch Fig.
11. Ein vom Heizwaſſer durchfloſſenes
Rohr
iſt durch Querhäupter mit zwei Eiſenſtangen verbunden,
deren
eine mittelſt Stahlſchneide den Hebel trägt, an welchem
der
Teller des Regulierventils hängt.
Während nun die Länge
der
beiden Eiſenſtäbe unverändert bleibt, wechſelt dieſelbe bei
dem
Rohr mit der Temperatur des hindurchfließenden Waſſers.
Steigt letztere, ſo entfernen ſich mit der Verlängerung des
Rohres
die beiden Querhäupter von einander, der Hebel ſinkt
und
die Luftzufuhr zum Feuer wird beſchränkt.
Umgekehrt
hebt
ſich der Ventilteller, ſobald die Waſſertemperatur ſich ver-
mindert
.
Der Regulator läßt demnach eine beſtimmte Waſſer-
temperatur
weder über- noch unterſchreiten, erhält dieſelbe alſo
normal”, ſolange nicht durch Verlängerung oder Verkürzung
der
Skala eine andere Temperatur eingeſtellt wird.
Dabei iſt
die
Empfindlichkeit, mit welcher der Regulator arbeitet, der-
artig
, daß im regelmäßigen Betriebe die eingeſtellte Temperatur
kaum
merkbaren Schwankungen unterworfen iſt.
Erklärlich wird dieſe überraſchende Wirkung, ſobald man
neben
den Abmeſſungen des Regulators auch die Hebelwirkung
des
oberen Querhauptes in Rechnung zieht.
Es kommen ſo
bei
2 mm, um welche ſich das 1,6 m lange Rohr infolge Er-
wärmung
von bis 100° Celſius ausdehnt, an der Schneide
bereits
4 mm zur Geltung, die dann noch, durch ein Hebel-
verhältnis
von 1 :
40 überſetzt, als Hub des Ventiltellers mit
160
mm zu Tage treten.
Dieſen Hub vermag nun der Regulator
noch
mit einem Gewicht von 10 kg anſtandslos zu vollführen,
er
verfügt alſo neben ſeiner großen Empfindlichkeit über eine
für
den vorliegenden Zweck mehr wie ausreichende Kraft
44217426[Figure 26]Fig. 11.Warmwasser Zuleitung
Thermometer
Skala
Luft
Zum
Feuer
Bückleitung
443175 es dürfte klar ſein, daß der Regulator zuverläſſiger als der
beſte
Wärter die Feuerung überwacht.
Hierbei fällt aber noch
der
Umſtand ins Gewicht, daß der Regulator auch während
der
Nacht ſeine Schuldigkeit thut, wodurch wiederum, abgeſehen
von
der Annehmlichkeit der Dauerheizung, die Wärmeentwicke-
lung
der einzelnen Heizkörper ſehr erheblich geſteigert bezw.
der Anlagepreis der geſamten Heizung weſentlich vermindert
wird
.
Wie leicht verſtändlich, hängt die Wärmeabgabe eines Heiz-
körpers
in erſter Linie von der Größe ſeiner Oberfläche ab,
bauliche
Verhältniſſe bedingen aber wieder das Zuſammen-
drängen
der ſich ergebenden, großen Flächen zu kompakten
Ofenkonſtruktionen
, dann ſind weiter die Ofenformen mit der
Umgebung
in Einklang zu bringen, den ſanitären Rückſichten
iſt
Rechnung zu tragen a.
Dieſen verſchiedenen Anforderungen
wäre
mit einer einzigen Heizkörperkonſtruktion nicht gut zu
genügen
, weshalb hier mehrere Formen zur Verwendung
kommen
.
Fig. 12 veranſchaulicht einen in Amerika ſehr gebräuch-
lichen
Heizkörper, der ſich unter dem NamenRadiator” auch
in
Deutſchland größere Verbreitung verſchafft hat.
Aus Guß-
eiſen
hergeſtellt und entſprechend der Eigenart der Gußtechnik,
beſteht
der Radiator aus einer Reihe gleichartiger Glieder, die
durch
gedeckte Verſchraubungen zu einem Ganzen feſt vereinigt
ſind
.
Alle Teile des Ofens werden innerlich vom warmen
Waſſer
direkt umſpült, was gleichbedeutend mit einem hohen
Heizeffekt
iſt.
Verſtärkt wird dieſer Effekt noch dadurch, daß
infolge
ſeiner zwar einfachen, aber nicht uneleganten Formen
der
Radiator meiſtens ohne Ummantelung verwandt werden
kann
und ſomit die Wärmeſtrahlung nicht behindert erſcheint.
Auch vom ſanitären Standpunkt iſt der vorliegende Heizkörper
einwandfrei
, da die faſt ausſchließlich vertikalen Flächen einmal
für
Staubablagerungen keine Gelegenheit bieten, dann
444176 auch einer gründlichen Reinigung keine Schwierigkeiten ent-
gegenſtellen
.
Der in Fig. 13 dargeſtellte Angrick’ſche Kachelofen vereinigt
die
Vorzüge des Radiators mit einer deutſchen Verhältniſſen
beſſer
entſprechenden Form.
Letzteres iſt dadurch erreicht, daß
27[Figure 27]Fig. 12. die für die Wärmeſtrahlung wertvollen Außenflächen als direkte
Heizflächen
arbeiten, daß dagegen die dem Auge unzugänglichen
Innenflächen
des Ofens noch mit einer großen Zahl vertikal
geſtellter
Rippen ausgerüſtet ſind, welche von dem das Innere
des
Ofens durchziehenden Luftſtrom ſehr energiſch gekühlt
werden
.
Das Material des Kachelofens iſt, wie beim
445177 Gußeiſen, die einzelnen Glieder ſind jedoch hier nicht neben-
einander
gereiht, ſondern werden in einer mehr natürlichen
Form
übereinander gebaut, wobei durch Sockel und Bekrönung
auch
der gewohnten Gliederung eines Ofens Rechnung ge-
tragen
iſt.
28[Figure 28]Fig. 13.
Sind die Anforderungen an die äußere Erſcheinung des
Heizkörpers
derartig weitgehend, daß ſie durch die vorgeführten
Ofenformen
nicht befriedigt werden, ſo behandelt man am beſten
die
Ausſtattungsfrage geſondert, indem der allein für Heiz-
zwecke
praktiſch konſtruierte Ofen hinter einer dekorativen Ver-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
446178
kleidung untergebracht wird. Ein ſolcher Heizkörper iſt der
durch
Fig.
14 veranſchaulichteElementofen”. Hier baut ſich
der
Heizkörper aus S-förmigen, durch Schrauben und Dich-
tungen
zuſammengehaltenen Rohrelementen auf.
Durch eine
Reihe
von aufgegoſſenen, runden Scheiben (Rippen) wird die
Oberfläche
der Rohrelemente derartig vergrößert, daß der
Elementofen
die kompakteſte und zugleich billigſte aller Heiz-
29[Figure 29]Fig. 14.Zuleitung
Rückleitung
flächen darſtellt.
Allerdings iſt dieſe Heizfläche weil ſehr
zuſammengedrängt
und faſt ausſchließlich indirekt erwärmt
nicht
ſo wirkſam, wie die der vorgenannten Heizkörper, immer-
hin
iſt der Elementofen vielfach durch eine zweckmäßigere Form
kaum
zu erſetzen.
Wie ſchon oben angedeutet, ſpielt das Heizkörper-Regulier-
ventil
bei der Warm-Waſſerheizung eine mehr untergeordnete
Rolle
inſofern, als ſchon durch den Regulator am Keſſel die
Normaltemperatur
für alle Räume feſtgelegt wird,
447179 muß die Ventilkonſtruktion doch
30[Figure 30]Fig. 50.Handrad mil abgehobener SkalaA B C einer Reihe von beſonderen An-
forderungen
genügen.
Das Angrick’ſche Regulier-
ventil
für Waſſerheizungen iſt
durch
Fig.
15 dargeſtellt.
Die
Grundform iſt das be-
währte
Durchgangsventil, wie
es
im Maſchinenbau allgemein
üblich
iſt.
Abweichend hiervon
iſt
zunächſt die Gewindeſteigung
der
Ventilſpindel derartig ſteil,
daß
eine einmalige Umdrehung
des
Handrades das Ventil voll-
ſtändig
öffnet.
Das Maß der
Eröffnung
des Ventilquerſchnitts
wird
durch Skala und Zeiger
dem
Auge vhne weiteres über-
mittelt
.
Eine weitere Eigen-
tümlichkeit
der Ventilkonſtruktion
iſt
die Leichtigkeit, mit welcher
das
Ventil für einen beliebig
größten
oder kleinſten Eröff-
nungsquerſchuitt
adjuſtiert wer-
den
kann.
Wie aus Fig. 15 erſichtlich,
beſteht
das Ventilhandrad aus
drei
Teilen, von denen die
Scheibe
mittelſt Vierkant auf
der
Ventilſpindel ſitzt.
In die
Randverzahnung
der Scheibe A
legt
ſich die entſprechende Ver-
zahnung
des Hartgummiringes
448180 während durch Anziehen der beiden Schrauben in der Scheibe C
der
Zahneingriff unverrückbar feſtgehalten wird.
Da nun der
Anſatz
des Ringes B je nach der Einſtellung des Zahneingriffs
früher oder ſpäter an die Naſe des Ventilkörpers anſtößt,
ſo
iſt es klar, daß die Genauigkeit der Ventileinſtellung von
der
beliebig zu geſtaltenden Feinheit der Zahnteilung unmittelbar
abhängig
gemacht iſt.
Dieſe Adjuſtierbarkeit des Ventils kommt bei der Warm-
waſſerheizung
hauptſächlich inſofern zur Geltung, als durch
Feſtlegen
einer beſtimmten kleinſten Ventileröffnung die Froſt-
gefahr
vermieden wird, welche ſonſt bei gänzlich geſchloſſenem
Ventil
unter Umſtänden eintritt.
Eine Eisbildung im Innern
der
Heizkörper und Rohre zu verhindern, iſt aber eine der
Hauptforderungen
bei jeder Waſſerheizung, da das Eis be-
kanntlich
einen ſehr viel größeren Rauminhalt als das Waſſer
beanſprucht
und bei ſeinem Ausdehnungsbeſtreben auch die
ſtärkſten
Eiſenrohre zerſprengt.
Als Material für die Rohrleitungen wird bei der Warm-
waſſerheizung
durchweg ſtarkwandiges, ſchmiedeeiſernes Rohr
verwandt
.
Die Rohrverbindungen ſind, wenn irgend an-
gängig
, Verſchraubungen, wodurch ein außerordentlich ſolides
Rohrſyſtem
entſteht, das im Laufe der Jahre ſogar noch halt-
barer
wird.
Da hierzu auch noch die Eigentümlichkeit kommt,
daß
die ſtändige Waſſerfüllung des Syſtems die Rohrwandungen
vor
innerem Roſten ſchützt, ein äußeres Roſten aber leicht durch
Anſtrich
a.
zu verhindern iſt, ſo muß der Warmwaſſerheizung
eine
nahezu unbegrenzte Haltbarkeit zugeſprochen werden.
449181
XLIII. Die Niederdruck-Dampfheizung.
Der Plan einer Angrick’ſchen Niederdruckdampfheizung iſt
durch
Fig.
16 veranſchaulicht. Wie erſichtlich, weicht derſelbe faſt
garnicht
von dem Schema der Warmwaſſerheizung, Fig.
9, ab.
31[Figure 31]Fig. 16.STANDROHR
DAMPFLEITUNG
CONDENSLEITUNG
KESSEL
Auch hier ſteht im Keller als Wärmeerzeuger ein Keſſel, der
durch
zwei Rohrleitungen mit den einzelnen Heizkörpern in
Verbindung
gebracht iſt.
Als Heizmittel fließt jedoch hier
nicht
Waſſer durch die Öfen, ſondern der im Keſſel aus dem
kochenden
Waſſer entſtandene Dampf.
Am oberen Ende
450182 Heizkörpers durch die Dampfleitung eintretend, drängt der
Dampf
die das Ofeninnere ausfüllende, ſchwerere Luft durch
das
untere Verbindungsrohr, die Kondensleitung, abwärts
nach
dem frei ausmündenden Standrohr, zugleich ſich an den
Wänden
des Heizkörpers als Waſſer niederſchlagend.
Dieſes
Kondenswaſſer
fließt, ſeiner Schwere folgend, ebenfalls durch
die
Kondensleitung nach dem Standrohr, um durch deſſen
unteres
, in dem Waſſerraum des Keſſels mündendes Ende
wieder
zum Keſſel zurückzukehren und als Dampf den Kreis-
lauf
von neuem zu beginnen.
Damit nicht etwa auch der
Dampf
dem Wege der Luft folgend durch die Kondens-
leitung
und das Standrohr ins Freie auszutreten vermag,
ſind
ſämtliche Heizkörperregulierventile ſo eingeſtellt, daß durch
die
größtmögliche Ventilöffnung immer nur ſoviel Dampf nach
dem
zugehörigen Ofen gelangt, als dieſer bei voller Erwärmung
niederſchlagen
kann.
Die Vorausſetzung, daß durch einen beſtimmten Ventil-
querſchnitt
immer auch eine beſtimmte Dampfmenge hindurch-
fließt
, trifft natürlich nur dann zu, wenn die Dampfſpannung
im
Keſſel eine ſtets genau gleichbleibende iſt.
Das ſetzt aber
weiter
voraus, daß die Feuerung des Keſſels unter den Einfluß
eines
für die Schwankungen des Dampfes äußerſt empfindlichen
Regulator
geſtellt wird.
Fig. 17 veranſchaulicht den Angrick’ſchen
Regulator
für Dampfheizungen, welcher mit Druckdifferenzen
von
etwa {1/200} Atmoſphäre (1 Atm.
= 10 m Waſſerſäulen-
druck
!) arbeitet.
Wie bei dem Regulator der Warmwaſſerheizung iſt auch
hier
die Luftzufuhr zum Feuer abhängig von der Eröffnung des
Feuerventils
, deſſen Teller J vermittelſt eines Geſtänges an dem
einen
Ende eines doppelarmigen Hebels aufgehängt iſt, während
das
andere Ende von einem hohlen, bleibeſchwerten Kupfer-
ſchwimmer
herabgezogen wird.
Denkt man ſich nun das Gehäuſe
des
Schwimmers einerſeits durch das Rohr G mit dem
45118332[Figure 32]Fig. 17.zu den Zügen zum FeuerC W F S G H J
452184 raum des Keſſels, anderſeits durch das Rohr C mit der freien
Luft
in Verbindung gebracht, ſo wird bei einem beſtimmten
Dampfdruck
durch das aufſteigende Keſſelwaſſer der Schwimmer
gehoben
, das Feuerventil geſchloſſen werden.
Es kann alſo
33[Figure 33]Fig. 18.QuecksilberF E A B C D der Dampfdruck ſeine nor-
male
Grenze nur um wenige
Centimeter
Waſſerſäulen-
druck
überſchreiten, beſon-
ders
da ein Übermaß von
Druck
nicht nur den Teller J
ſchließt
, dem Feuer alſo
die
Verbrennungslufl ent-
zieht
, ſondern weiter auch
noch
die Klappe H öffnet,
wodurch
die Einwirkung
des
Schornſteins auf die
Feuerung
gänzlich aufge-
hoben
und der Keſſel ſogar
noch
gekühlt wird.
Obwohl die Einfachheit
des
vorſtehenden Feuer-
regulators
eine Betriebs-
ſtörung
nahezu ausſchließt,
ſo
wird der größeren Sicher-
heit
wegen jede Dampf-
heizung
noch mit dem ſog.
Lärmapparat ausgerüſtet.
Es
iſt dies eine Dampf-
pfeife
, die bei einem beſtimmten Übermaß von Dampfdruck unter
allen
Umſtänden zu ertönen beginnt.
Bei dem durch Fig. 18
näher
veranſchaulichten Angrick’ſchen Lärmapparat tritt durch
den
Stutzen A der Dampf ein, drückt die Queckſilberfüllung
in
B herunter, in C hinauf.
Steigt bei beſtimmtem
453185 (gewöhnlich mit {1/4} Atm. feſtgeſetzt!) der Queckſilberſpiegel in C
bis
zu dem ſeitlichen Auslaß, ſo ſchleudert der Dampf den
geſamten
Queckſilberinhalt nach dem ſackartigen Rohr D hinüber.
Der Weg zur Dampfpfeife E wird alſo frei und letztere ertönt
ſolange
, als Dampfdruck im Keſſel vorhanden iſt.
Sollte jedoch auch dieſes Signal unbeachtet bleiben, ſo
iſt
an einen gefahrdrohenden Dampfdruck, der etwa eine
Exploſion
im Gefolge haben könnte, immer noch nicht zu
denken
, da als letztes und unbedingt zuverläſſiges Sicherungs-
mittel
das ſchon in Fig.
17 bezeichnete Standrohr von 8 cm
Durchmeſſer
und höchſtens 5 m Höhe (geſetzliche Vorſchrift für
konzeſſionsfreie
Dampfkeſſel!) den Dampf bei {1/2} Atm.
Überdruck
ins
Freie entläßt.
So ſehr die Keſſelausrüſtung bei der Niederdruck-Dampf-
heizung
von der der Warmwaſſerheizung abweicht, ſo gering
ſind
die Verſchiedenheiten der beiden Syſteme bezüglich ihrer
übrigen
Beſtandteile.
Sämtliche Heizkörperarten, wie ſie bei
der
Waſſerheizung erläutert wurden, ſind auch bei der Dampf-
heizung
ohne weiteres zuläſſig.
Desgleichen iſt die Konſtruktion
des
Regulierventils für die Heizkörper die ſchon früher in
Fig
.
15 dargeſtellte. Allerdings kommt hier die Adjuſtier-
vorrichtung
des Ventils nicht für Einſtellung eines beſtimmten
kleinſten
, ſondern eines durch die Größe und Lage des
Heizkörpers
beſtimmten größten Querſchnitts zur Geltung,
der
wie weiter oben erläutert gerade groß genug iſt, um
die
volle Erwärmung des zugehörigen Ofens zu erreichen.
Daß dann jede andere, kleinere Ventileinſtellung auch eine
entſprechende
geringere Erwärmung des Heizkörpers nach ſich
zieht
, daß alſo die Regulierbarkeit eines Dampfofens eine
äußerſt
feine und zuverläſſige iſt, bedarf ſomit wohl kaum
noch
einer Erklärung.
Wie bei der Waſſerheizung werden auch für die Rohr-
leitungen
der Dampfheizung ausſchließlich ſtarkwandige, ſchmiede-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XIV.
454186
eiſerne Rohre verwandt. Allerdings iſt der innere Roſtſchutz
in
dem Maß, wie bei der Waſſerheizung, hier nicht vor-
handen
, da von dem Sauerſtoff nicht abgebenden Dampf
nur
ein Teil der Rohre, die Dampfleitung, geſchützt wird.
Um eine gleichmäßige Haltbarkeit des Rohrſyſtems zu erreichen,
giebt
man deshalb der Kondensleitung vielfach einen ſchützenden
Zinküberzug
.
* * *
Fragt man nun nach dieſem Überblick über die Einrichtung
von
Centralheizungen nach deren Verwendungsgebiet, ſo darf
man
dasſelbe als nahezu unbeſchränkt bezeichnen, wenn es ſich
nicht
um Fälle handelt, in denen die Zahl der zu heizenden
Räume
oder aber die Anſprüche an die Heizung ſelbſt gar
zu
geringe ſind.
Daß bei öffentlichen Gebäuden die Centralheizung alle
anderen
Heizungsarten faſt verdrängt hat, iſt eine bekannte
Thatſache
.
Auch beim Neubau von Fabriken, Geſchäftshäuſern,
Hotels
a.
iſt man über die Wahl der Centralheizung als
paſſendſte
Heizungsart heute kaum mehr im Zweifel, wenig
beachtet
aber dürfte die Erſcheinung ſein, daß die Central-
heizung
auch in Wohnhäuſern ſich mehr und mehr Bahn bricht.
Begünſtigt wird dieſe Strömung durch die geſteigerten
Anforderungen
an die modernen Wohnungseinrichtungen, ſowie
durch
die wachſende Schwierigkeit der Dienſtbotenfrage.
Die
Haupturſache
der wachſenden Beliebtheit der Centralheizung
liegt
aber wohl in dem Umſtand, daß dieſelbe jeder anderen
Heizungsart
entſchieden überlegen iſt, wenn man von den An-
lagekoſten
abſieht, obwohl auch in dieſem Punkt die Koſten
guter
Kachelöfen kaum überſchritten werden.
Dafür aber
455187 man bei der Centralheizung ohne weitere Mühe als das
einmalige
, tägliche Abſchlacken und Aufſchütten von Brenn-
material
eine Heizung, die Tag und Nacht zur Verfügung
ſteht
, die eine gleichmäßige, behagliche, auch bei ſtrengſter Kälte
ausreichende
Wärme entwickelt, die ſich nach Belieben und in
kürzeſter
Zeit regulieren läßt.
Beläſtigungen durch Rauch und
Ruß
, Feuers- und Erſtickungsgefahr fallen fort, der Transport
von
Brennmaterial und Aſche berührt die Wohnung nicht
mehr
, es vermindern ſich die Koſten für Bedienung, Unter-
haltung
und beſonders auch für den Betrieb der Heizanlage.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
456
[Empty page]
457
Naturwiſſenſchaftliche Volkshücher
von

A. Bernſtein.
Iünfte, reich iſſuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. @otonié und R. Hennig.
fünfzehnter Teil.
34[Figure 34]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
458
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
459
Inhaltsoerzeichnis.
11
## Seite
## Etwas ans der Volkswirtſchaft.
I
. # Verlorene Nähnädeln # 1
II
. # Verſchwendung von Streichhölzern # 4
III
. # Der Wert von Verſchwendungen # 7
IV
. # Die Verallgemeinerung der Bedürfniſſe # 11
V
. # Etwas vom Schreibe-, Kunſt- und Leſebedürfuis # 15
## Naturkraft und Geiſteswalten.
I
. # Die Legung des erſten transatlantiſchen Kabels # 24
II
. # Ein alltägliches Geſpräch # 42
III
. # Die Entzifferung der aſſyriſch-babyloniſchen Keilſchrift # 63
IV
. # Einige Geheimniſſe der Zahlen # 108
## Vom Spiritismus.
I
. Einleitende Betrachtungen # 118
II
. # Das Tiſchrücken # 121
III
. # Das Tiſchklopfen # 128
IV
. # Die Klopſgeiſter und der eigentliche Spiritismus # 133
V
. # Die Schreibmedien # 139
VI
. # Sonſtige Geiſterkundgebungen # 141
VII
. # Von den ſpiritiſtiſchen Medien # 145
VIII
. # Die Geiſtererſcheinungen und Geiſterphotographieen # 149
IX
. # Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen # 153
X
. # Die Urſachen der ſpiritiſtiſchen Bewegung # 157
460
[Empty page]
461
Etwas aus der Volkswirtſchaft.
I. Verlorene Nähuadeln.
Wie viel Nähnadeln werden wohl tagtäglich fabriziert?
Die Zahl derſelben überſteigt ganz unzweifelhaft viele
Millionen
!
Wo bleiben alle die Nadeln?
Abgebraucht wird höchſt ſelten eine: Die Nadeln gehen
mitten
in ihrer vollen Dienſtfähigkeit verloren!
Wie viel Nadeln mögen aber wohl tagtäglich verloren
gehen
?
Mangel an Nadeln iſt gewiß noch niemand gewahr
geworden
, und für den Überfluß würden ſich auch die Nadel-
macher
hüten, ſie zu fabrizieren.
Hieraus aber folgt mit
ſtrengſter
Konſequenz, daß ſo viel tagtäglich verloren gehen
müſſen
, wie tagtäglich neue gemacht werden!
Wenn aber wirklich tagtäglich viele Millionen Nadeln
verloren
gehen, warum findet man ſie nicht, wohin man nur
greift
?
Sollte man nicht meinen, wenn dies jahraus, jahr-
ein
ſo fortgcht, ſo müßte man endlich bis über die Knöchel in
lauter
verlorenen Nadeln herumwaten?
Die richtige Antwort auf dieſe Frage iſt folgende: Es
gehen
tagtäglich ſo viele Millionen andere Dinge in der Welt
verloren
, daß all die verlorenen Nadeln ſich wiederum verlieren
in
den Millionen verlorener Dinge!
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
4622
Alle Menſchen in der Welt ſchaffen oder machen oder
fabrizieren
oder fördern tagtäglich, jahraus, jahrein immer
fort
lauter neue Dinge.
Keiner von ihnen iſt ſo thöricht, etwas
zu
produzieren, das Niemand braucht.
Die neuen Dinge
werden
alſo nur deshalb täglich produziert, weil täglich eben
ſo
viel alte Dinge verbraucht werden.
Die verbrauchten Dinge
aber
gehen, ſo zu ſagen, verloren.
Was Wunder, wenn es
ſchwer
hält, unter ſolcher Maſſe der verlorenen Dinge eine
verlorene
Nadel herauszufinden!
Zwar gehen die verſchiedenen Dinge unter ſehr verſchiedener
Firma
verloren.
Taſſen und Töpfe und Schüſſeln, Teller,
Flaſchen
und Gläſergehen entzwei”, natürlich ohne Ver-
ſchulden
aller Köchinnen.
In Fenſterſcheibenkommt ein
Sprung”
;
Eimerfallen auseinander”; Meſſer und Gabel
kommen weg”;
in das Kleidfällt ein Loch hinein”; in
Schürzen
iſt ein Riß gekommen”;
Knöpfefallen ab”; Bänder
verſchwinden”;
Federmeſſerſind nicht da”; kurz: der
Titel
fürsVerloren-Gehen” klingt ſehr verſchieden, beſcheiden
und
verſteckt, je nach dem Charakter der verlorenen Dinge.
Thatſächlich jedoch hat Mephiſtopheles ſchon ganz recht, wenn
er
meint, daß alles, was entſteht, wert iſt, daß es untergeht;

aber
herzlich ſchlecht” iſt darum die Welt doch nicht;
im
Gegenteil
, es erginge uns herzlich ſchlecht, wenn alle gemachten
Dinge
gar nicht untergehen wollten;
denn dieſer unausgeſetzte
Untergang
der alten Dinge iſt die Grundquelle der Arbeit
aller
neuen Dinge, und all die Arbeit der neuen Dinge iſt die
Grundſäule
unſeres Kulturlebens.
Gar vielen möchte es vielleicht ſcheinen, daß in dem
Verloren
Gehen der Dinge eigentlich eine ungeheuere Ver-
ſchwendung
von Zeit und Arbeitskraft liege.
Wäre es nicht
ſchon
ein großer Gewinn für die Menſchheit, wenn z.
B. die
Nadeln
nicht millionenweiſe täglich verloren gingen?
In
ſolchem
Falle würden ſich freilich die Nadelmacher nach
4633 andern Beſchäftigung umſehen müſſen; aber an nützlicher und
lohnender
Arbeit würde es ihnen gewiß nicht fehlen;
dagegen
würde
die ganze übrige Menſchheit eine Ausgabe, die ſich
täglich
erneuert, ſparen, und ſelbſt derjenige Teil der Damen-
welt
, bei dem Nadelgelder eine ſehr beliebte Steuer der
Schwäche
des ſtarken Geſchlechts ausmachen, würde ſicherlich
nicht
in Verlegenheit geraten, dieſe Schönheitsſteuer unter
anderem
Titel auf den Jahreshaushalt zu bringen.
Allein die Berechnung iſt falſch.
Gingen nämlich nicht ſo viele Millionen Nadeln täglich
verloren
, ſo würden nicht ſo viele Millionen Nadeln täglich
fabriziert
werden, und würden nicht ſo viel Nadeln fabriziert,
ſo
würden ſie nimmermehr ſo ſpottbillig ſein.
Das Reſultat
unſeres
Sparſamkeits Planes wäre alſo, daß wir für die
wenigen
Nadeln, die wir kaufen und die wir noch gar ſorgſam
bewahren
müßten, damit ſie ja nicht verloren gehen, mehr
Geld
ausgeben würden als für die vielen, die wir ſo billig
kaufen
, daß es uns nicht lohnt, ſie zu bewahren und ſie darunt
ihrem
Schickſal des Verloren Gehens nicht weiter entziehen
mögen
.
Für die Menſchheit würden die überwachten Nadeln teurer
werden
als die verloren gehenden.
Wer dies für eine Übertreibung hält, der mache nur ein-
mal
den Verſuch, ſich eine Nadel direkt zu beſtellen;
er wird
vom
Schmied zum Schloſſer, vom Schloſſer zum Mechanikus
gewieſen
werden, und jeder wird ihm ſagen, daß eine regel-
rechte
Nadel, blank und rein von Stahl, mit harter und ſcharfer
Spitze
und feſtem, glatten Öhr nicht gut für weniger als
fünfzig
Pfennige zu machen iſt.
Nur weil man ſie in ſolchen
Maſſen
fabriziert, hat man Maſchinen dazu einrichten und
alle
Vorrichtung ſo treffen können, daß ſie ſo ſpottwohlfeil
ſind
.
Kann man ſie aber nur darum in Maſſen fabrizieren,
weil
ſie in Maſſen verloren gehen, ſo iſt jeder Plan, ſie nicht
4644 zu verlieren, gleich dem Plan, ſie nicht zu fabrizieren oder,
was
ganz dasſelbe iſt, unſere Ausgaben für jede einzelne Nadel
ſehr
hoch zu ſtellen.
Darum iſt es in der That beſſer und ſogar ſparſamer,
wenn
man ſie immerfort verliert und immerfort fabriziert.
Und wie mit den verlorenen Nadeln, ſo verhält es ſich
mit
all den Dingen in der Welt, in deren Trümmern und
Überreſten
all die verlorenen Nadeln ſich verlieren.
Das
tägliche
Entſtehen in Maſſe iſt bedingt durch das Vergehen
in
Maſſe, und das Reſultat iſt die außerordentliche Wohlfeil-
heit
alles deſſen, was unſere Arbeit hervorzubringen vermag.
Ginge weniger verloren, ſo würde durch die Arbeit weniger
geboren
, und in demſelben Maße würden die Erzeugniſſe koſt-
barer
werden.
Alle zerbrochenen Gläſer und Taſſen und Teller,
Töpfe
u.
ſ. w. machen die neuen billiger; je mehr Kleider zer-
riſſen
werden, deſto lebhafter findet die Ausgleichung durch die
Fabrikation
ſtatt, und in demſelben Maße werden die Stoffe
und
deren Herſtellung wohlfeiler.
Es exiſtiert alſo und
das
wollen wir uns merken zwiſchen Preis, Gebrauch
und
Verbrauch eine Harmonie, durch welche Verhältniſſe zur
Ausgleichung
gebracht werden, die ſcheinbar im Gegenſatze zu
einander
ſtehen.
II. Verſchwendung von Streichhölzern.
Iſt es denn aber auch wirklich wahr, daß das unausge-
ſetzte
Verbrauchen von Dingen, die gearbeitet werden müſſen,
die
Menſchheit nicht ärmer macht?
Die richtige Antwort auf dieſe Frage kann mit wenig
Worten
gegeben werden;
allein dieſe wenigen Worte weichen
ſo
ſehr von der gewöhnlichen, hergebrachten Anſchauung
4655 Welt ab, daß wir einen kleinen Umweg der Gedanken nicht
ſcheuen
dürfen.
Gewiß iſt es ſchon Jedem einmal durch den Sinn ge-
gangen
, daß unſere Zündhölzchen in der Männerwelt ungefähr
dieſelbe
Stelle einnehmen wie die Nadeln in der Frauenwelt.
Was von den Männern an Zündhölzern verſchwendet wird,
das
iſt ganz unglaublich.
Wenn unſere Vorväter es mit an-
ſehen
müßten, wie unzählige Male des Tages wir Feuer an-
machen
und ein ſo ſauber gearbeitetes Hölzchen gedankenlos
anzünden
und fortwerfen, ſie würden Zeter über unſere Ver-
ſchwendung
ſchreien.
Ja, ſie würden der Gegenwart alle Ge-
mütlichkeit
abſprechen;
denn wie gemütlich war es nicht,
wenn
die ſelige Urgroßmutter ſich mit Stahl und Stein und
Zunder
vergeblich abplagte und der ſelige Urgroßvater ſie lächelnd
beiſeite
ſchob, um in galanter Virtuoſität mit etwa zwanzig
Schlägen
den zunder falls er nicht etwas feucht geworden
war
, anbrennen zu laſſen.
Wie gemütlich wurde nicht von
unſeren
Großeltern oft der Frieden am häuslichen Feuerherd
geſtiftet
, wenn der Papa nach einigem Brummen zu der Mama
nach
einigem Schmollen in die Küche trat, um ſich dort in der
bequemſten
Manier von der Welt die Pfeife an einem Feuer-
brande
anzuzünden.
Jetzt iſt die Gemütlichkeit hin und die
Verſchwendung
zur Herrſchaft gelangt! Wo giebt es eine
Wirtſchaft
, in der nicht tagtäglich ein Bündelchen Zündhölzer
verbraucht
wird?
Hundertmal, ſage: hundertmal des Tages
wird
Feuer angemacht und ein ſo ſorgſam zubereitetes Hölzchen,
kaum
zur Hälfte verbraucht, fortgeworfen, ohne alle Poeſie
der
häuslichen Gemütlichkeit und ohne zu bedenken, was das
für
Geld koſtet! Gewiß, unſere Vorväter würden darin
den
ſonnenklaren Beweis erblicken, daß die Welt ſehr ver-
dorben
iſt!
Wie aber iſt es in Wirklichkeit? Geht nicht in der That
durch
dieſen ganz unglaublich geſtiegenen Verbrauch von
4666 hölzern ſammt Phosphor und Schwefel ein außerordentlich
großes
Kapital an Geld und Arbeitskraft verloren?
und muß
nicht
durch dieſen Verluſt die Welt immer ärmer werden?

Wäre
es nicht eine Wohlthat, wenn der Staat, dieſe Vor-
ſehung
in Beamten- und Akten-Geſtalt, die Zündhölzer ver-
bieten
, den Gebrauch von Stahl und Stein und Zunder an-
befehlen
und der Verſchwendung und der daraus folgenden
Verarmung
Einhalt thun wollte?
An Staatsmännern, die noch heutigen Tages ähnliche
Gedanken
hegen, dürfte es in der Welt keineswegs fehlen.

Waren
doch im Königreich Sachſen die Zündhölzchen wirklich
ein
halbes Jahrzehnt lang verboten, nachdem ſie ſich bereits
allenthalben
im Gebrauch bewährt hatten! Und nicht bloß
die
ſogenannte Feuergefährlichkeit, ſondern auch die volks-
wirtſchaſtliche
Vorſorge gegen verſchwenderiſchen Verbrauch der
Hölzchen
machte ſich hierbei geltend.
Jetzt, wo die Zünd-
hölzchen
allenthalben geſtattet ſind, iſt nicht bloß Sachſen nicht
ärmer
, ſondern in Wahrheit iſt Sachſen und die ganze übrige
Welt
durch den Aufwand der Zündhölzchen reicher geworden.
Reichtum beſteht nämlich nicht im Beſitz, ſondern in der
nutzbaren
Verwendung deſſen, was man beſitzt, denn Beſitz,
der
nicht nutzbar verwendet wird, iſt kein Reichtum, ſondern
eine
Laſt!
Iſt aber ſelbſt der teuerſte und ſchönſte Beſitz unter ſolchen
Umſtänden
kein Reichtum, ſo wird jedermann geſtehen, daß
der
Beſitz eines wenig wertvollen Dinges gewiß kein ſolcher
iſt
.
Wer z. B. ein Pfund Eiſen beſitzt, hat gewiß ſehr wenig
daran
.
Ganz anders jedoch geſtaltet ſich’s, wenn der Beſitzer
im
ſtande iſt, aus dem Pfund Eiſen lauter Nadeln zu machen.
Dadurch iſt das Pfund Eiſen zehnmal ſo viel wert geworden
als
früher;
und man wird zugeben: wenn dies an vielen,
vielen
Pfunden Eiſen geſchieht, ſo kann ſchon ein Reichtum
daraus
werden!
4677
Die Verwandlung des Eiſens in Nadeln geſchieht aber
eben
durch die Arbeit;
daher iſt es ganz unzweifelhaft in
dieſem
Falle, daß der Reichtum in der Arbeit ſteckt.
Das Gleiche findet nun aber in allen Dingen in der
Welt
ſtatt.
Selbſt das koſtbarſte und wertvollſte Metall, das
Gold
, iſt wertloſer als das billigſte, das Eiſen, ſobald letzteres
durch
die Arbeit veredelt worden iſt.
Die kleine Spiralfeder
in
unſern Taſchenuhren, die unter der ſogenannten Spindel,
der
Unruhe, liegt, iſt bloß aus verarbeitetem Eiſen, aus Stahl;
da aber aus einem Pfund Eiſen über ſiebentauſend ſolcher
Federchen
gemacht werden, ſo iſt der Wert dieſes Pfundes
Eiſen
durch die Arbeit viel größer geworden als der eines
Pſundes
Gold.
Hieraus folgt, daß ein Menſch, der Eiſen ſo fein ver-
arbeiten
kann, reicher iſt als ein anderer, der die vielbeneidete
Kunſt
der Alchymiſten zu verſtehen vorgiebt, Eiſen in Gold zu
verwandeln
.
Der Reichtum liegt alſo nicht im Beſitz koſtbarer
Dinge
, ſondern in der Verarbeitung, die aus wenig wertvollen
Dingen
wertvolle ſchafft, und es folgt hieraus, daß eine Zeit,
wo
man einen Holzklotz nur zum Verbrennen braucht, ärmer
iſt
als eine Zeit, wo man durch geſchickte Arbeit aus jedem
Klotz
, der kaum den Ofen wärmt, hunderttauſend Zündhölzchen
macht
!
III. Der Wert von Verſchwendungen.
Aber” ſo hören wir die Zweifler rufen, Ihr ſprechet
immer
rühmend von der Zeit, von ihrer geſchickten Arbeit
und
den Reichtümern, die ſie neu ſchafft;
was jedoch hilft
das
uns, uns Menſchen, die wir nicht Nadeln und Zünd-
hölzchen
und ſogenannte Reichtümer machen, ſondern ſie
4688 unſerm Geld bezahlen müſſen? Sagt uns doch: Iſt das
nicht
dennoch hinausgeworfenes Geld, Verſchwendung von
Material
, von Zeit und Menſchenkraft, die, wenn das
immer
ſo weiter geht, die Welt ruiniert?
Es thut uns leid, wenn wir zur richtigen Beantwortung
dieſer
Frage wiederum zu einem Ausſpruch greifen müſſen, der
den
Frager wahrſcheinlich ſtutzig macht, und den Zweifel in
ihm
aufkommen läßt, ob wir nicht reine Sophis nen treiben.
Das aber iſt wahrhaftig nicht der Fall! Unſere Antwort
iſt
ernſt gemeint und auch richtig.
Sie lautet, wie folgt.
Eben dieſe ſogenanntenVerſchwendungen” ſind nicht eine
Quelle
der Verarmung, ſondern im Gegenteil eine Quelle des
Reichtums
und des Wohlergehens für alle, alle Menſchen,
ſobald
ſich nur die Menſchen ſamt und ſonders auf die
Verſchwendung” recht ordentlich legen.
Wenn man in der Weltgeſchichte lieſt, daß Rom unter-
gehen
mußte, weil die Römer Gaſtmähler gaben, bei welchen
die
Verſchwendung herrſchte, ſich die Speiſen und Getränke
aus
den fernſten Ländern der Welt herbeizuſchaffen, ſo hat
das
ſeine vollkommene Richtigkeit.
Was aber würde der
große
römiſche Verſchwender Lucullus ſagen, wenn wir ihm
zeigen
könnten, wie bei uns die Frau des armen Fabrikarbeiters
ſich
jeden Morgen beeilt, nicht zu einem Gaſtmahl, ſondern zu
einem
alltäglichen, häuslichen Getränk ein Material aus Bra-
ſilien
zu beſchaffen;
denn ihr Mann iſt ſparſam, er trinkt nicht
Mokka-Kaffee
, ſondern begnügt ſich mit dem ſchlechteren Kaffee
aus
Braſilien.
Was würde dieſer Lucullus ſagen, wenn
man
ihm zudem noch die Verſicherung gäbe, daß jetzt alle Welt
dieſe
Verſchwendung treibe, daß der Kaffee nicht einmal zur
Sättigung
diene, ſondern nur eine von unſern beſten Natur-
forſchern
noch nicht völlig erklärte Wirkung auf den Genießenden
ausübe
?
Wie würde er ſich wundern, daß bloß zur Be-
friedigung
dieſes Genuſſes alljährlich in Dentſchland
4699 hundert Millionen Mark ausgegeben, und jahraus, jahrein ein
halbes
Tauſend große Schiffe übers Weltmeer ausgeſendet
werden
, um den Kaffee herbeizuſchaffen?
Gewiß, Lucullus
würde
ausrufen:
All’ meine weltgeſchichtlichen Verſchwendungen
ſind
Kindereien gegen die Eurigen!
Gleichwohl würde Jeder die richtige Antwort geben: Mein
lieber
Lucullus, nimm’s nicht übel, Du ſiehſt die Sache von
einer
ganz falſchen Seite an! Wenn zu Deiner Zeit das ame-
rikaniſche
Feſtland jenſeits der Welt ſchon entdeckt geweſen wäre
und
Du Schiffe ausgeſandt hätteſt, um ein Pfund Kaffee für
Dich
und die Genoſſen Deiner Tafelfreuden herbeizuholen, dann
hätteſt
Du ſamt Deinen Nachahmern freilich ſehr ſchnell Rom
ruiniert
;
wir aber machen es anders, wir treiben es im Großen,
wir
machen die ſogenannte Verſchwendung zum gemeinſamen
Genuß
, und da haben wir es durch ein Kunſtſtück, an das Du
gar
nie gedacht haſt, dahin gebracht, daß wir uns dabei ganz
wohl
ſtehen;
denn wiſſe: der Mann dieſer Frau, die eben ſolch
ein
verſchwenderiſches Getränk zubereitet, arbeitet jahraus, jahr-
ein
in einer Fabrik, die immerfort Nähnadeln macht, und ein
Teil
dieſer Nadeln geht eben auſ ſolchen Schiffen, die Kaffee
herbringen
, nach Braſilien.
Die Braſilianer aber ſind auch
ſchon
von der Verſchwendung angeſteckt, daß für ſie die
Nadeln
eben ein ſolch Bedürfnis ſind wie für uns der Kaffee,
und
ſie pflegen deshalb eifrig die Kaffeebäume und ſenden
uns
deren Früchte ſehr gern für Nadeln.
Und das eben iſt
Induſtrie!
Ob Lucullus dieſe Antwort ganz begreifen würde, das
wollen
wir dahingeſtellt ſein laſſen;
aber unſerer Zeit ziemt
es
, daß Jeder, der in ihr lebt und genießt, ſich den Gedanken
klar
macht, bis zu welcher Höhe jene Harmonie der Menſchen-
thätigkeit
, die man Induſtrie nennt, es gebracht hat, daß die
Verallgemeinerung
des Genuſſes die höchſte Verſchwendung
in
die höchſte Sparſamkeit verwandelt! Und dieſen
47010 wollten wir durch die vorſtehenden Betrachtungen nur einleiten
und
im Nachſtehenden nur noch deutlicher ausſprechen.
Es giebt Genüſſe in der Welt, die wenn ſie ein Einzelner
allein
für ſich und ſeinen auserleſenen Kreis beſchafft, ihn und
die
Menſchen, über welche er zu verfügen hat, zu Grunde richten,
und dies nennt man Verſchwendung.
Trifft man aber die
Einrichtung
, daß alle Welt dieſe Genüſſe teilt, ſo wird aus der
Verſchwendung
eine Quelle des Wohlergehens und des Reich-
tums
, und das nennt man Induſtrie.
Wenn vor zwei Jahrhunderten der reichſte Monarch Eu-
ropa’s
, Ludwig der Vierzehnte, ſich hätte einen Genuß verſchaffen
wollen
, den ſich heute der ärmſte Handwerksburſche gönnen kann:
wenn ihm der kühne Gedanke in den Sinn gekommen wäre, für
ſich
einen eigenen Fahrweg aus Eiſen zu bauen, um auf dieſem
durch
irgend welche Triebkraft mit größerer Schnelligkeit von
einem
Ende ſeines Reiches zum andern eilen zu können, ſo
würde
er damit halb Frankreich ruiniert haben.
Auch wenn all
die
hierzu nötigen Erfindungen bereits damals verhanden ge-
weſen
wären, würde dennoch der Gedanke der Ausführung ein
ſo
verderblicher geweſen ſein, daß man ihn nur als Wahnwitz
betrachtet
haben würde;
denn das Ergebnis des Genuſſes, die
Befriedigung
eines perſönlichen Wunſches oder Bedürfniſſes
jenes
Monarchen wäre für Frankreich nicht entſernt den Auſ-
wand
von Material und Arbeit wert geweſen, den eine Eiſen-
bahn
erfordert.
Selbſt wenn Ludwig der Vierzehnte, ſo zu ſagen,
die
Eiſenbahn für ſich aus ſeiner Taſche hätte bauen, ſelbſt
wenn
er das Geld dazu aus den eroberten Provinzen hätte
erpreſſen
laſſen, ſo wäre doch der Plan ein heilloſer Wahnwitz
geweſen
, der Frankreich ruiniert hätte;
denn die Eroberung und
das
Kontribuieren der eroberten Länder geſchah doch immer
durch
Aufwand franzöſiſcher Kräfte, und der Genuß, den ſich
der
Monarch dafür verſchaffte, wäre dieſen ſchweren Aufwand
nicht
wert geweſen.
Es wäre Verſchwendung im
47111 höchſten Maße, und Frankreich hätte ſich dieſe ganz gewiß
nicht
gefallen laſſen.
Dahingegen iſt heutigen Tages der ärmſte
Handwerksburſche
im ſtande, ſich dieſen Genuß zu verſchaffen,
und
es iſt keine Verſchwendung, im Gegenteil, es iſt Spar-
ſamkeit
, wenn er nicht zu Fuß durch Frankreich läuft und
Zeit
und Kräfte vergeudet, die ihm teurer zu ſtehen kommen
als
der Fahrpreis auf der Eiſenbahn.
Woher aber rührt dieſer merkwürdige Umſtand?
Einzig und allein daher, daß die Verallgemeinerung
des
Genuſſes der Eiſenbahn den Auſwand von Kraft und
Arbeit
, die ſie erfordert, wert iſt;
denn wenn Alle genießen,
wird
die ſogenannte Verſchwendung zur Sparſamkeit!
IV. Die Verallgemeinerung der Bedürfuiſſe.
In wie hohem Grade das, was wir ſagen, wahr iſt, das
ergiebt
ſich aus ganzen Reihen von Betrachtungen, gleichviel
ob
man dieſe an die kleinlichſten Dinge des alltäglichen Haus-
bedarfs
anknüpft oder ſie aus den größten Unternehmungen der
umfangreichſten
Staats-Inſtitute herleitet.
Wenn Lucullus die Hände über dem Kopf zuſammenſchlüge,
daß
unſere Fabrikarbeiter ſich ihren Morgentrank aus Braſilien
verſchaffen
können, und Ludwig der Vierzehnte den Glauben
an
all ſeine Macht verlieren würde in der Wahrnehmung, daß
unſere
Handwerksburſchen ſich Genüſſe erlauben dürfen, die er
für
ſich allein nie hätte haben können, ſo wiſſen wir, daß dies
nicht
etwa daran liegt, weil zu Lucullus’ Zeiten der Kaffee un-
bekannt
, Braſilien unentdeckt und zu Ludwig des Vierzehnten
Zeiten
die Eiſenbahnen und die Dampſmaſchine noch nicht er-
funden
waren, ſondern in dem Umſtand, daß ſie als Einzelne
nach
bevorzugten Genüſſen ſtrebten und die jetzige Zeit ſie
47212 nur als gemeinſame Genüſſe Aller bieten kann. Iſt es
aber
wahr, daß der Vorzug des Reichtums vor der Armut
darin
beſteht, daß man ſich im Reichtum Lebensgenüſſe ver-
ſchaffen
kann, die man ſich in der Armut verſagen muß, ſo
iſt
es auch ganz entſchieden wahr, daß ſich der Arme in jetziger
Zeit
durch die Verallgemeinerung der Genüſſe in eine genuß-
reichere
Lage verſetzt ſieht als der Reiche von ehedem.
Freilich kannte der Reiche von ehedem gar nicht die Be-
dürfniſſe
, die jetzt ſchon der Arme gedankenlos befriedigt.
Es
kam
ehedem ſelbſt dem allermächtigſten der Gebieter nicht in den
Sinn
, ſechs Meilen in der Stunde reiſen zu wollen, während
jetzt
der Ärmſte ſchon ungeduldig wird, wenn ſich bei Reiſen
durch
ganze Länderſtrecken der Zug um fünf Minuten mit der
Ankunft
verſpätet.
Mit der wachſenden Beſriedigung wachſen
in
der That auch die Bedürfniſſe, und je mehr man in einer
Stunde
zu leiſten und zu durchleben vermag, deſto unerträg-
licher
wird Jedem der Verzug weniger Minuten.
Muß man
nun
auch geſtehen, daß der erleichterte Lebensgenuß den Anſpruch
an
dieſen geſteigert und in demſelben Verhältniſſe dem Wohl-
gefühl
der Menſchen Eintrag thut, ſo iſt und bleibt das doch
immer
das bedeutſamſte Merkmal unſerer Zeit und ihres Fort-
ſchrittes
, daß ſie die Lebensgenüſſe in gerade entgegengeſetzter
Art
darbietet als ehedem.
Ehedem lag die beſondere Lebensbequemlichkeit und der
erhöhtere
Lebensgenuß darin, daß ſich der Einzelne ſie verſchaffte
und
zu dieſem Zwecke genötigt war, ſie den anderen und
namentlich
den großen Maſſen zu entziehen;
gegenwärtig ge-
ſtaltet
es ſich umgekehrt:
es wird im Kleinen wie im Großen
die
Lebensbequemlichkeit und der Lebensgenuß erſt dann in
höherem
Grade möglich, wenn man ſie verallgemeinert und
Millionen
zur Teilnahme daran gewöhnt und veranlaßt.
Mögen wir die Betrachtung anheben, wo wir wollen und
wie
wir wollen es ſtellt ſich im Kleinen wie im
47313 die Wahrheit heraus, daß die Verallgemeinerung der Lebens-
genüſſe
eine Hauptaufgabe unſerer Zeit iſt, die ſich ohne be-
wußte
Tendenz erhält.
Alles, was unſere Maſchinen, unſere
Fabriken
ſchaffen, all’ die Millionen von Pferdekräften, die der
Dampf
für uns hergiebt, all’ die Maſſen von Gütern, welche
die
Eiſenbahnen tagtäglich hin und her durch das Land führen,
ſind
nicht zur Befriedigung der Bedürfniſſe Einzelner ins Leben
gerufen
, die im Sinne der früheren Zeit über Reichtümer ge-
bieten
und den großen Aufwand zu machen imſtande ſind, den
man
Verſchwendung nennt.
Das maſſenhafte Schaffen und
das
eilige Verbreiten des Geſchaffenen durch alle Länder iſt
erſt
dadurch möglich geworden, daß ſie den Maſſen der
Menſchen
eine Befriedigung gewähren.
Alles, was für die
Maſſen
der Menſchen geſchaffen wird, nimmt einen Anſtrich
der
Großartigkeit an, die all das Große, was im Altertum
jemals
geſchaffen wurde, weit, weit überragt.
Die Pyramiden
Ägyptens
, die Paläſte von Ninive ſind ein Kinderſpiel gegen
den
Gotthardtunnel.
Wenn erſt den Maſſen der Menſchen
damit
ein Bedürfnis wird befriedigt werden, ſo wird eine
Aktiengeſellſchaft
in jeder Woche mehr Menſchen über die Alpen
transportieren
, als ſich Hannibal jemals in ſeinem unſterb-
lichen
Zuge vorſtellen konnte.
Die Brücke über den Niagara
läßt
uns lächeln über den Gedanken, daß Xerxes einen wahn-
witzigen
Frevel hegte, als er an die Möglichkeit einer Brücke
über
den Helleſpont dachte.
Die Viadukte ſehr gewöhnlicher
Eiſenbahnen
überragen an Großartigkeit die Bauten der Perſer
und
Römer.
Der Kryſtallpalaſt ſtellt die Zauberträume der
Semiramis
in Schatten.
Woher all dies? Wo liegt der be-
deutſame
Grund des Unterſchieds der alten und der neuen Zeit?
Nur darin, daß in alten Zeiten der einzelne, der unumſchränkte
Herrſcher
über Millionen, dieſe Millionen zwang, ſeine Be-
dürfuiſſe
und ſeine perſönlichen Wünſche zu befriedigen;
wo-
hingegen
jetzt das Umgekehrte der Fall iſt:
alles, was
47414 artiges geſchaffen wird, wird für die Millionen und Millionen
der
Menſchen und deren gemeinſame Teilnahme am Genuß
geſchaffen
!
Dies aber iſt wiederum nur dadurch möglich, daß ein Zu-
ſammenhang
zwiſchen allem beſteht, was die Menſchen leiſten.
Man kann nur einen gemeinſamen Genuß für Millionen von
Menſchen
ſchaffen, wenn jeder Einzelne auch in dem, was er
ſchafft
, für die Bedürfniſſe der Andern Sorge trägt.
Wer
Nadeln
oder Zündhölzchen in ſolcher Maſſe macht, daß die
Menſchen
ſie in Unachtſamkeit verlieren und abnutzen können,
der
hat ein Anrecht auf ſeine Taſſe Kaffee aus Braſilien,
auf
ein kattunen Kleid für ſeine Frau und Kinder aus Baum-
wolle
, die in Amerika wächſt, auf eine Eiſenbahnfahrt, um
die
ihn die Mächtigſten der Vorzeit beneiden würden.

Er
arbeitet für Millionen und nimmt dafür auch mit Recht
Teil
am Genuß all der Dinge für Millionen.
In dieſem
Falle
iſt die Arbeit eine das Wohlbehagen der Menſchen för-
dernde
Leiſtung, für welche andere Menſchen wiederum für den
Arbeitenden
und deſſen Wohlbehagen etwas leiſten, und der
Austauſch
der Leiſtungen iſt der Austauſch des Wohlbehagens,
der
Alle berührt.
Der Zuſammenhang in der Gegenſeitigkeit der Leiſtungen
iſt
eine ſo feſte Regel, daß man ohne tiefe Unterſuchungen über
ganze
Länder ein Urteil fällen kann, ob ſie für die großen
Lebensgenüſſe
der Gemeinſamkeit reif find oder nicht.
Wenn
man
jemanden durch einen Zauber in die Fabrikſtälten Eng-
lands
verſetzt, ohne ihm zu ſagen, wo er ſich befinde, und ihn
ſehen
ließe, was dort alles an Federmeſſerchen, Nähnadeln,
Pfropfenziehern
, Maſchinenwerken, Schiffsbauten, Baumwoll-
geweben
u.
ſ. w. zuſammengearbeitet wird, ſo wird er ſofort
ſagen
können:
Ihr arbeitet ſo maſſenhaft dieſe Dinge, die Ihr
ſelber
nicht verbrauchen könnt;
Ihr arbeitet alſo ſicherlich für
Millionen
anderer Menſchen;
nun, ſo werdet Ihr auch gewiß
47515 Leiſtungen von Millionen zu genießen bekommen. Verſetzte
man
denſelben Beurteiler nach China und zeigte ihm, wie
da
die Maſſenleiſtung noch gar nicht begonnen hat, ſo wird er
ſofort
ſagen können:
Hier kann zwar eine Regierung eine
Eiſenbahn
auf ihre Koſten bauen und ein reicher Eigentümer
ſich
zu ſeinem Vergnügen ſehr viel ziviliſierte Genüſſe ver-
ſchaffen
;
aber die Maſſe iſt in ihren Leiſtungen noch nicht reif
für
die Lebensgenüſſe der Gemeinſamkeit.
Hier arbeitet man
noch
nicht für Millionen Andere, hier wird auch der Genuß
der
Leiſtungen von Millionen noch nicht möglich.
Dies Land
kann
an Naturprodukten ſehr reich ſein;
aber ſo lange es nicht
im
Sinne unſerer Zeit arbeitet, wird es auch nicht im Sinne
unſerer
Zeit in Wohlbehagen leben!
V. Etwas vom Schreibe-, Kunſt- und Leſebedürfnis.
Liegt denn aber in der That in dem Gemeinſamkeitsgenuß
unſerer
Zeit ein ſo hoher Vorzug derſelben, daß wir dieſen zu
dem
Kulturmaßſtab der Völker machen dürfen?
Iſt denn jenes
materielle
Wohlbehagen, das aus der Arbeit für Millionen
entſpringt
, auch wirklich ein richtiges Merkzeichen für den
höheren
Geiſtesauſſchwung, der in Kunſt und Wiſſenſchaft doch
den
eigentlichen Bildungsſtand der Nationen bezeugt?
Ja,
iſt
nicht das Weſen der Kunſt und der Wiſſenſchaft, dieſer
Hauptfrüchte
des Kulturlebens, unter allen Umſtänden nur das
Ureigentum
der hervorragenden Geiſter, das Beſitztum einer
Ariſtokratie
der Begabung, und liegt nicht gerade in dem Ge-
meinſamkeitsgenuß
ein Merkzeichen der Verflachung unſerer
Zeit
?
Wir dürfen zur Beantwortung dieſer Frage, oder
47616 dieſer Auklagen, die man gegen unſere ſogenannte materielle
induſtrielle
Zeit erhebt, wiederum nur auf die Welt der Wirk-
lichkeit
in ihren kleinen und großen Erſcheinungen verweiſen,
um
darzuthun, wie gerade mit dem ſogenannten materiellen
Fortſchritt
auch das intellektuelle Leben in ſeiner Gemeinſam-
keit
in hohem Grade gewonnen hat.
Wir wollen auch hier wieder wit ſcheinbar geringfügigen
Thatſachen
auftreten, die wohlerwogen gar mächtige Zeugniſſe
des
rein intellektuellen Aufſchwunges abgeben.
Von allen neueren Fabrikationszweigen dürfte keiner dem
unſerer
Nadeln näher ſtehen als die Fabrikation unſerer Stahl-
federn
.
Wie viel wohl täglich fabriziert werden mögen?
Auch das geht gewiß weit in die Millionen! Die Stahlfeder
geht
aber nicht wie die Nadel inmitten ihrer Leiſtungsfähigkeit
verloren
, ſondern ſie wird wirklich abgebraucht und erſt dann
fortgeworſen
, nachdem ſie einen oft gar nicht unbeträchtlichen
Dienſt
verrichtet.
Nun aber wiſſen wir, wie es noch keine hundert Jahre
her
iſt, daß man auf den Gedanken kam, den Gänſekiel durch
die
Stahlfeder zu erſetzen.
Ja, zu Anfang der Fabrikation
wurde
ſie ſogar wiſſenſchaftlich vom volkswirtſchaftlichen Stand-
punkt
aus ſehr energiſch bekämpft.
Man ſagte ſcheinbar mit
Recht
, es ſei unwirtſchaftlich, durch direkte Menſchenarbeit ein
Produkt
ſchaffen zu wollen, das die Gänſe ohne alle Mühe
als
bloßes Nebengeſchäft zur hinreichenden Befriedigung
aller
Schreibenden betreiben.
Man nannte dieſe Unternehmung
eine
unvernünftige Konkurrenz einer teuer zu bezahlenden
Arbeit
gegen eine von der Natur gratis geleiſtete”;
man fügte
hinzu
, daß nicht einmal der ſcheinbare Gewinn an Beſchäftigung
von
Menſchenhänden vorliege, denn offenbar müſſe die Fabri-
kation
der Federmeſſer in demſelben Maße verlieren, als das
Schneiden
der Gänſekiele aufhöre!
Es iſt wiſſenſchaftlich außerordentlich lehrreich, die
47717 ſchaftlichen Gründe zu verfolgen, welche der Stahlfeder trotz
der
an ſich ganz richtigen Einwände ſo mächtig Bahn gebrochen
haben
.
Ja, die Stahlfeder überwand noch ganz andere Hinder-
niſſe
, wie zum Beiſpiel die zur Zeit ihres Auftretens allgemein
gebräuchliche
Gallus-Eiſen-Tinte und das für die Stahlſpitze
der
Feder damals noch viel zu faſerige, unſatinierte Schreib-
papier
.
Auch die Federmeſſer-Fabrikation hat nicht ab-
genommen
, ſondern ſehr ſtark zugenommen, obwohl unſere
Kinder
gar keinen Begriff mehr davon haben, warum die
Federmeſſer
Federmeſſer” heißen, und es einer weitläufigen
Erklärung
bedarf, um es ihnen begreiflich zu machen, daß
man
es früher keineswegs nötig hatte, erſt auf die Gänſejagd
zu
gehen, wenn man einen Brief ſchreiben wollte.
Für unſer Thema hat jedoch der Sieg der Fabrikation
nicht
nur in volkswirtſchaftlicher, ſondern auch in rein in-
tellektueller
Beziehung eine unendlich hohe Bedeutung.
Wir wiſſen: die Gänſe haben ihr Nebengeſchäft keineswegs
aus
Mangel an Abſatz aufgegeben.
Den Gänſefedern, deren
man
ſich ſonſt zum Schreiben bediente, vermochte man bisher
noch
keine andere Beſchäftigung nachzuweiſen;
gleichwohl hat
die
Stahlfeder eine Verbreitung gewonnen, welche derjenigen
der
Nadeln nicht allzu viel nachgiebt!
Was aber bedeutet das für uns? Es bedeutet, daß in
unſerem
Zeitalter unvergleichlich viel mehr geſchrieben wird
als
früher.
Gleichviel worüber geſchrieben wird, gleichviel
wie
groß, gemeſſen nach dem Grade unſerer höheren Bildung,
der
intellektuelle Wert deſſen ſein mag, was geſchrieben wird;
es ſteht jedenfalls ſo viel feſt, daß jedes geſchriebene Wort den
Inhalt
der Gedanken, die ein Menſch dem anderen mitteilt,
in
viel konzentrierterer Form wiedergiebt als das von ihm
geſprochene
.
Es ſchreibt jeder nicht nur kürzer, als er ſpricht,
ſondern
auch mit viel größerer Beſtimmtheit und Sammlung
ſeines
Geiſtes.
In Zeiten, wo viel geſchrieben wird, wird
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
47818
unendlich viel mehr gedacht als in Zeiten, wo wenig geſchrieben
wird
, und in gleichem Maße, wie die Summe der Denkthätig-
keit
in dem Schreibenden wächſt, ſteigert ſich die Summe der
Denkthätigkeit
in allen denen, an welche das Geſchriebene ge-
richtet
iſt.
Mögen nun unter den vielen Millionen Briefen,
die
die Poſt allein jetzt alljährlich befördert, nur wenige ſein,
die
allein für ſich einen weſentlichen Fortſchritt auf dem Ge-
biete
des Geiſteslebens dokumentieren, es iſt ihr geſamter
Geiſtesinhalt
ein viel, viel größerer als z.
B. im erſten Jahre
der
Einrichtung der Berliner Stadtpoſt, wo die Zahl der
Briefe
ſich nur auf einige dreißigtauſend belief.
Steht es aber feſt, daß der große, gewaltige Strom von
geiſtigem
Verkehr, der bloß im Briefſchreiben durch das jetzige
Geſchlecht
dahinzieht, unmöglich wäre, wenn wir wieder unſere
Zuflucht
zum Gänſekiel nehmen müßten, ſo iſt es ganz zweifel-
los
, daß die millionenfach fabrizierte Stahlfeder ein ſehr ge-
hobenes
Daſein in der intellektuellen Welt erzeugt hat.
Wer aber weiß, wie die Stahlfeder-Fabrikation allein gar
nicht
zur Blüte gelangen kann, wenn nicht anderweitig auch
die
fernſtliegenden Fabrikationszweige ſich emporſchwingen, wer
es
begreift, wie die Vervollkommnung des Maſchinenbauweſens
der
Fabrikation der Stahlfeder vorangehen mußte, wie der
geſteigerte
Gebrauch der Stahlfeder mit dem geſteigerten Ge-
brauch
des Papiers Hand in Hand geht, wie die geſteigerte
Papierfabrikation
unmöglich wäre ohne die vorzüglichen Ma-
ſchinen
, die dasPapier ohne Ende” liefern, wie zu dieſer
Maſchine
, um nur einen kleinen, gar nicht bedeutſamen Teil
zu
nennen, das feine Meſſing-Drahtnetz, das man Müller-
Beuteltuch
nennt, unumgänglich nötig iſt, wie die Draht-
ſpinnerei
und das Drahtweben wiederum in die Verfeinerung
des
Maſchinenweſens hineingreifen, durch deſſen Hilfe es erſt
möglich
iſt, es herzuſtellen, wer die tauſendſachen Fäden
verfolgt
, die auf den verſchiedenſten und ſcheinbar
47919 Zweigen der Arbeit durcheinandergehen müſſen, um nur die
Möglichkeit
der Stahlfeder-Fabrikation zu gewähren, der wird
erkennen
, wie die Stahlfeder, wenn ſie die Repräſentantin der
ſehr
geſteigerten Intelligenz iſt, in ihrem Denkthätigkeitsgeſchäft
eine
Unmaſſe ſtiller Teilnehmer hat, die ſcheinbar gar nichts
mit
der Schreiberei, dieſem Geiſtesverkehr der Menſchen unter
einander
, zu thun haben, die aber gleichwohl an dem großen
Verdienſte
teilnehmen, mit der Steigerung und Verallgemeine-
rung
der ſogenannten materiellen Arbeitserzengniſſe zugleich
auch
intellektuell der Welt zu dienen.
Aber auch tief in das Weſen der höheren Kunſt und der
höheren
Wiſſenſchaft greift dasienige hinein, was wir als das
bedeutſamſte
Ergebnis der neueren Kultur und die ſie charakteri-
ſierende
Verallgemeinerung ihres Genuſſes bezeichnet
haben
.
Wohl iſt es wahr, daß die höchſten Erzeugniſſe des Genies
immer
nur von den gewählteſten und ſeltenſten Geiſtern be-
günſtigter
Zeitalter geſchaffen worden ſind und geſchaffen
werden
.
Aber könnten wir die Unſterblichen der Kunſt,
könnten
wir Rafael und Correggio, Rubens und Rembrandt,
Dürer
und Holbein in die Wohnung unſeres in Dürftigkeit
lebenden
Fabrikarbeiters führen, deſſen täglicher Kaffeegenuß
den
Lucullus irre macht, ſie würden in den naturgetreueſten
photographiſchen
Familienporträts, die ſie an den Wänden
finden
, Gegenſtände ihrer erhabenſten Bewunderung erblicken.
Sie würden, ließe man ſie in einer unſerer größten Städte
herumwandern
, über unſer Zeitalter ſtaunen, wo faſt an jeder
Straßenecke
ein Photograph zu finden iſt, der eine Sammlung
von
kleinen Meiſterwerken zur Schau ausſtellt, von deren Fein-
heit
und Naturwahrheit die Kunſt der Vorzeit gar keinen Be-
griff
halte.
Sie würden die unglaublich große Verbreitung
ihrer
eigenen Meiſterwerke in photographiſchen Abdrücken und
in
viel größerer Treue, als ſie ſelber je imſtande
48020 wären, ſie zu kopieren, als ein Merkzeichen des höchſt geſteigerten
und
verfeinerten Kunſtſinnes betrachten.
Wenn ſie aber gar
erführen
, daß all dieſe Erzeugniſſe nicht von Künſtlern, ſondern
von
techniſchen Arbeitern geleiſtet werden, die auch nicht
eben
von dem freigebigen Kunſtſinn reicher Liebhaber exiſtieren,
ſondern
ihr Gewerbe auf das vollkommen gewöhulich
gewordene
Bedürfnis des allgemeinen Volks grün-
den
, ſie würden wahrlich dieſer Erſcheinung unſerer Zeit eine
tiefere
Bedeutung beilegen, als wir es vermuten, die wir das
eigentliche
Ergebnis vor unſeren Augen haben entſtehen ſehen.
Durch die Lichtbilder iſt der Kunſtſinn und das Kunſt-
bedürfnis
ſo tief ins Volk hineingewachſen, daß wir gar nicht
mehr
imſtande ſind, uns in die Zeit zurückzuverſetzen, wo ſie
aus
Mangel an Befriedigung nicht exiſtierten.
Einen un-
gefähren
Maßſtab für dieſes Bedürfnis möchte der Umſtand
abgeben
, daß ein einziges chemiſches Laboratorium in Berlin
alljährlich
für eine Million Mark ſalpeterſaures Silber fabri-
zierte
.
Wenn wir auch annehmen, daß nur der zehnte Teil davon
in
Berlin zu Photographie verbraucht wurde, ſo ergiebt doch ein
ungefährer
Überſchlag, daß in Berlin allein für fertige Bilder
ſamt
Rahmen mehr als hunderttauſend Mark im Jahre ver-
ausgabt
wurden.
Das Bedürfnis iſt aber noch immerfort im
Steigen
, und wenn das Geld, das dafür ausgegeben wird, ein
Maßſtab
des vorhandenen Intereſſes iſt, ſo dürfte man bald
auf
ein wunderbares Reſultat kommen;
denn thatſächlich wird
eine
viel größere Summe in Berlin allein für die Photographie
ausgegeben
, als die Regierung imſtande iſt, für die Königliche
Akademie
der Künſte zu verwenden, die für den ganzen
Staat
exiſtiert!
Was beweiſt uns aber dieſer Umſtand? Nichts anderes
als
das ungeheuere Wachstum des Kunſtſinns und
die
Verallgemeinerung des Kunſtbedürfniſſes
ſeit
der
Zeit, daß eine Erfindung aufgetreten, welche für die
48121 friedigung dieſes Bedürfniſſes in der Weiſe der Induſtrie
zu
ſorgen imſtande iſt.
Und wie ſteht es denn um die Litteratur?
Wer lieſt es nicht mit Wehmut, wie eine einſtige Zeit-
ſchriſt
, dieHoren”, an mangelnder Teilnahme in der deutſchen
Leſewelt
eingehen mußte, trotzdem Goethe und Schiller, Wieland,
Herder
, die beiden Humboldts und ihre bedeutendſten Zeit-
genoſſen
ſich an der Mitarbeiterſchaft beteiligten! Ver-
gleicht
man die außerordentlich beſcheidenen Anſprüche, die die
Litteratur
vor einem halben Jahrhundert an die Leſewelt
machte
, mit dem ungeheuern Kapital, das jetzt jahraus, jahrein
für
die Erzeugniſſe der Buchdruckerpreſſe verausgabt wird, ſo
wird
man ſich eine ungefähre Vorſtellung machen können, in
welch
hohem Grade das Bedürfnis nach Geiſtesnahrung in der
Welt
ſich geſteigert hat, und man wird erkennen, daß dem
Wachstum
der ſogenannten materiellen Welt das Wachstum
der
Leiſtungen zur Befriedigung der intellektuellen Bedürfniſſe
mindeſtens
ganz gleich gekommen iſt.
Wir haben im Beginn unſerer Betrachtung von den Na-
deln
geſprochen, die alltäglich maſſenhaft geſchaffen werden, um
alltäglich
maſſenhaft verloren zu gehen.
Sollen wir aus dem
Gebiet
der geiſtigen Produktionen ein Seitenſtück vorführen,
nun
, ſo liegt wohl nichts ſo nahe wie die Zeitungsblätter, die
maſſenhaft
alltäglich entſtehen, um maſſenhaft nach kurzem
Geiſſesgenuß
als Makulatur zu vergehen.
Der Jahrespreis
der
in Berlin allein erſcheinenden Tageszeitungen beträgt
mehrere
Millionen Mark, eine Summe, die die Leſer ganz
freiwillig
kontribuieren, um ein geiſtiges Tagesbedürſnis zu
befriedigen
, das unter der ungeheuer geſteigerten Fülle aller
anderen
Tagesbedürfniſſe wiederum ſo verſchwindet wie die
Nadeln
unter den Trümmern des täglich maſſenhaft Verloren-
gehenden
.
Wenn man will, kann man auch dies eine Geiſtes-
verſchwendung
nennen:
aber ſo wenig die Menſchheit
48222 wird durch das Verbrauchen des Geſchaffenen, und im Gegen-
teil
der Reichtum und deſſen Wohlbehagen ſich weit über alle
Maſſen
verbreitet, je mehr die Verallgemeinerung der
Leiſtungen
eine Steigerung derſelben möglich machte, ebenſo
iſt
es mit den geiſtigen Tageserzeugniſſen der Fall.
Einzeln
gehalten
gegen das, was die Heroen des Geiſtes Unſterbliches
leiſten
, verſchwindet es wohl als bedeutungslos;
aber in der
Verallgemeinerung
der Leiſtung, in der Verbreitung des kleinen
Genuſſes
über die großen und immer größer werdenden Maſſen,
bekundet
es den großen geiſtigen Fortſchritt, der unſere Zeit
nicht
minder charakteriſiert wie der materielle Fortſchritt, den
man
unſerer Zeit nicht abſprechen kann.
Und ſo mag denn auch dieſe unſere Betrachtung ihren
Weg
hinaus in die Leſewelt nehmen, um auch wieder verloren
zu
gehen in dem großen, unüberſehbar gewordenen Strome der
Betrachtungen
, die der Zeitenlauf unſerem ſehr reichen Zeitalter
vorüberführt
.
Auch eine verloren gegangene Nähnadel geht
nicht
ganz verloren.
Wer ihr Schickſal zu verfolgen imſtande
wäre
, der würde gar ſehr erſtaunen in der Wahruehmung, wie
das
kleine, unbeachtete, eiſerne Kunſtwerk unſerer Induſtrie in
irgend
einer Weiſe unter Müll und Schutt hinausgerät aufs
Feld
, wo der allverzehrende Sauerſtoff der Luft ſich ſeiner be-
mächtigt
und es oxydiert;
wie es dann, von den Säuren des
Regenwaſſers
aufgelöſt, zur Pflanzenſpeiſe wird, und wie es
nach
Jahr und Tag, gar wunderbar verwandelt, als Eiſen-
gehalt
eines Gemüſes, eines Spinats, eines Salats wiederum
auf
den Tiſch der ehemaligen Eigentümerin gelangt, um gar
mit
Wohlgeſchmack und zur Stärkung der Geſundheit verzehrt
zu
werden.
Geht es in der Gedankenwelt nicht oft ebenſo?
Der Geiſtesſtrom unſerer Zeit führt außerordentlich viele
Gedanken
an uns vorüber, die kaum geboren, ſchon verloren
zu
gehen ſcheinen.
Es haftet wenig von dem, was unſere
Voltslitteratur
bringt, feſt im Gedächtnis der Empfänger,
48323 es thut darum not, daß man viel darbietet und von Zeit zu
Zeit
die Gabe erneuert.
Aber auch dies iſt nichts Verlorenes
und
Verſchwendetes für immer;
denn in verwandelter Form und
in
ganz anderer Verbindung und Geſtaltung tritt ſehr oft ein
Gedanke
bei uns zu Gaſte ein, der unerkannt ſchon einmal
dageweſen
, und wir nehmen ihn zuweilen in anderer Weiſe
auf
, in beſſerem geiſtigen Wohlgeſchmack und zur Stärkung
unſerer
geiſtigen Geſundheit!
Möge es nur einigen Gedanken unſerer Betrachtung ebenſ@
ergehen
!
484
Naturkraft und Geiſteswalten.
I. Die Legung des erſten transatlantiſchen Kabels.
Die unterſeeiſche Leitung, welche England mit Amerika,
die
alte Welt mit der neuen verbindet, iſt ein Wunder un-
ſerer
Zeit, wie es in den alten Zeiten der Wunder nie ein
Philoſoph
erdacht, nie ein Dichter erſonnen, nie ein Prophet
erſchaut
hat.
Schon der Gedanke an die Vorarbeiten zu dieſem Rieſen-
werk
mußte einer Zeit, die weniger erfindungsreich iſt als
die
unſrige, wie eine ſträfliche Vermeſſenheit erſcheinen.
Die
Erforſchung
der Tiefe des Meeres auf einer Strecke von 400
Meilen
, die Unterſuchung der Bodenbeſchaffenheit in dieſer
Tiefe
, die Anfertigung eines viele Meilen langen Kabels,
welches
beſonderer Vorrichtungen bedurfte, um nur auf Schiffe
gebracht
zu werden, und endlich all die neuen Apparate,
welche
ſolch ein Rieſenkabel unbeſchädigt in das oft über
eine
halbe Meile tiefe Meer verſenken ſollten, all das
waren
Arbeiten, deren Bewältigung vor allem des hohen
Aufſſchwunges
der Jetztzeit in den mechaniſchen Wiſſenſchaften
und
im Maſchinenweſen bedurfte, an welche zu denken den
Menſchen
in früheren Zeiten gar nicht in den Sinn kommen
konnte
.
Und von dieſem hohen Aufſchwung legte denn auch das
endliche
Gelingen des großen Werkes ein glänzendes
48525 ab, das wir ſpäteren Jahrhunderten zur Wertſchätzung des
unſrigen
überliefern können.
Wenn wir die Vorarbeiten zur Legung kurz berühren
wollen
, ſo haben wir zunächſt die Unterſuchung des Meeres-
bodens
, ſeiner Tiefe und ſeiner Beſchaffenheit ins Auge zu faſſen.
In den Jahren 1853 57 wurden auf Schiffen, welche
die
engliſche und die amerikaniſche Regierung dem Unter-
nehmen
zur Verfügung ſtellten, Unterſuchungen des Meeres-
bodens
in folgender Art vorgenommen.
Eine an einer Leine
befeſtigte
hohle Spindel wurde nebſt einem an derſelben Leine
befindlichen
Senkblei ins Meer hinabgelaſſen.
Die Befeſtigung
des
Senkbleies war nun ſo eingerichtet, daß dies ſich los-
hakte
, ſobald es den Meeresboden berührte.
Sodann wurde
die
Leine wieder aufgewunden und die Spindel heraufgeholt,
die
in ihrem hohlen Raum vom Grund des Meeres feſte Be-
ſtandteile
mit ans Tageslicht brachte.
Aus der Länge der
hinabgelaſſenen
Leine konnte man die Tiefe des Meeres von
Strecke
zu Strecke kennen lernen, und aus dem Inhalt der
Spindel
vermochte man auf die Beſchaffenheit des Meeres-
grundes
zu ſchließen.
In ſolcher Weiſe war man imſtande, nach einer Arbeit
von
drei Jahren eine Karte des Meeresbodens von der Strecke
zwiſchen
Amerika und England anzufertigen, wie man bis da-
hin
Landkarten hatte.
Der amerikaniſche Kapitän und Phyſiker
Maury, der dieſe Unterſuchung leitete und nach ihrer Be-
endigung
die Karte zeichnete, nannte dieſe unterſuchte Strecke
das
Telegraphen-Plateau”, weil er richtig erkannte, daß auf
ſolchem
Grund und Boden ein telegraphiſches Kabel ſicher vor
jeder
Beſchädigung liegen würde.
Was nun die Tiefen des Meeres auf dieſer Strecke be-
trifft
, ſo ergab die Unterſuchung, daß ſie nicht aus plötzlichen
Schluchten
beſtehen, vielmehr einen gleichmäßig ſanften Ver-
lauf
nehmen.
48626
Etwa 15 Meilen weſtlich von der iriſchen Küſte exiſtiert
wohl
ein ſteiler Abfall;
nach deſſen Verlauf ſtellt ſich jedoch
der
tiefſte Teil des Meeresbodens in allmählichen Abdachungen
von
{1/3} {1/2} Meile dar, der nur um die Mitte des Plateau
einige
ſteilere Neigungen zeigte.
Gegen das Ende der Strecke
tritt
bis nach der Küſte von Newfoundland ein allmähliches
Aufſteigen
des Bodens ohne ſchroffe Übergänge ein.
Was nun die Beſchaffenheit des Bodens anbetrifft, ſo
ergab
die mikroſkopiſche Unterſuchung, daß der Grund bedeckt
ſei
mit einer mehligen Subſtanz, beſtehend aus ſehr feinen
Schalen
lebender und ausgeſtorbener Infuſorien und aus
Pflanzenreſten
.
Da man nun unter dieſen Maſſen niemals Sand und
Grus
fand, ſo ſchloß man, daß dieſe Tiere dort wirklich ge-
lebt
haben und nicht erſt im Laufe der Zeit hier abgelagert
worden
ſind.
Es ergab ſich daraus, daß der Meeresboden in
dieſer
Tiefe frei ſein müſſe von Strömungen und Wellenſchlag,
und
daß alſo ein Kabel, eingebettet in dieſen Schlamm, vor
allen
Störungen durch Schiffsanker, Eis und Geſteinablage-
rungen
geſichert ſein würde.
So bot denn das Weltmeer ſelbſt dem Unternehmen keine
beſonderen
Hinderniſſe.
Wenn trotzdem das begonnene Werk
mehrere
Male ſcheiterte, ſo lag dies vor allem an der Schwierig-
keit
der Legung.
Ein Kabel von vielen hundert Meilen Länge unbeſchädigt
auf
Schiffe zu laden und es von dort aus eine halbe Meile
tief
ins Meer zu ſenken, das erfordert, wie leicht erſichtlich,
ganz
beſondere Vorrichtungen, die durch Erfahrungen erſt er-
probt
werden mußten.
Bevor man nun an die Legung eines Kabels zwiſchen
England
und Amerika denken konnte, mußte zunächſt New-
foundland
, die öſtlichſte Spitze von Nord-Amerika, mit dem
Feſtlande
Amerikas verbunden werden.
48727
Eine Geſellſchaft, die ſich früher hierzu gebildet hatte,
endete
mit einem Bankerott, nachdem das Unternehmen kaum
zur
Hälfte vollendet war.
Der Ingenieur dieſer Geſellſchaft,
Frederick
Gisborne, wußte indeſſen einen amerikaniſchen
Kapitaliſten
, den Kaufmann Cyrus Field (geb.
1819), für
das
Unternehmen zu intereſſieren, der auch ſofort den kühnen
Gedanken
einer transatlantiſchen Telegraphenverbindung zwiſchen
Europa
und Amerika zu verwirklichen ſtrebte und dem der un-
ſterbliche
Ruhm gebührt, der eigentliche Gründer eines Unter-
nehmens
zu ſein, das an Thätigkeit, an Energie, an Geld und
Zeit
nicht bloß ganz außerordentliche Opfer in Anſpruch nahm,
ſondern
auch einen feſten Glauben und ein tiefes Vertrauen
zu
den Fortſchritten unſerer Zeit erforderte, wie dies nur in
großen
Geiſtern lebt.
Im Hinblick auf das großartige Unternehmen, welches
Field
vor Augen hatte, wurde im Sommer 1855 zunächſt die
Legung
eines Kabels zwiſchen Newfoundland und dem Feſt-
lande
von Amerika verſucht.
Dies mißlang indeſſen, weil ein
Sturm
das für die Laſt des Kabels zu kleine Segelſchiff er-
faßte
und die Mannſchaft nötigte, das Kabel abzuſchneiden,
um
das Schiff zu erhalten.
Jedoch gelang es im nächſten
Jahre
, wo man ſich eines Dampfers bediente, das Kabel hier
zu
legen, womit dieſe Einleitungs-Aufgabe gelöſt war.
Im Sommer des Jahres 1856 reiſte nun Cyrus Field
nach
England, um Männer der Wiſſenſchaft ſowohl als auch
Kapitaliſten
, um geiſtige und materielle Hilfe für das große
Unternehmen
zu gewinnen.
Nachdem dann auch die engliſche
Regierung
ſich zur Unterſtützung des Unternehmens bereit er-
klärt
und im Falle des Gelingens eine bedeutende Summe
(14 000 Pfund Sterling) jährlich für Beförderung ihrer De-
peſchen
garantiert hatte, ein Gleiches auch von der amerika-
niſchen
Geſetzgebung in Ausſicht ſtand, konſtituierte ſich im
Dezember
dieAtlantic Telegraph Company” mit
48828 Kapital von über 2 Millionen Thalern und nahm die Vor-
bereitungen
zur Legung nun ſofort in Angriff.
Die Anfertigung des Kabels wurde zwei engliſchen Fa-
brikanten
übergeben, wie denn eine Teilung der ganzen Arbeit
einmal
der Laſt des Kabels wegen notwendig, welche ein
Schiff
nicht bewältigen konnte, und dann auch für die Legung
ſelbſt
ratſam erſchien, damit beim Verunglücken eines Schiffes
nicht
das ganze Kabel verloren ſei.
Anfangs Juni 1857
waren
die Kabelhälften vollendet, deren Transport und Auf-
wickelung
auf die von der engliſchen und der amerikaniſchen
Regierung
zur Verfügung geſtellten SchiffeNiagara” und
Agamemnon” einen Zeitraum von faſt 2 Monaten in An-
ſpruch
nahm.
DerNiagara” ſollte nun von der iriſchen
Küſte
aus ſeine Hälfte bis in die Mitte des Oceans legen.
Dort wollte man dann eine Verbindung der Kabel-Enden vor-
nehmen
und demAgamemnon” die Legung bis Newſound-
land
überlaſſen.
Anfangs ging Alles ganz gut. Unter der
feierlichen
Teilnahme hochgeſtellter Staats- und Privatmänner
begann
am 6.
Auguſt 1857 die Legung von der Bucht der
kleinen
iriſchen Inſel Valencia aus.
Als man jedoch etwa
80
Meilen gelegt hatte, trat am 11.
Auguſt eine Störung ſehr
bedenklicher
Art ein.
Man nahm ein ſchnelles Laufen des
Kabels
über den Stern des Schiffes wahr, das von einer
unterſeeiſchen
Strömung herzurühren ſchien.
Eiſerne Klemmer,
durch
die man das Laufen des Kabels hemmen wollte, ſpannten
es
ſtraff an, und als hierzu noch Schwankungen des Schiffes
kamen
, konnte das Kabel der gewaltſamen Spannung nicht mehr
Widerſtand
leiſten und riß entzwei.
Über dieſes Mißglücken des erſten Verſuchs wußte man
ſich
bei der Großartigkeit eines Unternehmens, dem kein zweites
in
unſerem Jahrhundert gleich ſtand, leicht zu tröſten.
Man
ging
auch ſofort auf einen neuen, im nächſten Jahre zu unter-
nehmenden
Verſuch ein, beſtellte die nötige Anzahl
48929 Kabel und benutzte die gemachten Erfahrungen zur Verbeſſerung
des
Apparats, der das Kabel ins Meer zu ſenken beſtimmt
war
.
Dieſer neue Apparat war hinſichtlich des Raumes und
der
Laſt kleiner als der vorige;
außerdem waren die Räder
mit
einer Vorrichtung verſehen, durch die bei einer gewiſſen
Spannung
des Kabels die Hemmung der Räder reguliert
werden
konnte.
Auch über dieſen Verſuch denn das iſt er leider nur
geblieben
können wir uns kurz faſſen.
Nachdem eine an-
geſtellte
Probe die gute Beſchaffenheit des Kabels und des
neuen
Verſenkungsapparats ergeben hatte, ſteuerten die Schiffe
am
10.
Juni 1858 ins Meer. Eine Modifikation der Legung fand
darin
ſtatt, daß man diesmal in der Mitte des Oceans die Ver-
bindung
der Kabelhälften vornahm und dann von hier aus
den
Agamemnon” bis Irland, denNiagara” bis nach New-
foundland
legen ließ.
Trotzdem anfangs das ſchönſte Wetter
herrſchte
und man im Juni, dem ſturmfreieſten Monat, war,
hatten
die Schiffe einen Sturm zu beſtehen, der alles wieder
vereiteln
konnte.
Bald aber hatte ſich dieſer gelegt, und am
26
.
Juni 1858 konnte die Verbindung der beiden Hälften voll-
zogen
werden.
Kaum begann man mit der Legung des Kabels, als ſich
ein
Unfall einſtellte.
Das Kabel an Bord desNiagara”
war
nämlich in der Maſchinerie in Verwirrung gekommen
und
gebrochen.
Die Schiffe kamen alſo wieder zuſammen,
und
man vollzog nochmals die Verbindung der beiden Enden,
ohne
ſich durch den kleinen Unfall verſtimmen zu laſſen.
Em-
pfindlicher
war indeſſen ſchon eine zweite Störung, die ein-
trat
, als man etwa 10 Meilen vom Ausgangspunkte entfernt
war
.
Es blieben nämlich um 3 Uhr morgens die elektriſchen
Signale
aus, durch welche die beiden Schiffe vermittelſt des
Kabels
ſich gegenſeitig Nachricht gaben, und als man, um die
Urſache
der Störungen zu ermitteln, ſich wieder am
49030 gangspunkt traf, erſah man, daß das Kabel am Meeresgrund
irgendwo
verletzt ſein müſſe.
Zum dritten Mal mußte eine
neue
Verbindung vorgenommen werden;
aber gleichſam, als
ob
Methode in den Schickſalsſchlägen ſei, zerriß das Kabel
diesmal
am Bord desAgamemnon”, nachdem man ſchon eine
noch
weitere Strecke als das vorige Mal, etwa 25 Meilen,
zurückgelegt
hatte.
Nunmehr ſchwand die Ausſicht, mit den
bisherigen
Mitteln ein glückliches Ziel zu erreichen, und ſo
mußten
die Schiffe unverrichteter Sache nach Irland zurück-
kehren
.
Dieſe Fülle von geſcheiterten Verſuchen konnte nicht ohne
erheblichen
Einfluß ſchädlicher Natur auf das intereſſierte
und
nicht intereſſierte Publikum bleiben, für welches der Er-
folg
einmal der einzige Maßſtab alles Großen iſt.
Wenn
wir
trotzdem die Geſellſchaft unverweilt einen neuen Verſuch
machen
ſehen, liegt darin nur ein Beweis der Energie des
Hauptunternehmers
Cyrus Field, der ſich durch nichts ent-
mutigen
ließ.
Für einen kurzen Moment ſchien auch ein herrlicher Lohn
dieſe
Energie zu krönen.
Schon im Laufe des nächſten Monats begann man mit
dem
alten Kabel einen neuen Verſuch, der ohne weſentliche
Störung
auch richtig vollendet ward.
In etwa acht Tagen,
von
der Verbindung der Hälften in der Mitte des Oceans
an
gerechnet, waren beide Enden glücklich auf Newfoundland
und
Irland angelangt.
Im Auguſt 1858 empfing der
damalige
Präſident der Vereinigten Staaten,
James
Buchanan, die erſte engliſche unterſeeiſche
Depeſche
, den Glückwunſch der Königin Victoria zu
dem
herrlich vollendeten Werk
.
Leider aber ſollte dieſer Triumph nur von kurzer Dauer
ſein
.
Es ſtellte ſich bald heraus, daß die Umhüllung des
Kabels
durch die vielen Strapazen, denen es beim
49131 bei der Verladung und der Legung ausgeſetzt war, lädiert
ſein
müſſe, da es ſehr unregelmäßig arbeitete und nur ganz
ſchwache
Zeichen gab.
Nach kurzer Zeit hörten auch dieſe
ſchwachen
Zeichen auf, und mit dieſem Verſtummen ſchien jede
Hoffnung
auf einen neuen, glücklichen Verſuch zu ſchwinden.
In der That ſchien dieſes Mißgeſchick nach einem mit
hellem
Jubel begrüßten Gelingen ein Todesſtoß des ganzen
Unternehmens
zu ſein, von welchem es ſich nicht mehr würde
erholen
können.
Die Umſtände äußerlicher Natur waren ſehr
mißlich
.
Die engliſche Regierung verlor den Mut, ein Unter-
nehmen
von ſo zweifelhaftem Erfolge durch Zinsgarantie zu
unterſtützen
.
In Amerika brach der Bürgerkrieg aus, der
das
Geſchick der Vereinigten Staaten höchſt zweifelhaft machte.
Die Kapitaliſten weigerten ſich, ihr Geld wiederum aufs
Spiel
zu ſetzen, und die ideellen Verehrer und Förderer des
großen
Werkes waren wie bei jedem Mißlingen eines
ſolchen
dem Geſpötte Derer ausgeſetzt, die beim Gelingen
den
Ruhm ihres Zeitalters auch für ſich in Anſpruch zu nehmen
pflegen
.
Nur einen Mann gab es, den Thatkraft, Opfermut und
moraliſcher
Wille nimmer verließ, und dies war Cyrus Field,
der
Unermüdliche.
Im Jahre 1863, noch mitten im Kriegslauf Nord-
amerikas
, nahm Field wiederum ſeine Pläne auf, und die
Geſellſchaft
, von ihm friſch ermutigt, beſchloß, den Verſuch zu
erneuern
.
Nochmals wurden die gelehrteſten Naturforſcher um ihr
Gutachten
angegangen, unter welchen Wheatſtones Urteil am
entſcheidendſten
war, weil er der Gründer unſerer telegraphiſchen
Einrichtung
iſt.
Es gelang dem unermüdlichen Field wiederum, neue Geld-
mittel
aufzutreiben, und auf Grund der gelehrten Gutachten
ſchritt
man zur Anfertigung eines neuen Rieſen-Kabels,
49232 zwar eines ſolchen von ſtärkerer Beſchaffenheit und verbeſſerter
Konſtruktion
als die bisherigen.
Die eigentliche Leitung, “die Seele” des Kabels, beſteht
aus
ſieben dünnen, nebeneinander liegenden Kupferdrähten,
welche
durch Umhüllungen ſorgſam geſchützt werden.
Zwar
könnte
ein einziger, ſtarker Kupferdraht von demſelben Umfang
ganz
dasſelbe beſtellen, was die ſieben Drähte zu thun haben;
allein man wählte lieber mehrere ſchwächere Drähte, weil ein
einziger
Draht, wenn er bräche, die ganze Leitung untauglich
gemacht
haben würde, dahingegen mehrere einzelne Drähte
den
Vorteil haben, daß die Nebendrähte ihn erſetzen, wenn
einer von ihnen an einer Stelle reißt.
Wenn ſämtliche ſieben
Drähte
nur nicht an einer und derſelben Stelle durch-
geriſſen
werden, haben Einzelbrüche der einzelnen Drähte an
verſchiedenen Stellen durchaus nichts zu bedeuten, ſelbſt
wenn
ſolche Einzelbrüche ſich hundertfach wiederholen.
Die ſiebendrähtige Kupferleitung, “die Seele” des Kabels,
iſt
mit mehreren Lagen einer weichen Maſſe aus Gutta-Percha-
Holzteer
und Harz dicht umwickelt, der viel waſſerdichter und
dauerhafter
iſt als bloße Gutta-Percha, welche im Waſſer leicht
brüchig
und löcherig wird.
Auf dieſe Umwickelung folgt dann
eine
Lage Hanf, mit einer Löſung durchfeuchtet, welche ſie
gegen
das Verfaulen ſchützt, und dieſe Lage endlich iſt rings-
um
wohlgepanzert mit zehn Eiſendrähten, von welchen jeder
mit
Hanf umwickelt iſt, und die dann wie die Einzelſtränge
eines
Seiles um das Kabel herumgewickelt ſind.
Dieſe Konſtruktion des Kabels hat den Zweck, es zu ver-
hüten
, daß ein Waſſertröpfchen des Weltmeeres bis an die
Seele
des Kabels dringe;
denn wenn dies irgendwo geſchähe,
ſo
würde der elektriſche Strom, der durch die Leitung geſendet
wird
, nicht, wie er ſoll, bis ans Ende des Kabels laufen, um
dorthin
telegraphiſche Zeichen zu bringen, ſondern ins Welt-
meer
fließen.
Dieſe feſte Umſchließung der Seele des
49333 nennt man die Iſolierung derſelben. Der eiſerne, mit Hanf
umwickelte
Panzer des Kabels dient dazu, ihm die nötige
Feſtigkeit
zu geben, damit es nicht beim Hinablaſſen ins Meer
durch
die eigene Laſt zerreiße.
Eine deutſche Meile eines ſolchen Kabels wiegt an 130
Zentner
.
Im Waſſer jedoch, wo alle Gegenſtände von der
Maſſe
des Waſſers gleichſam getragen, alſo leichter werden,
iſt
das Gewicht einer Meile Kabel kaum die Hälfte.
Da die
äußere
Hanf-Umwickelung außerdem viel Luft mit ins Waſſer
nimmt
, ſo erleichtert dies das Gewicht noch bedeutend und ließ
demnach
ein günſtigeres Reſultat als all’ die bisherigen Ver-
ſuche
erwarten.
Eine Schwierigkeit, die unüberwindlich ſchien, erhob ſich
in
Anſehung der Frage, welches Schiff wohl die ungeheure
Laſt
dieſes Kabels ohne Gefahr tragen könne.
Wie aber die
Menſchengeſchichte
oft in einer denkwürdigen Epoche die ver-
ſchiedenartigſten
Kräfte zu einem großen Ziele ſich vereinigen
ſieht
, die ohne jede Beziehung, bisher einander fremd, ſich ent-
falteten
, ſo war es auch hier der Fall.
Einige Jahre vorher
wurde
nämlich in England ein Rieſenſchiff auf Aktien gebaut,
das
an koloſſaler Größe alles übertraf, was je die Menſch-
heit
geſehen hatte.
Die Größe dieſes Schiffes war eine ſo
gewaltige
, daß die Frommen in England mit großer Seelen-
angſt
eine Sintflut vorausſagten, dieweil ja das Schiff die
Arche
Noahs weit übertraf.
In der That könnten recht wohl
ein
Dutzend gewöhnlicher Seeſchiffe in dieſen Nieſen hinein-
geſetzt
werden.
Das Rieſenſchiff erhielt urſprünglich den NamenLe-
viathan”
;
da dies aber in der bibliſchen Sprache ſo viel wie
eine
fabelhafte Seeſchlange bedeutet, die der Welt mit Untergang
droht
, ſo ſchrieen und eiferten die beſorgten Frommen in Eng-
land
ſo lange, bis man dem Rieſenſchiff den unverfänglichen
Namen
Great Eaſtern” erteilte.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
49434
Urſprünglich war dieſer Seerieſe als Paſſagierſchiff zur
Überfahrt
nach Amerika beſtimmt worden.
Die gewaltige
Größe
desſelben erreichte in ſo fern den gewünſchten Zweck, als
es
ſelbſt von den gewaltigſten Wellen des Meeres nicht gleich
andern
Schiffen hin und her geſchleudert werden kann.
In-
zwiſchen
hat es ſich ergeben, daß ſeine koloſſale Größe ein
Hindernis
der beabſichtigten Schnellfahrten ſei, und da es ziem-
lich
gleich viel Zeit zur Überfahrt nach Amerika gebrauchte wie
audere
kleinere Dampfer, ſo wurde es durch die ungeheueren
Koſten
ſeiner Bedienung und Verwaltung bald als eine ver-
fehlte
Spekulation betrachtet.
Aber das Jahr 1865 zeigte, daß es ein glückliches Zu-
ſammentreffen
war, in welchem zwei rieſige Unternehmungen
einander
unterſtützten.
DerGreat Eaſtern” fand ſeine wahre
Beſtimmung
im Rieſenkabel, das die zwei Weltteile mit ein-
auder
verbinden ſollte.
Das Schiff wurde von der Telegraphen-Geſellſchaft zur
Aufnahme
des Kabels beſtimmt, und nunmehr begann die
Ladung
desſelben unter viel größerer Vorſicht als bisher und
mit
verbeſſerten Vorrichtungen für die Legung verſehen.
Um ſich einen Begriff von der Schwierigkeit der Ver-
ladung
des Kabels auf dieſes Schiff zu machen, genüge es,
wenn
wir anführen, daß dieſe Arbeit allein einen Zeitraum
von
einem halben Jahr in Anſpruch nahm.
Man hatte hierzu
drei
, in verſchiedenen Teilen des Schiffes befindliche, waſſer-
dichte
Räume eingerichtet, damit die Laſt gleichmäßiger auf
dem
Schiffe verteilt werde.
Die Beſatzung des Schiffes,
welches
mit 180 000 Zentnern Kohlen belaſtet war, betrug
500
Mann.
So beſetzt, lichtete derGreat Eaſtern” unter Leitung des
Kapitäns
Anderſon am 15.
Juli 1865 die Anker und fuhr
diesmal
nach einer Landungsſtätte, der Foihommerum-Bay,
einer
an der Küſte von Valencia zwiſchen Hügeln und
49535 gebirgen gelegenen Bucht, die wegen der Ruhe der Gewäſſer
und
der Abgeſchloſſenheit vom Verkehr für die Ladung des
Kabels
höchſt günſtig iſt.
Von 400 Männern wurde hier die
mühſame
Arbeit vollbracht, das beſonders konſtruierte, zehn-
mal
ſtärkere Uferende des Kabels vermittelſt einer aus Barken
gebildeten
Brücke nach der eine Meile weit entfernten Tele-
graphenſtation
zu bringen.
Ein zweites Schiff, der Dampfer
Karoline”, den derGreat Eaſtern” bei Falmouth ins
Schlepptau
genommen hatte, legte dann das Uferkabel, deſſen
Ende
mit einer Wahrtonne bezeichnet ward.
Am folgenden
Tage
ward dann die Verbindung des ſtarken Küſtenkabels mit
dem
See-Kabel am Bord desGreat Eaſtern” vollzogen, und
nachdem
die Leiſtungsfähigkeit erprobt war, die weitere Legung
fortgeſetzt
.
Aber aller Vorſicht ungeachtet, ſollte auch diesmal das
Unternehmen
ſcheitern.
Schon in der Frühe des folgendes Tages nahm der Elek-
triker
eine Störung des elektriſchen Stromes wahr, die darauf
hinführte
, daß das Kabel im Meer lädiert ſein müſſe.
Um
das
verſenkte Stück wieder aufzuwinden, mußte das Schiff
gewendet
werden, weil Aufwinde- und Verſenkungs-Apparat
ſich
an den entgegengeſetzten Seiten des Schiffes befanden.
Das Aufwinden des verſenkten Kabels gelang für diesmal
ganz
gut, und ſo konnte man denn am folgenden Tage die
fehlerhafte
Stelle ausfindig machen.
Es zeigte ſich hier eine
rätſelhafte
Erſcheinung, die ſchließlich auf eine der traurigſten
Vermutungen
hinführte.
Durch Panzer und Iſolirung hatte
ſich
bis an die Seele des Kabels ein zwei Zoll langes Stück
Eiſendraht
hineingebohrt, ohne daß man wußte, wie dies ge-
ſchehen
ſei.
Indeſſen vermochte man die Ausbeſſerung leicht
zu
bewerkſtelligen, das verletzte Stück wurde abgeſchnitten und
eine
nochmalige Verbindung des Kabels vorgenommen.
Die
Arbeit
des Legens begann von neuem.
Zwar trat kurze
49636 darauf wieder ein momentanes Aufhören der elektriſcheu Zeichen
ein
, das man ſich nicht enträtſeln konnte;
allein dieſer un-
erklärt
gebliebene Fehler verbeſſerte ſich in ebenſo rätſelhafter
Weiſe
von ſelber und belebte die Hoffnung auf ein endliches
Gelingen
.
Hierauf ſolgte denn eine fünſtägige glückliche Fahrt ohne
jede
Hemmung;
da aber trat wieder, nachdem man ſchon über
150
Meilen weitergeſchifft war, ein Unfall ſchwerer Art ein.
Das Waſſer des Meeres das erkannte man ſofort an
dem
ausbleibenden elektriſchen Strom mußte auf dem Meeres-
grunde
den Zutritt zu der Seele des Kabels gefunden haben.
Es mußte demnach wiederum die zeitraubende, mühſelige Ar-
beit
des Auſwindens und Auffindens der ſchadhaften Stelle
unternommen
werden.
Dieſe Arbeit ging noch glücklich genug
von
Statten;
allein was man da zu ſehen bekam, erſüllte die
Unternehmer
mit Entſetzen und Mutloſigkeit.
Es fand ſich
ein
offenbar mutwillig gemachter Einſchnitt in das Kabel und
außerdem
wieder ein in das Kabel hineingeſteckter Eiſendraht.

Es
unterlag hiernach keinem Zweiſel, daß ein tückiſcher Böſe-
wicht
hier die Hand im Spiele habe und abſichtlich das herr-
liche
Unternehmen vereitele.
Tief traurig, daß der Bosheit der Neider nichts heilig iſt,
ſelbſt
nicht ein Werk, deſſen Zuſtandekommen ihr Jahrhundert
ſowohl
ehrt als auch ihren eigenen Intereſſen und denen ihrer
Nachkommen
unendlich dienlich iſt, ging man nach der Aus-
beſſerung
des Schadens an die weitere Legung;
allein ein
neuer
Unfall ließ den letzten Hoffnungsſtrahl für diesmal völlig
erlöſchen
.
Es war am 2. Auguſt, da man ſich ſchon 260 Meilen
von
Valencia, alſo in der Mitte des Weges befand (51° nördl.
Breite und 37° weſtl. Länge von Greenwich), als wiederum
die
elektriſchen Ströme ausblieben.
Als man nun zur Auf-
ſuchung
des Schadens das Kabel wieder heraufwinden
49737 verſagte plötzlich die Dampfmaſchine, die den Aufwindeapparat
trieb
, wegen Mangels an Dampf.
Durch einen Windſtoß, der
das
Schiff nach links trieb, verwickelte ſich das Kabel am
eiſernen
Vorſprung der Kluſen und wurde durch die heftige
Reibung
lädiert.
Als man nun den Apparat wieder in Be-
wegung
ſetzte, riß das Kabel und ſank ins Meer.
Da ſtand denn eine neue Aufgabe vor den Unternehmern:
das Kabel nicht etwa wie bisher emporzuwinden, ſondern das-
ſelbe
erſt vom Meeresboden in einer halben Meile Tiefe in
irgend
einer Weiſe aufzufiſchen, um es nur wieder zur Aus-
beſſerung
an Bord bringen zu können.
Auf ſolchen Unfall war man freilich bedacht und beſaß
eine
Vorrichtung hierzu.
Man ließ ein Drahtſeil von 200
Zentnern
Tragkraft, deſſen Ende mit Enterhaken und Anker
verſehen
war, hinab in die Tiefe.
Das Schiff ſuhr nun quer
über
die Stellen fort, wo man das Kabel vermutete, in der
Hoffnung
, daß die Haken auf dem Meeresgrund das Kabel
faſſen
würden.
Von 5 Uhr abends bis zum folgenden Morgen am
3
.
Auguſt früh um 8 Uhr ſuchte derGreat Eaſtern” auf
dieſe
Weiſe das Kabel und war froh, als die Anzeichen er-
gaben
, daß der Haken es wirklich gefaßt habe.
Als man jedoch
am
Nachmittag um 3 Uhr etwa {1/4} Meile des Drahtſeils
wieder
aufgewunden hatte, riß das Seil entzwei, und Enter-
haken
nebſt Kabel ſanken wieder in das Meer.
Drei weitere
Verſuche
, das Kabel aufzufiſchen, am 7.
, 10. und 11. Auguſt,
mißglückten
wie dieſer erſte.
Wegen Mangels an Seilvorrat
mußte
nunmehr derGreat Eaſtern” nach England zurück-
kehren
, wo er am 17.
Auguſt in Crookhaven anlangte.
So war man zwar wieder um einen Verſuch reicher und
um
eine Hoffnung ärmer geworden;
aber die Überzeugung von
dem
endlichen Gelingen des großen Unternehmens war doch
eher
befeſtigt als erſchüttert.
49838
Man kannte jetzt die Hinderniſſe und die Unfälle beſſer
und
wußte, daß ihnen vorgebeugt und abgeholfen werden könne.
Es war nur die Schwäche des Seils zum Auffiſchen, das dies-
mal
das Unternehmen vereitelte, und man war überzeugt, daß
nur
die Verbeſſerung der Maſchinerie zum Aufwinden aus-
reichen
würde, endlich ein günſtiges Reſultat zu erzielen.
So einmütig und feſt ward dieſes Urteil gefällt, daß
die
ganze bei der vorigen Legung beteiligte Geſellſchaft ohne
Ausnahme
ſich an dem neuen, im nächſten Jahr zu unter-
nehmenden
Verſuch beteiligte.
Ein Kapital von 3 {1/2} Millionen Thaler war wiederum
bald
beiſammen.
Man ſchritt ſofort zur Anfertigung eines
anderen
Kabels, wobei man die Hoffnung nicht aufgab, auch
noch
das halbe Kabel, das auf dem Meeresgrunde lag, auf-
zufinden
und möglichſt eine zweite Leitung herzuſtellen.
Die Hauptaufmerkſamkeit hinſichtlich neuer Apparate rich-
tete
man jetzt darauf, den Verſenkungsapparat am Bord des
Great Eaſtern” durch eine Vorrichtung zugleich zum Auf-
winden
brauchbar zu machen, damit das Schiff nicht um-
zuwenden
habe, wenn man ein Stück Kabel aufwinden muß,
wobei
ſtets das Kabel einer großen Reibung ausgeſetzt war,
wenn
man dasſelbe durch die ganze 700 Fuß betragende Länge
des
Schiffes transportieren mußte.
Bezüglich des neu ange-
fertigten
Kabels hatte man weſentliche Veränderungen nicht
vorgenommen
und nur die oberſte Schutzhülle wieder mit ge-
tränktem
Hanf umwickelt, der ſich beſſer bewährt hatte.
So kam denn das Jahr 1866, das Jahr der Erfüllung
der
großen Aufgabe, unter erneuerter Energie und erncuerter
Hoffnung
heran, die nunmehr nicht trügen ſollte.
Die Befürchtung, daß ſich der mit 600 Meilen Kabel und
etwa
120 000 Zentner Kohlen befrachteteGreat Eaſtern” an
der
iriſchen Küſte feſtfahren könne, war glücklicherweiſe unbe-
gründet
.
Auch die ſtürmiſche Witterung blieb ohne
49939 Einfluß auf den erſten Auslauf in den Kanal. Fünf Dampfer
begleiteten
diesmal denGreat Eaſtern”, die einesteils zur
Landung
des Küſtenkabels verwendet wurden und andernteils
die
Reſte des vorjährigen Kabels mit ſich führten.
Am 7. Iuli
1866
wurde die Legung des Küſtenendes in der Foihommerum-
Bai
vollendet, welches ſtärker und feſter war als das Kabel in
der
Mitte wegen der an den Küſten häufigeren Unfälle.
Das
Uferende
war durch eine Brücke von Schiffen in der ſchon
früher
erwähnten Weiſe gelandet nnd das Seeende durch eine
Wahrtonne
kenntlich gemacht.
Am 13. Iuli wurde das dicke
Uferkabel
hier vomGreat Eaſtern” mittelſt des Enterhakens
aufgefiſcht
und mit dem eigentlichen Meereskabel verbunden,
und
nun ging es weſtwärts.
Die Fahrt ging mit großer Regelmäßigkeit von ſtatten.
Es wurden in der Zeit vom 13. bis zum 27. Iuli, wo man
glücklich
in der Trinity-Bai anlangte, täglich etwa 30 Meilen
zurückgelegt
und etwa 35 Meilen Kabellänge verſenkt.
Es muß
ein
erhebender Anblick geweſen ſein, als man angeſichts der
grau
ſich erhebenden Küſten ſchon den Triumph der gewonnenen
Sache
fühlte.
Ein unſcheinbares Fiſcherdorf in der Lorenz-
Bai
auf Newfoundland iſt die Landungsſtätte, wo die direkte
Verbindung
der beiden Weltteile vollzogen wurde.
Mit dem
Feſtlande
von Amerika mußte aber noch das zerriſſene Kabel
durch
den Lorenzbuſen wiederhergeſtellt werden, ehe die voll-
ſtändige
Verbindung vorhanden war.
Am 31. Iuli und am
1
.
Auguſt wurde dies beendet, und am 4. Auguſt 1866 begann
der
elektriſche Funke ſeine blitzartige Thätigkeit im Dienſte der
Menſchen
, die ſich zu Herren der Naturkräfte zu machen den
Beruf
haben.
Um den herrlichen Triumph zu vollenden, gelang auch
diesmal
noch die Aufſuchung und Fortführung des vorjährigen
Kabels
, eine Aufgabe, die, unterbrochen durch öfteres Reißen des
aufgewundenen
Kabels, endlich am 4.
September vollendet war.
50040
So war nun durch unermüdliche Ausdauer ein Werk zu
ſtande
gekommen, dem an Großartigkeit in der Ausführung
bei
Überwindung der ſchwierigſten Hemmniſſe kein anderes
gleichkommt
, und welches den Ruhm für ſich in Anſpruch
nehmen
kann, ein der geſamten Civiliſation dienendes Kultur-
mittel
zu ſein.
Die Thaten der Eroberer, die mit klirrendem Geräuſch die
Welt
durchziehen, zeichnet die Geſchichte in ihre ehernen Tafeln.
Hier hat ſich fern vom Donner der Kanonen eine Eroberung
im
Reiche des Geiſtes vollzogen, deren Ruhm das Andenken
an
unſere Zeit aufrecht erhalten wird, wenn die Menſchheit
alle
ſogenannten Großthaten der Waffen der Vergeſſenheit in
civiliſierten
Zeiten anheimgeben wird.
Der Geſchichtſchreiber, welcher dereinſt unſere Zeit zum
Gegenſtand
ſeiner Darſtellung macht, wird zu berichten haben
von
einem ſchnellen Aufeinanderfolgen in den Urſachen und
Wirkungen
der Begebenheiten, von einer unmittelbaren Wechſel-
wirkung
der Staatsaktionen, wie ſie dem ganzen Altertum und
Mittelalter
fremd war, und deren rieſiger Einfluß mehr denn
je
auch das Gewicht der Völker in die Wagſchale der Ent-
ſcheidungen
über die höchſten Intereſſen des Lebens legt.
Der
Staatsmann
künftiger Zeiten, nicht mehr durch Kabinettswillkür
geſchützt
, wird bei Fragen über Krieg und Frieden erkennen,
daß
ſeine Entſcheidung die Völker zweier Weltteile lähmen
und
deren Handel und Induſtrie hemmen kann.
Er wird ſich
unfähig
fühlen, Gewalten heraufzubeſchwören, die nicht im
Boden
der Nation ſelbſt Wurzel und Keim haben.
Und von anderer Seite aus übt der Telegraph den wohl-
thätigſten
Einfluß auf die Geſetzgebung der Nationen, die in
ihm
ein Mittel haben, ein Ideal der Rechtsſicherheit anzu-
ſtreben
, welches wiederum im ſchärfſten Gegenſatz zu früheren
Epochen
ſteht.
Den Verbrecher, der heut über den Ozean nach
dem
neuen Weltteil ſlieht, ſich und ſeine That vor dem
50141 zu bergen, überholt der elektriſche Funke, noch ehe er das Ziel
ſeiner
Hoffnung geſehen, und führt ihn in die Arme der ver-
geltenden
Gerechtigkeit.
Wenn es ein unerreichbares Ideal früherer Zeiten war,
eine
allgemeine Schriftſprache in Geltung zu bringen, die ein
vereinigendes
Band um alle Nationen ſchlingt, ſo bilden die
60
Schriftzeichen der Telegraphie heut eine Sprache, die un-
ſichtbar
von Ort zu Ort eilt und Gedanken austauſcht, welche
jede
Nation in ihre eigene Sprache umprägt.
Mächtiger aber und weittragender als all das iſt die An-
näherung
des geſamten Geſellſchaftszuſtandes der Völker, welche
die
Telegraphie, in Verbindung mit den Eiſenbahnen, bewirkt;
eine Annäherung, welche die ſchroffen Beſonderheiten in Sitte
und
Lebensweiſe, in ſozialen und politiſchen Inſtitutionen
ausgleicht
.
Sie bildet den Anfang zu einer Gemeinſamkeit in
den
Anſchauungen der Völker, welche in weiterer ſittlicher
Verbindung
dereinſt Kriege unmöglich machen kann.
Der
Strom
, der durch die ganze civiliſierte Welt, bis in die fernſten
Steppen
Aſiens und andererſeits über den Ozean nach der
neuen
Welt dringt, verkündet den bedrängten Völkern, daß
auch
für ſie ein neuer Morgen anbricht.
Er lehrt ſie den
Segen
des gemeinſamen Verkehrs und der Einheit menſchlicher
Intereſſen
kennen.
502
II. Ein alltägliches Geſpräch.
Iüngſt ſaß ich im Sinnen vertieſt ſo recht in der Geiſtes-
ſtimmung
, in welcher die Gedanken unkontrolliert, wenn auch
nicht
unmotiviert kommen und gehen und im Gedächtnis nur
jene
dunklen Spuren hinterlaſſen, die uns in Staunen ſetzen,
wenn
nach Jahren uns ein Gedanke begegnet, von dem wir
ſagen
müſſen:
Ei, du lieber Gaſt, du biſt ſchon einmal durch
mein
Gehirn ſpaziert;
ich weiß nur nicht mehr wo? und wie?
und wann?
Inmitten dieſes geſtaltungsloſen Sinnens machte ſich jedoch
ein
Gedanke ganz beſonders vor mir bemerkbar und bald
hatte
er mich richtig ſo weit, wie er mich haben wollte.
Ich
mußte
ihm folgen und gar viele andere, vielleicht beſſere
Genoſſen
in den Hintergrund unſerer wunderbaren Gedanken-
fabrik
verweiſen.
Er hatte für jetzt den Sieg davon getragen
und
benutzte ihn auch ſofort, um ſich recht rund und voll vor
mir
zu geſtalten und ſogar Fragen an mich zu richten, als ob
er
, mein Gedanke, ein Recht hätte, mich zu examinieren oder
zu
interpellieren!
Der Gedanke war folgender:
Die mathematiſche Wiſſenſchaft iſt über zweitauſend Jahre
alt
.
Sie iſt von den alten griechiſchen Meiſtern ſchon in ſolcher
Schärfe
und Vollendung in ihren Grundlagen aufgeführt wor-
den
, daß man vermuten muß, es haben bereits ganz unbe-
kannte
Geſchlechter vor den Griechen durch lange Zeit@n dieſe
logiſch
ſcharfe, all unſerem anderen Wiſſen mißtrauende Denk-
methode
der mathematiſchen Disziplin erſunden.
Jedenfalls
liegt
der Geburtstag dieſer Wiſſenſchaft mehr als zwei
50343 tauſende hinter uns, und während dieſer langen Zeit hat dieſer
Zweig
des Wiſſens und menſchlichen Forſchens immerfort
Freunde
, Pſleger und Förderer gefunden.
Dieſe Wiſſenſchaſt
hat
ſich, wenn auch in ungleichmäßigem Schritt, doch immer
weiter
entwickelt, bis ſie in den letzten Jahrhunderten ihr
Gebiet
weit ausgedehnt hat und die begabteſten und ſchärſſten
Denker
des Menſchengeſchlechts mit der Löſung ihrer Aufgaben
beſchäftigte
.
Und trotzdem iſt es eine unleugbare Thatſache, die jeder
Fachkenner
beſtätigen wird, daß ein junger Menſch mit gutem
klaren
Kopf, ohne alle Vorkenntniſſe und ohne irgend welche
ſonſtige
Gelehrſamkeit imſtande iſt, in Zeit von drei bis ſünſ
Jahren
die ganze Summe der mathematiſchen Wahrheiten ſich
anzueignen
, welche Tauſende der ſcharſſinnigſten Menſchen länger
als
zwei Jahrtauſende mit aller Anſtrengung ihres Geiſtes zu
ſuchen
genötigt waren!
Erwägt man, daß gerade dieſe Wiſſenſchaft die einzige iſt,
welche
niemals auf Abwege geriet, welche ſich durch keine
Irrlehre
, durch keine philoſophiſche Spekulation, durch kein
Dogma
und durch keine gebieteriſche Autorität von ihrer Bahn
des
Fortſchreitens konnte ablenken laſſen, daß ihre Entwickelung
wohl
zu Zeiten unterbrochen war, aber niemals wie andere
Wiſſenſchaften
einen Rückſchritt machte;
daß wir es hier
alſo
mit einem Gebiet des Wiſſens zu thun haben, das fort
und
fort auf dem Wege zur Wahrheit verblieb, erwägt
man
dies, ſo weiß man wahrlich nicht, ob man über den
langſamen
Weg des geiſtigen Fortſchrittes der erſten Größen
der
Menſchen durch Jahrtauſende in Demut verſinken ſoll,
oder
ob man in Stolz ſich erheben darf wegen unſeres Vor-
zuges
, daß wir in gar kurzer Reihe von Jahren all die auf-
geſammelten
Schätze der Jahrtauſende uns anzueignen ver-
mögen
!
So weit war ich mit meinem Gedanken und mit all
50444 Empfindungen und Gefühlen, Fragen und Zweifeln, Einwen-
dungen
, Vergleichungen und Beobachtungen, die ihn nebenher
ſchattenhaft
und ſtillſchweigend begleiteten, gekommen, als ich
im
natürlichen Fortſpinnen desſelben unterbrochen wurde durch
ein alltägliches Geſpräch.
Es war ein Geſpräch, das meine Tochter, die in mein
Zimmer
getreten war, mit mir führte.
Ein ganz kurzes,
flüchtiges
, nur momentane Angelegenheiten berührendes Zwie-
geſpräch
, das niemand der Mühe wert hält, aufzuzeichnen
oder
gar andern mitzuteilen.
Es war ein Zwiegeſpräch, das
man
gegenüber dem geringfügigſten, gelehrten Gedanken geiſtes-
arm
nennt;
es war ein Geſpräch, das uns beiden auch nicht
das
allergeringſte Nachdenken gekoſtet und auch des Nachdenkens
gar
nicht wert erſcheint;
und dennoch, dennoch will ich
dir
, verehrter Leſer, weiter unten das Geſpräch vorführen.
Magſt du ſelber entſcheiden, ob es des Anrechts auf deine
Aufmerkſamkeit
wert iſt.
Für jetzt aber ich bitte dich! begleite mich auf
einigen
anderen Gedankenausflügen, die mich in der Einſam-
keit
wieder in Anſpruch nahmen, als meine Tochter eben mein
Zimmer
verlaſſen hatte.
Es waren Gedanken anderer Natur;
ſie knüpften ihre Fäden nicht direkt an die hohe Wiſſenſchaft,
ſondern
an die vor mir ſchwebende Alltäglichkeit an;
aber ſie
ſtreiften
und ſchweiften alle in das Gebiet der Wiſſenſchaſten
hinein
, deren Umfang ſich ganz unabſehbar weit vor dem
Menſchengeiſte
ausbreitet.
Begleite mich ich bitte dich!
und laß dich’s nicht kümmern, wenn meine Gedanken einige
willkürliche
Sprünge von einem Gegenſtande zum anderen zu
machen
ſcheinen! Schenke mir nur ein wenig Geduld, und du
wirſt
die Fäden des Gedankenlaufes ſelber in der Hand haben.
Wieder in ſtillſter Einſamkeit dachte ich folgendes:
Wenn ein berühmter Aſtronom zu dir käme und ſagte:
Siehe, ich will dir in deinem Zimmer ein Kunſtwerk
50545 wiſſenſchaftlichen Wertes aufſtellen, das vor deinen Augen ein
getreuliches
Bild abgiebt von dem Lauf der Sonne am Him-
melszelt
oder richtiger von der Umdrehung der Erde um ihre
Achſe
.
An dem Kunſtwerk ſollſt du jederzeit genauer als durch
irgend
ein Mittel erſehen können, wann die Sonne am Tage
den
höchſten Punkt am Himmelsbogen erreicht, auch wenn
Wolken
den Himmelsraum bedecken;
wann die Sonne nachts
den
tiefſten Stand unter unſerem Horizont einnimmt, wo ſie
kein
Menſchenauge erblickt.
An dem Kunſtwerk ſollſt du aber
noch
mehr, du ſollſt mit einem Blick auf dasſelbe ſofort ſehen
können
, wie viel des Weges die Sonne auf ihrem Tageslauf
in
jedem beliebigen Zeitpunkte zurücklegt, wie weit ſie den
höchſten
oder den tiefſten Stand am Himmel vor ſich oder
hinter
ſich hat.
Das Kunſtwerk ſoll dir ohne Fernrohr und
Meſſung
, ohne Anſtrengung deines Auges und ohne Mühen
deines
Verſtandes ſofort zu jeder Zeit und mit größerer Ge-
nauigkeit
zeigen, wie es augenblicklich um den Sonnenlauf des
Himmels
oder mit der Umdrehung der Erde um ihre Achſe
ſteht
, als je die unſterblichen Meiſter und Forſcher Hipparch,
Ptolemäus
und Copernikus es herausbringen konnten.
Wenn ein Aſtronom dir ſolch einen Antrag ſtellte, du
würdeſt
ihm wahrſcheinlich antworten:
Solch ein wiſſenſchaft-
liches
Kunſtwerk muß überaus intereſſant ſein, aber für den
Beſitz
eines ſchlichten Privatmannes iſt es zuverläſſig viel zu
koſtſpielig
und auch viel zu fein und ſubtil.
Ich möchte es
wohl
ſehen und müßte es gewiß bewundern, aber ich habe
nicht
das Bedürfnis, es mir anzuſchaffen!
Riefe nun gar noch der Aſtronom einen Philoſophen zur
Hilfe
, der dir deutlich machen wollte, wie das Kunſtwerk eigent-
lich
die feinſten Materien unſeres Denkens zum Gegenſtand
ſeiner
Löſung macht, wie es nämlich ein Werk ſei, welches un-
ſichtbare
Abſchnitte der Ewigkeit, die manZeitnennt, in
Teile
der Unendlichkeit verdeutlicht, die man mit dem
50646Raumbezeichnet du würdeſt ganz beſtimmt ſchon beim
Beginn
der philoſophiſchen Auseinanderſetzungen ungeduldig
werden
und die erſte beſte Pauſe des Redners benutzen, um
mit
dem Bekenntnis herauszuplatzen, daß du dir wohl ein Buch
im
Bücherſpinde gefallen läßt, das über Raum und Zeit ſehr
gründliche
Abhandlungen enthält, aber ein Kunſtwerk der Art,
das
dich nicht bloß mit Aſtronomie, ſondern auch mit
Philoſophie jederzeit traktieren will, das möchteſt du um
keinen
Preis für alle Tage in deinem Wohnzimmer haben!
Wie aber, wenn man dir ſagt: Das Kunſtwerk beſitzeſt du
ſchon
! Es beſitzen es Millionen und Millionen Menſchen!
Es
iſt nichts weiter als eine Uhr, die man jetzt ſchon den
Kindern
zur Einſegnung ſchenken muß, die man vermißt, wenn
man
ſie nicht zur Hand hat, die man ſich nachts vors Bett
legt
, um ſie ſchon beim erſten Moment des Erwachens vor
Augen
zu haben.
Es iſt die Uhr, nach der die Kinder in die
Schule
gehen, die Hausväter ihre Geſchäfte betreiben, die
Hausmütter
das Mittagbrot kochen, nach der der Richter Ter-
mine
anſetzt, der Küſter die Kirchen öffnet, der Prediger die
Liturgie
beginnt und nach der ſogar dein Magen ſeinen
Appetit
rechtfertigt
, und wenn man dir das ſagte,
gewiß
wirſt du ausrufen:
Wie ſonderbar iſt es doch, daß
Mikkionen
Menſchen gar nicht ahnen, welch einen Gedanken-
reichtum
ſie in den Weſtentaſchen mit ſich herumſchleppen!
Wie hoch ſchwoll wohl die Bruſt des unbekannten Denkers,
der
zuerſt den kühnen Vorſatz faßte, die Linie am Himmel, in
welcher
die Sonne täglich ihren höchſten Stand erreicht, zu
fixieren
, um durch ſie die Länge des jedesmaligen Tages in
zwei
gleiche Hälften zu teilen! Wie viele Geſchlechter ver-
gingen
nach jenem großen Denker, bevor ein würdiger Nach-
komme
den kühnen Gedanken faßte, in irgend einer Weiſe
die
zwei Hälften des Tages in kleinere Abſchnitte zu teilen,
um
das bis dahin Unmeßbare, das man Zeit nennt,
50747 Räume meſſen zu können! Welch ſchöpferiſche Begabung
erfüllte
den Geiſt des ſpäteren Denkers, der auf den überaus
kühnen
Gedanken kam, daß nur der Schatten eines Stabes,
welcher
verlängert die Achſen des ſich täglich umwälzenden
Himmelsgewölbes
träfe, imſtande ſei, eine richtige Zeiteinteilung
für
alle Tage des Jahres, eine wirkliche Sonnenuhr ab-
zugeben
! Welch ehrfurchtgebietendes Werk muß ſolch ein
Schattenzeiger
einſt geweſen ſein, wenn der Prophet Jeſaias
göttliche Wunder dem regierenden Könige daran zeigte, nach
deſſen
Vater das Werk benannt wurde! Wie viele Denker
erſter
Größe mußten vergebliche Verſuche an fallenden Waſſer-
tropfen
und rinnendem Sand machen, um nur ungefähr die
Dauer
einer Stunde feſtzuſtellen, wenn der Himmel bewölkt
oder
die Sonne unter dem Horizont iſt!
Und alle die großen, genialen Männer waren Uhrmacher,
nichts
als Uhrmacher! Könnte man ſie auf eine Stunde wieder
beleben
und in unſere Zeit hineinſtellen, ſie würden begeiſtert
vor
dem ſtümperhafteſten Uhrmachergeſellen unſerer Tage in den
Staub
ſinken und jeden, der eine Uhr hat, als glückſelig preiſen,
weil
er der Inhaber eines Gedankenwerks iſt, nach dem viele
große
Geiſter durch ganze Jahrtauſende in den beſeligendſten
Stunden
ihrer ſchöpferiſchen Gedankenarbeit getrachtet! Die
alten
, großen Denker, ſie würden ſicherlich ausrufen:
Glück-
liches
Zeitalter! Wie unüberſehbar reich mußt du an Gedanken
ſein
, wenn ſo viele Millionen deiner Kinder ſolch herrliche
Gedankenſchöpfungen
zum alltäglichen Beſitz haben!
Wie aber, wenn jemand ihnen zuriefe: Erhabene Geiſter
der
Vorzeit, wiſſet, die ihr glücklich preiſet, ſie leben zwar nach
der
Uhr, ſie eſſen, ſie trinken, ſie ſchlafen, ſie wachen, ſie beten,
ſie
beluſtigen ſich, ſie arbeiten und ruhen nach der Uhr, aber
von
den Millionen allen kommt es nur äußerſt ſelten Einem
zu
Sinne, über die Uhr zu denken! Die Geiſter der
Vorzeit
, würden ſie nicht mit Recht zu fliehen wünſchen
50848 einem Zeitalter, das ſo gedankenlos Gedankenreichtümer in den
Weſtentaſchen
herumträgt?
In der That: es benimmt ſich das Menſchengeſchlecht in-
mitten
des Reichtums ſeiner geiſtigen Kräfte ſehr ſonderbar!
Man
hat ſich oft verwundert, wie Tauſende von Menſchen-
geſchlechtern
in einer Welt gelebt haben, in welcher großartige
Naturkräfte
, wie die Anziehungskraft der Erde, der Luftdruck,
die
Elektrizität allüberall ihre Wirkungen offenkundig zeigten,
ohne
daß die Menſchen von dieſen Kräſten eine Ahnung hatten;
man muß ſich in viel höherem Grade verwundern, daß ſie
heute
die Kulturwelt ſo gedankenlos genießen, ohne ſich um die
Geiſtesarbeit
in der Entſtehungs- und Entwickelungsgeſchichte
derſelben
zu kümmern.
In meinem Nachſinnen über dieſe beſchämenden That-
ſachen
geriet ich nunmehr auf anderweitige Reihen der Be-
trachtung
:
Eine Uhr ſo mußte ich mir ſagen iſt doch gar ſo
übel
nicht daran.
Wenn ſie auch von Millionen benutzt wird,
die
weder ihre wiſſenſchaſtliche Bedeutung, noch ihre überaus
ſeine
, künſtleriſche mechaniſche Vollkommenheit im vollen Wert
ſchätzen
, ſo giebt es doch einzelne, die ſie zum Gegenſtand
ihres
Studiums machen;
es giebt Bücher, welche die Ent-
wickelungsgeſchichte
verzeichnet haben;
es giebt Ausſtellungen,
wo
ihre Vorzüglichkeit in induſtrieller Beziehung gewürdigt
wird
.
Die Uhr hat doch mindeſtens die Ehre, daß unſer Kon-
verſationslexikon
einen Artikel über ſie als über einen Gegen-
ſtand
des Wiſſenswerten bringt!
Wie unzählige Kultureinrichtungen aber giebt es, in deren
Reichtum
wir leben, und deren Früchte wir genießen, ohne
ihnen
dieſe kleinen Ehren geiſtiger Anerkennung zu Teil werden
zu
laſſen!
Welch großartige Kultureinrichtung iſt z. B. ein gewöhn-
licher
Markt?
!
50949
Wir forſchen nach den Königen, welche die Pyramiden er-
baut
, nach Geſetzgebern, welche in Memphis und Jeruſalem,
Sparta
und Athen, Karthago und Rom Staatsordnungen ein-
geführt
.
Wir zerſinnen uns über Hieroglyphen in Grabmälern,
über
Keilſchriften in ausgegrabenen Paläſten, jedoch dem
Gedränge
eines Wochenmarktes, in welchem ſich unſere liebens-
würdige
Frauenwelt trotz Körben, Karren, Beſen, Leitern,
Binſen
, Blumen, Fiſchen, Gemüſen, Buden, Schirmdächern,
Schirmen
und Nervenſchwächen mit bewunderungswürdiger
Geſchicklichkeit
hindurchwindet, weichen wir gelehrten Männer
aus
, als einem Gebiet, das bloß der Betrachtung und Be-
friedigung
alltäglicher Bedürfniſſe einen Spielraum zu bieten
ſcheint
.
Von welcher Fülle großartiger Gedanken aber iſt eben
jene
Ordnung der Alltäglichkeit!
Welche Schwierigkeit macht es nicht noch heutigen Tags,
die
Menſchen auf ſolchen Gebieten für den Gedanken der Tei-
lung
der Arbeit
zu gewinnen, wo ſie dieſe Teilung nicht
gewöhnt
ſind.
Wer aber war der große Tyrann oder große
Philoſoph
, der der Menſchheit ſchon vor vielen Jahrtauſenden
den
Gedanken aufzwang oder eingab, jene Teilung der Arbeit
auszuführen
, die der gewöhnliche Wochenmarkt ſo überaus exakt
darſtellt
?
Iſt das Problem, tauſend Sklavenhände an
einem
Platz vereinigt zum Bau einer koloſſalen Pyramide zu
dirigieren
, nicht ein Kinderſpiel gegen den kühnen Plan, tauſend
freie
Menſchen Meilen weit zerſtreut übers Land ſo in ihrer
Beſchäftigung
zu dirigieren, daß jeder die ganze Woche im
Schweiße
ſeines Angeſichts Dinge ſchafft, die er für ſich ſelber
nimmermehr verbrauchen kann, die er jedoch als einen Bei-
trag
liefert zu einer merkwürdigen Pyramide, welche unter dem
Namen
Wochenmarkt allwöchentlich auf ein paar Stunden auf-
gebaut
wird, und die, wenn ſie wieder abgebaut iſt, ihre Be-
ſtimmung
vollkommener erfüllt, als die koloſſalſten Prachtbauten,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
51050
und ganze Städte richtig mit überaus notwendigen Dingen
verſorgt
hat, in welchen die Tauſende, die ſie bewohnen, auch
nicht
die leiſeſte Ahnung haben, wie ſie dergleichen zu ſtande
bringen
ſollen!
Freilich glaubt man ſich des Nachdenkens über ſolch all-
tägliche
Dinge ganz überhoben, ſobald man ein bequemes
Wort
dafür hat, wieAustauſch der Bedürfniſſe”, “Gegen-
ſeitigkeit
der Dienſtleiſtungen” und dergleichen, die in der That
das
Problem bezeichnen.
Aber von welcher Tiefe und Fein-
heit
iſt die Löſung ſolcher Probleme, wenn wir ſie auch nur
au
ganz kleinen, ſimplen Vorgängen des Wochenmarktes ver-
folgen
!
Da ſitzt auf dem Markte meines Bezirkes allwöchentlich
eine
Bäuerin mit überaus appetitlicher, friſcher Butter vor dem
Hauſe
eines Arztes.
Nun aber ſieht die Frau ſo kerngeſund
aus
, daß der Arzt ganz entſchieden jahrelang keine Gelegen-
heit
haben würde, auch nur ein Krümelchen von dieſer Butter
zu
koſten, wenn er nur auf denAustauſch der Bedürf-
niſſe
oderdie Gegenſeitigkeit der Dienſtleiſtun-
gen
hingewieſen wäre.
Und doch iſt es ganz gewiß, daß der
Arzt
gerade die Butter von dieſer kerngeſunden Frau auf ſeinem
Tiſche
jahraus jahrein hat, und dieſe Thatſache genügt, um
mit
vollſter Zuverſicht zu behaupten, daß dieſe kerngeſunde
Bäuerin
doch allwöchentlich in irgend einer Weiſe von der
Heilkunſt
des Arztes einen Vorteil haben muß.
Denn da es
einmal
feſtſteht, daß er nichts als Heilkunſt und ſie nichts
als
Butter hat, ſo iſt es rein unmöglich, daß er zu der
Butter
komme, wenn er ihr nicht in einem merkwürdigen, wenn
auch
beiden völlig unbekannten Rundlauf der Vermittelungen
durch
eine Portion Heilkunde einen Gegendienſt leiſtet!
Nun wiſſen wir zwar ganz gut, daß dieſer Rundlauf der
Leiſtungen
durch das Geld repräſentiert wird, und in Bezug
auf
dieſes intereſſante Thema können wir gerade nicht
51151 daß ſich die Menſchen dazu gedankenlos verhalten; im Gegen-
teil
, es verwenden Viele ihre Gedanken ſo fleißig auf das
Problem
Geld, daß ſie für andere Dinge manchmal, wie man
zu
ſagen pflegt, beim beſten Willen weder Zeit noch Gedanken
haben
.
Allein gerade weil wir wiſſen, daß hier Geld mit im
Spiele
iſt, möchte man es uns am eheſten verzeihen, wenn wir
bei
unſerm Exempel der Ausgleichung zwiſchen Butter und
Heilkunſt
ein wenig länger verweilen.
Wir wollen, der Einfachheit halber, den Ausgleichungs-
weg
uns in der kürzeſten Weiſe denken, die nur möglich iſt.
Da ſchrägüber an der Ecke wohnt ein Kaufmann, bei
welchem
unſere Bäuerin regelmäßig Kaffee, Zucker, Reis,
Syrup
, Pfeffer und Salz a.
entnimmt. Der Kaufmann aber
und
ſein Haus mag von dem Arzt durchs ganze Jahr behan-
delt
werden, und wenn wir uns nun denken, daß der Arzt vom
Kaufmann
100 Mark Jahreshonorar erhält und dieſe Summe
wieder
jährlich für Butter an die Bäuerin verausgabt, und
ſie
wieder dieſelbe Summe dem Kaufmann durchs Jahr für
Materialwaren
giebt, ſo hätten wir die einfachſten Fäden des
Rundlaufs
in Händen, in welchem ſich die Gegenſeitigkeit der
Dienſtleiſtungen
vermittelt.
Hierbei ſpielten nun freilich die
100
Mark Geld eine Rolle, aber wenn wirs recht bedenken,
bloß
eine ſcheinbare Rolle;
denn jedesmal am Ende des
Jahres
hat der Kaufmann dieſelben 100 Mark wieder, die er
dem
Arzt zu Anfang des Jahres gegeben.
Wenn wir den
Lauf
des Geldes betrachten, ſo hat der Arzt nur das Geſchäft,
das
Geld vom Kaufmann zu nehmen, um es der Bäuerin zu
geben
;
die Bäuerin nimmt es vom Arzt und bringt es dem
Kaufmann
, und der Kaufmann nimmt’s von der Bäuerin und
giebt’s
wieder dem Arzt.
Der Rundlauf des Geldes iſt alſo
in
Wahrheit ein bloßes Ringelſpiel, in welchem der überaus
intereſſante
Gegenſtand rein zum Schein die Eigentümer
wechſelt
, um jedem auf kurze Zeit ein thörichtes Vergnügen
51252 bereiten. Der wahre Wert des Rundlaufs liegt im Werte
der
Leiſtungen;
denn während die 100 Mark jahraus jahrein
eigentlich
bloß zum Spaß zirknlieren, verzehrt der Arzt im
vollen
Ernſt und mit beſtem Wohlgefallen immerfort die
Buttern
der Bäuerin, genießt die Bäuerin mit innigem Be-
hagen
immerfort die Materialien des Kaufmanns und wird
das
Haus des Kaufmanns fortwährend und wir wollen
hoffen
, mit mindeſtens eben ſo gutem Erfolg von dem Arzte
mit
Heilkunſt traktiert.
Man bedenke aber, daß all dies nur ein Beiſpiel iſt, um
durch
eine Einfachheit, die in Wirklichkeit gar nicht ſo exiſtiert,
den
Nundlauf der Leiſtungen und den entgegengeſetzten Rund-
lauf
des Geldes zu verſiunlichen.
Man bedenke, daß in
Wahrheit
der Markt nicht bloß dem Arzte die Butter der
Bäuerin
zuführt, ſondern auch auf den unberechenbarſten und
komplizierteſten
Umwegen der Vermittelungen Tauſenden von
Menſchen
Lebensmittel liefert, die nicht im Entfernteſten den
Landbewohnern
durch ihr Thun und Laſſen direkte Gegen-
dienſte
leiſten können.
Man bedenke, daß Alles, was der
Handel
und Wandel in der Welt ſchafft und herbeiführt, Alles,
was
die großartigſten Maſchinen liefern und Alles, was in
Prachtgewölben
ausgeſtellt, auf Meſſen von der ewig thätigen
Iuduſtrie
angehäuft und über die Welt zerſtreut wird, nur
dann
gearbeitet und geſchaffen werden kann, wenn der Wochen-
markt
ſo gut iſt, den Arbeitenden Fiſche, Fleiſch, Butter, Obſt,
Brot
, Kartoffeln, Mehl, Grütze, Graupen, Kräuter, Grünes a.
zu liefern. Wenn man dies Alles bedenkt, und ferner, daß
auch
die Millionen, welche die großen Aktienunternehmen koſten,
nur
dahin gegeben werden, um ſich ſofort in die Welt der
Arbeitenden
und Schaffenden zu zerſtreuen, und, kaum in deren
Häude
gelangt, von ihren Frauen und Töchtern eiligſt in Klein-
geld
auf den Wochenmarkt gebracht zu werden, ſo muß man
bekennen
, daß derjenige, der den Wochenmarkt erſonnen,
51353 erſten Grundſtein zu unſerm Kulturweſen gelegt hat, und die
Gedankenloſigkeit
, mit welcher wir an dieſem Fundamentalbau
unſerer
Civiliſation ſo häufig vorübergehen, nur darin ihren
Grund
hat, daß das Wunder in ſeiner Vollkommenheit uns ſo
alltäglich
geworden iſt!
Soweit war ich in meinem Ideengang über die Wunder
der
Alltäglichkeit gekommen, als mich nach ſtillem Sinnen der
Gedankenflug
ſehr bald auf andere Gebiete unſeres Kultur-
daſeins
hinüberführte.
Wir leben inmitten einer Ordnung, mußte ich mir
ſagen
wo vielleicht Alles, was wir von alten, uns unbe-
kannten
Zeiten her ererbt haben, noch geringfügig iſt gegen
Einrichtungen
ſehr jungen Datums, deren Früchte wir nicht
minder
gedankenlos genießen, obwohl ſie tiefer eingreifen in
das
wirkliche Kulturdaſein und in unſerm geſellſchaftlichen
Leben
als hohe ſittliche Errungenſchaften daſtehen.
Wie oft leſen wir mit kindlicher Rührung von dem ge-
treuen
Kuecht, der den Willen ſeines Herrn mit Pünktlichkeit
und
Sorgfalt erfüllt und ſeines geringen Lohnes froh iſt für
einen
ſchweren Dienſt.
Wie oft vermeinen wir in Geringſchätzung
der
Alltäglichkeit, daß wir um vieles Geld gar nicht mehr
imſtande
wären, uns ſolcher Dienſte zu erfreuen, und vergeſſen
dabei
, daß ein getreuerer Bote, als ihn je die Simplicität
des
Altertums ſich denken konnte, alltäglich, ja allſtündlich
durch
unſere Straßen läuft und von Haus zu Haus trepp-
auf
, treppab eilt, um die wichtigſten Botſchaften der Menſchen
unter
einander aufs ſchleunigſte zu vermitteln, und wie
er
all dies thut, ohne die geringſten Anſprüche auf unſern
Dank
, und ohne irgend einen Anteil zu fordern von den
günſtigen
Erfolgen, die ſeine Votſchaften ſehr häufig für den
Empfänger
haben.
Daß ich niemanden anders als den Briefträger meine,
das
wird wohl ſchon jeder gemerkt haben.
Iſt doch
51454 Briefträger die einzige Sorte von Staatsbeamten, die jeder
gern
in ſein Haus kommen fieht! Der Briefträger hat
nicht
umſonſt ein friſches, freundliches Botengeſicht;
es drückt
dies
ein gewiſſes Selbſtgefühl des Bewußtſeins aus, daß er
in
den allermeiſten Fällen ein willkommener Gaſt iſt;
und
daß
er ein ſolcher iſt, rührt im Grunde genommen doch nur
wiederum
daher, daß er ein Kulturträger unſerer Zeit und
ein
überaus treffendes Zeugnis der ſittlichen Höhe unſeres
Kulturlebens
iſt.
Wir wollen von dem hohen Wert der geiſtigen Ver-
mittelung
überhaupt hier gar nicht ſprechen.
Die Schrift
und
der ſchriftliche Geiſtesverkehr nimmt eine ſo hohe Stufe
des
geiſtigen Lebens des Menſchen ein, daß wir, im vollen
Genuß
derſelben aufgewachſen, gar keinen Begriff mehr davon
haben
, was ſie für uns iſt, und was wir ohne ſie wären.

Es
müßte erſt für unſere Forſchergabe ein Mittel ausfindig
gemacht
werden, um eine Kenntnis von den graueſten Zeiten
des
Altertums zu erlangen, wo dieſes Mittel des geiſtigen
Lebens
fehlte, damit wir an dieſen Zeiten die Bedeutung der
ſpätern
und der jetzigen meſſen können, wo das Geſchriebene
nicht
bloß das Geſprochene erſetzt, ſondern an Wirkung weit
überragt
.
Wir wollen es für jetzt genug ſein laſſen und
nur
den faſt fabelhaſten Fortſchritt deutlich machen, den der
briefliche
Verkehr ſeit Beginn unſeres jetzigen Jahrhunderts
genommen
, und wir werden ſehen, wie wir nicht bloß den
alltäglich
gewordenen Austauſch der Geiſter, ſondern mehr
noch
die ſittliche Grundlage zu bewundern haben, auf der er
ſich
aufbaut.
Wer den Brieſwechſel des edelſten und verehrteſten, ge-
liebteſten
und gefeiertſten der deutſchen Dichter, wer Schillers
Briefwechſel
mit ſeiner Braut Charlotte
heutigen Tages
lieſt
, der wird inmitten dieſes Zeugniſſes eines überaus reichen
Seelenlebens
auch viele treffende Züge der damaligen
51555 Perſonen und Verhältniſſe mit großem Genuß darin wahr-
nehmen
;
unter dieſen aber ſteht obenan die wackere Boten-
frau
, die ein herrliches, patriarchaliſches Abbild des getreuen
Botentums
aus den Tagen unſerer Väter abgiebt.
Die wackere Botenfrau iſt die lebendige Poſt, die zu Fuß,
mit
einem Korbe auf dem Rücken, fortdauernd auf Reiſen iſt
zwiſchen
Rudolſtadt, Weimar und Jena.
Aus den beiläufi-
gen
Andeutungen der Briefe, die faſt regelmäßig Etwas von
der
erwarteten” oder derangekommenen” oderbald ab-
gehenden”
Botenfrau enthalten, gelangt man unwillkürlich
dahin
, ſich mit ihrem Weſen und ihrer Erſcheinung ſo vertraut
zu
machen, daß man ſie faſt lieb gewinnt.
Sie iſt nicht ſehr
verzärtelter
Natur, ſie geht im Sommer barfuß und im Winter
in
Mannsſtiefeln, aber ſie verſteht ſich auf die Zärtlichkeiten
des
Herzens, denn ſie macht ſehr gern mündliche Beſtellungen
über
das Wohlbefinden und gute Ausſehen des Schreibers wie
des
Empfängers ihrer Botſchaften, und Schiller wie Charlotte
verraten
gar nicht ſelten in ihren Briefen, wie dieſe münd-
lichen
Beigaben der wackern Frau ihnen nicht bloß wichtig,
ſondern
auch willkommen ſind.
Aus beiläufigen Bemerkun-
gen
in dieſem Briefwechſel erfahren wir auch, wie die getreue
Botin
keineswegs ein teilnahmloſes, blindes Fatum ihres
ſchweren
Gewerbes iſt.
Sie kennt die Beziehungen ihrer
kleinen
Kundſchaft zu einander ſehr wohl.
Sie erzählt zuweilen
Schiller
, ob auch Goethe und von wem einen Brief bekommt,
und
bei wem ſie außerdem noch in den erwähnten Städten
einen
Brief beſtellt hat.
Sie iſt obenein auch noch ein vor-
trefflicher
Mahner für Jeden, der etwa eine Antwort ſchuldig
iſt
;
und wer weiß, ob nicht manch herrlich gedachter Brief
in
jetziger Zeit nur deshalb ungeſchrieben bleibt, weil wir eben
ſolcher
Mahnerinnen entbehren, vor deren perſönlichem Beſuch
die
gewöhnliche Ausrededes Unwohlſeins” oderdes Mangels
an
Zeit” ſchwindet! Sie kommt alle Woche einmal an
51656 geht faſt regelmäßig an einem beſtimmten Tage ab; doch wartet
ſie
auch zuweilen, wenn ein Kunde noch nicht mit dem
Briefe
fertig iſt;
ſie erntet dafür auch Dank und erfreut
ſich
der Teilnahme der Briefſchreiber.
Ja, wenn ſie erkrankt,
iſt
große Not unter den Korreſpondenten.
Ihre Wieder-
geneſung
wird durch längere Briefe gefeiert, die für ein vier-
zehntägiges
Entbehren des geiſtigen Verkehrs Entſchädigung
bieten
müſſen.
Von ſolch rührender Naivetät waren die Verkehrsgelegen-
heiten
zwiſchen drei Orten, die alle drei Reſidenzen regierender
Fürſten
waren, und von denen die eine eine berühmte Pflanz-
ſchule
der Wiſſenſchaft, die andere die blütenreichſte Stätte der
deutſchen
Bildung, der Sitz deutſcher Volkskultur war, und
all’
die Orte liegen nur in geringfügiger, ſtundenweiter Ent-
fernung
von einander!
Unzweifelhaft bedurfte es damals noch einer ſolch wackern
Botenfrau
, um mit einiger Zuverläſſigkeit ihren Händen die
teuern
Herzensergüſſe anvertrauen zu können.
Wenn bei ihrer
Erkrankung
der ganze gegenſeitige Geiſtesverkehr dreier deut-
ſcher
Reſidenzen darniederlag, um erſt wieder in Fluß zu ge-
raten
, ſobald die wackere Frau unter vollſter Teilnahme ſämt-
licher
Korreſpondenz-Liebhaber ſich wieder auf den Weg machen
konnte
, ſo muß wohl eine große Portion ſittlichen Vertrauens
auf
ihr geruht haben, das man nicht ſo bald jeder Andern
ſchenken
konnte.
Wenn Schiller und Charlotte von ihr mit
ſolcher
Teilnahme und Achtung ſprechen, dürfen wir ſie gewiß
in
ihrer Weiſe als ein gutes Muſterſtück treuer Boten be-
trachten
.
Die gute, wackere Frau, ſie hat in ihren Wochen-
märſchen
ſchon darum ein ſittliches Verdienſt erworben, als
eben
der Briefwechſel, der uns von ihr Kunde giebt, durch
ihre
Hände ging, und ihre getreulichen Beſorgungen es nur
möglich
machten, daß die deutſche Litteratur durch ſeine
51757 öffentlichung einen Schatz mehr aus dem Leben und Wirken
des
geliebteſten der Dichter beſitzt.
Mit welchen Schätzen beladen rennen aber heutigen Tags
unausgeſetzt
alle Briefträger durch unſere Straßen?
! Von
welch’
ſittlichem Vertrauen iſt das allenthalben hindringende
Poſt-Inſtitut
getragen, daß wir Geiſtesergüſſe, Geſchäfts-
geheimniſſe
und Herzensangelegenheiten ſo ohne weiteres in
Briefen
der Poſt anvertrauen! Wie hoch müſſen wir ſie halten,
wenn
wir der vollen Zuverſicht uns hingeben, daß Menſchen,
die
wir nie im Leben geſehen haben, unſern Brief, an dem
uns
außerordentlich viel liegt, ſchon richtig ſortieren, regelrecht
verpacken
, in den richtigen Poſtbeutel ſtecken, nach dem richtigen
Wagen
befördern werden, damit er nur eiligſt und pünktlich
per
Eiſenbahn oder Kourier-Poſt an ſeinem Beſtimmungsort
anlange
, woſelbſt ihn wieder uns völlig unbekannte Menſchen
aus
der Verpackung nehmen, ſortieren und einem Briefträger
übergeben
, der ſich ſofort auf den Weg machen wird,
um
unſern Adreſſaten aufzuſuchen und ihm den Brief ab-
zuliefern
!
Freilich wundern wir uns gar nicht mehr darüber und
am
allerwenigſten haben wir Luſt, uns Gedanken um Dinge
zu
machen, für die wir bezahlen.
Wir tragen ja das
Porto
, und die Poſt macht noch ein gutes Geſchäft dabei;
folglich müſſen alle Briefe richtig beſorgt werden, und wir
ſind
allen Nachdenkens überhoben.
Und dennoch welchen
Moraliſten
und Philoſophen, Propheten oder Gottesverkünder
des
Altertums, denen die Verſittlichung des Menſchengeſchlechts
als
das höchſte Ziel ihres Strebens galt, wir herzaubern
möchten
in unſere Gegenwart, es würde jeder von ihnen be-
kunden
, daß die ſittliche Garantie, unter welcher unſer alltäg-
licher
Briefverkehr ſteht, einen höhern Zuſtand der Kultur be-
zeugt
, als es jemals ihnen, ſelbſt in ihren idealſten Hoffnun-
gen
, in den Sinn gekommen iſt!
51858
Wir wiſſen nicht, wann die ideale Zeit ſein wird, wo der
Löwe
Stroh frißt gleich dem Rinde und Pardel und Schaf
friedlich
mit einander ſpazieren gehen.
Die Zeit aber iſt
wahrhaftig
nicht weniger bewundernswert, wo Briefe, die all-
täglich
über die Millionen der Geſchäftswelt disponieren, die
den
geiſtigen Verkehr, die die Herzensverhältniſſe, die häus-
lichen
Geheimniſſe und die geſellſchaftlichen Angelegenheiten be-
treffen
, ganz ſorglos zu Millionen in fremde Hände übergeben
werden
, durch nichts verſchloſſen, als durch ein wenig Klebe-
gummi
, höchſtens durch eine Oblate oder etwas Siegellack, um
durch
Menſchen, die niemand von den Schreibern kennt, aufs
eiligſte
Hunderte von Meilen, ja in die fernſten Weltteile be-
fördert
zu werden, für einen Lohn, mit dem wir uns genieren
würden
, einen Boten abzufinden, der für uns zweimal die
Treppe
auf und ab gelaufen iſt.
Aber die ſittliche Garantierung des brieflichen Verkehrs iſt
noch
weiter in ihrer Sorgfalt gegangen.
Wenn wir einen Brief abſenden und das Porto im Vor-
aus
bezahlen wollen, könnte es leicht kommen, daß unſer un-
getreuer
Privatbote, den wir zur Poſt ſenden, das Geld behält
und
den Brief beiſeite ſchafft.
Um auch dieſe Beſorgnis zu
heben
, brauchen wir uns nur mit Freimarken zu verſehen uud
eine
ſolche ſtatt der Bezahlung auf die Adreſſe zu kleben;
ja
bei
den Kartenbriefen iſt die Poſt ſogar ſo zuvorkommend, uns
ein
ſauberes Couvert zu geben, in das wir unſere Korreſpon-
denzen
nur hineinzuſtecken brauchen.
Selbſt das Bißchen
Klebegummi
, deſſen wir als Verſchluß bedürfen, iſt ſchon
daran
, und um uns ganz und gar die Mühe des Übergebens
an
einen Poſtbeamten zu erſparen, ſind Kaſten in den Straßen
aufgeſtellt
, in die wir den Brief hineinwerfen dürfen, in der
feſten
Zuverſicht, daß er ſeinen Beſtimmungsort weit ſicherer
und
pünktlicher erreicht, als wenn wir ihn direkt durch unſern
treueſten
Leibdiener mit eigener Equipage oder gar
51959 die wackere Botenfrau der Schillerſchen Korreſpondenz beſorgen
wollten
!
Iſt es aber recht, Inſtitute von ſolch’ ſittlicher Garantie
alltäglich
ſo gedankenlos zu gebrauchen?
Doch bis zu welchen Ketzereien verliere ich mich in
meinen
Gedankenläufen?
Es iſt hohe Zeit, daß ich umkehre;
es iſt Zeit, daß ich Rechnung ablege, wie ich in dieſes Hin
und
Wieder der Betrachtungen hineingeraten.
Es iſt Zeit,
daß
ich es ſage, welches Geſpräch mich aus den Sinnen
über
eine wiſſenſchaftliche Frage herausgehoben und mir eine
Löſung
, die ich in der Ferne ſuchte, auf einem Gebiete ent-
gegenführte
, das uns ſo überaus nahe ſteht, wie die Alltäg-
lichkeit
.
Ich hatte über die Mathematik, ihre zweitauſendjährige
Geſchichte
, den wundervoll lichten, unausgeſetzt auf ihre Weiter-
bildung
gerichteten Geiſt ihrer Meiſter und über die ſonderbare
Wahrnehmung
nachgedacht, wie gar ſo wenig Jahre des
Studiums
ausreichen, ſich ihre Reſultate zu eigen zu machen.
Eben ſchwebte mir der große Pythagoras vor, der eine Heka-
tombe
den Göttern darbrachte für die Entdeckung ſeines Lehr-
ſatzes
, den jetzt ein zehnjähriger Knabe recht gut begreifen und
beweiſen
kann;
da wurde ich, wie bereits erzählt, in meinem
ſtillen
Sinnen durch das alltägliche Geſpräch unterbrochen.

Es
lautete wie folgt:
Guten Morgen, Papa, wie ſpät iſt es ſchon?
Drei Viertel auf Acht, Kind.
Da will ich zur Markthalle.
Warte, Kind, du kannſt mir den Brief mitnehmen.
Zur Poſt?
Nein, wirf ihn nur in den Kaſten!
Adien, Papa.
Adieu, Kind!
52060
Als ich wieder allein war und mich nach dem Pythagoras
umſah
, mit dem ich mich eben unterhalten wollte, da kam
mir’s
plötzlich in den Sinn, daß, wenn der große, gefeierte
Denker
des Altertums wirklich mir die Ehre ſeines Beſuches
jetzt
erwieſen hätte und ſomit Zeuge des alltäglichen Geſprächs
geweſen
wäre, das ich eben geführt, er vielleicht bei all’ ſeinem
immenſen
Scharfſinn mehr der Jahre bedurfte, um dies Ge-
ſpräch
in ſeinem ganzen Umfang gründlich verſtehen zu lernen,
wie
jetzt nötig ſind, um den ganzen Kurſus der Mathematik
durchzumachen
!
Daß dies wahr iſt, das wird ſchwerlich Jemand beſtreiten,
der
auch nur obenhin die Fülle der Ideen überblickt, welche
dem
ſcheinbar gedankenarmen Geſpräch zu Grunde liegen.
Ich glaube nicht, daß irgend eine mit Hieroglyphen oder Keil-
ſchriften
bedeckte Mauer des Altertums eine ſolche Summe
von
vorausgeſetzten Menſchengedanken, ſinnreichen Erfindungen
und
wundervollen Kulturerlebniſſen enthält als das Alltäg-
lichſte
, in dem wir uns fortwährend bewegen.
Unſer gewöhu-
lichſtes
Leben iſt ein ſo überreiches Schwelgen in vorge-
arbeiteten
Menſchengedanken, daß wir zu keinem neuen
Gedanken
Zeit hätten, wenn wir nicht die alten ohne
wiederholende
Gedanken-Operationen hinnehmen
wollten
!
Wir ſind ſehr geneigt, zu glauben, daß unſere Gedanken
in
den Büchern ſtecken, die die Wiſſenſchaft repräſentieren;
aber
das
iſt ein Irrtum.
Die Wiſſenſchaften, wie ſie auch heißen
mögen
, ſtellen nur zum allerkleinſten Teil’ die Eut-
ſtehung
, die Geneſis ſolcher Gedankenreihen dar, die uns
methodiſch
überſichtlich gemacht werden können.
Das große
Gedanken-Daſein
jedoch, in dem wir wirklich leben, liegt un-
methodiſch
durcheinander verſteckt in den tauſendfältigen Dingen,
unter
welchen wir uns von frühe auf bewegen, und wir
nehmen
es hin wie überreiche Erben ohne die Mühen des
52161 werbens und zufrieden mit uns, wenn wir mit der ererbten
Ausſtattung
nur noch durch eine kleine Zuthat die Erbſchaft
erweitern
können.
Aber hiermit müſſen wir nicht nur zu-
frieden
ſein, ſondern wir dürfen es auch.
Ja, es iſt ein
Kulturgeſetz
, das uns dazu zwingt, ein Kulturgeſetz, das für
die
Wiſſenſchaft ebenſo wie für das Leben gilt.
Wir können
ebenſowenig
alle geiſtigen Vorarbeiten durchmachen, die den
großen
Pythagoras auf die Erfindung ſeines berühmten Lehr-
ſatzes
leiteten, ſo wenig wir mit dem Frühſtück warten können,
bis
wir uns ſelber etwa Thee aus China oder Kaffee aus
Amerika
geholt haben werden!
Das Kulturgeſetz, das ich meine, geht auch noch weiter.
Wir müſſen und dürfen nicht nur alle geiſtigen Vor-
arbeiten
der Geſchlechter, die vor uns lebten, als ererbtes
Eigentum
hinnehmen, ſondern unſere eigentliche Kulturaufgabe
beſteht
darin, Alles, was wir ſelber etwa auf dem ſchweren
Wege
der Gedanken erſinnen, erfinden oder ſchaffen, ſo ins
Leben
hineinzutragen, daß es ſobald wie möglich alltäglich
und
von allen, die nach uns kommen, eben ſo ohne ſelbſt-
ſchöpferiſche
Gedanken-Operationen benutzt, genoſſen und auf-
genommen
werde, wie wir es mit der Uhr in der Weſten-
taſche
, mit dem Markt und der Briefpoſt und nicht minder
und
in gleicher Berechtigung mit dem Lehrſatz des Pythagoras
machen
.
Und wirklich, wir machen es ſo; denn wunderbar genug
leben
und wirken wir nach Kulturgeſetzen, ſelbſt wenn dieſe
noch
nicht in Büchern niedergeſchrieben worden ſind.
So
lange
Schöpferwerke der Kultur uns neu ſind, ſtutzen wir vor
ihnen
, denn ſie fordern uns zu Gedanken-Operationen heraus
Mancher
erinnert ſich vielleicht noch der Zeit, wo das erſte
Stipp-Feuerzeng
im väterlichen Hauſe eine wahrhafte Gedanken-
Rebellion
erzeugte und nicht blos die alte, gute Blechdoſe mit
Stahl
, Stein und Zunder, ſondern ganze Berge
52262 Weltanſchauungen erſchütterte und antiquierte. Die Orthodoxie
hat
gar ſo unrecht nicht, wenn ſie in jeder neuen Erfindung
den Böſen” wittert, der die beſtehende Autorität umſtürzt.
Jede neue Gedankenſchöpfung reizt zum Denken und iſt wirklich
ſo
lange gefährlich, bis ſich an ihr das Kulturgeſetz erfüllt,
das
heißt, bis ſie alltäglich und gedankenlos benutzt und
genoſſen
wird.
Und ging es mit der Eiſenbahn beſſer? Ging es mit der
Photographie
beſſer, ging es mit der Telegraphie und tauſend
andren
Dingen beſſer?
Sie erfüllen alle das Kulturgeſetz
und
ſollen es erfüllen;
ſie werden zu bloßen Vorarbeiten der
Kultur
, die man endlich ohne Gedanken-Operation hin-
nimmt
.
Sie werden alltäglich, und ſie ſollen alltäglich
werden
:
wie mein alltägliches Geſpräch.
523
III. Die Entzifferung der aſſyriſch-babyloniſchen
Keilſchrift.
Nirgends erfaßt den Menſchengeiſt ein tieferer Drang des
Wiſſensdurſtes
als dort, wo er ſich gegenüber der Menſchen-
ſtimme
untergegangener Völker befindet.
Was nächtlich der
Sternenhimmel
in lichter Naturſchrift uns aus der Geſchichte
des
Weltalls erzählt, ſpricht auch unverſtanden zu unſerer
Phantaſie
in erhebenden Tröſtungen ewiger Geſetzlichkeit.
Eine
Inſchrift
menſchlicher Hand aber, in der untergegangene Ge-
ſchlechter
das tiefe Bedürfnis hatten, zur Nachwelt zu ſprechen,
dringt
wie ein Ruf nach Menſchenverſtändnis und menſchlicher
Teilnahme
an unſer Herz.
Sie wirkt wie ein Hilferuf auf
uns
ein, um das Menſchlichſte des Menſchenweſens, das An-
gedenken
der Vergangenheit, zu retten aus dem Meere der
Vergeſſenheit
, das auch uns dereinſt überfluten wird.
Wenn die neu entdeckten Pfahlbauten das Thema von ver-
geſſenen
Menſchengeſchlechtern in uns aufrufen und Teilnahme
für
ihr Daſein erwecken, ſo enthält unſer Wiſſen vom Leben
vorweltlicher
Menſchengeſchlechter den Troſt, daß die ſtummen
Ueberreſte
ihrer einſtmaligen Exiſtenz ein ſprechendes Zeugnis
ablegen
, an das ſie ſelber nicht gedacht.
Wo aber eine In-
ſchrift
in rätſelhafter Form vor uns ſteht, drückt uns das
Gefühl
der Ohnmacht nieder, daß auch die höchſte Gabe der
Kultur
, das Schriftwort, vergeblich der Vergeſſenheit entgegen-
wirken
, vergeblich den Notſchrei nach Erlöſung in unſeren
Herzen
erſchallen laſſen ſoll.
Wir ſtehen entſetzt vor dem
Rätſel
, daß das Schickſal nicht nur die Vernichtung
52464 kultivierte Völker ausgeſprochen, ſondern auch, in grauſamem
Hohn
, ihrer Worte an die Nachwelt ſpottet.
Unſere Vorfahren in den vorletzten Jahrhunderten waren
freilich
hiergegen durch ihren Glaubens-Troſt gepanzert.
Hiero-
glyphen
und Keilſchrift waren ihnen Hilferufe der Heiden,
deren
Untergang, aber nicht deren Daſein uns intereſſiert.
Die
Menſchengeſchichte
, welche die heilige Schrift in verbürgter
Faſſung
aufbewahrt, bedurfte nach der frommen Anſchauung
keiner
weitern Erleuchtung durch Zeugniſſe der Heiden, die der
Weiſung
desheiligen Geiſtes” entbehren.
Aber in den letzten
hundert
Jahren, als der Glaube an die Unfehlbarkeit der
bibliſchen
Geſchichten durch die kritiſchen Unterſuchungen derſelben
erſchüttert
wurde, fing man an, den Zeugniſſen der Menſchen-
geſchicke
auch in jenen Schriften der Heiden nachzuſpüren, die
nicht
wie die Werke der Griechen und Römer eine Art Toleranz
auch
in chriſtlichen Glaubenszeiten genoſſen.
Schon vor hundert
Jahren
wagte es ein deutſcher Orientaliſt, Tychſen, auszu-
ſprechen
, daß Hieroglyphen und Keilſchriften, viel älter als
die
Schriften griechiſcher Hiſtoriker, zur Kontrole der in der
Bibel
enthaltenen Erzählungen von größter Wichtigkeit werden
könnten
.
Der Entzifferung der Hieroglyphen-Schrift der Aegypter
hat
ein mit Vorbedacht für die Nachwelt ausgeſührtes Denk-
mal
großen Vorſchub geleiſtet.
Während der Expedition des
großen
Napoleon nach Ägypten (1798) wurde dort derStein
von
Roſette” aufgefunden, der drei gleichlautende Inſchriften
in
drei Schriftformen enthielt, und deſſen Nachbildung man
im
Berliner ägyptiſchen Muſeum betrachten kann.
Die älteſte
Inſchrift
war die ſogenannte heilige Hieroglyphenſchrift, worin
ehedem
die Prieſterſchaſt ihre Gedanken ausdrückte.
Die zweite
Inſchrift
, gleichfalls hieroglyphiſch, iſt in einer Art weltlicher
Bilderſchrift
niedergelegt, wie ſie in Ägypten gebraucht wurde,
als
auch profane Menſchen das Bedürfnis des
52565 empfanden und befriedigten. Die dritte Inſchrift aber iſt die
griechiſche
Überſetzung, welche in der offenkundigen Abſicht um
das
Jahr 196 vor unſerer Zeitrechnung abgefaßt worden iſt,
um
die nebenſtehenden Schriftſtücke des Altertums der Nachwelt
verſtändlich
zu machen.
War es auch nicht leicht, hieraus die
Bilderſchrift
der Ägypter zu enträtſeln, ſo legte doch dieſer
Fund
den Grundſtein zu den Enträtſelungen, welche mit gutem
Erfolge
ſeit den letzten hundert Jahren von den Forſchern be-
trieben
worden ſind.
Ähnlich, aber doch anders, ſtand es um die Entzifferung
der
Keilſchriſt.
In einem Dorfe, namens Vehiſtun, in Perſien befindet ſich
eine
Bergwand gleichen Namens von einer Höhe von nahezu
500
Metern.
In dieſer Wand ſind Keil-Inſchriſten enthalten,
welche
, auf geglättetem Geſtein eingegraben und mit ſehr halt-
barem
Firniß-Überzug verſehen, der vernichtenden Einwirkung
der
Zeit glücklich widerſtanden.
Eine Vergleichung dieſer In-
ſchriften
unter einander zeigt nun, daß der allgemeine Charakter
der
Zeichen zwar einer und derſelbe iſt.
Es beſtehen alle Zeichen
aus
geraden, ſenkrechten und horizontalen, keilartigen Strichen,
ſo
daß die Kunſt des Schreibens nicht in vereinzelten Schrift-
zügen
gleich den modernen Buchſtaben, ſondern nur in der
ſehr
einfachen Kenntnis beſtand, wie dieſe Keilſtriche zu ein-
ander
geſtellt werden.
Allein bei der Gleichheit der Zeichen-
form
laſſen dennoch die verſchieden kombinierten Keile, wie die
Anzahl
ihrer Kombinationen erkennen, daß ſie drei verſchiedene
Sprachen
repräſentierten, und daß wir ſomit auch hier ein
Denkmal
beſitzen, wodurch man im Altertum beſtrebt war,
eine
alte Sprache und deren Schrift vor dem Untergang der
Vergeſſenheit
durch Übertragung in eine moderne zu retten.
Daß dieſe modernere Sprache uns auch unbekannt und ihre
Schrift
, in Keilzeichen beſtehend, nicht minder rätſelhaft als
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
52666
die ältere blieb, war freilich ein Mißgeſchick, welches die
Schöpfer
des Denkmals nicht abwenden konnten.
Die Betrachtung der dreiſprachigen Inſchrift führte aber
die
Forſcher zu der ſehr richtigen Vermutung, daß dies Denk-
mal
von den Vorgängern der griechiſchen Weltherrſchaſt, alſo
von
den Perſern herrühre, und demnach die modernſte dieſer
Keilſchriſten
eine perſiſche ſei.
Den danebenſtehenden zweiten
Text
erklärte man für eine in mediſcher Sprache und älterer
Keilſchrift
angefertigte Übertragung.
Den dritten Text endlich
ſah
man für aſſyriſch-babyloniſch an und machte die
Vorausſetzung
, daß die perſiſchen Eroberer und Zerſtörer der
aſſyriſch-babyloniſchen
Reiche einen Wert darauf gelegt haben,
ihren
Ruhm allen kommenden Menſchengeſchlechtern in den
vorzüglichſten
Sprachen und Schriftzeichen der unterworfenen
Länder
zu verkünden und vielleicht nebenbei auch die gute Ab-
ſicht
hatten, die moderne perſiſche Keilſchrift zum Wegweiſer
des
Verſtändniſſes für die älteren Schriftzeichen zu machen.
Dieſe Vorausſetzung als richtig angenommen, mußte es
demnach
als die nächſte und noch am leichteſten zu löſende
Aufgabe
erſcheinen, zuerſt den perſiſchen Text zu erforſchen,
und
hierzu hat denn auch ein deutſcher Gelehrter, Georg
Friedrich
Grotefend
(1775—1853) in Göttingen, am Anfang
unſeres
Jahrhunderts den erſten Schritt gethan, den bald glück-
liche
Erfolge zur Enträtſelung der perſiſchen Keilſchrift krönten.
Die Iugend der perſiſchen Keil-Inſchrift von Behiſtun
verriet
ſich den Forſchern dadurch, daß man im Ganzen in
dieſer
Schrift nur circa 40 kombinierte Charaktere auffand,
während
man in der anderen für alt-mediſch gehaltenen In-
ſchrift
an 200 verſchieden zuſammengeſetzte Keile, in der als
aſſyriſch-babyloniſch
angeſehenen Inſchrift gar 400 ſolcher
Charaktere
zählte.
Aus dieſem Umſtand ſchloß bereits Niebuhr
(1776—1831), daß die Inſchrift mit 40 Charakteren aus Buch-
ſtaben
entſprechend allen modernen Schriften beſtehe,
52767 die anderen Inſchriſten keineswegs aus Buchſtaben gebildet
ſein
können und demnach die Schriftweiſe älterer Zeiten repräſen-
tieren
, wo man ſeine Gedanken und Vorſtellungen durch Bilder
oder
ſymboliſche Zeichen ausdrückte.
Unter dieſen Zeichen der
perſiſchen
Inſchrift erkannte ſodann Tychſen (1734—1815)
richtig
, daß ein ſchräger Keilſtrich, der ſehr häufig vorkommt,
das
Trennungs-Zeichen zwiſchen Wort und Wort bilde.
Auch
dieſes
Trennungs-Zeichen trägt das Gepräge der Iugend an
ſich
.
Es fehlt in den älteſten hebräiſchen Schriften wie in den
nunmehr
entdeckten phöniziſchen und moabitiſchen Schriftſtücken,
die
der hebräiſchen Sprache und Schreibweiſe analog ſind.
In
dieſen
älteſten Denkmälern der Geſchichte iſt Wort an Wort ſo
eng
angereiht, daß es nicht wenig Mühe koſtet, jedes zu ſondern.
Daß man in der perſiſchen Keilſchrift durch ein beſonderes
Zeichen
dafür ſorgte, die Worte zu trennen, berechtigte zu dem
Schluß
, daß dieſe Schrift einer Zeit angehört, wo man bereits
den
Wunſch hegte, die Schriften auch den weniger gelehrten
und
weniger geübten Leſern zugänglich zu machen.
Endlich reihte ſich dieſem glücklichen Nachſpüren auch noch
die
richtige Vermutung des däniſchen Gelehrten Münter an,
daß
dieſe Keilſchriften nicht gleich der hebräiſchen Schrift von
rechts
nach links, ſondern gleich den modernen von links nach
rechts
geleſen werden müſſen.
Auf Grund all’ dieſer treffenden Verſuche, die überein-
ſtimmend
darauf hinweiſen, daß wir hier Denkmale eines ver-
hältnismäßig
jüngeren Volkes vor uns haben, das aber Grund
hatte
, ſeinen Ruhm auch in älteren Schriftzeichen zu verewigen,
that
Grotefend den kühnen Schritt, einige perſiſche Königs-
namen
wie Xerxes, Darius Hyſtaspes in den Inſchriften
aufzuſuchen
.
Sein Scharfblick leitete hierin zu glücklichen Kom-
binationen
, wodurch man einige Buchſtaben kennen lernte.
Die Vergleichung mit anderen Worten führte denn auch bald
die
ſpäteren Forſcher zur Kenntnis des ganzen Alphabets.
52868 Und da inzwiſchen auch die altperſiſche Sprache durch ander-
weitige
Studien des Indogermaniſchen, ihres Urſprunges, wie
des
Neu-Perſiſchen, ihres Ausläufers, den Forſchern zugänglich
wurde
, war man imſtande, die perſiſche Keil-Inſchrift ſowohl in
ihrem
Wortlaute wie ihrem Inhalte vollſtändig zu entziffern.
Die Inſchrift von Behiſtun war nicht das einzige uns
erhaltene
Denkmal perſiſchen Urſprungs.
Man entdeckte in der
Nähe
des Felſens und in der Umgebung von Perſepolis, der
ehemaligen
Hauptſtadt Perſiens, mehrere Keil-Inſchriſten, die
der
glücklichen Entzifferungs Arbeit nicht widerſtanden.
Wir
wiſſen
nunmehr vorzüglich durch die gründlichen Arbeiten
von
Spiegel (geb.
1820) , daß die großen wie die kleineren
Inſchriften
nur zum Ruhme der perſiſchen Könige und zur
Verkündigung
ihrer Thaten, ihrer Bauten und Siege angefertigt
wurden
.
In all’ dieſen wird auch der GottAuramazda”
(ſonſtOrmuzd”) als Lichtgott und Schöpfer alles Guten
feierlich
bekannt, unter deſſen Schutz all die Großthaten dieſer
Könige aller Könige der Erde” geſchehen ſeien.
Man ſollte nun wohl meinen, daß mit der Entzifferung
des
Inhalts der perſiſchen Keilſchriften einerſeits das lebhaſte
Intereſſe
für die Ergründung des aſſyriſch-babyloniſchen Textes
verſchwinden
und andererſeits dieſe Ergründung ſehr leicht ge-
worden
ſein müßte.
Allein beide Vorausſetzungen haben ſich
faktiſch
nicht als zutreffend erwieſen.
Das Intereſſe für den Inhalt der aſſyriſchen Überſetzung
des
eigentlich perſiſchen Textes konnte ſich freilich durch die
Entzifferung
des letzteren abſchwächen.
Wußte man ja, daß
in
dieſem perſiſchen Denkmal nur ein Stück Weltgeſchichte dar-
gelegt
wird, das bereits durch die griechiſchen Geſchichtsſchreiber,
wie
Herodot und Xenophon, urbar gemacht worden war.
Allein
die
Ausgrabungen von Niniveh und Babylon, wo Keilſchriften
älteren
, ja älteſten Urſprunges in gewaltiger Maſſe entdeckt
wurden
, und zwar aus Zeiten, wo andere Urkunden, mit
52969 nahme der bibliſchen gelegentlichen Erwähnungen, ganz und
gar
fehlen, flößten ein mächtiges Intereſſe für die Entzifferung
ein
.
Die ſeit den letzten Jahrzehnten enthüllten Prachtbauten
einer
untergegangenen, mächtigen Welt, die rieſigen Bildwerke,
welche
die Paläſte der aſſyriſchen Herrſcher und die Tempel
ihrer
Götter zierten, und die Keilſchriften, welche zu ihrer
Erläuterung
dienten, wurden eine ſtets wachſende Auſgabe
zur
Entzifferung, wo es galt, einen wichtigen Teil un-
bekannter
Weltgeſchichte zu enthüllen.
Die lesbar gewordene
perſiſche
Keilſchrift wurde dadurch als die einzige und alleinige
Vorſtufe
zur Enthüllung der aſſyriſch-babyloniſchen Schrift
von
der höchſten Bedeutung.
Bot ihr Inhalt auch für die
perſiſche
Geſchichte keine große Ausbeute, ſo konnte ſie doch zu
der
reichſten Ernte führen, welche in den viel älteren, echten
aſſyriſchen
Originalfunden dalag.
Aber das Rätſel wollte ſich ſo leicht nicht löſen laſſen,
wie
man vermuten ſollte.
Was kann es für Schrift ſein, die an 400 verſchiedene
Zeichen
zum Ausdruck ihres Inhalts braucht?
Sind dieſe
Zeichen
Repräſentanten einer Sprache gleich unſeren Buchſtaben,
ſo
ſind ihrer viel zu viel, ſelbſt wenn ſie die feinſten Ab-
ſtufungen
der von menſchlichen Sprachwerkzeugen hervorge-
brachten
Laute darſtellen wollten.
Sollen dieſe Charaktere in
der
Weiſe der Hieroglyphen nur in Bildern beſtimmte Ge-
danken
wiedergeben, ſo mußten ſie doch mindeſtens in ſolchen
Gegenſtänden
erkennbar ſein, die, wie die Könige, zu deren
Ruhm
ſie dienen ſollten, einen Anſpruch auf irgend ein ent-
ſprechendes
Bild haben.
Eine Schrift, von der man aus dem
perſiſchen
Text ganz beſtimmt wußte, daß darin Cyrus, Darius,
Xerxes
, Artaxerxes, Hyſtaspes, Achamenes und ganz beſonders
der
hochbelobte Gott Auramazda vorkommt, und die gleichwohl
keinen
Anhalt bot, auch nur einen einzigen dieſer Namen ſicher
aufzufinden
, war ein Rätſel unlösbarer Art.
53070
Und welche Sprache war die der Aſſyrer?
Einerſeits ließen die Namen Sanherib, Nabſchake a. ,
welche
in der Bibel genannt ſind, auf eine Verwandtſchaſt mit
dem
Hebräiſchen ſchließen.
Andererſeits macht eine hiſtoriſche
Stelle
in den Büchern der Könige, wie im Jeſaias das Ge-
genteil
wahrſcheinlich.
Es ſchildert dieſe Stelle in draſtiſcher
Weiſe
, wie Rabſchake als Herold des aſſyriſchen Königs an
die
Mauer des belagerten Jeruſalem tritt und daſelbſt das
Volk
in hebräiſcher Sprache anredet.
Die Fürſten der be-
lagerten
Stadt bitten ihn, ſich der aramäiſchen Sprache zu be-
dienen
, die ſie verſtehen und die dem Volke fremd ſei.
Der
Herold
verweigert dies und erklärt, gerade zum Volke in einer
dieſem
verſtändlichen Sprache reden zu wollen, damit dieſes
ihm
die Thore öffne und ſich ergebe.
Hieraus glaubte man
ſich
berechtigt, zu ſchließen, daß die Sprache der Aſſyrer nicht
verwandt
ſein könne mit der der Hebräer.
Und ſomit ſchien
ſelbſt
die leiſeſte Spur zu verſchwinden, um jemals eine in
aſſyriſcher
Sprache abgefaßte Inſchrift enträtſeln zu können,
ſelbſt
wenn man das Rätſel der 400 Schriftzeichen zu löſen
imſtande
wäre.
Da brachte denn im Jahre 1849 der leider der Wiſſen-
ſchaft
zu früh entriſſene engliſche Forſcher Hinks mitten
im
Wirrſal unbegründeter Hypotheſen das erſte ergebnisreiche
Licht
über den wahren Charakter dieſer Schriftzeichen und
legte
den Grund zu einer Entzifferung, die gegenwärtig jeden
Zweifel
an ihrer Richtigkeit niederſchlägt.
Das Licht, welches Hinks über die Schriftzeichen der
Aſſyrer
verbreitet, beſteht in folgender Entdeckung:
Die Aſſyrer zerlegten nicht die geſprochenen Worte in ein-
zelne
Buchſtaben, in Vokale und Konſonanten, ſondern in
einfache
Silben, d, h.
in Silben, welche aus einem Konſonanten
und
einem Vokal zuſammengeſprochen entſtehen.
Für jede
dieſer
Silben mußte es natürlich zwei verſchiedene
53171 geben, das eine für den Fall, wo der Konſonant vor dem
Vokal
, wie z.
B. in der SilbeBa”, und das zweite für den
Fall
, wo der Vokal dem Konſonanten vorangeht, wie in der
Silbe
Ab”.
Denken wir uns ſolch’ eine Silbenſchrift in
moderner
Sprache durchgeführt, die zwanzig Konſonanten und
fünf
Vokale enthält, ſo müßten für jeden Konſonanten fünf
Zeichen
exiſtieren, wenn er dem Vokal vorangeſtellt iſt, und
wiederum
fünf andere Zeichen für den Fall, wo der Vokal
dem
Konſonanten voranſteht.
Zwanzig Konſonanten alſo, von
welchen
jeder zehn Zeichen erforderte, würden beiſammen eine
Silbentabelle
von 200 Zeichen bilden.
Wir werden bald ſehen, daß die Keilſchrift von dieſem
von
uns angeführten Beiſpiele noch weſentlich abweicht, wir
wollen
aber gleichwohl für jetzt uns wieder des Beiſpiels be-
dienen
, um die Art zu zeigen, wie aus ſolchen einfachen Silben
ganze
Worte zuſammengeſetzt werden.
Wenn der aſſyriſche Schreiber eine Silbe wiedergeben
wollte
, welche nicht mehr einfach iſt, ſondern aus zwei Kon-
ſonanten
und einem Vokal, wie z.
B. Bad”, oder aus zwei
Vokalen
und einem Konſonanten, wie z.
B. Abu” beſteht, ſo
kombinierte
er zwei ſeiner Silbenzeichen.
Das WortBad”
ſchrieb
er mit dem SilbenzeichenBa” und dem Silbenzeichen
Ad”;
das WortAbu” ſchrieb er mit den zwei einfachen
Silben
Ab” undBu”.
In Fällen, wo ſprachlich zwei
Konſonanten
einen gemeinſchaftlichen Vokal haben, wie in der
Silbe
Bru” oderAlt”, trennte der aſſyriſche Schreiber
dieſelben
und ſchrieb dafür Bu-Ru und Al-At.
Wenn man ſich klar macht, daß in Wirklichkeit ein Kon-
ſonant
ohne einen Vokal gar nicht ausgeſprochen werden kann
und
wiederum ein Vokal ohne Konſonanten eigentlich nur ein
Laut
und nicht eine geſprochene Silbe iſt, ſo muß man zu-
geben
, daß ſich der Aſſyrer in ſeiner Schreibweiſe der Natur
des
Sprechens ſehr nahe angeſchloſſen.
Wir haben
53272 vorauszuſetzen, daß dieſe Schreibweiſe älter iſt, als die auf uns
überkommene
Buchſtabenſchrift.
Dieſe, die Buchſtabenſchrift,
beruht
auf einer in der Natur des Sprechens nicht begründeten
Abſtraktion
, wo wir mit gedachten Konſonanten operieren, die
mit
keinem Vokal verbunden ſind.
Bei näherer Betrachtung ergiebt ſich leicht, daß mit ſolchem
einfachen
Silbenſchema jedes geſprochene Wort wiedergegeben
werden
kann und die Lesbarkeit dieſer Schriftweiſe auch ohne
Schwierigkeit
zu erlangen wäre.
Allein in Wirklichkeit iſt die
Keilſchrift
keineswegs in dieſem ſo einfachen Schema erſchöpft.
Es bildet das Schema der einfachen Silben wohl die Grund-
lage
der Keilſchrift, aber dieſe iſt von ſo mannigfachen Aus-
nahmen
und anderen, ſehr fremdartigen Kombinationen durch-
kreuzt
, daß man ſich nicht wundern darf, wenn das Licht,
welches
Hincks über das Weſen dieſer Schreibweiſe verbreitete,
noch
viele Dunkelheiten übrig ließ.
Zunächſt müſſen wir die Thatſache anführen, daß die Keil-
ſchrift
nur die drei Hauptvokale A, I und U gebraucht.
Der
Halblaut
E und der Mittellaut O fehlen in dieſer Schreibart.
Desgleichen vermißt man die in unſerer Schreibweiſe durch
Doppelvokale
ausgedrückten Laute.
Da wir nicht annehmen
können
, daß die Aſſyrer im Sprechen dieſe Vokale ganz ent-
behrten
, ſo müſſen wir vorausſetzen, daß ſie im Sprachgebrauch
die
Übergänge des einen Vokals in den andern praktiſch ver-
mittelt
haben, ohne daß man es für nötig fand, für die Va-
riationen
beſondere Silbenzeichen zu erfinden.
Als Analogie
wollen
wir nur daran erinnern, daß die hebräiſche Schriftweiſe
urſprünglich
gar kein Zeichen für Vokale hatte, daß auch
ſpäter
, als man Vokale unter und über die Buchſtaben ſetzte,
die
Laute für Ei, für Au fehlten, und der Dialekt unſerer
deutſchen
Volksſprache gar mannigfach die Vokale A in O,
wie
E in Ei verwandelt.
Eine ſtrenge Trennung und Fixie-
rung
der Vokale iſt ſtets nur das Produkt der vollen
53373 bildung der Schreibweiſe, die dann auch in die Sprechweiſe
übergehen
kann.
Da in der Keilſchrift der Aſſyrer nur drei Vokale, A, I
und
U gebraucht ſind, ſo reduzieren ſich die einfachen Silben
in
bedeutendem Grade.
Es giebt für jeden Konſonanten nicht
wie
wir oben angenommen zehn, ſondern nur ſechs Varia-
tionen
.
So z. B. für den Konſonanten B die Silben Ba, Bi,
Bu
, und Ab, Ib, Ub.
Das Silbenſchema, welches uns in
dem
vorzüglichen Werke von Schrader vorliegt, auf deſſen
außerordentlich
wichtige Leiſtungen wir noch weiter zurück-
kommen
werden, enthält nur einige neunzig Zeichen,
die
auch zu einer vollſtändigen Wortbildung durch einfache
Silben
genügen, ſobald man ſich für harte und weiche Kon-
ſonanten
unter Umſtänden nur eines und desſelben Zeichens
bedient
.
Die wirkliche Keilſchrift indeſſen beſteht neben dieſen
aus
Silben gebildeten Worten noch aus anderen Zeichen,
welche
auf einem ganz anderen und für unſere gewöhnliche
Vorſtellungsweiſe
ſehr fremdartigen Schreibſyſteme beruhen,
welches
eine Entzifferung ganz unmöglich gemacht hätte, wenn
nicht
ebenſo überraſchende wie wunderbare, von den Aſſyrern
ſelber
eingeführte Hilfsmittel den Schlüſſel zur Löſung dar-
geboten
hätten.
Mitten im Text der Keilſchriften, worin wirkliche Worte
aus
Silbenzeichen gebildet daſtehen, treten nämlich einzelne
Zeichen
auf, welche nicht dem Laute nach geleſen ſein wollen.
Es ſind dieſe Zeichen Repräſentanten von Ideen und Dingen,
welche
garnicht mit dem Lautwert in Beziehung ſtehen, ſondern
für
ihr Verſtändnis im Texte eine ganz eigene Art von Hilfs-
mitteln
erfordern.
Man nennt ſolche Zeichen und Zeichen-
gruppen
, welche oft gerade die Hauptſache betreffen, “Ideo-
gramme”
, was ſoviel beſagt, daß man es hier nicht mit einer
Wortſchrift
, ſondern mit einer Ideenſchrift zu thun habe.
Um es begreiflich zu machen, wie ſolche Ideogramme
53474 einer wirklichen Wortſchrift entſtehen können, wollen wir als
Beiſpiel
die Thatſache anführen, daß man in mittelalterlichen
hebräiſchen
Schriften ſehr oft anſtatt des WortesJehova”
den
Buchſtaben D gebraucht findet.
Ohne uns hier auf den
Grund
dieſes Gebrauchs einzulaſſen, wird man leicht erkennen,
daß
dieſes D nicht ſo verſtanden ſein ſoll, wie es geleſen wird.
Es repräſentiert ideal etwas, das nicht in ſeinem Lautwert
liegt
.
Ähnliche Fälle kommen wie z. B. die Buchſtaben
Alpha
und Omega für die BegriffeAnfang” undEnde”
auch
in anderweitigen mittelalterlichen Schriften vor und er-
fordern
eine Kenntnis derſelben, welche die Sprache nicht er-
giebt
.
In der Keilſchrift aber ſind ſolche Fälle maſſenhaft
vorhanden
.
Man hat bei jedem neuen Wort vorerſt zu unter-
ſuchen
, ob es dem Silbenlaute nach geleſen oder dem Ideen-
werte
nach verſtanden ſein will.
Man kann ſich leicht vor-
ſtellen
, wie eine ſonderbare Miſchung in der Schreibweiſe
die
Entzifferung zu einem Kunſtſtück mit zahlloſen Hinder-
niſſen
machte.
Man hätte vollauf Urſache, an der Möglichkeit der Ent-
zifferung
zu zweifeln und allen Verſuchen und Behauptungen
der
Löſung zu mißtrauen, wenn nicht zwei Thatſachen jeden
Zweifel
niedergeſchlagen hätten.
Die eine Thatſache iſt, daß alle nicht ideogrammiſchen
Worte
der Keilſchrift dem Stamme der ſemitiſchen Sprache an-
gehören
.
Dieſe Worte haben eine ſo entſchiedene Verwandt-
ſchaft
mit der hebräiſchen Sprache, daß ſie, einmal in ihrem
Silbenwert
erkannt, vollſtändig jedem Kenner der ſemitiſchen
Sprachen
verſtändlich ſind.
Für die Ideogramme aber hat
man
eine Entzifferung viel erſtaunlicherer Natur aufgefunden.
Man hat in den Ausgrabungen der aſſyriſchen Altertümer
Tafeln
entdeckt, welche im vollſten Sinne des Wortes Lexika
bilden
, und die darüber belehren, wie ein ideogrammiſches Wort
geleſen
ſein will, und was man darunter zu verſtehen hat.
53575
Dieſe lexikaliſchen Tabellen ſind ſicherlich das Erſtaun-
lichſte
aller Funde in aſſyriſchen Altertümern, und ihnen müſſen
wir
daher noch einige Aufmerkſamkeit widmen.
Die koloſſalen Paläſte und Tempel, welche die Aus-
grabungen
von Niniveh und Babylon aus Schutt und Gerölle
unter
den Hügeln des Wüſtenlandes wieder an das Licht des
Tages
gebracht, tragen das Gepräge allgewaltiger, dynaſtiſcher
Mächte
, welche ihre Herrſchaft über ganze Menſchengeſchlechter
mißbrauchten
, um ihre Größe im Angedenken der Nachwelt zu
verewigen
.
Wenn man die Skulpturen, die Wandgemälde, die
Denkmäler
ſieht, welche ſiegreiche Schlachten und Triumphzüge
darſtellen
, wo Maſſenhinrichtungen der Gefangenen mit aller
Umſtändlichkeit
der Torturen getreulich abgebildet ſind, ſo ver-
ſteht
man es, weshalb die Stimme geſitteter Völker dieſem
entſetzlichen
Aufblühen tyranniſcher Welteroberung mit ſo feſter
Zuverſicht
den Untergang prophezeien konnte und prophezeien
mußte
.
Das Bild der Geſchichte, welches dieſe Denkmäler
aufrollen
, wo die Kraft der Millionen von Unterthanen auf-
gerieben
wurde, um dem Herrſchergelüſte blutiger Eroberer eine
Befriedigung
zu gewähren, läßt das Gericht als ein wohl-
verdientes
erſcheinen, welches all’ die barbariſche Herrlichkeit
untergehen
ließ und zwei Jahrtauſende lang mit Nacht und
Grauen
vor dem Anblick der Nachwelt verdeckte.
Im Anblick
der
wieder ans Licht gebrachten Monumente ſolcher über Blut
und
Leichen, Raub und Unterjochung aufgebauten Mächte be-
greift
man die Zuverſicht und die ſittliche Gerechtigkeit, mit
welcher
der Prophet (Jeſaias) ausgerufen:
Wehe dir, Zer-
ſtörer
, noch unzerſtört, Räuber, unberaubt! Wenn du das Ziel
erreicht
, Zerſtörer, wirſt du zerſtört, wenn du den Gipfel mit
Ranben
erſtiegen, wirſt du beraubt.
Aber mehr noch als das Grauen vor dem Weltgericht,
das
die Seele im Anblick dieſer koloſſalen, untergegangenen
Welt
erfaßt, erſchüttert uns die Wahrnehmung, daß unter
53676 zur Befriedigung der Tyrannen geſchaffenen Pracht eine un-
geahnte
Volkskultur mit begraben liegt.
Die Zeugniſſe dieſer
Kultur
ſind ſo überraſchend, daß ſie mehr die Aufmerkſamkeit
des
Denkers auf ſich ziehen, als ganze Palaſtwände voll Sieges-
bilder
und Siegesinſchriften.
Unter dem Schutte der Prachtbauten fand man nämlich
Tafeln
und Täfelchen aus gebranntem Thon auf, worin Keil-
ſchrift
mannigfachen Inhalts eingepreßt und eingegraben iſt.
Die Tafeln ſind von ſehr verſchiedener Größe. Einzelne kaum
ſo
groß wie eine Kinderhand, andere einer gewöhnlichen
Schiefertafel
an Größe gleich, wieder andere von tabellenartiger
Länge
.
Die Schrift auf ihnen iſt oft ſo fein, wie unſere kleinſte
Druckſchrift
.
Die Keilſtriche ſind nicht immer vertieft, ſondern
oft
gleich unſerem Petſchaftabdrucke in erhabenem Relief ge-
prägt
.
Weitere Entdeckungen erklärten auch, wie dieſe Schrift-
ſtücke
auf Thonplatten hergeſtellt wurden.
Man fand Thon-
Cylinder
, auf welche mit einem Stichel die Keilſchrift vertieft
und
zwar noch vor dem Brennen in die weiche Thonmaſſe
eingegraben
worden iſt.
Nachdem ſie im Feuer zu feſter
Maſſe
gebrannt waren, wurden ſie über flache, weiche Thon-
platten
mit leichtem Druck gerollt und prägten da die Original-
ſchrift
in beliebig vielen Exemplaren ab.
Da man Platten auffand, welche auf beiden Seiten in
ſolcher
Weiſe ein Schriftgepräge hatten, ſo muß man annehmen,
daß
ſie zwiſchen zwei Originalcylinder hindurchgepreßt und
Vorrichtungen
angewendet wurden, um die weiche Maſſe ohne
Beſchädigung
der Schrift in den Ofen zum Hartbrennen zu
bringen
.
Die Thatſache iſt intereſſant, daß dieſe kleinen Tafeln
wohl
vielfach zerbrochen aufgefunden worden ſind, aber wegen
ihres
feſten Materials der Zerſtörung der Zeit viel beſſer wider-
ſtanden
als die gewaltigſten Wandreliefs aus Marmor.
Die
Zerſtörer
und Räuber, welche der Prophet den Zerſtörern
53777 Räubern vorher angekündigt, haben mit Schwert und Feuer in
den
Prachtbauten gewütet.
Das Feuer hat den Marmor in
Kalk
verwandelt und die Denkmäler, zu Ehren der Tyrannen
ſamt
den Inſchriften zu ihrer Verewigung, vielfach dem Zer-
fallen
unter den Händen ihrer Entdecker anheimgegeben.
Von
den
zerbrochenen Thontafeln aber hat man die Stücke ſorgſam
zuſammengeſucht
und ſoviel gerettet, um aus ihnen ein Bild
untergangener
, merkwürdiger Kulturwelt wiederum an das Licht
der
Erkenntnis zu bringen.
Außer dieſen in hochſtehendem Relief gepreßten Schrift-
ſtücken
fand man auch verſchiedene Tafeln vor, in welchen die
Originalinſchrift
vertieft angebracht iſt.
In einem Palaſte
von
Niniveh ſcheinen beſondere Gemächer als Archive ſolcher
Schriſtſtücke
gedient zu haben.
Layard (ſpr. Leh-ard), der
verdienſtvolle
Entdecker dieſer Schätze, fand 1845 den Boden
dieſer
Gemächer faſt über einen Fuß hoch mit den Bruchſtücken
dieſer
Tafeln unter dem Schutt der zuſammengeſtürzten Wände
und
Balkendecken angefüllt.
Die Sammlung, Zuſammenſtellung
und
Ergänzung der Bruchſtücke gehört noch immer zu den
wichtigſten
Vorarbeiten der Altertumsforſcher.
Über den Zweck und den Inhalt dieſer merkwürdigen
Fundſtücke
iſt man gegenwärtig noch nicht imſtande, einen
vollſtändigen Aufſchluß zu geben.
Man hat Grund zu ver-
muten
, daß dieſe Archive verſchiedenen ſtaatlichen, chronolo-
giſchen
, religiöſen, hiſtoriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecken
gedient
haben.
Was aber ſpeziell unſer Thema betrifft, ſo ſind
einzelne
Taſeln von ſolcher Wichtigkeit für die Entzifferung
der
Keilſchrift, daß wir dieſen unſere beſondere Aufmerkſamkeit
widmen
müſſen.
Es wurden nämlich kleine Täfelchen entdeckt, welche aus
zwei
durch einen ſenkrechten Strich getrennten Kolumnen in
Keilſchrift
beſtehen.
Die eine Kolumne enthält in der bisher
erkannten
Silbenſchrift nicht lesbare
53878 welche wir mit dem NamenIdeogramme” bezeichnen; die
daneben
auf der anderen Kolumne ſtehende Schrift giebt offen-
bar
die Überſetzung der Nachbarzeile;
denn ſie iſt in regel-
rechter
Silbenſchrift geſchrieben.
Wir entnehmen hieraus, daß
die
Aſſyrer ſelber Sorge getragen, eine jedenfalls nicht allge-
mein
lesbare Schriftweiſe in eine lesbare zu überſetzen, oder
richtiger
, dem Unkundigen den Sinn der unbekannten Charak-
tere
zu verdeutlichen.
Nun aber ſind eine Menge ſolcher Täfelchen rein gram-
matiſchen
Inhalts.
So z. B. enthält eine kleine Tafel von
ſechs
Zeilen nichts weiter als die Verbindung des Wortes
mit” mit den Fürwörternmir”, “dir”, “ihm”, “uns”, “euch”,
ihnen”.
Dieſe ſechs Zeilen in beiden Schreibweiſen in zwei
Kolumnen
nebeneinander geſtellt, ſind ein offenbarer Beweis,
daß
die ideogrammiſchen Zeichen in regelrechter Weiſe einer
Sprachlehre
verſtändlich gemacht wurden durch eine Über-
ſetzung
in bekannter Sprache und Schrift.
Man kann ſich
des
Gedankens gar nicht erwehren, daß man in ſolchen
Tafeln
eine Art Schulbuch vor ſich hat, wonach ein
regelrechter
Unterricht erteilt worden iſt
.
Sind dieſe Funde ſchon von höchſter Wichtigkeit für die
Kenntnis
der ideogrammiſch geſchriebenen Worte, ſo werden ſie
noch
von einem anderen Fund hierin übertroffen, der aus 800
Zeilen
beſteht, die in drei Kolumnen wiedergegeben ſind.
In
der
einen, der mittelſten Kolumne, ſtehen die Keilſchriſtzeichen
in
ideogrammiſcher Schrift;
dieſen zur Seite links befindet ſich
in
lesbarer Keilſchrift niedergeſchrieben, wie das fragliche
Ideogramm
den Lauten nach geleſen werden muß;
zur
Seite
rechts ſteht die Bedeutung des Ideogramms in der
eigentlichen
Sprache und Schreibweiſe der Aſſyrer, d.
h. in der
für
uns verſtändlichen ſemitiſchen Sprache und der Silben-
ſchreibart
der regelrechten Keilſchrift.
Leider iſt dieſes Lexikon von Ideogrammen vielfach
53979 ſchädigt. Es fehlt bald rechts, bald links der erklärende Laut
und
der überſetzte Sinn.
Gleichwohl iſt dieſer Schatz doch
noch
in ſo weit erhalten, daß mit Nachhilfe der anderen Ent-
zifferungsmittel
über den Inhalt ſehr wichtiger Keilſchrift-
dokumente
kein Zweifel mehr obwaltet.
Welche Fülle von Aufſchlüſſen die glücklich erhaltenen und
ſorgſam
zuſammengeſuchten Bruchſtücke der in Niniveh aufge-
fundenen
Täfelchen nun auch gewähren, ſo ſehr bieten ſie doch
wiederum
dem Forſcherſinn neue Rätſel dar.
Die Bemühungen
der
Aſſyrer, die Ideogramme mitten in ihrer Silbenſchrift
ihrem
Laute und ihrem Sinne nach zu erklären, läßt ſich nur
unter
der Vorausſetzung begreifen, daß die Aſſyrer bei ihrem
Eindringen
in das Land ein Kulturvolk vorgefunden und
unterjocht
haben, welches bereits eine Schreibweiſe ſeiner uns
völlig
unbekannten Sprache beſaß, daß hiernach eine viel
ältere
Keilſchrift von den Eroberern in einzelnen Worten und
Ideen
adoptiert worden und in die von den Aſſyrern gebrauchte
Silbenkeilſchrift
übergegangen ſei, und daß man ſpäter, als
die
Kenntnis der alten Schriftweiſe immer ſeltener wurde, zu
ſolchen
Tabellen Zuflucht nehmen mußte, welche über Aus-
ſprache
und Sinn der alten Schriftzeichen einen Aufſchluß
gaben
.
Da man den Urſprung dieſer Ideogramme noch nicht mit
Sicherheit
zu ermitteln imſtande war, ſo müſſen wir uns für
jetzt
mit den glücklichen Ergebniſſen begnügen, die die auf-
gefundenen
Tabellen uns zum Verſtändnis der Inſchriften
bieten
.
Allein auch dieſe Ergebniſſe ſind nicht ohne Schwierig-
keiten
zu gewinnen.
Die Tabellen zeigen uns, daß nicht ſelten
ein
und dasſelbe Ideogramm ſehr verſchieden ausgeſprochen
wurde
und einen ſehr verſchiedenen Sinn hatte.
Es iſt gewiß
nicht
wenig überraſchend, aus den aſſyriſchen Tabellen zu er-
ſehen
, daß ideogrammiſch fürAngeſicht”, “Auge”, “Ohr”,
Geſtalt”, “Vorderſeite” und ſogar fürFuß” ein und
54080 Zeichen gilt, während an einer anderen Stelle fürAuge” und
Mund” ein anderes Zeichen angegeben iſt.
Der Umſtand,
daß
gerade die populärſten Worte ideogrammiſch geſchrieben
wurden
, wieTag”, “Sonnenaufgang”, “Sonnenuntergang”,
Abend”, “Nacht”, “Erde”, “Vater”, “Mutter”, “Bruder”,
Schweſter”, “Tochter”, “Sohn”, “Gott”, “Menſchen”, läßt
vermuten
, daß in dem Zeitalter, wo die Keilinſchriften ver-
faßt
wurden, die Volksſprache noch den Stempel der alten,
untergegangenen
, nicht-ſemitiſchen Sprache in den gebräuch-
lichſten
Gegenſtänden an ſich trug.
Hierdurch aber wird es
auch
begreiflich, daß bei der großen Unvollſtändigkeit der auf-
gefundenen
Tabellen nicht wenig Schwierigkeiten der voll-
ſtändigen
Entzifferung der Inſchriften entgegentreten.
Gleichwohl dürfen wir jetzt mit Zuverſicht ſagen, daß das
Geheimnis
der Keilſchrift enthüllt und die weitere und reichere
Ausbeute
nur noch eine Frage der Zeit und der glücklichen
Ausbeute
weiterer Hilfsmittel iſt, der ſich ſcharſſinnige Forſcher
bereits
bemächtigt haben.
Außer Hinks, der das Fundament zur Entzifferung durch
ſeine
Entdeckung der Silbenſchrift gelegt hat, waren es nament-
lich
Rawlinſon in England und Oppert in Frankreich,
welchen
man die Enthüllung des von vielen geſuchten Geheim-
niſſes
zu verdanken hat.
Später hat ſich ein deutſcher Gelehrter,
Eberhard Schrader (geb.
1836) das Verdienſt erworben,
durch
zwei Werke einen offeneren Einblick in das bisher kaum
den
Spezialiſten zugängliche Gebiet der Keilſchrift zu gewähren.
Die Ergebniſſe der Forſchungen ſind von ihm niedergelegt in dem
Werke
:
Die aſſyriſch-babyloniſchen Keilinſchriften”, worin die
Entzifferungsmethode
kritiſch beleuchtet und in ihrer nunmehrigen
Zuverläſſigkeit
nachgewieſen wird.
Ein zweites Werk erſchien
unter
dem Titel:
Die Keilinſchriſten und das alte Teſtament”,
ein
Werk, welchem man unbedingt die glänzendſte Beweis-
führung
von der Richtigkeit der Entzifferung und der
54181 keit derſelben zur Kenntnis der älteſten Menſchengeſchichte nach-
rühmen
darf.
Um unſeren Leſern einen Maßſtab für die Zuverläſſigkeit
der
Entzifferung zu geben, wollen wir hier nur kurz die
Reihe
der Hilfsmittel der bisherigen Erforſchungen erwähnen,
welche
Schrader in dem erſtgenannten Werke in voller Aus-
führlichkeit
behandelt.
Zunächſt bildet natürlich die Ver-
gleichung
der dreiſprachigen Keilinſchriften, von welchen die
perſiſche
vollkommen lesbar iſt, die Grundlage der Entzifferung.
Dieſe wäre denn auch längſt weiter vorgeſchritten, hauptſächlich
durch
Enthüllung der Namen, die in den Inſchriften vor-
kommen
, wenn nicht gerade die Eigennamen in den aſſyriſchen
Keilſchriften
am meiſten durch ideographiſche Zeichen anſtatt
durch
Silbenſchrift wiedergegeben wären.
Ein zweites, aus-
gezeichnetes
Hilfsmittel der Entzifferung ſind die oft wörtlich
vorkommenden
, gleichmäßigen Redensarten in den Inſchriften.

Die
Vergleichung ſolcher übereinſtimmenden Sätze zeigt ſehr
häufig
, daß in der einen Stelle ein Wort, das in ideographiſcher
Schreibweiſe
vorkommt, an einer anderen Stelle in regelrechter
Silbenſchrift
wiedergegeben iſt, in welchem Falle natürlich das
rätſelhafte
Ideogramm ſich am leichteſten erklärt.
Vom unſchätzbarſten Werte für die Entzifferung ſind
natürlich
die von den Aſſyrern ſelber herrührenden Tabellen,
welche
manSyllabare” nennt.
Die Vervollſtändigung dieſer
Syllabare
ſchreitet unausgeſetzt fort, ſowohl durch neue Funde,
wie
durch ſorgſame Zuſammenſetzung der bereits aufgefundenen
Bruchſtücke
.
Sie gewähren die Hoffnung, daß die mannigfach
vorwaltenden
Zweifel in der Löſung der noch rätſelhaften
Ideogramme
ganz ſchwinden werden.
Ein ferneres Hilfsmittel der Entzifferung ſind die bild-
lichen
Darſtellungen, die rieſigen Wandreliefs, welche au Deut-
lichkeit
der dargeſtellten Scenen nichts zu wünſchen übrig
laſſen
, und einen zuverläſſigen Anhalt für den Sinn der In-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
54282
ſchriften bilden, welche ſich unter ſolchen Bildwerken vor-
finden
.
Endlich kam auch teils die konſervative Tradition und
teils
die freie Kombination der Enträtſelung zu Hilfe.
Die
Tradition
, geſtützt auf einige bibliſche Angaben, hat zuerſt
richtig
und glücklich auf die Thatſache hingewieſen, daß die
Aſſyrer
ein Volk ſemitiſchen Stammes waren, und die Kühn-
heit
der freien Kombination hat unter vielen Mißgriffen auch
manchen
glücklichen Griff gethan, der in der Folge unter kritiſcher
Forſchung
gut verwertet werden kann.
Den größten Teil des Schraderſchen Werkes, welches nur
einleitend
die erwähuten Hilfsmittel und die Methode der Ent-
zifferung
behandelt, nimmt die Beweisführung für die Richtig-
keit
der nunmehrigen Entzifferung ein.
Der hauptſächlichſte
Abſchnitt
aber iſt dem Sprachbau der Keilſchrift gewidmet, der
dem
ſcharfblickenden Auge der neueren Forſchung oft die zu-
verläſſigſten
Merkmale der Abſtammung und des Charakters
einer
unbekannten Sprache bietet.
Wie der Naturforſcher aus einem aufgefundenen Zahn auf
den
Kiefer, vom Kiefer auf den Schädel, vom Schädel auf den
Knochenbau
und vom Knochenbau auf das Weſen eines ganzen
längſt
untergegangenen Tieres und ſeines Lebens in einer
untergegangenen
Welt ſchließt, ſo und mit nicht minderer Zu-
verſicht
ſchließt der neuere Sprachforſcher aus dem Bau ein-
zelner
Worte einer ſelbſt ihm völlig unbekannten Sprache auf
den
Bau, den grammatiſchen Charakter derſelben.
Die Art
und
Weiſe, wie in einer Sprache ein Wort in Deklination,
Konjugation
, in Verbindung mit Fürwörtern 2c.
ſich verändert,
iſt
nicht der Willkür des ſprechenden Volkes anheimgeſtellt,
ſondern
folgt beſtimmten Geſetzen, in welchen ſich die Sprech-
weiſen
nach beſtimmten Sprachſtämmen ſehr charakteriſtiſch
unterſcheiden
.
Auf der Baſis dieſer Sprachgeſetze haben bereits
früher
namhafte Forſcher die Sprache der Aſſyrer als
54383ſemitiſchen Stamme angehörig nachgewieſen. Das Werk
von
Schrader führt dieſen Beweis im weiteſten Umfange
durch
und legt den Grund zu einer Richtigſtellung dieſer
Frage
in einem ſo entſcheidenden Grade dar, daß fortan die
Keilſchrift
nur ein Gebiet der ſemitiſchen Sprachforſchung
bilden
wird, dem ſich kein Fachgelehrter mehr wird verſchließen
können
.
Wir finden in Schraders Werken einen Schatz von Lich-
tungen
und Aufklärungen hiſtoriſcher, geographiſcher, archäolo-
giſcher
und ſprachlicher Fragen durch Vergleichungen der aſſy-
riſchen
Altertümer mit der hebräiſchen Litteratur.
Wir finden
an
700 Themata dieſer Art in dem Werke behandelt, von
welchen
jedes in ſeiner Weiſe wiſſenſchaftlich wertvoll iſt, in
ihrer
Geſamtheit aber die Überzeugung befeſtigen, daß noch
weitere
Entdeckungen und Enträtſelungen in den weſentlichſten
Punkten
unſere Kenntnis nach beiden Richtungen hin erweitern
werden
.
Indem wir hier nur auf wenige dieſer Punkte hinweiſen
können
, die auch den Laien zugänglich ſind, wollen wir vor-
weg
bemerken, daß die längſt von engliſchen Gelehrten be-
haupteten
Beziehungen zwiſchen den Funden in Aſſyrien und
den
Schriften der Hebräer mit großem Mißtrauen gerade in
Deutſchland
aufgenommen worden ſind.
Man fand es wunder-
lich
und darum unglaublich, daß die Litteratur eines ſo kleinen
Ländchens
wie Paläſtina über gar ſo vieles ſollte Aufſchluß
geben
können, was in den Ruinen eines ungeheuer großen
Weltſtaates
wie Aſſyrien aufgefunden wurde.
Es erſchien ſolche
Vorſtellung
als eine Schrulle der bibelgläubigen Engländer
eben
ſo belächelnswert, wie wenn jemand es unternehmen
wollte
, aus den Archiven von Heſſen-Homburg die Geſchichte
des
ruſſiſchen Staates zu enträtſeln.
Allein, berechtigte oder unberechtigte Zweifelſucht: wo
Thatſachen ſprechen, müſſen die Zweifel ſchweigen, und
54484 Thatſachen ſprechen nicht bloß in ihrer übergewaltigen Maſſen-
haftigkeit
, ſondern auch in Aufſchlüſſen, welche eine ganz neue
Perſpektive
der geſchichtlichen Ereigniſſe zeigen.
So klein das Ländchen Paläſtina iſt, eine ſo große Be-
deutung
hatte es als die Vormauer von Suez, welches das
hochaufſtrebende
, eroberungsſüchtige Aſien mit dem konſervativen,
in
alter Kultur und in gewaltigen Reichtümern und Schätzen
prangenden
Ägypten verbindet.
Ein Eroberungszug nach
Ägypten
war ein eben ſo unabwendbarer Ausſichtspunkt jedes
aſiatiſchen
Herrſchers, wie ein Römerzug es während des
Mittelalters
in Europa war.
Wer in Paläſtina feſten Fuß
hatte
, der durfte hoffen, den Gegner zu überwinden.
Die Keil-
inſchriften
erweiſen nun, daß dieſes Hineinreißen Paläſtinas
in
die Händel der großen Weltbühne viel früher ſtattfand, als
man
bisher nach den bibliſchen Angaben vermuten konnte.
Es
lichtet
ſich hierdurch auch ſo manches wiſſenſchaftliche Rätſel
über
die Spaltungen, welche ſich durchgehend zwiſchen der
konſervativen
Hofpolitik, die ſtets ägyptiſch iſt, und der frei-
ſinnigen
Politik der Propheten zeigt, die durchweg Ägypten
feindlich
ſind.
Es ſtellt ſich jetzt ganz zweifellos heraus, daß
die
Aſſyrer es ſchon an tauſend Jahre vor unſerer Zeitrechnung
verſtanden
haben, das Ländchen Paläſtina ſich tributär zu
machen
.
Die Stammverwandtſchaft mit Aſſyrien und die
volkstümliche
, von allen Propheten unterſtützte politiſche An-
ſchauung
, daß Ägypten das Land ſei, wo die Vorfahren in
ſchmachvoller
Knechtſchaft gehalten wurden, machen es erklär-
lich
, daß ſich in der Litteratur der Hebräer und in den Denk-
mälern
der Aſſyrer viel engere Beziehungen ſpiegeln, als man
bisher
für glaublich hielt.
Dieſe Beziehungen geben ſich nun in ſo mannigfacher
Geſtalt
und auf allen Gebieten des Volkslebens kund, daß
man
deren Gewicht erſt in der gewaltigen Maſſenhaftigkeit er-
kennt
, die das Werk von Schrader vorführt.
Wir
54585 können nur Einzelnes andeuten, ſoweit es für das populäre
Verſtändnis
zugänglich und intereſſant genug iſt.
Bezeichnend für verwandte Volksbegriffe ſind in allen
Fällen
die Namen der Götter.
In dieſem Punkte iſt es
charakteriſtiſch
, daßEl”Gott” im Hebräiſchen identiſch iſt
mit
ilu, welches in den Keilinſchriften die Gottheit bedeutet.
Viel überraſchender aber iſt es, daß auch der NameJehovah”
oder
richtigerJahve” keineswegs, wie man bisher glaubte,
ausſchließliches
Eigentum der Hebräer iſt, ſondern bereits in
Keilinſchriften
hohen Altertums, wie z.
B. bei den Hamathenſern
gebräuchlich
, und zwar in demſelben Sinne in Königsnamen
und
als Erſatz fürEl” vorkommt, wie dies in hebräiſchen
Königsnamen
der Fall iſt.
In der Sage von Adam, Eva und deren Söhnen ſind
die
von dem Dichter gewählten Namen vollkommen erklärt;
nur fürAbel” fehlt eine Erklärung. Bisher begnügte man
ſich
mit der Kombination, daß dies Wort in der hebräiſchen
Sprache
Hauch” bedeutet, obwohl man hierin keine treffende
Beziehung
zu der Rolle, welche Abel in der Sage ſpielt, finden
konnte
.
Die Keilinſchriften geben nunmehr eine vollauf be-
friedigende
Erklärung.
Habal” iſt ein echt ſemitiſches Wort,
welches
Sohn” bedeutet und bei den Aſſyrern unzählige
Male
in Namen vorkommt.
Daß es in der hebräiſchen Litte-
ratur
nicht ſonſt gebraucht wird, iſt wie mannigfache andere
Fälle
hinlänglich bekunden kein Beweis gegen die Richtig-
keit
dieſer Bedeutung.
Über die Entſtehung der großen Städte Aſſyriens und
das
Wirken des gewaltigenNimrod” und ſeines Geſchlechtes
enthält
die bibliſche Erzählung manch’ richtige, durch die Keil-
inſchriften
beſtätigte, hiſtoriſche Notiz.
Nur ſind die erzählten
Thatſachen
viel zu weit hinauf in das dunkle Altertum bald
nach
der Zeit der ſogenannten Sintflut verſchoben.
Die Keil-
inſchriften
geben hierüber einen ſicheren Aufſchluß.
Eine
54686 Städte, die auch in der Bibel genannt wird, “Chalah”, iſt,
wie
eine offizielle Inſchrift bekundet, von dem König Sal-
manaſſar
dem Erſten um das Jahr 1300 vor unſerer Zeit-
rechnung
und nicht, wie man nach der bibliſchen Darſtellung
annehmen
ſollte, um zweitauſend Jahre früher gegründet.
Chalah” ſelber iſt aber gleichfalls jetzt aufgefunden worden.
Es
iſt nicht eine Stadt für ſich, ſondern der ſüdliche Teil von
Niniveh
, das in ſeinem koloſſalen Umfang von vielen Einzel-
ſtädten
, aus Paläſten der Könige nebſt ihren baulichen Um-
gebungen
beſtehend, gebildet wurde.
Über den Turmbau zu Babel geben die Keilinſchriften
einen
ſehr intereſſanten Aufſchluß.
Weſtlich von Babylon fand man die Ruinen eines Turmes
vor
, welcherBirs Nimrud”Turm des Nimrod” genannt wird.
Wer der Erbauer desſelben geweſen, weiß man noch nicht;
wohl
aber hat man eine in zwei Exemplaren aufgefundene
Keilſchrift
entdeckt, worin der König Nebukadnezar ſelber
erzählt
, daß er den unvollſtändigen, ruinenhaften, heiligen Bau
vollendet
habe.
Die Inſchrift lautet nach Schraders Über-
ſetzung
wie folgt:
Wir verkünden folgendes: Der Tempel der ſieben
Leuchten
der Erde, der Turm von Vorſippe, welchen ein
früherer
König errichtet hatte man berechnet ihn auf 42
Ellen
deſſen Spitze er aber nicht aufgeſetzt hatte, war
ſeit
vielen Tagen verfallen.
Es hatte keine richtige Beſor-
gung
der Abzugskanäle für das Waſſer desſelben ſtatt.
Regen
und
Unwetter hatten fortgeſpült ſeine Backſteine.
Die Ziegel
ſeiner
Bedachung waren geborſten.
Die Backſteine des
eigentlichen
Gebäudes waren fortgeſchwemmt zu Trümmer-
haufen
.
Ihn auszubeſſern trieb der große Gott Merodach
mir
den Sinn an.
Seinen Ort indeſſen beſchädigte ich nicht,
nicht
änderte ich ſeine Grundmauern.
In einem Monate
des
Heils, an einem günſtigen Tage beſſerte ich die
54787 ſteine ſeines Gebäudes und die Ziegel ſeiner Bedachung zu
feſtverbundenem
Mauerwerk aus, erneuerte ſein Balkenwerk
und
brachte die Schrift eines Namens an dem Kranze
ſeiner
erneuerten Mauern an.
Es zu vollenden und ſeine
Spitze
aufzuſetzen, erhob ich meine Hand.
Wie vor Alters
gründete
, erbaute ich ihm den Turm wie in jenen Tagen
errichtete
ich ſeine des Tempels Spitze.
Aus dieſer Inſchrift geht hervor, daß der Turm zu Babel
freilich
eine alte, berühmte Ruine war, welche indeſſen trotz der
Intervention
Jehovahs beinahe vollendet wurde.
Der bibliſche
Erzähler
lebte alſo vor Nebukadnezar und teilte eine Sage mit,
welche
ſich, wie dies ſo häufig der Fall iſt, an die Exiſtenz
der
Ruine knüpfte.
Für den NamenBabel” (Babylon) hat der bibliſche Er-
zähler
eine Erklärung, durch welche er in einer leichten Um-
ſchreibung
des Wortes inBalal” die Sprachenvermiſchung
bezeichnet
ſieht.
Es läßt ſich nicht leugnen, daß der Dichter
der
bibliſchen Sage guten Grund hatte, die Sprachenvermiſchung
ſeines
Zeitalters nach Babylon zu verſetzen.
Dahin führten
nämlich
die Welteroberer alle Gebildeten und Großen der
unterjochten
Staaten in Gefangenſchaft und errichteten daſelbſt
ein
Weltall im Kleinen, wo ſich mit den verſchiedenſten Sprachen
auch
die verſchiedenſten Ideen verwebten.
Vom national-
politiſchen
Standpunkt aus hatte freilich der bibliſche Dichter
ein
berechtigtes Intereſſe, darin eine Sprachenverwirrung zu
ſehen
und eine Auflöſung der Gemeinſchaft zu prophezeien,
obwohl
dieſe Epoche auf die hebräiſche Litteratur einen durch-
aus
günſtigen Eindruck hervorbrachte.
Die Emigranten in
Babylon
, das bezeugt der ſogenannte zweite Jeſaias
haben
ein viel reineres und beſſeres und ideenreicheres Hebräiſch
geſchrieben
, als das gemeine Volk, welches die Eroberer in
Paläſtina
zurückgelaſſen.
Es zeigte ſich bei ihnen eine Er-
ſcheinung
, welche wir in den letzten Jahrzehnten bei den
54888 wahrnehmen, deren Emigration in Paris und Brüſſel ihrer
Nationallitteratur
viel mehr Ehre gemacht hat, als die daheim-
gebliebene
, ungebildete und unterdrückte Bevölkerung.
Aber, hiſtoriſch betrachtet, ſtellt ſich die Erklärung des
Namens
Babel” anders heraus.
Die Keilinſchriften ergeben,
daß
die urſprüngliche Ausſprache dieſes NamensBabil”
lautete
.
Bab” heißtPforte,Heiligtum”, undIl” iſt der
Name
eines Gottes, der demBel” am Range gleichſtand,
wie
eine alte Keilinſchrift bekundet.
Bab-il” hieß alſo:
Heiligtum des GottesIl”. Eine nähere Bezeichnung von
Städten
mit dem TitelBab” findet ſich, wie z.
B. Bab-
Dur”
d.
i. Pforte der Feſtung”, auch anderweitig.
Sehr intereſſant iſt es, daß die Staaten Ammon und
Moab
unter den TitelnBit-Ammon” und Mabn” in den
Keilſchriften
vorkommen und die Hoffnung gewähren, daß auch
deren
ſehr unvollkommen bekannte Geſchichte eine Lichtung
durch
alte Dokumente erfahren werde.
Seit einigen Jahren,
nachdem
eine moabitiſche Inſchriftſäule aus dem 7.
Jahrhundert
v
.
Chr. aufgefunden worden iſt, weiß man, daß die Sprache
des
dortigen Landes die hebräiſche war.
Durch die vollſtändig
lesbare
Inſchrift lernte man auch ein wichtiges Stück Ge-
ſchichte
kennen, welches in der Bibel nur in ſehr verſtümmelter
Form
angedeutet iſt.
Wir dürfen alſo hoffen, daß dieſe im
Verein
mit weiteren Entzifferungen der Keilinſchriften die
Kenntnis
der Geſchichte der untergegangenen Staaten bereichern
werden
.
In einem Punkte zeigen ſchon jetzt die Keilinſchriften
und
die aufgefundene moabitiſche Inſchriftſäule eine über-
raſchende
Übereinſtimmung.
Nach den bibliſchen Erzählungen
ſollte
man meinen, daß das ReichIsrael” auch unter dieſem
anſcheinend
offiziellen Namen bekannt und anerkannt geweſen
wäre
.
Dies war aber durchaus nicht der Fall. Schon in
der
moabitiſchen Inſchriftſäule kommt das Reich Israel
54989 dem NamenHaus Omri” vor. Da der Name Israel einen
glorifizierenden
Charakter hat und ſoviel wieGotteskämpfer”
bedeutet
, ſo könnte man annehmen, daß die ihm feindlichen
Moabiter
abſichtlich dieſen Namen verleugnen und das Land
nach
dem israelitiſchen KönigOmri” benennen.
Jetzt jedoch
erweiſt
ſich aus Keilinſchriften, daßBit-Omri” d.
i. Haus
Omri”
der wirkliche offizielle Titel dieſes Reiches war.
Der
Name
Israel” kommt in den vielen, aſſyriſchen, offiziellen
Dokumenten
nicht vor.
Es ſcheint ſich hierin die Anſicht zu
beſtätigen
, daß dieſer Name nur eine verherrlichende Um-
ſchreibung
des NamensJeſreel”, einer Hochebene, iſt, in
welcher
die wichtigſten Schlachten in alten Zeiten ſpielten, und
in
der auch ſpäter eine Hauptſtadt gleichen Namens zur Reſidenz
erhoben
wurde.
Der Name, mit welchem man urſprünglich
die
Bewohner dieſer Ebene als dieSöhne Jeſreel” bezeichnete,
wurde
dann von nationalen Dichtern in den glorreicheren
Namen
Söhne Iſraels” umgewandelt und dem Reiche zuge-
ſchrieben
, ohne in Wirklichkeit im Auslande unter dieſem Namen
anerkaunt
worden zu ſein.
Wir übergehen die reiche Ausbeute, welche das Werk
Schraders
in hiſtoriſcher, geographiſcher und archäologiſcher
Beziehung
im ganzen Bereiche der Vergleichung bibliſcher Er-
zählungen
und aſſyriſcher Inſchriften darbietet, um die bekannte
Kataſtrophe
von Sanherib vor Jeruſalem in einer ausführ-
licheren
Darſtellung nach den Keilinſchriften geben zu können.
Es bietet dieſe Inſchrift bei allem reichen Material, wodurch
ſie
die Geſchichte vervollſtändigt, auch eine intereſſante Gelegen-
heit
, die Art und Weiſe kennen zu lernen, wie gut auch aſſy-
riſche
Tyrannen in offiziellen Denkmälern ihre Niederlagen zu
verdecken
und zu verſtecken wußten.
Sanherib hat für eine ſehr reiche Inſchriftenlitteratur zur
Verkündigung
ſeines Ruhmes geſorgt.
Sein Name der
eigentlich
Sin-achi-irba” lautet und ſoviel bedeutet, wie
55090 der Mondgott, “giebt der Brüder viele” findet ſich auf
den
Bauſteinen des von ihm in Niniveh errichteten Pracht-
baues
.
Laut dem Regentenverzeichnis Aſſyriens regierte er,
als
Sohn und Nachfolger Sargons, von 705 bis 681 vor
unſerer
Zeitrechnung.
Unter den Ruinen ſeines Palaſtes
fanden
ſich teils größere, teils kleinere Inſchriften auf Thon-
cylindern
, Thontäfelchen, Alabaſterplatten vor.
Desgleichen
entdeckte
man eine Inſchrift auf einem Felſen zu Bavian,
nördlich
von Niniveh.
Am wichtigſten zur Kenntnis ſeiner
Geſchichte
iſt eine Cylinderinſchrift, welche ausführlich die
Annalen
ſeiner erſten acht Feldzüge enthält.
Wir beſitzen aber
auch
eine kleine Inſchrift über einem Bilde, welches den König
Sanherib
auf einem Throne ſitzend zeigt, wie er jüdiſche Ge-
fangene
empfängt.
Die Cylinderinſchrift iſt für den Geiſt der damaligen Zeit
und
für die Kenntnis der Detailgeſchichte von großer Wich-
tigkeit
, weshalb ſie im Werke von Schrader eine ſehr aus-
führliche
und ergebnisreiche Behandlung findet.
Die Inſchrift
iſt
aber auch ſo charakteriſtiſch für das ganze Weſen der
offiziellen
Dokumente der Aſſyrer, daß wir ſie unſeren Leſern
gern
unverkürzt vorführen.
Es lautet dieſelbe wie folgt:
In meiner dritten Kriegsunternehmung zog ich gegen
das
Land Chatti.
Eluäus, der König von Sidon, ihn über-
fiel
der gewaltige Schrecken meiner Herrſchaft, und er floh weit-
hin
mitten in das Meer.
Sein Land brachte ich in Botmäßig-
keit
.
Groß-Sidon und Klein-Sidon, Beth Zilli, Sarepta
Machallib
, Schemoſch, Akzib, Akko, ſeine feſten Städte und
ſeine
offenen und unbeſetzten Plätze, ſeine Prachtpaläſte es
hatte
ſie der Schrecken vor den Waffen Aſurs, meines Herrn,
überwältigt
unterwarfen ſich mir.
Den Ethobal ſetzte ich
auf
den königlichen Thron über ſie, und die Leiſtung des Tri-
buts
meiner Herrſchaft legte ich ihm als dauernde Abgabe auf.
55191 Es brachten Menahem von Samarien, Ethobal von Sidon,
Abdilit
von Arvat, Uruiski von Byblos, Mitinti von Asdod,
Puduil
von Ammon, Kamosnadab von Moab, Malikram von
Edom
, die ſämtlichen Könige des Weſtlands an den Marken
der
Herrſchaft ihre reichen Geſchenke und Koſtbarkeiten mir dar
und
küßten meine Füße.
Zidka aber von Askalon, der ſich unter mein Joch nicht
gebeugt
hatte:
ich führte die Götter des Hauſes ſeines Vaters,
die
Schätze, ſeine Gattin, ſeine Söhne, ſeine Töchter, ſeine
Brüder
, die Familie des Hauſes ſeines Vaters fort und brachte
ſie
nach Aſſyrien.
Sarludari, den Sohn des Rukibiti, ihren
früheren
König, ſetzte ich über die Leute von Askalon und
legte
ihm die Leiſtung von Tribut auf, als Zeichen der Unter-
würfigkeit
unter meine Herrſchaft, und er leiſtete Gehorſam.
Im Fortgang meiner Kriegsunternehmungen rückte ich wider
Beth-Dagon
, Joppe, Beneberak, Azur, die Städte Zidkas,
welche
ſich mir nicht in Botmäßigkeit gefügt hatten, nahm ſie
ein
, führte ihre Gefangenen fort.
Die oberſten Beamten, die Großen und das Volk von
Ekron
, welche Padi ihren König, meinen Bundesgenoſſen und
Vaſallen
Aſſyriens, in eiſerne Bande geſchlagen und dem Hizkia
von
Juda in feindlicher Abſicht im Schatten der Nacht über-
liefert
hatten:
es fürchte ſich ihr Herz! Die Könige von
Ägypten
hatten die Bogenſchützen, den Wagen, die Roſſe des
Königs
von Meroe (Äthiopien), unzählige Scharen, herbei-
gerufen
, und dieſe zogen zu ihrer Hilfe aus.
In der Nähe
von
Altaku ward mir gegenüber die Schlachtordnung aufge-
ſtellt
.
Sie riefen ihre Truppen auf. Im Vertrauen auf
Aſur
, meinen Herrn, kämpfte ich mit ihnen und brachte ihnen
eine
Niederlage bei.
Die Wagenlenker und die Söhne des
ägyptiſchen
Königs ſamt den Wagenlenkern des Königs von
Meroe
nahmen meine Hände lebend mitten in der Schlacht ge-
fangen
.
Die Städte Altaku, Timnath griff ich an, nahm
55292 ein, führte die Gefangenen fort. Gegen die Stadt Ekron rückte
ich
, die höchſten Beamten, die Großen, welche Rebellion ge-
macht
hatten, fötete ich;
auf Pfählen der Ringmauer der
Stadt
ſpießte ich ihre Leichname auf.
Die Söhne der Stadt,
welche
Gewaltthätigkeit und Bedrückung geübt hatten, be-
ſtimmte
ich zur Wegführung.
Die übrigen Bewohner, welche
ſich
nicht an dem Aufruhr und den Schandthaten beteiligt
hatten
, deren Amneſtie verkündete ich.
Ich bewirkte, daß Padi,
ihr
König, Jeruſalem verlaſſen konnte, inſtallierte ihn auf
ſeinem
Herrſcherſitze über ſie und legte ihm den Tribut meiner
Herrſchaft
auf.
Hizkia aber von Juda, welcher ſich mir nicht unterwarf:
ſechsundvierzig ſeiner befeſtigten Städte, zahlloſe Burgen und
kleinere
Örter, die in ihrem Bereich lagen, bewarf ich mit Pat-
bus
.
. . . . (?) und den Angriff . . . . . . . mit Belagerungs-
maſchinen
machte ich einen Angriff auf ſie, nahm ſie ein.

200
150 Menſchen, männlichen und weiblichen Geſchlechtes,
Pferde
, Maultiere, Eſel, Kamele, Rinder, Schafe ohne Zahl
führte
ich aus denſelben fort und erklärte ſie für Kriegsbeute.

Ihn
ſelber ſchloß ich wie einen Vogel im Käſig in Jeruſalem,
ſeiner
Königſtadt, ein.
Befeſtigungen führte ich wider ſie auf.
Den
Ausgang des großen Thores ſeiner Stadt ließ ich durch-
brechen
.
Seine Städte, deren (Bewohner) ich zu Gefangenen
machte
, trennte ich von ſeinem Gebiet ab und gab ſie Mitinti,
dem
Könige von Asdod, Padi, dem Könige von Ekron und
Ismibil
, dem Könige von Gaza.
So verkleinerte ich ſein
Gebiet
.
Zu dem früheren Tribut fügte ich als Tribut der
Unterwürfigkeit
unter meine Herrſchaft eine Abgabe von ihrem
Vermögen
, legte ſolche ihnen auf.
Ihn, den Hizkia, ergriff
ein
gewaltiger Schrecken vor meiner Herrſchaft, ebenſo die
Beſatzungstruppen
und ſeine Leute, welche er zur Verteidigung
von
Jeruſalem, ſeiner Königsſtadt, hineingenommen hatte.

So
verſtand er ſich zu Tributleiſtungen, uämlich 30
55393 Goldes und 800 Talente Silbers. Metallarbeiten (?) , rot-
ſchimmernde
Steine, .
. . . . . große Edelſteine, . . . . . .
Holz, Beſchläge für Prachtſeſſel, Gegenſtände aus dem Felle des
Amſi
, Horn (?)
vom Amſi, Sandelholz (?) , Ebenholz (?) , reiche
Schätze
, ſowie auch ſeine Töchter, ſeine Palaſtfrauen, ſeine
männlichen
nud weiblichen Haremsdiener mir nach Niniveh,
meinem
Herrſcherſitz, nachführen ließ.
Zu der Zahlung des
Tributs
und dem Angelöbnis der Untergebenheit ſchickte er
ſeinen
Geſandten.
Dieſe Inſchrift, welche ſich auf einem ſechsſeitigen Cylinder
befindet
, iſt mit noch anderen Schriften kürzerer Faſſung in
den
Hauptſachen übereinſtimmend.
Sie geben ſowohl ſtrategiſch
wie
politiſch wichtige Aufſchlüſſe über die in der Bibel nicht
völlig
klare Geſchichte des Feldzuges.
Aber ſie ſind in dem
Hauptpunkte
prahleriſch gefärbt, um es zu verdecken, daß der
Aſſyrer
unverrichteter Sache von Jeruſalem abziehen mußte.
Die Eroberer wußten nicht nur Geſchichte zu machen, ſondern
auch
, wo es ihnen paßte, ſie zu fälſchen.
Die Sprache der großen Sanheribiuſchrift iſt die aller
Eroberer
.
Sie kann als Maßſtab für die anderen zahlreichen
aſſyriſchen
Inſchriften gelten, in welchen die Helden ihre Siege
verewigen
und ihre Niederlagen verdecken und dadurch die Ge-
ſchichte
in nicht geringem Grade verfälſchten.
Der Sanherib-
zug
hat aber auch litterariſch einige charakteriſtiſche Bilder und
Redewendungen
aufgebracht, welche ſich bis auf den heutigen
Tag
in ungeſchwächter Kraft erhalten haben.
Sanherib ver-
ſtand
es, in ſeinen Proklamationen die Völker gründlich auf-
zuwühlen
.
Vor Jeruſalem ging ſein Herold ſoweit, dem
Volke
zuzurufen, daßJehovah” ſeinem Herrn den Befehl
erteilt
habe, das Land zu bekriegen und zu zerſtören.
Aus
einer
Proklamation Sanheribs ſtammt das noch jetzt gebräuch-
liche
Bild her:
Wie verlaſſet Ihr Euch, ruft er aus, “auf
Ägypten
, dieſes geknickte Rohr, das zerbricht und die
55494 deſſen verwundet, der ſich darauf ſtützt? Auch die große
Keilinſchrift
bedient ſich eines Bildes, das ſicherlich nicht zu-
fällig
mit Worten zuſammentrifft, welche der Prophet Jeſaias
dem
hochmütigen Feind in den Mund legt.
In der Inſchrift
rühmt
ſich Sanherib, wie wir geſehen haben, daß er den König
Hizkia
wie einen Vogel im Käfig in Jeruſalem eingeſchloſſen.

Aus
den Worten, welche ſich im Jeſaias als Citat aus einer
Proklamation
Sanheribs vorfinden, erſieht man, daß der
Eroberer
ſich im Bilde des unwiderſtehlichen Vogelſtellers
ſehr
gefiel.
Wie Vogelneſter hebt meine Hand die Reich-
tümer
der Länder aus, und wie man verlaſſene Eier ſammelt,
habe
ich aufgerafft die ganze Welt, und da war niemand, der
den
Flügel regte und den Mund aufthat zum Zwitſchern.
Es
ſcheint
ſo, als ob Sanherib ſelbſt dort, wo er das Neſt nicht
ausheben
konnte, ſich doch mindeſtens noch mit dem Bilde
tröſten
mochte, den Vogel eine Zeit lang in den Käfig ein-
geſperrt
zu haben.
Wie ſo manch’ treffendes Wort ſich oft überträgt auf ferne
Zeiten
, wo der Urſprung ſelber der Vergeſſenheit anheimfällt,
ſo
mochte wohl der Dichter des Pſalms 124 in dem Bilde
des Vogels, der dem Netz entflieht”, eben ſo wenig eine
Ahnung
davon haben, wem das Original dieſes Bildes ge-
hört
, ſo wenig heutigen Tages ein Redner es ſich in den
Sinn
kommen läßt, daß er mit dem Bilde deszerbrechlichen
Rohres”
einem Helden der Keil-Inſchriften die Worte ent-
lehnt
.
Laut Bericht der Bibel ſoll Sanherib von zweien ſeiner
Söhne
im Tempel des GottesNisroch” ermordet worden ſein.
Die Keil-Inſchriften wiſſen von dieſer Mordthat nichts. Sein
Tod
erfolgte im Jahre 681 vor unſerer Zeitrechnung, wo ſein
Sohn
Aſſarhadun den Thron beſteigt, womit denn aber auch
die
Epoche der aſſyriſchen Eroberungen erliſcht und die der
Babylonier
ihren Platz in der Geſchichte einnimmt.
55595
Je weniger erquicklich es dem Kulturfreunde iſt, mit ſo
großer
Aufopferung ein untergegangenes, blutiges Heldentunt
aus
dem Strom der Vergeſſenheit zu retten, um ſo tröſtlicher
iſt
die Wahrnehmung, daß in den aſſyriſchen Altertümern
mehr
gerettet worden iſt, als die Kunde von unerſättlicher Er-
oberungsſucht
.
Der Schatz iſt übergroß; es fehlt nur noch
an
Kräften, welche die Hebung desſelben vollenden helfen.
Die
großen
Inſchriften, welche zunächſt die Aufmerkſamkeit der
Forſcher
in Anſpruch nehmen, bieten freilich wichtige Auf-
ſchlüſſe
für die Altertumskunde, obwohl ſie in ethiſcher Be-
ziehung
einen Schauder erregen wegen des maßloſen Blutver-
gießens
.
Dafür jedoch verſprechen die unzähligen, kleinen
Täfelchen
, welche noch der Entzifferung ihres Inhaltes harren,
ein
reichhaltiges Material zur Kenntnis des Kulturzuſtandes
der
damaligen Zeit, der ein überraſchend hoher war, was man
ſchon
aus der Art, wie Proklamationen, Regententafeln, Re-
gierungs-Erlaſſe
, Verwaltungs-Reſkripte, grammatiſche Regeln,
ja
vielleicht gar Unterrichts-Schriften durch Stereotyp-Abdrücke
vervielfältigt
wurden, mit Recht ſchließen muß.
Freilich hinterlaſſen derartige Betrachtungen auch einen
betrübenden
Eindruck, daß eine ſo hohe Kultur doch wieder
ein
Raub wilder Eroberung werden und ſpurlos im Staub
der
Jahrtauſende verſchwinden konnte.
Es ſcheinen ſolche
Wahrnehmungen
die Zuverſicht unſerer philanthropiſchen Theorie
vom ſiegreichen Fortſchritt des Menſchengeiſtes
ſtark
zu erſchüttern und die traurige Perſpektive als Möglich-
keit
zuzulaſſen, daß auch unſere europäiſche Kultur einmal
einem
ähnlichen Geſchick verfallen könnte.
Allein bei näherer Betrachtung gelangt man doch wohl zu
einem
tröſtlicheren Schluß.
Wäre unſere Kultur in der That nur eine Palaſt-Kul-
tur
im Dienſte großer Eroberer
, ſo müßte man die
Möglichkeit
zugeben, daß ſiegreiche, barbariſche Horden ſie
55696 vertilgen köuuten. Die Inſchriften unſerer Sieges Monu-
mente
würden am Ende auch nicht viel beſſer klingen als die
aſſyriſchen
, und das Bild, welches ſie hinterließen, wäre wohl
nicht
viel lichter als das der untergegangenen Welt.
Aber
unſere
Kultur iſt glücklicherweiſe keine Palaſt-Kultur.
Das
Leben
des Volkes iſt von ihr durchtränkt.
Unſere Schriften
ſind
, weil ſie im Volksgeiſte entſtehen und fortleben, beſſer als
alle
Inſchriften.
Unſere Bildung, auf der breiten Grund-
lage
des Volksgeiſtes erbaut, könnte von barbariſchen Horden
nicht
vertilgt werden, ſelbſt wenn ſie alle Paläſte verwüſteten
und
deren Schätze raubten.
Zu ſolch’ troſtreicher Überzeugung gelangt man ſo recht
innig
, wenn man, wie in dem vorliegenden Thema, zu dem
Vergleich
zwiſchen den Altertümern Aſſyrien’s und dem ein-
zigen
Altertum Paläſtina’s angeregt wird.
Von den Pa-
läſten
David’s und den Prachtbauten Salomon’s iſt kein Stein
mehr
vorhanden.
Möglich, daß man einmal Ueberreſte aus
dem
Staube der Jahrtauſende gleichfalls aus Licht rettet, wie
dies
nicht bloß in ſo großartigem Maße in Aſſyrien der Fall
iſt
, ſondern auch bereits in Phönizien und im Wüſtenſande
geſchieht
, wo einſt Moab für dieEwigkeit” Denkmäler er-
richtete
.
Alle dynaſtiſchen Denkmäler, die ganze ſtolze Palaſt-
Kultur
konnte im Sturm barbariſcher Eroberer verloren gehen,
während
ein Buch und nur ein Buch ſich erhielt und durch
zwei
Jahrtauſende kulturbefruchtend auf die Welt wirkte, weil
es
eben nicht ein Dynaſtenwerk, ſondern ein Erzeugnis
begabter
Geiſter war, deſſen ſich das Volk
mit Liebe
bemächtigte
!
Das kleine Buch, das manaltes Teſtamentnennt,
im
Vergleich mit den Ausgrabungen aſſyriſcher Paläſte, die
in
Niniveh allein einen Raum von neunzehn Quadratmeilen
eingenommen
haben iſt auch in Bezug auf die Bürgſchaft
und
die Lebensdauer der Kultur ein lehrreiches Thema.
55797
So überreich an Material die Keil-Inſchriften in Bezug
auf
die Geſchichte Aſſyriens und ſo außerordentlich ergiebig
die
Vergleichung Schraders zwiſchen dieſen und den bibliſchen
Erzählungen
iſt, ſo ſehr vermiſſen wir die Beleuchtung mancher
Hauptpunkte
, welche man ſonſt in der Altertumskunde in den
Vordergrund
der Forſchungen zu ſtellen pflegt.
Wir vermiſſen
eine
Klarſtellung des aſſyriſchen Kultus, die jedenfalls einen
Einblick
in den Kulturzuſtand gewähren würde, und mehr noch
eine
Andeutung über den Stand der Naturwiſſenſchaft in jenen
Ländern
, wo, wie man bisher anzunehmen pflegte, die Ge-
burtsſtätte
der aſtronomiſchen Kenntnis zu ſuchen iſt.
Zwar an Götternamen fehlt es in den Keilſchrift-Pro-
klamationen
nicht.
Der Enkel Sanherib’s, Aſſurbanipal, giebt
ſich
die Ehre, ſein ihm vom Vater freiwillig übertragenes Re-
gierungsgeſchäft
im Jahre 668 mit einer Berufung auf einen
ganzen
Götterkatalog dem Reiche zu empfehlen.
Er ſagt in
ſeiner
Proklamation:
Aſſurhaddan, König von Aſſyrien, der Vater, mein Er-
zeuger
, hielt in Ehren die Offenbarung Aſſur’s und der Beltis,
der
Götter ſeines Vertrauens, welche ihm geheißen hatten,
mich
zum König zu erheben.
Im Monat Ijjar, dem Monat
des
Nisroch, des Herrn der Menſchheit, am zwölften Tage,
einem
heilbringenden Tage, dem Feſte Gulas, erließ er in
Ausführung
des erhabenen Gebotes Aſſurs, der Beltis,
des
Sin, Samas, Bin, Bel, Nebo
, der Iſtar von
Niniveh
, der himmliſchen Gebieterin von Kitmar, der Iſtar
von
Arbela, des Ninig, Nergal, Nusku, ein Edikt und
verſammelte
die Aſſyrer, jung und alt, die der oberen und der
unteren
See, um mein Königtum anzuerkennen.
Darnach über-
nahm
ich die Herrſchaft über Aſſyrien.
So zufriedenſtellend dieſe anerkannte Götterreihe indeſſen
in
den Augen eines aſſyriſchen Konſiſtoriums ſein mußte, ſo
wenig
befriedigend für unſeren Wiſſensdurſt iſt dieſer uns
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
55898
teilweiſe unbekannte Olymp. Gewöhnt, oder vielleicht auch
verwöhnt durch anderweitige ältere Forſchungen über
den
Kultus der Semiten Näheres zu vernehmen, wäre uns
ein
Nachweis über dieſes Götter-Tribunal oder dieſe Götter-
Hierarchie
eine willkommene Gabe.
Wie ſehr wir Urſache haben, dieſen Wunſch erfüllt zu
ſehen
, wird ein Fall zeigen, worin ſich erweiſt, daß Geſtalten
des
aſſyriſch-babyloniſchen Kultus ſich auf einem merkwürdigen
Umwege
ſelbſt bis in unſere modernen chriſtlichen Kirchen ver-
pflanzt
haben.
Zu den Ornamenten der Kanzeln chriſtlicher Kirchen ge-
hören
die von Alters her auf uns überkommenen Bilder eines
Menſchen
, eines Löwen, eines Ochſen und eines Adlers.
Sie
ſollen
bedeuten die vier Evangeliſten, Matthäus, Markus,
Lukas
und Johannes.
Fragt man, wie die mittelalterliche
Symbolik
zu dieſen Gebilden kam, ſo ergiebt die Forſchung,
daß
der Prophet Heſekiel im erſten Kapitel ſeiner Weiſſagungen
eine
ſehr ausführliche Schilderung des Thrones Gottes giebt,
wie
er ihm gezeigt wurde im Lande der Chaldäer.
Darin
findet
ſich nun die Beſchreibung von vier ſehr wunderbar mit
Flügeln
und Rädern ausgeſtatteten Trägern dieſes Thrones,
deren Angeſichte zur Rechten gleich waren dem eines Menſchen
und
eines Löwen und zur Linken gleich waren dem eines
Ochſen
und eines Adlers.
Für die mittelalterliche Vorſtellung
war
es ſelbſtverſtändlich, daß Heſekiel in den vier Geſtalten
die
vier Träger des Chriſtentums, die Evangeliſten, geſchaut
und
deshalb wurde es auch für angemeſſen erachtet, die Kanzeln,
welche
vom Geiſt der Evangelien getragen ſein ſollen, mit
dieſen
Emblemen zu ſchmücken.
Geht man aber weiter und fragt ſich, was hat denn
eigentlich
der Prophet Heſekiel im Lande der Chaldäer geſehen,
das
ihn zu dieſer Phantaſie anregte?
ſo findet ſich’s, daß
er
in Wirklichkeit nur das geſehen hat, was uns jetzt ein
55999 riſches Muſeum in den ausgegrabenen Koloſſalfiguren zeigt,
welche
die Eingänge der Tempel bewachten oder als Träger
der
Throne allmächtiger Herrſcher figurierten.
Die ſehr zu
überſchwenglichen
Bildern geneigte Phantaſie des Propheten
übertrug
ganz zweifellos nur die geſehenen Herrlichkeiten der
irdiſchen
Herrſcher auf die Geſichte, in welchen er die himm-
liſche
Herrſchaft zu ſchauen vermeinte.
Man wird zugeben, daß eine Symbolik des Altertums,
welche
dermaßen bis in die Gegenwart hinein ihr Weſen treibt,
eine
lichtende Forſchung ſehr ernſtlich wünſchen läßt.
Zur Geſchichte der Kultur gehört auch eine genauere
Kenntnis
der aſtrologiſchen Vorſtellungen des Altertums, hinter
welchen
in der Regel ebenſo ein aſtronomiſches Wiſſen ver-
ſchleiert
liegt, wie bei uns hinter der Alchymie die Anfänge
der
chemiſchen Wiſſenſchaft.
Wie ſah es hiermit im aſſyriſchen
Reiche
aus?
Lange Zeiten hat man hierüber nur nach den
Berichten
geurteilt, welche die Griechen uns überlieferten.
Es
ſcheint
aber, als ob dieſe eine wiſſenſchaftliche Sichtung dringend
erfordern
, weil in den dichteriſchen Köpfen der Griechen ſich in-
folge
der gewaltigen Völkervermiſchungen viele Vorſtellungen
vermiſchten
, welche eine genauere, wiſſenſchaftliche Reviſion in
Ur-Chaldäiſches
, Aſſyriſches, Babyloniſches, Indiſches, Perſiſches
und
Ägyptiſches zu trennen haben würde.
In den Keilinſchriften, welche uns bis jetzt zugänglich
gemacht
worden ſind, finden wir hierüber keinen Aufſchluß.
Dafür jedoch ſehen wir zur größten Überraſchung, daß eine
Zeitrechnung
, deren Urſprung man bis jetzt wiſſenſchaftlich in
die
perſiſche Zeit verſetzte, viel viel älteren Datums iſt.
In Bezug auf den Anfang des Jahres und die Zahl und
Benennung
der Monate unterſcheiden ſich nämlich die Bücher
der
Bibel ſehr weſentlich von einander, je nachdem ſie vor
oder
nach dem Exil der Juden in Babylon geſchrieben ſind.
Aus einzelnen Stellen der vorexiliſchen Bücher läßt ſich
560100 nehmen, daß die Hebräer den Herbſt als den Anfang des
Jahres
betrachteten.
Der Prophet Heſekiel, der im Exil lebte,
ſpricht
dies ausdrücklich aus.
Das Jahr hatte zwölf Monate,
wie
eine Nachricht über die Hofverwaltung des Königs Salomo
erweiſt
;
und da der Monat auf dreißig Tage berechnet wurde,
wie
die berechnete Dauer der Sintflut ergiebt, ſo hat man
Grund
auf die Exiſtenz eines Sonnenjahres zu ſchließen, in
welchem
der Reſt von fünf Tagen in irgend einer Weiſe aus-
geglichen
wurde.
Gelegentlich kommen auch Namen von dreien
dieſer
Monate vor, welche jedoch in ſpäteren Schriften wieder
verſchwinden
.
Aus den Büchern der Bibel, welche nach
dem
Exil geſchrieben oder überarbeitet worden ſind, leuchtet
dagegen
eine veränderte Zeitrechnung hervor.
Der Jahres-
anfang
wird in den Frühling verlegt.
Die Monate treten
mit
ganz neuen Namen auf.
Eine ſichere Tradition beweiſt,
daß
dies Mondmonate von neunundzwanzig Tagen und zloölf
Stunden
waren, und daß zur Ausgleichung des Mondjahres
mit
dem Sonnenjahr von Zeit zu Zeit ein dreizehnter Monat
eingeſchaltet
worden iſt.
Eine ſolche Reform in der Zeitrechnung hat nicht bloß
die
Chronologen, ſondern auch wegen der neuen Namen der
Monate
die Sprachforſcher vielfach beſchäftigt.
Man nahm
auf
Grund der letzteren Unterſuchungen für erwieſen an, daß
man
es hier mit einer Reform zu thun habe, welche durch die
Perſer
bei ihrem Siege über Babylonien eingeführt wurde,
und
hielt auch die ſchwer zu erklärenden Monatsnamen für
altperſiſch
.
Durch die Entzifferung der Keilinſchriften iſt dieſe ganze
Theorie
umgeſtürzt worden.
Zunächſt wurde einer der für
perſiſch
gehaltenen Monatsnamen bereits in einer alten aſſy-
riſchen
Keilinſchrift aufgefunden.
Sodann aber, um jeden
Zweifel
niederzuſchlagen, wurde eine merkwürdige Keilſchrift-
tafel
entdeckt, welche aus drei Kolumnen beſteht.
Die
561101 Kolumne enthält dreizehn Worte in jener rätſelhaften Schreib-
weiſe
, welche wirIdeogramme” nennen.
Die zweite Kolumne
weiſt
nach, wie dieſe Worte gelautet haben in jener noch
unerforſchten
Urſprache, die man dieprotochaldäiſche” nennt.
Die dritte Kolumne endlich in gut lesbarer Keilſchrift zählt
von
A bis Z faſt wörtlich getreu die Namen der dreizehn
Monate
auf, wie wir ſie in den nachexiliſchen Schriften der
Juden
finden.
Durch dieſe Entdeckung ergiebt ſich, daß ein chronologiſches
Syſtem
zur Ausgleichung des Mond- und Sonnenjahres
mindeſtens
ein Jahrtauſend älter iſt, als man bisher annehmen
mochte
.
Ein ſolches Syſtem ſetzt aber aufmerkſame aſtronomiſche
Beobachtungen
voraus und macht es nicht unwahrſcheinlich,
daß
die ausgegrabenen Thontäfelchen, deren Scherben ein
Gegenſtand
eifriger Studien ſind, wohl auch ein altes aſtro-
nomiſches
Datum einmal verraten werden, woraus man mit
größerer
Exaktität als bisher eine ſtattgefundene Mond- oder
Sonnenfinſternis
aus alten Zeiten wird erſehen können! Von
welcher
Wichtigkeit dergleichen Data für die aſtronomiſche
Wiſſenſchaft
der Gegenwart ſind, das werden unſere Leſer
Wohl
einſehen, wenn wir ihnen die Verſicherung geben, daß
die
weiter oben zur Sprache gebrachte, allerkühnſte aſtronomiſche
Frage
überBeſchleunigung des Mondlaufs”, oderVerlang-
famung
der Erdumdrehung” nur auf dem glücklichen Umſtand
baſierte
, daß wir ein einziges genaues Datum für eine vor
zweitauſend
Jahren ſtattgehabte Sonnenfinſternis beſitzen!
Ein
genaues Datum für eine derartige Himmelserſcheinung
vor
viertauſend Jahren iſt von unſchätzbarem Werte für die
Wiſſenſchaft
.
Zum Schluß unſerer Betrachtung haben wir noch von
einem
Fund in Keilſchrift zu berichten, der einen Einblick in
die
mythologiſchen Dichtungen der Aſſyrer gewährt, alſo in
562102 Gebiet der frei produzierenden Volksweiſen, die oft charak-
teriſtiſcher
für den Volksgeiſt ſind als ganze Partieen ſeiner
Geſchichte
.
Der Mythus, welchen wir meinen, wurde 1882 in frommen
engliſchen
Zeitungen als ein Keilſchriftenbericht über die ſo-
genannte
Sündflut” der Bibel begrüßt, die natürlich von
Aſſur”, dem Sohne desSem” und leiblichen EnkelNoahs”,
ſehr
gut hätte herrühren können, wenn nur nicht zur Ent-
täuſchung
aller frommen Erwartungen die Keilſchriftgeſchichte
ganz
anders lautete als die bibliſche Erzählung.
Für uns natürlich iſt ſie darum nicht entwertet. Der
Entdecker
dieſer Inſchrift, ein Beamter der archäologiſchen Ab-
teilungen
im Britiſh Muſeum, Herr George Smith, hat die
Inſchrift
zuſammengefunden aus den Bruchſtücken mehrerer
Tafeln
, welche übereinſtimmend den Text enthalten haben.
Die
Bruchſtücke
rühren aus den Ruinen des Palaſtes von Aſſur-
banipal
, dem Enkel Sanheribs her, deſſen götterreiche Em-
pfehlungskarte
beim Regierungsantritt wir bereis unſeren Leſern
vorgeführt
haben.
Da Aſſurbanipal circa 660 Jahre vor
unſerer
Zeitrechnung regierte, ſo läßt ſich nicht leugnen, daß
ein
Mythendichter ſeines Hofes über die Zeit der Sündflut
eben
ſo gut hätte unterrichtet ſein können, wie einer der bib-
liſchen
Erzähler, der ungefähr um dieſelbe Zeit mochte gelebt
haben
.
Wir ſagenEiner” der bibliſchen Erzähler, denn die
Bibel
enthält, wenn man den Text genauer beſieht, zwei durch-
einandergeworfene
Berichte über die Flut, einen älteren und
einen
in weſentlichen Punkten anders lautenden, jüngeren Bericht.
Und gerade dieſer jüngere Bericht reicht ſicherlich nicht über
das
Zeitalter Aſſurbanipals hinauf.
Ja, wenn das Alter einen Mythus in eine Thatſache ver-
wandelte
, ſo hätten wir Urſache dem Keilſchriftbericht beſonderen
Glauben
zu ſchenken.
Herr George Smith behauptet nämlich,
daß
die aufgefundenen Tafelbruchſtücke nicht eine
563103 Erzählung, ſondern nur eine Abſchrift wiedergeben, welche aus
dem
viel höheren Altertum der urchaldäiſchen Zeit ſtammt.
Wir ſind nicht imſtande zu ſagen, ob dieſe Vermutung richtig
iſt
.
Dies iſt Sache der gründlicheren Unterſuchung, über
welche
niemand vorweg ein Urteil fällen kann.
Beſonders
ſchwierig
iſt es, das Alter der Mythen aus ihrem Charakter
zu
ſchätzen.
Wiſſen wir ja kaum, wie alt oder wie jung
viele
von Grimm geſammelte deutſche Märchen ſind.
Der
Volksmund
iſt alt wie jung gleich kindlich dichteriſch, und die
Dichtung
iſt ebenſo uralt wie ewig jung, ſolange ſie im Volks-
munde
lebt.
Wenn nicht ſonſtige Eigentümlichkeiten einen
Anhalt
für das Alter geben, ſo wird ihn der Scharfblick des
Forſchers
aus dem Inhalt eines Mythus ſchwer herausfinden.
Der Flutmythus der Aſſyrer iſt dem der Bibel in vielen
Punkten
ähnlich, ohne mit ihm identiſch zu ſein.
Es iſt nun
wahrſcheinlich
, daß beide Mythen ſich ſelbſtändig entwickelt
und
doch durch gleiche Umſtände einen gleich klingenden Typus
erhalten
haben.
Die Wiſſenſchaft, die ſich mit der Erforſchung der Erdkruſte
befaßt
, die Geologie, lehrt wie wir das in Teil VIII aus-
geführt
haben , daß viele Geſteine urſprünglich Ablagerungen
aus
dem Waſſer ſind.
Knochen von gewaltigen, längſt ausge-
ſtorbenen
Tieren werden allenthalben gefunden und werden die
Finder
aller Orten zu dem Glauben verleiten, daß ein gewalt-
thätiges
Rieſengeſchlecht einmal auf Erden gelebt habe, das von
Göttern
herſtammt und wegen ſeiner ſittlichen Verwahrloſung
auf
Erden wiederum von den Göttern durch Waſſerfluten vertilgt
wurde
.
Dies iſt in der bibliſchen Erzählung auch betont von den
Söhnen Gottes”, welche die Töchter der Menſchen ſahen und
mit
ihnen Rieſengeſchlechter erzeugten, die die Sitten auf Erden
verdarben
und die Flut veranlaßt haben.
Inſoweit kann die
Gleichartigkeit
der Mythen entſtanden ſein ohne direkten Einfluß
des
einen auf den anderen.
Einige Ähnlichkeiten in den
564104 indeſſen ſind doch wiederum zu ſtark, um die völlige Unab-
hängigkeit
der beiden Mythen anzunehmen.
Da wir aber
nunmehr
wiſſen, daß Aſſyrer und Hebräer ſo ſehr ſprachverwandt
waren
und die Keilinſchriften uns auch verraten haben, daß
die
Aſſyrer ſich das kleine Hebräerland wohl an tauſend Jahre
vor
unſerer Zeitrechnung tributär gemacht haben, ſo kann es
gewiß
nicht befremden, wenn Mythen, die vielleicht Jahr-
tauſende
lang hin und her mündlich von Land zu Land ge-
tragen
wurden, auch endlich eine ſtarke Ähnlichkeit erhielten,
als
ſie zur Zeit Aſſurbanipals gleichzeitig in beiden Ländern
niedergeſchrieben
wurden.
Der Keilſchriftmythus erzählt, daß König Jzdubar, der
ſich
mit der Iſtar vermählt hatte, erkrankte und ſeinen Tod
nahe
fühlte.
Darum beſchloß er, den Siſit aufzuſuchen, um
ſich
von dieſem in die Geheimniſſe der Unſterblichkeit ein-
weihen
zu laſſen.
Der König zog mit einem Führer, Ur-Hamſi, über den
Strom der Zeit, welcher die Sterblichen von den Unſterblichen
trennt
.
Dort fanden ſie Siſit, der Unſterblichkeit erlangt
hatte
.
Er hatte die große Sturmflut überlebt und während
derſelben
durch ein von ihm gebautes Schiff einen Stamm
von
Menſchen und wilden und zahmen Tieren gerettet und
für
die Fortpflanzung des Lebens auf Erden erhalten.
Von
dieſer
Sturmflut, welche Bel in ſeiner Geſtalt alsSamas”
über
die Erde geſendet, erzählt nun Siſitals Augenzeuge”
folgendes
.
Ich hieß alle meine männlichen und weiblichen Diener,
die
wilden Tiere des Feldes und die zahmen Tiere des Feldes
in
das Schiff gehen, und die Söhne des Heeres.
Alle hieß
ich
hinaufſteigen.
Samas ließ eine Flut kommen, und er ſprach in der Nacht:
Ich werde ſchwer vom Himmel regnen laſſen. Gehe in die
Mitte
des Schiffes und ſchließe deine Thür.
565105
Er ließ eine Flut ſteigen und redete in der Nacht: Ich
werde
ſchweren Regen vom Himmel fallen laſſen!
Am Tage, wo ich ſein Feſt beging, am Tage, den er feſt-
geſetzt
, hatte ich Furcht.
Ich ging in die Mitte des Schiffes
und
ſchloß meine Thür.
Dem Buzurſadirabi übergab ich das Schiff, um es zu führen.
Das Toſen des Sturmes begann am Morgen; vom Ho-
rizont
des Himmels dehnte er ſich aus in das weite Land Vul.
In der Mitte donnerte es.
Nebo und Saru gingen voraus. Die Thronträger gingen
über
Berge und Ebenen.
Nergal, der Zerſtörer, ſtürzte ſie nieder. Ninip ging voran
und
warf nieder.
Die Geiſter brachten Zerſtörung. Sie fuhren in ihrer
Glorie
über die Erde.
Die Flut des Vul reichte an den Himmel. Die glänzende
Erde
wurde in eine Wildnis verwandelt.
Die Oberfläche der
Erde
gleich .
. . fuhr darüber hin.
Er zerſtörte alles Leben auf der Oberfläche der Erde . . .
Der ſtarke Sturm fuhr über die Menſchen und erreichte den
Himmel
.
Bruder ſah nicht ſeinen Bruder. Der Sturm ſchonte
niemanden
.
Im Himmel die Götter fürchteten den Sturm und ſuchten
Rettung
.
Sie ſtiegen hinauf in den Himmel von Anu.
Die Götter, Hunden gleich, welche den Schwanz einziehen,
kauerten
ſich nieder.
Da ſprach Iſtar eine Rede; die große Göttin hielt eine
Anrede
:
Die Welt hat ſich zur Sünde gewendet! Und dann, in
der
Götter Gegenwart, prophezeite ſie Unheil:
Als ich vor den Göttern Unheil prophezeite, war mein
ganzes
Volk der Sünde ergeben, und ich prophezeite ſo:
566106
Ich habe den Menſchen geboren und laſſe ihn nicht, wie
die
Söhne der Fiſche die See füllen!
Die Götter weinten mit ihr. Die Götter ſaßen auf ihren
Sitzen
voll Jammers.
Sie bedeckten ihre Lippen vor dem
kommenden
Unglück.
Sechs Tage und Nächte vergingen. Der Wind und Sturm
war
überwältigend mächtig.
Am ſiebenten Tage beruhigte ſich der
Sturm
und wurde ſtill, der die Erde wie ein Erdbeben zerſtört hatte.
Er ließ das Waſſer eiutrocknen, und der Sturmwind hatte
ein
Ende.
Ich wurde durch die See getragen.
Der Übelthäter und die ganze ſündliche Menſchheit wie
Schilfrohr
ſchwammen ihre Leichname dahin.
Ich öffnete das Fenſter, und das Licht brach herein und
leuchtete
über meinem Aſyl.
Ich ſaß ſtill, und über mein Aſyl
kam
Friede.
Ich wurde über den Strand getragen an der Grenze der
See
, die zwölf Maß hoch über das Land geſtiegen.
Nach
dem
Lande Nizir ging das Schiff.
Der Berg Nizir hielt das
Schiff
auf;
es konnte nicht darüber hinweg.
Am erſten und zweiten Tage der Berg Nizir!
Am dritten und vierten Tage der Berg Nizir!
Am fünften und ſechsten Tage der Berg Nizir ebenſo!
Am ſiebenten Tage ſendete ich eine Taube aus, und ſie
flog
davon.
Die Taube ſuchte und fand keinen Ruheplatz und
kam
zurück!
Ich ſendete ein Schwalbe aus, und ſie flog davon und
fand
keinen Ruheplatz und kam zurück.
Ich ſendete einen Raben aus, und er flog davon. Der
Rabe
flog und ſah die Leichen auf den Waſſern und fraß und
ſchwamm
und wanderte fort und kam nicht wieder.
Ich ſchickte die Tiere hinaus nach den vier Winden. Ich
goß
ein Trankopfer aus.
Ich baute einen Altar auf der Spitze
des
Berges.
567107
Sieben Kräuter zerſchnitt ich, und darunter legte ich Schilf,
Fichtenholz
und Sigmar.
Die Götter ſammelten ſich an dem Brande; die Götter
ſammelten
ſich an dem guten Brande.
Die Götter gleich
Adlern
ſammelten ſich über dem Opfer.
Auch der große Gott, der in alter Zeit den großen Glanz
von
Anu geſchaffen.
Als nun die Glorie dieſer Götter, wie der Glanz des
Steines
Ukni, auf mein Antlitz fiel, konnte ich ihn nicht er-
tragen
.
In jenen Tagen betete ich, daß ich das niemals er-
tragen
müßte.
Mögen die Götter zu meinem Altar kommen,
aber
nicht Bel, denn er hat unſer nicht gedacht und mein
Volk
zur Tiefe beſtimmt von alters her!
Des weiteren erfahren wir durch die Keilſchrift nur noch,
daß
Bel, der Zornige, das Schiff des Siſit vernichten will,
aber
die Götter, von der Iſtar aufgewühlt, treten dem ent-
gegen
;
worauf ſich denn Bel herbeiläßt zur Verſöhnung mit
Siſit
undeinen Bund mit ihm ſchließt.
Soviel wir wiſſen, iſt dieſes Bruchſtück eines Mythus die
einzige
bisher aufgefundene Probe dichteriſcher Produktion der
Aſſyrer
.
Es wäre ebenſo voreilig zu glauben, daß dieſes das
Beſte
, wie anzunehmen, daß dies gerade das Unbedeutendſte
ſei
, was die Aſſyrer geleiſtet haben.
Nehmen wir es alſo als
Mittelgut” hin und erwägen wir, daß wir doch nur ein
Bruchſtück
und dies noch in verſtümmelter Geſtalt hier kennen
lernten
, ſo haben wir Urſache, nicht gering von der litterariſchen
Begabung
der Aſſyrer zu denken und von den weiteren Er-
forſchungen
der Funde.
568
IV. Einige Geheimniſſe der Zahlen.
I.
Es giebt eine Wiſſenſchaft, welche man Zahlentheorie
nennt
, die die feinſten Geiſter unſeres Zeitalters beſchäftigt.
Nun iſt dieſe Wiſſenſchaft ſo ſchwierig und verwickelt für uns
gewöhnliche
Köpfe, daß wir ſo gut wie garnichts von ihren
Operationen
erfahren.
Da es aber gar ſo traurig iſt, wenn
wir
Menſchen in den Tag hineinleben, ohne davon eine Ahnung
zu
haben, was unſere ausgezeichnetſten Köpfe beſchäftigt, wäre
es
wohl gut, wenn wenigſtens ein leichter Schimmer als erſtes
Aufleuchten
der Wiſſenſchaft jedermann deutlich würde.
Dies
wollen
wir denn im allererſten Beginn hier verſuchen, und
zwar
, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht mit der Theorie,
ſondern
auf dem Wege der leicht faßlichen Praxis, wozu man
nicht
mehr als Addieren und Subtrahieren braucht, das ja
jedem
Kinde geläufig iſt.
Wir beginnen daher mit einem Beiſpiel.
Ein ſparſamer Kaufmann will ſich ſo einrichten, daß er
mit
möglichſt wenig Gewichtsſtücken, die er in eine Wagſchale
legt
, möglichſt viel Ware in der andern Schale abwägen kann.
Wie ſoll er ſich die Gewichtsſtücke wählen?
Er wähle dazu Gewichtsſtücke von 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64,
128
u.
ſ. w.
Daß er mit dieſen acht Gewichtsſtücken alle Waren von
1
bis 255 wiegen kann, läßt ſich leicht ausrechnen.
Um nicht
zu
weitläufig zu werden, wollen wir zunächſt die vier erſten
Zahlen
betrachten.
56910911
1
# und 2 kann der Kaufmann wiegen, weil er dieſe Ge-
# wichtsſtücke ſelber hat.
3
# wiegt er, wenn er 1 und 2 zuſammen nimmt.
4
# beſitzt er ſelber.
5
# wiegt er mit 1 und 4.
6
# wiegt er mit 2 und 4.
7
# wiegt er mit 1, 2 und 4.
8
# beſitzt er ſelber.
9
# wiegt er mit 1 und 8.
10
# wiegt er mit 2 und 8.
11
# wiegt er mit 1 und 2 und 8.
12
# wiegt er mit 4 und 8.
13
# wiegt er mit 1 und 4 und 8.
14
# wiegt er mit 2 und 4 und 8.
15
# wiegt er mit 1 und 2 und 4 und 8.
Wenn er nun 16 wiegen will, ſo muß er ein neues Ge-
wichtsſtück
von dieſer Schwere haben, wie das auch oben an-
gegeben
iſt.
Aber wir brauchen nicht weiter zu rechnen,
ſondern
können uns durch ein wenig Nachdenken überzeugen,
daß
man mit dieſem fünften Gewichtsſtück einen großen Sprung
vorwärts
kommt und ſchon bis 31 wiegen kann.
Denn da
wir
wiſſen, daß er mit den erſten vier Gewichtsſtücken von 1
bis
15 wiegen kann, ſo braucht er für jede Zahl über 16 nur
die
Gewichtsſtücke zuzulegen, mit welchen er bis 15 gewogen
hat
, um ſchließlich bis zu 15 und 16 zu kommen, was zuſammen
die
Summe aller fünf Gewichtsſtücke, das iſt 31, beträgt.
Jetzt iſt freilich ſeine Kunſt wieder zu Ende. Will er
weiter
wiegen, ſo muß er ſich ein Gewichtsſtück von 32 an-
ſchaffen
.
Wie weit wird er aber damit kommen? Das läßt ſich
ebenfalls
leicht einſehen.
Denn da er von 1 bis 31 mit
den
fünf erſten Stücken wiegen kann, ſo wird er mit Hilfe
des
ſechsten Gewichtsſtückes von 32 ganz richtig von 1 bis
63
kommen.
570110
Will er nun noch weitere Maſſen wiegen, ſo muß er ſich
ein
ſiebentes Gewichtsſtück von 64 anſchaffen, damit gelangt
er
ſchon ein ſtarkes Stück vorwärts;
denn da er von 1 bis 63
wiegen
kann und ein Gewichtsſtück von 64 beſitzt, ſo kann er
offenbar
mit Hilfe derſelben auch von 1 bis 127 wiegen.
Schafft
er
ſich nun gar ein achtes Gewichtsſtück von 128 an, ſo kann
man
, wie ein wenig Nachdenken zeigt, von 1 bis 255 wiegen,
denn
127 und 128 iſt 255.
All’ das ſieht freilich wie eine Spielerei aus; aber dahinter
ſtecken
mathematiſche Regeln von tiefem Ernſt und folgenreicher
Bedeutung
, über welche die beſten Köpfe ſich nicht geſcheut
haben
, viel nachzudenken.
Die Zahlen, mit welchen wir unſere Spielerei begannen,
1
, 2, 4, 8, 16, 32 u.
ſ. w. ſind nämlich der Reihe nach die
ſogenannten
Potenzen der Zahl 2 und dieſe ſpielen in der
Mathematik
eine gewaltige Rolle.
Die Eigentümlichkeit dieſer
Zahlenreihe
anzudeuten, wird es genügen, ſich zu überzeugen,
wie
jede Zahl derſelben immer um eins mehr iſt als die
Summe
aller vorangegangenen zuſammengerechnet.
Eine weitere
Fortſetzung
ihrer Reihe nach derſelben Regel der Verdoppelung
ergiebt
, wie man mit ſechzehn ſolchen Gewichtsſtücken ſchon
gar
von 1 bis 65 535 wiegen kann.
Wir ſehen alſo, wie man 16 Zahlen nach einer ſehr
ſimpeln
Regel ſo aufreihen kann, daß aus ihnen durch bloßes
Addieren
alle Zahlen von 1 bis 65 535 entwickelt werden
können
!
Sollte man dann aber mit Hilfe von einem bißchen Sub-
trahieren
nicht noch viel weiter kommen?
Ganz gewiß!
Darum wollen wir uns ein neues Beiſpiel wählen.
Ein noch ſparſamerer Kaufmann will gleichfalls möglichſt
viel
mit möglichſt wenig Gewichtsſtücken wiegen;
aber er ſagt
ſich
:
Es iſt gar nicht nötig, daß ich die Gewichtsſtücke
571111 nur auf die eine Wagſchale und die Waren auf die andere
lege
, ſondern ich könnte wohl auch ein großes Gewichtsſtück
auf
die eine Wagſchale und ein kleines auf die andere legen,
um
den Unterſchied durch das Gewicht der Waren auszu-
gleichen
.
Er meint dadurch an Anſchaffung der Gewichtsſtücke
ſparen
zu können.
Hat er recht?
Ganz gewiß, wie wir ſogleich ſehen werden.
Er ſchafft ſich ſtatt der früheren acht Gewichtsſtücke nur
folgende
ſechs Stücke an und findet, daß er ſchon mit dieſen
mehr
abwiegen kann als vorher, wenn er einzelne derſelben
auch
als Gegengewicht gebraucht.
Dieſe Gewichtsſtücke ſind 1, 3, 9, 27, 81 und 243.
Sehen wir zu, wie ſchön er damit fertig wird.
11
1
# wiegt er mit dem erſten Gewichtsſtück,
2
# wiegt er, indem er in die eine Schale das Gewichtsſtück \\ 1, in die zweite das Gewichtsſtück 3 legt,
3
# hat er im Gewichtsſtück ſelber,
4
# wiegt er mit 1 und 3,
5
# wiegt er mit 9, gegen welche er 1 und 3 in die zweite \\ Schale legt,
6
# wiegt er mit 9 gegen 3,
7
# mit 9 und 1 in der einen und 3 in der zweiten Schale,
8
# wiegt er mit 9 gegen 1,
9
# hat er ſelber,
10
# wiegt er mit 9 und 1,
11
# wiegt er mit 9 und 3 in der einen und 1 in der zweiten \\ Schale,
12
# wiegt er mit 9 und 3,
13
# wiegt er mit 9 und 3 und 1,
14
# wiegt er mit 27 in der einen und 9 und 3 und 1 in \\ der zweiten Schale.
572112
Und nun brauchen wir’s wohl nicht weiter buchſtäblich
vorzuführen
, ſondern jeder unſerer Leſer wird mit gar leichter
Mühe
das Verfahren weiter verfolgen können und ausfindig
machen
, daß man mit den ſechs Gewichtsſtücken von 1 bis
364
wiegen kann, während der obige Kaufmann mit acht Ge-
wichtsſtücken
im Abwiegen nur bis zu 255 kommen konnte.
Giebt es denn auch eine Regel für dieſe Zahlenreihe?
Ganz gewiß. Sie iſt ſehr einfach.
Während in der obigen Reihe 1, 2, 4, 8, 16 u. ſ. w. jede
neue
Zahl entſtanden iſt durch Verdoppelung der vorhergehen-
den
Zahl, entſteht in der jetzigen Reihe jede neue Zahl durch
Verdreifachung
der vorangegangenen.
Die Zahlen 1, 3, 9 und
27
entſtehen durch das ſehr einfache Multiplicieren jeder vor-
herigen
Zahl mit 3.
So geht es denn auch ganz regelrecht
immer
weiter und immerfort mit demſelben Erfolg.
Will man
der
Reihe von ſechs Zahlen noch zwei zufügen, ſo erhält man
als
Gewichtsſtücke 729 und 2187.
Und mit einfachem Addieren
und
Subtrahieren derſelben oder, was dasſelbe iſt, mit Gewicht
und
Gegengewicht kann man mit dieſen acht Stücken gar ſchon
von
1 bis 3280 wiegen.
Nun bedenke man wohl, was es ſagen will, daß in acht
nach
ſehr einfacher Regel zu berechnenden Zahlen ſämtliche
Zahlen
von 1 bis 3280 liegen! Nur noch zwei Zahlen nach
derſelben
Verdreifachungsregel hinzugefügt und eine kinder-
leichte
Rechnung zeigt, wie darin die Zahlen von 1 bis 29 524
ſtecken
.
Aber ſchäme Dich nicht, wenn Dich dies Zahlengeheimnis
in
Staunen verſetzt;
denn wiſſe: Eine Welt voll Denkern und
Forſchern
hat davon nichts gewußt, bis vor hundertundfünfzig
Jahren
ein großer Mann Namens Leonhard Euler aufſtand,
der
dies entdeckt hat.
Es liegt gar viel in dieſer ſo ſimpel
ſcheinenden
Entdeckung;
denn hier öffnete ſich eine Bahn zur
Erforſchung
der Eigenſchaften unſerer Zahlen, welche bis
573113 den heutigen Tag die feinſten und begabteſten Denker mit
neuen
und immer neuen Entdeckungen auf dem Gebiet der
Zahlengeheimniſſe
beſchäftigt.
II.
Zu den wiſſenſchaftlichen Erfindungen der neueren Zeit,
welche
von dem Publikum am meiſten angeſtaunt werden, gehören
die
Rechenmaſchinen, welche vermittelſt einer Kurbelbewegung
das
Kunſtſtück des Multiplicierens, des Dividierens, das Er-
heben
der Zahlen ins Quadrat und in den Kubus wie das
ſogenannte
Ausziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln voll-
bringen
.
Die Methode, wonach dies geſchieht, iſt jedoch eine rein
wiſſenſchaftliche
und beruht auf dem Studium der Eigentüm-
lichkeit
unſerer Zahlen, die in ihren Kombinationen auf ein-
fache
Formeln zurückgeführt werden können.
Um durch ein
Beiſpiel
dieſe Eigentümlichkeit deutlich zu machen, wollen wir
hier
die Einfachheit der Geſetze der Quadrat- und Kubikzahlen
von
1 bis 10 vorführen.
Das Quadrat einer Zahl erhält man, wenn man eine Zahl
mit
ſich ſelbſt multipliciert.
So z. B. iſt das Quadrat von
2
gleich 4, denn 2 mal 2 iſt 4.
Das Quadrat von 3 iſt 9,
denn
3 mal 3 iſt 9, das Quadrat von 4 iſt 16, denn 4 mal 4
iſt
16, das Quadrat von 5 iſt 25 u.
ſ. w.
Nun wollen wir einmal die Quadrate der Zahlen von 1
bis
10 hier nebeneinanderſtellen und die Eigentümlichkeit dieſer
Reihe
zeigen.
Die Quadrate ſind:
1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100.
Sehen wir nun, um wieviel jede dieſer Zahlen wächſt, ſo
finden
wir, daß die zweite Zahl 4 um 3 größer iſt als die
erſte
;
die dritte 9 iſt um 5 größer als die zweite; die vierte
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
574114
Zahl 16 iſt um 7 größer als die vorangegangene. Führen wir
dieſe
Rechnung weiter, ſo erhalten wir eine neue Reihe Zahlen,
welche
die Unterſchiede zwiſchen je zwei der obigen Quadrat-
zahlen
angeben.
Dieſe Reihe ſieht, wie jedes Kind ausrechnen
kann
, folgendermaßen aus:
3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19.
Betrachtet man aber dieſe dritte Zahlenreihe, ſo ſieht man
bereits
auf den erſten Blick, daß jede neue Zahl ſtets um 2
größer
iſt als die vorangegangene.
Die Unterſchiede dieſer
Zahlen
iſt 2, 2, 2, 2 u.
ſ. w.
Da ſieht man denn, daß die Quadratzahlen von 1 bis 10
auf
eine äußerſt einfache und gleichmäßige Steigerung zurück-
geführt
werden können, ſobald man aus dem Unterſchiede der
Quadratzahlen
eine neue Zahlenreihe macht und dieſe neue
Zahlenreihe
wiederum in ihrem Unterſchiede prüft.
Dasſelbe äußerſt einfache Geſetz des Wachstums der Qua-
dratzahlen
gilt aber nicht etwa bloß für die Zahlen von 1
bis
10, ſondern bis 100, 1000 u.
ſ. w. ins Unendliche. Dieſe
Einfachheit
, dieſe Gleichheit wird in den Rechenmaſchinen an-
gewendet
, und ſie bringen durch ihre Mechanismen die Reſultate
heraus
, welche, wenn man über dieſe Einfachheit nicht nach-
denkt
, das Staunen des Publikums erregen.
Mit der Berechnung der Kubikzahlen geht es ebenſo einfach
zu
;
nur ſind die dazu nötigen Zahlenreihen etwas größer.
Eine Kubikzahl entſteht, wenn man eine Zahl mit ſich
ſelbſt
multipliciert und das Reſultat nochmals mit derſelben
Zahl
multipliciert.
Z. B. die Kubikzahl von 2 iſt 8, denn
zweimal
2 iſt 4 und zweimal 4 iſt 8;
das heißt der Kubus
von
2 iſt 8 (weil 2 mal 2 mal 2 gleich 8 iſt).
In ganz
gleicher
Weiſe iſt die Kubikzahl von 3 gleich 27 (denn 3 mal
3
mal 3 macht 27).
Die Kubikzahl von 4 iſt 64 (denn 4
mal
4 mal 4 beträgt 64).
575115
Wir wollen nun einmal die Kubikzahlen von 1 bis 10
hier
herſetzen.
Sie lauten:
1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512, 729, 1000.
In dieſer Zahlenreihe iſt das Wachstum jeder Zahl gegen-
über
der vorangegangenen ſchon ſehr gewaltig und ſcheinbar
ſehr
verſchieden.
Aber wenn wir auch hier dies Wachstum
näher
unterſuchen, kommen wir ſchließlich doch wieder auf ein
ſehr
einfaches und ganz gleiches Geſetz.
Wir wollen deshalb auch hier die Reihe des Wachſens
dieſer
Zahlen aufſuchen und dadurch eine neue Zahlenreihe
ſchaffen
.
Es wächſt die erſte Zahl 1 zur zweiten Zahl 8 um
7
.
Die zweite Zahl wächſt zur dritten 27 um 19, die dritte
Zahl
wächſt zur vierten um 37 u.
ſ. w. Die Reihe dieſes
Wachstums
nebeneinandergeſtellt, iſt alſo folgende:
7, 19, 37, 61, 91, 127, 169, 217, 271.
Sehen wir uns nun das Wachstum dieſer neuen Reihe
an
und ſtellen uns die Zahlen des Wachstums wieder zu einer
neuen
Reihe auf, ſo erhalten wir als das Wachstum von 7
zu
19 die Zahl 12, von 19 zu 37 die Zahl 18 u.
ſ. w. , eine
neue
Reihe, die wie folgt ausſieht:
12, 18, 24, 30, 36, 42, 48, 54.
Unterſuchen wir aber dieſe Reihe Zahlen, ſo finden wir,
daß
der Unterſchied zwiſchen der erſten 12 zur zweiten 18 gleich
6
iſt.
Dasſelbe iſt aber auch zwiſchen der zweiten und dritten,
zwiſchen
der dritten und vierten u.
ſ. w. der Fall. Dieſe
Zahlenreihe
wächſt ſehr einfach und gleichmäßig immer um 6.
Da ſehen wir denn, wie das Wachstum der Kubikzahlen
von
1 bis 10 im Anfang ſehr verſchiedenartig erſcheint, doch
äußerſt
einfach wird, ſobald man nur den feinen Kniff an-
wendet
, ihre Unterſchiede in wiederholten Reihen aufzuſuchen.
Was wir hier in den Kubikzahlen von 1 bis 10 zeigen,
ailt
aber auch für die Reihe der Zahlen bis in die
576116 lichkeit. In der vierten Unterſchiedsreihe wachſen dieſe Kubik-
zahlen
immer nur um 6.
Dieſes einfache Zahlengeſetz wird in Rechenmaſchinen an-
gewendet
, um ſcheinbar ſehr komplizierte Exempel auf einfache
zurückzuführen
und durch fein ausgeſonnene Mechanismen aus-
zurechnen
.
Zur beſſeren Überſicht ſtellen wir die hier erwähnten
Zahlenreihen
nochmals zuſammen.
Einfachheit des Wachstums der Quadratzahlen:
Erſtens, einfache Zahlen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10.
Zweitens, deren Quadrate: 1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100.
Drittens, Unterſchiede der zweiten Reihe: 3, 5, 7, 9, 11, 13,
15
, 17, 19.
Viertens, Unterſchiede der dritten Reihe: 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2.
Einfachheit des Wachstums der Kubikzahlen:
Erſtens, einfache Zahlen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10.
Zweitens, deren Kuben: 1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512,
729
, 1000.
Drittens, deren Unterſchiede: 7, 19, 37, 61, 91, 127, 169,
217
, 271.
Viertens, Unterſchiede der dritten Reihe: 12, 18, 24, 30, 36,
42
, 48, 54.
Fünftens, Unterſchiede der vierten Reihe: 6, 6, 6, 6, 6, 6, 6.
Wem es Vergnügen macht, noch verwickeltere Exempel
bis
zur Einfachheit zurückzuführen, der verſuche es einmal
mit
der vierten Potenz der einfachen Zahlen, d.
h. er ſtelle
ſich
die Zahlenreihe auf, die jede Zahl von 1 bis 10 giebt,
wenn
man ſie mit ſich ſelbſt dreimal multipliciert, wie z.
B.
2 mal 2 mal 2 mal 2, was 16 giebt, und 3 mal 3 mal 3
mal
3, was gleich iſt 81, 4 mal 4 mal 4 mal 4, gleich 256
u
.
ſ. w. Aus der ſo erhaltenen Reihe Zahlen ſuche er
577117 Wachstum und mache eine neue Reihe, aus dieſer neuen Reihe
wieder
eine Reihe in gleicher Weiſe, aus dieſer wiederum eine
neue
Reihe;
dann wird er endlich finden, daß die Zahl 24
das
Grundgeſetz des Wachstums der vierten Potenz iſt.

Treibt
man die leichte Rechnung noch weiter in die fünfte und
ſechste
Potenz und weiter, ſo wird man leicht in den Grund-
Zahlen
, welche man da erhält, ein überraſchendes Geſetz
entdecken
, das mit zu den intereſſanteſten Zahlengeheimniſſen
gehört
, welche die kühnſten Denker beſchäftigen.
578
Vom Spiritismus.
I. Einleitende Betrachtungen.
Wie ſich in der grauen Vorzeit, als der Menſch zum
erſtenmale
die ihn umgebenden Naturvorgänge mit Ver-
ſtändnis
betrachtete, und ſich zum erſtenmale das Kauſalitäts-
bedürfnis
bei ihm geltend machte, der Glaube an überirdiſche
Weſen
, an Götter und Dämonen, entwickelte, iſt ſchon oft von
geiſtvollen
Forſchern dargelegt worden.
Der Menſch fragte
ſich
mit einem Male, wodurch gewiſſe Naturerſcheinungen
hervorgerufen
würden, und hatte damit den entſcheidenden
Schritt
gethan, der ihn endgültig von den Tieren trennte.
Zumal durch die Vorgänge, die ſich beim Gewitter ab-
ſpielen
, mag die Religion entſtanden ſein.
Der Menſch ſah,
wie
in ungeheuren Strömen das Waſſer vom Himmel ſtürzte,
er
ſah, wie die ſtarken Bäume des Waldes, die er nicht be-
wegen
konnte, hin und her gebogen, wie ſie umgebrochen wurden,
er
hörte, wie es in den Lüften rollte und krachte, er ſah, wie
ein
rätſelhaftes Weſen, gleich einer feurigen Schlange, vom
Himmel
herniederfuhr und ſeine kleine Hütte zerſtörte, er
ſah
, wie ein wunderbar ſchillernder, farbiger Bogen plötz-
lich
ſich am Himmel zeigte, und er ſah keine Hände, welche
dies
alles vollführten, kein Weſen, welches ſolche ihm ſelbſt
unmöglichen
Dinge vollbrachte.
Manches andere Rätſel
579119 fiel ihm auf, beſonders die Erſcheinungen des Schlafes und
Todes
, die den denkenden Menſchen noch heut oft ſo rätſelhaft
anmuten
;
und ſo muß es gekommen ſein, daß der Urmenſch
zuerſt
den Gedanken an übermächtige Weſen faßte, “Bilder,
die
ihm gleich waren” an Ausſehen, aber ihn an Kraft über-
trafen
, welche teils freundlich und ſegnend, teils feindlich und
vernichtend
in ſein Leben eingriffen.
So waren es alſo unerklärliche Vorgänge, welche den
Glauben
an mächtige oder gar allmächtige Weſen ſchufen;
bei
allen
Völkern und man kann auch ſagen, zu allen Zeiten.
Sobald ſein Kauſalitätsbedürfnis nicht befriedigt wird, nimmt
der
Menſch zu übernatürlichen Erklärungen ſeine Zuflucht.

Jene
Erſcheinungen, welche den Urmenſchen ſchreckten, ſind zwar
jetzt
größtenteils auf natürliche Weiſe erklärt, und viele, viele
andere
mit ihnen;
ſiegend hat die Wiſſenſchaft ihre Leuchte in
ſo
manches Dunkel getaucht, und noch immer dringt ſie raſtlos
in
unermüdlichem Forſchen weiter vor, um immer neue und
neue
Gebiete der Myſtik und dem Aberglauben zu entreißen.

Aber
, ſo weit ſie auch vorſchreitet, immer weitere, ungeahnte
Hinderniſſe
ſtellen ſich ihrem Erkenntnisdrang entgegen, wenn
ſie
auch nicht auf die Dauer ihrem unwiderſtehlichen Anſturm
ſtand
halten können.
Und jedes vor dem Geiſte des Menſchen
neu
auftauchende Naturrätſel ſcheint ihm zuerſt unzugänglich
für
einenatürliche” Erklärung, eine Erklärung mit den bisher
gewonnenen
, naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen;
eine Erklärung
aber
verlangt das allmählich ins Rieſenhafte angewachſene
Kauſalitätsbedürfnis
des Menſchen, und ſo nimmt man denn
nur
gar zu leicht ohne weiteres zum Wunderglauben ſeine
Zuflucht
, ſtatt herzhaft dem Geheimnis gegenüber zu treten
und
mit den Siegwaffen der Mathematik und Erfahrung
den
unheimlichen Schleier, welcher darüber liegt, zu zerreißen.
Die Wiſſenſchaft dagegen verfällt in ihrem löblichen Be-
ſtreben
, rein empiriſtiſch zu bleiben, jeder neu ſich
580120 Naturoffenbarung gegenüber leicht in den entgegengeſetzten
Fehler
übertrieben großer Zweifelſucht;
alles, was ſie nicht er-
klären
kann, und was in ihrer bisherigen Kenntnis keinen An-
knüpfungspunkt
bietet, verwirft ſie von vornherein als thörichte
Spekulation
.
Aber ſie muß ſich auch ſo verhalten, und erſt
wenn
ſie unwiderlegliche Beweiſe in Händen hat, kann ſie eine
andre
Stellung zu der Frage einnehmen;
dann allerdings geht
ſie
auch mit Feuereifer daran, alles Myſtiſche zu zerſtören und
mit
der Sonde der Erkenntnis bis in die entlegenſten Schlupf-
winkel
zu dringen.
So ſtoßen denn Wiſſenſchaft und Metaphyſik allerorten in
hartem
Kampfe gegen einander;
denn alle Erſcheinungen im
menſchlichen
Leben, welche der natürlichen Erklärung noch ent-
rückt
ſind, denen die Wiſſenſchaft erſt jetzt Intereſſe entgegen-
zubringen
beginnt, oder die ſie noch vollſtändig ignoriert, wenn
nicht
gar rundweg leugnet, alle dieſe Erſcheinungen und es
giebt
deren eine große Menge werden von der Metaphyſik
als
Beweis für ihre Anſchauungen in Anſpruch genommen, ſo
lange
, bis es endlich gelingen wird, eine einfacheErklärung”
dafür
zu liefern.
Immer weitere Gebiete fallen der ſtetig vor-
wärtsſtürmenden
Wiſſenſchaft zu;
die Metaphyſik wird dauernd
weiter
eingeſchränkt, und geängſtigt haſcht ſie nach allem, was
noch
unerklärt und geheimnisvoll im menſchlichen Leben iſt,
ſaugt
es gewiſſermaßen in ſich auf, wie ein Schwamm, und
ſucht
es bei jeder Gelegenheit der Wiſſenſchaft vorwurfsvoll
entgegen
zu ſchleudern, um ihr ihre Ohnmacht und Unvoll-
kommenheit
zu demonſtrieren und dadurch ſich ſelbſt und ihren
Lieblingsideen
ein Recht auf Exiſtenz zu ſichern.
Zu vollem Ausbruch iſt der Kampf erſt gekommen, ſeit
durch
Darwins große That auch alle jene Stützen der trans-
cendentalen
Weltauffaſſung, welche bis dahin unwiderleglich
und
unbeſieglich erſchienen, ins Wanken geraten ſind.
Seit
dieſer
Zeit erſt kann auch wirklich die Rede ſein von jener
581121 wegung, welche ſich die Gegnerſchaft gegen die naturwiſſen-
ſchaftliche
Weltanſchauung im Grunde genommen zum Haupt-
zweck
gemacht hat, welche ſich deshalb allein mit den von der
Wiſſenſchaft
nicht anerkannten Vorgängen und Erſcheinungen
beſchäftigt
vom Spiritismus.
Wenngleich wir nun natürlich nicht eingehend die verſchiedenen
Lehren
des Spiritismus behandeln können, ſo wollen wir doch
wenigſtens
einige der wichtigſten und bekannteſten Phänomene,
die
der Spiritismus für ſich in Anſpruch nimmt, einer ſorg-
fältigen
, vorurteilsloſen Kritik unterziehen;
ſoweit dies bei einem
ſo
heiklen Thema, wo ein jeder gern ſogleich Partei für oder
wider
ergreift, möglich iſt.
Wir glauben aber, daß heutzutage der Spiritismus eine
ſo
große Rolle ſpielt und auch ſo großer Beachtung wert iſt,
daß
in einem naturwiſſenſchaftlichen Volksbuch unbedingt
davon
die Rede ſein muß.
Alſo friſch ans Werk!
II. Das Tiſchrücken.
Das Tiſchrücken iſt die vielleicht am häufigſten citierte
Erſcheinung
unter allen angeblich ſpiritiſtiſchen Phänomen, iſt
aber
nichts deſtoweniger ein noch ſehr viel umſtrittenes Problem.
Während die Spiritiſten darin einen der ſchlagendſten Beweiſe
für
das Walten von Geiſtern oderIntelligenzen” erblicken,
erklären
die Antiſpiritiſten das ganze Tiſchrücken für ein Pro-
dukt
überhitzter Phantaſie oder geradezu als einen ganz un-
glaublichen
Schwindel.
Zwiſchen dieſen beiden extremen An-
ſchauungen
dürfte das Richtige zu ſuchen ſein.
Wer ſich zu-
ſammen
mit einigen, von gleichem Wiſſensdrange beſeelten und
unbedingt
zuverläſſigen Perſonen einmal ernſtlich mit
582122 Tiſchrücken abgegeben hat, wird alsbald erkennen, daß man es
hier
allerdings mit Thatſachen zu thun hat, welche jeden Ge-
danken
an Betrügerei oder Selbſtbetrug ausſchließen, und wir
können
daher unſren Leſern nur dringend raten, in einer freien
Stunde
mit Hülfe einiger Freunde derartige Experimente an-
zuſtellen
.
Wir hoffen allerdings dabei, daß ſie naturwiſſenſchaftlich
genug
geſchult ſind, um nicht gleich nach den erſten, ſehr über-
raſchenden
Reſultaten des Experiments mit Haut und Haar
dem
Spiritismus zu verfallen und fortan auf Geiſter und
Intelligenzen” zu ſchwören.
Wir hoffen vielmehr, ſie werden
in
der rechten Weiſe naturwiſſenſchaftlicher Forſcher verfahren
und
nicht ruhen und raſten, bis ſie die natürliche Deutung
der
ſeltſamen Erſcheinungen ſich klar gemacht haben.
Sie
werden
alsdann ſehen, daß das Tiſchrücken weder Einbildung
iſt
oder Schwindel Mumpitz”, wie der Berliner gern
ſagt
noch daß es irgendwie etwas für den Spiritismus be-
weiſen
kann.
Freilich, lieber Leſer, du mußt, wenn du vom Tiſchrücken
hörſt
, nicht gleich an fliegende Tiſche u.
ſ. w. denken, wovon
manche
Leute fabeln;
vielmehr iſt die Sache ganz ungeheuer
einfach
, zuerſt ſogar ſchrecklich langweilig .
. . . Aber es wird
ſchon
am beſten ſein, wir verſetzen uns gleich einmal in eine kleine
Geſellſchaft
, die ſich mit Tiſchrücken abgiebt.
Nötig ſind nur
drei
oder vier Perſonen;
große Vorbereitungen ſind abſolut
nicht
zu treffen;
das einzige, was wir brauchen, iſt ein mög-
lichſt
leichter, runder, polierter Tiſch, am beſten mit drei Beinen,
ein
ſogenannter Kabinettiſch oder ein Rauchtiſch.
Die Per-
ſonen
, die wir annehmen wollen, haben alle noch keinen ähn-
lichen
Verſuch unternommen, ja, ſie ſind ſogar alleungläubig”.
Betrug ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen! Gut, die Sitzung be-
ginnt
.
Die betreffenden Perſonen ſagen wir drei! ſtellen
oder
ſetzen ſich um den Tiſch, jeder legt die Hände neben-
einander
vor ſich hin, und zwar ſo, daß die Innenſeiten
583123 Finger auf der Tiſchkante liegen und daß die beiden Daumen
ſich
berühren.
Die kleinen Finger eines jeden müſſen die der
jeweiligen
Nachbarn berühren.
Je mehr dabei die Hände ge-
ſpreizt
werden, deſto vorteilhafter iſt es für das Experiment,
allerdings
auch deſto anſtrengender;
werden ſie zu wenig ge-
ſpreizt
, etwa wegen einer zu großen Zahl von beteiligten Per-
ſonen
, ſo wird man auf einen Mißerfolg zu rechnen haben.
Nehmen wir aber an, bei unſern drei Perſonen ſeien alle Vor-
bedingungen
richtig erfüllt, was geſchieht nun?
Zunächſt eine ganze Weile gar nichts. Allgemeines, er-
wartungsvolles
Schweigen;
dann nach einigen Minuten fallen
ein
paar mehr oder weniger gute Witze, die aber alle nur die
lebhaft
ſkeptiſche Geſinnung der Beteiligten bekunden.
Jetzt
ſtößt
einer abſichtlich oder unabſichtlich mit dem Fuß an den
Tiſch
.
Entrüſtungsrufe, neue Witze! So vergehen fünf Mi-
nuten
.
Schon fängt einer an zu raiſonnieren, und man ver-
nimmt
zum erſtenmale von einem Beteiligten, wenn es noch
länger
dauerte, ginge er ab;
ein anderer proteſtiert da-
gegen
.
Neue Witze! Der erſte erklärt abermals, er habe nun
genug
, die Hände thäten ihm ſchon weh, die andern machen
dieſelbe
Beobachtung an ſich.
Kurzes Schweigen, Hoffnungs-
loſigkeit
! “Wollen wir aufhören?
Na, ein paar Minuten
noch
! Abermaliges Schweigen.
Die Hände ſchmerzen immer
mehr
.
Na, nun noch zwei Minuten; dann höre ich aber
auf
.
Ja, ich auch, das hält ja kein Menſch aus. Es iſt
zu
dumm, daß man ſeine ſchöne Zeit mit ſolchem Unſinn tot
ſchlägt
!Na, jetzt gehe ich, es wird ja doch nichts.
Da,
eine
leiſe Schwankung des Tiſches nach einer Seite!.
. Wehe
dem
Unglücklichen, dem der Tiſch dieſeNeigung” bezeigt!
Die
beiden andern fallen über ihn her, und die gelindeſte Ver-
mutung
, die ausgeſprochen wird, iſt noch die, daß er ſich einen
Scherz
erlaubt habe.
Vergebens beteuert der andere ſeine Un-
ſchuld
.
Aber von Aufhören iſt jetzt nicht die Rede. Der
584124 der all die Aufregung verurſacht hat, ſteht wieder ſteif wie ein
Klotz
und thut, als ob er von gar nichts wüßte.
Wieder ver-
gehen
zwei Minuten.
Man ſpricht abermals von Aufhören.
Da, eine neue Schwankung, nach derſelben Seite wie vorher!
Nun
iſt der Ärmſte als Betrüger entlarvt, er bekommt nicht
gerade
Schmeicheleien zu hören, und wenn die beiden anderen
ihre
Hände nicht auf den Tiſch halten müßten, würden ſie ihm
wahrſcheinlich
in die Haare fahren.
Aber halt, da ſchwankt
der
Tiſch ſchon wieder, intenſiver als vorher, aber nach einer
andren
Seite! Nun wird den Beteiligten die Sache unheim-
lich
, mit ihrer Weisheit iſt es zu Ende, bis es mit einem Mal
heißt
, jetzt hätte derBetrüger” nicht den Tiſch zu ſich herab-
gedrückt
, wie vorher, ſondern ihn geſtoßen.
Der Grund klingt
plauſibel
, aber nun macht der Tiſch mit einem Mal eine tiefe
Verbeugung
, richtet ſich auf und verbeugt ſich nach einer andern
Seite
.
Er wirft ordentlich mitBücklingen” um ſich, nach
allen
Seiten, wie ein dienſteifriger Lakai.
Und nun o
Wunder
! ein lebhafter Ruck nach rechts! Alle fahren mit
den
Köpfen unter den Tiſch, um zu ſehen, wer der Übelthäter
iſt
, dermit dem Fuße angeſtoßen” hat.
Doch iſt nichts Ver-
dächtiges
zu entdecken.
Allgemeines Staunen. Da: ſchon
wieder
ein Ruck;
noch einer! Der Tiſch beginnt wahrhaftig
um
ſeine eigene Axe zu rotieren, und doch ſind alle Füße (die
menſchlichen
natürlich) möglichſt weit von ihm entfernt, ſie
fliehen
ihn, wie die Peſt.
Nun wieder eine Verbeugung um
30
, um 45 Grad;
der Tiſch wäre gefallen, hätte nicht einer
raſch
zugegriffen.
Nein, Kinder . . . Das begreif ich nicht.
Da hört ja doch aber alles bei auf.
DerBetrüger” muß
die
Daumen hochheben und die kleinen Finger auf die ſeiner
Nachbarn
legen, damit er gar nicht mehr den Tiſch berührt.

Und
dieſerbewegt ſich doch”, wenn auch nur wenig.
Die
Beſchuldigungen
der Mogelei fallen hageldicht;
jeder ſteht
gegen
alle, einer nach dem andern muß über ſich
585125 Probe ergehen laſſen, wie derBetrüger” vorher. Keiner
merkt
mehr den Schmerz in den Händen, alle ſtarren den Tiſch
an
, der jetzt mit bedeutender Schnelligkeit nach rechts rotiert.
Plötzlich ſteht er ſtill, dann beginnt er, erſt langſam, dann
immer
ſchneller und ſchneller, nach links zu wandern.
Er
karamboliert
mit einem Spind, ſo daß die Verbindung der
Hände
auf Augenblicke unterbrochen werden muß.
Der Tiſch
wird
wieder in die Mitte des Zimmers gebracht, iſt nun aber
gar
nicht mehr zu bändigen.
Er geberdet ſich wie ein Berſerker,
den
drei Männer zwar umſpannen, aber nicht halten können.

Und
ſo geht es fort, bis ſchließlich die Beteiligten, ermüdet
von
dem vielen Laufen, die Sitzung abbrechen.
Wenn einer nicht ſehrgeiſterfeſt” iſt, ſo iſt er wie
geſagt
nach ſolchen Erſcheinungen faſt unrettbar dem Spiri-
tismus
verfallen.
Nun ja, es waren doch aber auch ganz
wunderbare
, übernatürliche Dinge, die wir da erlebt haben.
Sprachen denn nicht jene Erſcheinungen geradezu allen Natur-
geſetzen
Hohn?
Und ſchlugen ſie nicht allen wiſſenſchaftlichen
Erfahrungen
ins Geſicht?
Ein lebloſes Möbel, das ſonſt ganz
harmlos
zu ſein ſcheint, und über deſſen Vorleben nichts Nach-
teiliges
bekannt geworden iſt, kann es nicht vertragen, wenn
es
an mehreren Stellen befaßt wird, gerät dadurch in geradezu
nervöſe
Zuckungen und ſucht ſich ſchließlich ſeinen Peinigern
durch
die Flucht zu entziehen.
So ſieht die Sache aus, und
da
ſollten noch keine Geiſter mit im Spiel ſein?
Zum wenigſten
müſſen
doch die Leute, die ſich hartnäckigerweiſe, wider beſſere
Überzeugung
natürlich, dem Spiritismus widerſetzen, zugeben,
daß
die ganze Erſcheinung etwas Geheimnisvolles, Wider-
natürliches
an ſich hatte, und daß ſie mindeſtens ſoviel beweiſt:

es
giebt noch ganz unerforſchte Naturkräfte.
Nicht wahr?
Ach nein! Wenn man die Sache genauer unterſucht, ſo
kann
man den ſpiritiſtiſch angehauchten Geheimnisſuchern nach-
weiſen
, daß ſie ſich garuicht ſo erhaben übernatürlich,
586126 ganz banal natürlich abſpielt. Der erſte, der das Tiſchrücken
gründlich
erforſchte und richtig erklärte, war der große engliſche
Phyſiker
Michael Faraday (1791—1867).
Wenn die Hände mehrere Minuten lang in derſelben,
ſtark
geſpreizten Lage verharren, ſo müſſen ſie natürlicherweiſe
erlahmen
, und ſie würden in der freien Luft ſichtlich zu zittern
anfangen
, während ſie ſo einen Halt und eine Stütze am Tiſch
haben
, auf den ſich nun aber ihre ganzen Bewegungen über-
tragen
.
Aus dieſen zitternden Bewegungen kann man nun die
Erſcheinung
in all ihren Stadien ableiten;
je ſtärker jene Be-
wegungen
ſind, deſto beſſer gelingt das Experiment, daher
eignen
ſich leidenſchaftliche, aufgeregte oder nervöſe Perſonen
am
beſten zum Tiſchrücken.
Gewöhnlich fangen die Hände bei
der
Berührung mit der Tiſchplatte auch noch an zu tran-
ſpirieren
, ſo daß ſie ſich noch leichter auf der polierten Platte
hin-
und herbewegen können.
Dieſe Bewegungen bleiben
uns
im großen und ganzen unbewußt, eben deshalb, weil die
Hände
ermüdet ſind, der Tiſch aber reagiert wegen ſeiner
Leichtigkeit
bereits auf verhältnismäßig ſehr ſchwache Ein-
wirkungen
.
Zunächſt läßt natürlich jeder die Hände, die er
anfangs
nur ganz leiſe auf die Tiſchplatte auflegte, nach und
nach
, ohne es zu merken, immer mehr ſinken;
dadurch übt er
ſchon
, zumal wenn er ſteht, einen recht kräftigen Druck auf
den
Tiſch aus, auf welchen dieſer durch eine Beugung uach
der
betreffenden Seite reagiert.
Dadurch wird wiederum,
was
auch nicht zu vernachläſſigen iſt, die Aufregung der be-
teiligten
Perſonen geſteigert, und durch dieſe, wie durch die
zunehmende
Ermüdung der Hände, werden die Bewegungen
immer
lebhafter, der Druck immer intenſiver.
Nie außer-
ordentlich
kräftig dieſer Druck werden kann, ohne daß man ſich
deſſen
bewußt wird, hat Schreiber dieſes einmal an ſich ſelbſt beob-
achtet
, wo er eine ſehr tiefe Neigung des Tiſches nach ſeiner
linken
Seite allein durch den Druck des kleinen linken
587127 veranlaßt hatte, was ihm erſt zum Bewußtſein kam, als ſeine
beiden
Partner den Tiſch plötzlich losließen.
So ſind die Schwankungen des Tiſches zu erklären, wie
ſteht
es nun aber mit dem Rotieren um ſeine Achſe?
Auch das
iſt
ſehr einfach:
Nehmen wir z. B. an, die Hände einer
Perſon
gleiten etwas nach rechts.
Dadurch wird auf einen
Augenblick
der leiſe Kontakt mit dem kleinen Finger des linken
Nachbars
unterbrochen, und dieſer wird, um die Berührung
wieder
herzuſtellen, ſeine Hände ebenfalls etwas nach rechts
verſchieben
.
Aus demſelben Grunde thut dies dann auch ſein
Nachbar
wieder, und ſo ſind die Hände aller am Tiſch be-
findlichen
Perſonen in einer zwar für gewöhnlich gar nicht
merkbaren
, aber doch zur Fortbewegung des Tiſches aus-
reichenden
Bewegung nach rechts begriffen.
Iſt der Tiſch nun
erſt
einmal im Gange, ſo müſſen ihm die Hände ja folgen
und
üben dadurch abermals einen unwillkürlichen Druck nach
rechts
aus, der noch weit kräftiger iſt, als zuvor, der aber
auch
nicht zum Bewußtſein kommt.
Mehrfach konnte Schreiber
dieſes
beobachten, daß ſchon der bloße Gedanke, der Tiſch
ſolle
nach links oder rechts gehen, ohne den Willensimpuls,
ihn
wirklich dorthin zu bewegen, genügte, um eine Drehung
in
der gewünſchten Richtung zu veranlaſſen.
Wenn dagegen
einer
ſagt, “wir wollen jetzt alle einmal unſere Hände ganz
ſtill
halten”, ſo ſteht der Tiſch ſofort ſtill, da jeder die zitternden
Handbewegungen
durch einige Konzentration des Willens eine
kurze
Zeit lang verhindern kann.
Daß die gegebene Erklärung wirklich die richtige ſein
muß
, konnte Verfaſſer noch ein ander Mal beobachten:
Einſt
weilte
er in einer größeren Geſellſchaft, und dieſe wollte
gern
das Tiſchrücken verſuchen.
Es fand ſich aber nur ein
ziemlich
ſchwerer, vierbeiniger, unpolierter, eichener Tiſch vor,
zu
deſſen Umſpannung nicht weniger als 6 Perſonen notwendig
waren
.
Nichtsdeſtoweniger wurde mit ihm das
588128 gemacht, trotzdem von vornherein klar war, daß es mißlingen
müſſe
.
So geſchah es auch, wir ſtanden ſchon eine Viertelſtunde
lang
, der Tiſch aber rührte ſich nicht.
Da machte einer den
Vorſchlag
, ein jeder von uns ſolle abſichtlich einen ganz, ganz
leichten
Druck nach rechts ausüben.
Dies geſchah auch, und
auf
der Stelle zeigten ſich alle für das Tiſchrücken charak-
teriſtiſchen
Merkmale.
Der Tiſch begann trotz ſeiner Schwere
auf
dieſen ſcheinbar doch viel zu geringen Druck in der wohl-
bekannten
Weiſe zu rotieren.
Damit war die Vermutung, daß
die
ganze Erſcheinung auf natürlichem Wege zu erklären ſei,
in
der glänzendſten Weiſe beſtätigt.
Denn wenn bei einem
verhältnismäßig
großen und ſchweren, noch dazu vierbeinigen
Tiſch
ſchon ein gerade noch merkbarer Druck genügt, um ihn
in
recht lebhafter, unzweideutiger Weiſe zumRücken” zu
bringen
, ſo iſt leicht einzuſehen, daß bei einem 4 oder 5 mal
leichteren
Tiſch zu demſelben Effekt ſchon ein Druck genügt,
welcher
dem einzelnen Individuum garnicht mehr zum Be-
wußtſein
zu kommen braucht, welcher um den wiſſenſchaftlichen
Ausdruck
zu gebrauchen unterhalb der Schwelle des Be-
wußtſeins”
liegt.
III. Das Tiſchklopfen.
Beim eigentlichen Tiſchrücken alſo handelt es ſich um recht
einfache
phyſikaliſche und phyſiologiſche Vorgänge, welche keinem
bekannten
Naturgeſetz auch nur im geringſten widerſtreiten.
Nun
aber
haben wir noch einer eng damit verwandten und oft ver-
bundenen
Erſcheinung zu gedenken, nämlich des ſogenannten
Tiſchklopfens.
Wenn der Tiſch in lebhafter Rotation begriffen
iſt
, ſo pflegt er nicht ſelten ſeine Umdrehungen zeitweilig
589129 unterbrechen und ſich lebhaft nach einer Seite hin zu neigen.
Dabei muß er natürlich eins ſeiner Beine in die Luft er-
heben
, und in dieſer Stellung ſoll er nun durch Klopfen mit
dem
freiſchwebenden Fuß auf alle möglichen an ihn gerichteten
Fragen
Antwort geben, indem etwa ein einmaliges Klopfen
Nein”, ein zweimaligesJa” bedeutet.
Unter Umſtänden
wird
der Tiſch ſogar ſo redſelig, daß er lange Geſchichten
erzählt
;
man braucht dazu nur das Alphabet aufzuſagen, ſo
wird
der Tiſch bei dem gewünſchten Buchſtaben prompt mit
dem
Fuß aufſchlagen.
Allmählich reihen ſich dann die Buch-
ſtaben
zu Wörtern und Sätzen zuſammen;
allerdings dauert
es
auf dieſe Weiſe etwas lange, bis man durch eine gütige
Intelligenz” etwas zu erfahren bekommt, aber deſto mehr
Zeit
hat man ja dann auch, über alle Wunder der über-
ſinnlichen
Welt, in Ehrfurcht erſterbend, nachzudenken.
Schreiber dieſes hatte vor einiger Zeit ſelber Gelegenheit,
an
einer ſolchen Tiſchklopf-Soirée teilzunehmen, und er muß
geſtehen
, daß er anfangs ganz frappiert war von dem prompten
dreimaligen
Aufklopfen des Tiſches, welches jedesmal eintrat,
wenn
bei Aufſagung des Alphabets der jeweilig paſſende, ſinn-
gemäße
Buchſtabe genannt wurde.
Es ſchien zuerſt ſo, als
ob
ſich wirklich ein vernünftiger Satz entwickeln würde, aber
als
drei oder vier verheißungsvolle Worte fertig geklopft waren,
wurde
nur noch ein grauenhafter Unſinn von wild durch-
einandergewürfelten
Buchſtaben produziert, der nichts weniger
als
geiſtreich” war.
Trotzdem freilich gab die vernünftige
Zuſammenſetzung
der erſten Worte (wenn ich mich recht er-
innere
, lauteten ſie:
Adolf F . . . . . darf kein”) zum Nachdenken Anlaß. Nun, die Sache ſtellt ſich bei genauerer
Betrachtung
und Erwägung der begleitenden Umſtände als
1
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
11 Der dreiſilbige Name einer der am Tiſchklopfen beteiligten
Perſonen
.
590130
ungemein einfach heraus. Der betreffende Herr, von dem der
Tiſch
ſprach, hegte von vornherein die Überzeugung, daß von
ihm
die Rede ſein würde, nach ſeiner Seite hatte ſich der
Tiſch
auch geneigt, ſo daß der ihm gegenüber befindliche Tiſch-
fuß
in der Luft ſchwebte und die Antworten gab.
Auf dieſen
Umſtand
iſt Wert zu legen, weil derjenige, welche die geneigte
Tiſchplatte
an ihrer tiefſten Stelle berührt, auf die Bewegungen
des
Tiſches den größten Einfluß hat.
Wir haben alſo das
beachtenswerte
Faktum zu konſtatieren, daß von vornherein
bei
einem Teilnehmer die Erwartung beſtand, der Tiſch würde
bei
gewiſſen Buchſtaben, erſt bei a, dann bei d, bei o, bei l
u
.
ſ. w. aufklopfen. Damit iſt aber ſchon der Schlüſſel des
ganzen
Geheimniſſes gegeben, denn, wie wir ſchon oben ge-
ſehen
haben, genügt ſchon der bloße Wunſch, die bloße Er-
wartung
, Bewegungen des Tiſches in irgend einer Weiſe wahr-
zunehmen
, um die Hände thatſächlich einen Druck mit den
gewollten
Wirkungen ausüben bezw.
einen bis dahin hervor-
gebrachten
Druck aufheben zu laſſen.
Von der Richtigkeit dieſer
Behauptung
kann man ſich mit Leichtigkeit jederzeit überzeugen,
wenn
man einen Stuhl auf zwei Füße ſtellt, ſo daß erauf
der
Kippe ſteht”, und ihn mit den Händen möglichſt loſe in
der
Schwebe erhält;
wenn man dann das Alphabet aufſagt in
der
Erwartung, daß der Stuhl bei einem beſtimmten Buch-
ſtaben
umfallen wird, ſo wird man bei Nennung des be-
treffenden
Buchſtaben thatſächlich die Empfindung haben, als
ob
der Stuhl lebhafter wie zuvor zum Fallen neigen wird.
Giebt man dieſer Empfindung nach, ſo wird der Stuhl infolge
des
verminderten Druckes der Hände wirklichklopfen”.
Genau
ebenſo
liegen die Verhältniſſe nun aber beim Tiſchrücken, und da-
durch
iſt im oben erzählten Fall das richtige Herausbuchſtabieren
des
Eigennamens ſchon erklärt.
Nun, und die andern beiden
Worte
?
Ebenſo einfach! Auch wenn man gar keine Ver-
mutungen
hegt hinſichtlich des kommenden Wortes, ſo
591131 dennoch ein vernünftiges Wort erklopft werden; man ka@n ſich
hiervon
ebenfalls durch Verſuche mit einem Stuhl überzeugen.
Die Erklärung iſt die folgende: Da die Hände nie ganz ſtill
liegen
, ſondern ſtets recht merklich zittern, ſo wird man bei
irgend
einem beliebigen Buchſtaben das Gefühl haben, der Stuhl
ſtrebe
ſtärker nach der Erde, als bei einem anderen;
um ihm
freien
Willen” zu laſſen, vermindert man unabſichtlich den
Druck
der Hände, und der Stuhl klopft.
Damit iſt der erſte
Buchſtabe
des neuen Wortes gewonnen;
und auch dafür iſt
geſorgt
, daß dieſer Buchſtabe kein gar zu ungewöhnlicher und
ſeltener
werde, denn bei Nennung von Buchſtaben, wie
q
, x, y, pflegt man in der Erwartung, der Tiſch reſp.
Stuhl
werde
nicht klopfen, viel weniger auf die Bewegungen des
Möbels
zu achten.
Iſt ſo der erſte Buchſtabe gegeben, ſo iſt,
damit
ein vernünftiger Sinn zuſtande kommt, die Auswahl
unter
den folgenden Buchſtaben ſchon bedeutend eingeſchränkt;

iſt
z.
B. , wie im oben erzählten Fall beim dritten Wort, der
Buchſtabe
d als erſter gegeben, ſo iſt die Wahrſcheinlichkeit,
daß
der zweite ein Vokal wird, ſehr groß, man wird daher
auch
faſt nur auf dieſe ſeine Aufmerkſamkeit lenken.
Sind aber
erſt
zwei Buchſtaben erklopft, ſo ſucht es ſchon ein jeder
unwillkürlich
ſo zu ergänzen, daß es mit den vorangegangenen
Worten
einen Sinn ergiebt, es herrſcht alſo wieder die Er-
wartung
, bei einem beſtimmten Buchſtaben werde der Tiſch
klopfen
, und das oben beſchriebene Spiel wiederholt ſich.
Wenn
aber
eine Reihe zuſammenhängender Wörter gegeben ſind, und
man
einen gewiſſen Buchſtaben nicht mehr zu einem Wort
ergänzen
kann, das mit den übrigen einen Sinn ergiebt, ſo
paßt
man die Bewegungen des Tiſches nicht mehr unwill-
kürlich
den eigenen Erwartungen an und die weiteren
Offenbarungen” ſind nur offenbarer Unſinn, man erhält nur
noch
Buchſtaben ohne Sinn und Zuſammenhang.
So laſſen ſich Tiſchrücken und Tiſchklopfen auf eine
592132 einfache und ungezwungene Weiſe erklären. Kein Geſetz der
Phyſik
wird durch ſie verletzt, nur muß man die Erſcheinung
nicht
mit Zuhilfenahme außerperſönlicher Kräfte erklären wollen,
ſondern
ſie auf das phyſiologiſche und vor allem das pſycho-
logiſche
Gebiet hinüberſpielen.
Aber die meiſten Menſchen ſehen ſich
garnicht
erſt nach einer natürlichen Erklärung um, ſie ſehen
das
Wunder und ſtaunend verehren alle das Walten der
Geiſter
, die durch die Hände pardon! die Füße eines ſchwachen
Werkzeuges
ſolcheübernatürlichen” Dinge verrichten.
Daß
unter
ſolchengeheimnisvollen” Umſtänden der Tiſch unfehlbar
iſt
, iſt ſelbſtverſtändlich, man mag ihn fragen, was man will.
Die Anſicht dieſes Möbels iſt unter allen Umſtänden maß-
gebend
.
Daß ein ſolcher Aberglaube ebenſo wie jeder andere
unter
Umſtänden ſehr viel Schaden ſtiften kann, braucht wohl
kaum
noch hervorgehoben zu werden;
nur ein Beiſpiel ſei hier
angeführt
:
Irgend eine Dame erhielt Beſuch, als ſie gerade nicht zu
Hauſe
war.
Später wurde in einer Geſellſchaft ein Tiſch
befragt
, ob ſie nicht doch zu Haus geweſen wäre und ſich nur
habe
verleugnen laſſen.
Die Antwort fiel natürlich!
bejahend
aus, und trotz aller Unſchuldsbeteuerungen wurde
infolge
dieſes modernenGottesurteils” die Dame für eine
Lügnerin
gehalten und war eine Zeitlang unmöglich geworden.
Alſo, lieber Leſer, ſollteſt du einmal in die Lage kommen,
einer
Sitzung beizuwohnen, in der man ſich mit Tiſchrücken oder
Tiſchklopfen
beſchäftigt, ſo mache die Sache ruhig mit:
du wirſt
dich
königlich amuſieren und gar manche Anregung zum Nach-
denken
erhalten.
Wenn aber einer dir dadurch demonſtrieren
will
, daß es Geiſter giebt, die mit dem Menſchen ſich auf dieſe
Weiſe
verſtändigen können, ſo weißt du uun die Sache beſſer,
und
wirſt von den Verſtorbenen hoffentlich auch viel zu hoch
und
zu pietätvoll denken, als daß du ihnen eine ſo alberne
und
kindliche Methode des Herumſpukens nach dem Tode
593133 trauen willſt. Aber laß dich um Himmelswillen nicht in
in
eine wiſſenſchaftliche Unterhaltung und Diskuſſion mit dem
betreffenden
Jünger des Spiritismus ein:
bekehren wirſt du
ihn
doch nicht und kannſt höchſtens in Gefahr kommen, einen
guten
Freund in ihm zu verlieren.
Es giebt eben gewiſſe
Dinge
zwiſchen Himmel und Erde, über die eine Verſtändigung
entgegengeſetzter
Anſichten nicht zu erzielen iſt.
IV. Die Klopfgeiſter und der eigentliche
Spiritismus.
Wir wenden uns nunmehr einem andren Problem zu, zu
einer
der berühmteſten und bekannteſten Spukerſcheinungen, den
Klopflauten
, welche in Möbeln der verſchiedenſten Art zuweilen
hörbar
werden und eine Manifeſtation von Geiſtern ſein ſollen.
(Es mag vorher erwähnt werden, daß das ſoeben behandelte
Tiſchklopfen
nichts mit dieſen Erſcheinungen zu thun hat.)
Die
Spiritiſten
behaupten alſo, daß die von ihnen als exiſtenzfähig
betrachteten
Geiſter der Verſtorbenen durch rätſelhafte Klopf-
laute
in allen möglichen Möbeln, wie Stühlen, Tiſchen,
Spinden
u.
ſ. w. zuweilen die Menſchen von ihrer Exiſtenz
und
ſomit von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen
ſtreben
;
man ſoll ſich ſogar mit den Geiſtern unterhalten
können
und auf etwaige Fragen auch mehr oder weniger ge-
ſcheite
Antworten bekommen.
Der unbefangene Leſer wird es
allerdings
von vornherein etwas ſonderbar finden, daß die
Geiſter
ſich nicht auf eine offen herausgeſagt etwas
verſtändigere
Art und Weiſe ſollten bemerkbar machen können,
aber
das iſt ja ſchließlich eine Geſchmacksſache, die nichts für
und
nichts wider beweiſt.
594134
Seit wann kennt man wohl ſolche geiſterhaften Klopf-
erſcheinungen
?
Nun, dieſer Verkehrsweg ſcheint den Geiſtern
ſelbſt
erſt verhältnismäßig recht kurze Zeit bekannt zu ſein,
denn
die Erfindung iſt noch nicht einmal ſo alt, wie die der
Eiſenbahnen
.
Zum erſtenmal wurde ſie beobachtet am Abend
des
31.
März 1848, und zwar in Hydesville im Staate New-
York
.
Es iſt bedauerlich, daß dererfinderiſche Geiſt”, welcher
der
Entdecker des Klopfverkehrs war, gerade in einem Lande,
das
in Bezug auf Glaubwürdigkeit etwas verrufen iſt, fern
von
aller Wiſſenſchaft zum erſtenmale ſeine Produktionen
vorführte
.
Allerdings ſcheint die Familie, welcher die große
Ehre
zu teil wurde, zuerſt des Verkehrs mit Geiſtern ge-
würdigt
zu werden, und die auf den ungewöhnlich ſchönen
Namen
Fox hörte, ungemein intelligent geweſen zu ſein, denn
an
demſelben Abend, an dem ſie das Klopfen zuerſt vernahm,
wußte
ſie auffallenderweiſe auch ſchon, was es zu bedeuten
habe
, und wenige Tage ſpäter kam ſie bereits auf den illuſtren
Gedanken
, das Alphabet aufzuſagen, damit der Geiſt jedesmal
bei
dem gewünſchten Buchſtaben klopfe.
Fürwahr, ſo intelli-
gent
können doch die Leute auch nur in Amerika ſein! Seit
jenem
Tage hat ſich nun die gleiche Erſcheinung überall oder
wir wollen nicht zu viel ſagen! in allen Ländern, wohin
die
Kunde von jenem Ereignis drang, wieder gezeigt, und zwar
außerordentlich
oft, was um ſo auffallender iſt, als ſie drei
bis
vier Jahrtauſende vorher niemals und nirgends beobachtet
worden
war.
Oder kam die große Verbreitung der Klopfgeiſterei vielleicht
daher
, daß man nun jeden unerklärlichen Laut, den man hörte,
den
Geiſtern in die Schuhe ſchob?
vorausgeſetzt, daß ſie
welche
haben.
Setze dich in ſpäter Nachtſtunde bei halb ver-
hülltem
Lampenſchein an deinen Schreibtiſch und lauere auf
myſtiſche
Laute, du wirſt Wunderdinge erleben.
Ein ganzes Naturleben erwacht um dich her, das
595135 fremd iſt. Die Uhr in deiner Weſtentaſche tickt laut wie eine
Wanduhr
.
Dein Herz klopft in dumpfen Schlägen. Deine
Kleider
raſcheln, reiben ſich, rauſchen bei jedem Atemzug.
Alle
deine
Möbel knacken.
Im alten Holz wühlen Larven und
Käfer
, die Tapeten kniſtern.
Eine einſame, weltabgeſchiedene
Fliege
ſingt im tiefen Baß.
Du hörſt die Ofenwärme, wie ſie arbeitet, die Stoffe
ausdehnt
, bis es allenthalben kracht und klopft.
Du hörſt die
langſamen
Ausgleiche der Spannungen, die die Schwere her-
vorruft
:
das Pult, auf das du vorhin ein dickes Buch gelegt,
thut
jetzt einen ſcharfen Knacks im Holz, der Tiſch, auf den
du
achtlos ſeit einer Weile den Arm geſtützt, zittert leiſe nach
deiner
Seite hin”.
Dieſe Sätze ſind einem ungemein geiſtvollen Zeitungs-
Aufſatz
entnommen, der unter dem Titel:
Moderner Zauber-
ſpuk”
von dem bekannten Schriftſteller Wilhelm Bölſche im
Jahre
1894 veröffentlicht worden iſt.
In dem gleichen Aufſatz
finden
ſich auch noch einige andere Auslaſſungen, die hier zum
Teil
wiedergegeben ſein mögen, da ſie trotz ihrer humoriſtiſchen
Form
von treffendſter Schärfe ſind.
So ſagte Bölſche z. B.
über die eigentümliche und befremdende Methode der Geiſter,
ſich
verſtändlich zu machen, folgendes:
Wir leben nach dem Tode als Geiſter weiter . . . Aber
das
'Wie’ iſt entſetzlich.
Um überhaupt mit den Menſchen als
Geiſt
verkehren zu können, ſteht uns zunächſt nur das Mittel
offen
, zu 'klopfen’:
in Tiſchen, Schränken und anderen Ge-
brauchsgegenſtänden
.
Das direkte Klopfen im Gehirn erſcheint
unzuläſſig
, und ein Menſch z.
B. , der nicht das Geld beſitzt,
ein
geeignetes Möbel ſich zu erwerben, könnte vielleicht zeit-
lebens
ſeinen liebenden väterlichen oder mütterlichen Geiſt zum
Stillſchweigen
verurteilen .
. . Gut, du fragſt, du verlangſt
Auskunft
, du ſprichſt das Alphabet.
Bei dem Buchſtaben, den
er
bezeichnen will, klopft er Beifall.
Oft irrt er ſich oder
596136 irrſt dich. Dann geht die Maſchine ſehr langſam, die Pro-
zedur
fängt auch wohl wieder von vorn an.
Mit einem
Schwerhörigen
am Telephon oder einem Taubſtummen zu reden,
ſich
mit einem Chineſen ohne Sprachkenntnis zu verſtändigen,
iſt
ein Hochgenuß gegen dieſe Pein.
Stellt man dann ſchließlich die einzelnen Buchſtaben zu-
ſammen
und ſucht einengeiſtreichen” Satz zu entziffern, ſo
ſchwirren
einem die Lettern in unverſtändlichen, barocken Ver-
bindungen
durcheinander, und man kann kein Wort entziffern.
Nun, dann haben wir vielleicht einige Proben aus der Geiſter-
ſprache
vor uns, oder es iſt doch noch eine größere Reihe von
Irrtümern
bei dem Klopfen mituntergelaufen, vielleicht war auch
der
Geiſt, mit dem wir es zu thun hatten, ein Betrüger und
wollte
uns nur foppen, oder er wargeiſtesgeſtört” und infolgedeſſen kindiſch und unzurechnungsfähig, aber ein Geiſt
war
auf jeden Fall da.
Übrigens wird man in der ſpiritiſti-
ſchen
Litteratur dennoch vereinzelte Erzählungen finden, welche
von
vernünftigen Kundgebungen, ja ſogar von wichtigen Ent-
hüllungen
ſprechen, welche durch die Geiſter ausgeklopft worden
ſein
ſollen.
So heißt es z. B. : in jener Familie Fox, durch
welche
die Geiſter zuerſt ihre Exiſtenz der ſtaunenden Welt
offenbarten
, habe man gleich in den erſten Tagen des April 1848
durch
Klopfgeiſter von einem Morde Kunde erhalten, den der
frühere
Beſitzer des Hauſes 15 Monate vorher an einem herum-
ziehenden
, unbekannten Hauſierer begangen habe, und durch
Auffindung
des Leichnams des Gemordeten im Keller ſei die
Mitteilung
der Geiſter in vollem Umfange beſtätigt worden.
Auch noch eine weitere heikle Frage iſt bei den Klopf-
kundgebungen
zu beachten.
Unter einem Geiſt ſtellt man ſich
1
11 In einem ſpiritiſtiſchen Auſſatz ſtand einſt wörtlich zu leſen:
Gute und böſe Geiſter drängen ſich heran, die einen zu beſſern, die
andern
aus Langeweile, um zu täuſchen. (!)
597137 doch, ſobald man die Sache von der ernſten Seite auffaßt, ein
ehrbares
, würdevolles Weſen vor, das erhaben über alle
menſchlichen
Thorheiten nur an Vervollkommnung denkt und
an
ſonſtige der idealſten Dinge, die es überhaupt giebt.
Und
eben
dieſe Geiſter wiſſen nun, wenn ſie den Menſchen über die
höchſten
Probleme Aufſchluß geben oder ihnen die Geheimniſſe,
welche
ihrer nach dem Tode warten, enthüllen wollen, nichts
Anderes
zu thun, als in irgend einem Möbel beſcheidentlich zu
klopfen
, in ſtrenger Befolgung des Spruches:
Klopfet an,
ſo
wird euch aufgethan, bis der unbedeutende Menſch die Ge-
wogenheit
hat, ihnen Audienz zu gewähren.
Stellen ſie ſich
damit
nicht auf eine Stufe mit Schulknaben, die ihren Lehrer
foppen
wollen und obendrein noch eher Beachtung erlangen,
als
ſie, die erhabenen Geiſter?
Ja, ſagen die Spiritiſten, “wir
klingeln
oder klopfen, wenn wir Einlaß begehren;
wie aber
ſollen
es die Geiſter anfangen, um unſere Aufmerkſamkeit auf
ſich
zu lenken?
(ſo zu leſen in der Schrift: Der Spiritis-
mus
.
Herausgegeben vom Verein Pſyche. Berlin 1891. S. 30).
Hm! Na, alſo ſoviel ſteht feſt, daß den Geiſtern daran liegt,
unſere
Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken, daß ſie ein Intereſſe
daran
haben, mit uns in Verkehr zu treten?
Dies iſt ein
höchſt
wichtiger und beachtenswerter Umſtand, den wir uns recht
ſehr
merken wollen.
Aber eben war ja wohl die Frage auf-
geworfen
, ob denn nicht die Geiſter auch ohne Plattheiten der
genannten
Art ſich bemerkbar machen könnten.
Nun, da giebt
es
doch wohl Mittel genug:
könnten ſie nicht z. B. , da es ihnen
doch
ſo leicht iſt, übernatürliche Dinge vor ſich gehen zu laſſen und
das
Geſetz der Schwerkraft aufzuheben, ſchwere Laſten oder
auch
Menſchen ſelbſt an ihren Beſtimmungsort bringen u.
ſ. w. ,
wodurch
ſie ſich beſſer bemerkbar machen und obendrein Dank
und
Gläubigkeit der Menſchheit erwerben würden?
Aber
nein
, dergleichen thun ſie nicht, ſie heben die Naturgeſetze nur
auf
, um ganz unnötige und unnütze Dinge zu vollbringen,
598138 dem Menſchen eher Arbeit machen, als daß ſie ſie ihm er-
leichtern
, und um Kunſtſtücke zu vollbringen, die
jeder
geſchickte Schwindler ihnen bei einiger Übung nach-
machen
kann.
Jeder geſchickte Schwindler! Ja, da ſitzt eben der Haken!
Schon
mehr als einmal hat man herausgefunden, daß die an-
geblich
geiſterhaften Klopflaute auf irgend eine, immer ſehr ge-
ſchickte
Weiſe von raffinierten Betrügern hervorgerufen wurden,
die
in einer ganz gewöhnlichen Menſchenhaut ſteckten und mit
den
Geiſteroffenbarungen” ein ſehr flottes Geſchäft betrieben,
indem
ſie auf die Wunderſucht der Leute ſpekulierten.
Und
mit
was für erſchreckend banalen Mitteln hat man die Geiſter-
laute
hervorgebracht! Durch ein bloßes, willkürliches Knacken
gewiſſer
Sehnen des Fußes, ja ſchon vermittelſt der großen
Zehe
im Stiefel kann man bei einiger Übung die erſtaun-
lichſten
Wirkungen hervorbringen, und natürlich kommt ein
harmloſer
Zuſchauer oder vielmehr Zuhörer nicht ſo leicht
auf
die verrückte Idee, daß die geheimnisvollen Klopflaute von
den
Füßen einer andren Perſon ausgehen könnten.
Auch bei
der
oben erwähnten Familie Fox, der die zweifelhafte Ehre
der
Entdeckung des Geiſterklopfens gebührt, wurde die Sache
nachher
als Schwindel erkannt:
es war ja auch zu wunderbar,
daß
die Geiſter immer nur dann zu klopfen geneigt waren,
wenn
die eine Tochter des Hauſes zugegen war.
Nun wird
es
wohl auch klar, wodurch es kam, daß die Familie Fox ſo
unglaublich
ſchnell auf den Gedanken kam, daß das gehörte
Klopfen
von Geiſtern herrührte und daß man durch Auf-
ſagen
des Alphabets einen Verkehr mit ihnen anbahnen
könne
.
Noch nie das kann man mit vollſter Beſtimmtheit be-
haupten
noch nie hat ſich in einer vollkommen zu-
verläſſigen
und von jeglichem Verdacht des Schwin-
dels
freien Geſellſchaft von Perſonen das Geiſter-
599139klopfen vernehmen laſſen, und ehe das nicht geſchieht, hat
die
Naturwiſſenſchaft natürlich abſolut keine Veranlaſſung, die
Sache
ernſt zu nehmen und ſich damit zu beſchäftigen.
V. Die Schreibmedien.
Ebenſo wenig Vertrauen erweckend wie mit den Klopf-
erſcheinungen
, ſteht es nun auch mit den anderen behaupteten
Offenbarungen
der Geiſter.
Über allen, aber ausnahmslos
über
allen ſchwebt das merkwürdige Verhängnis, daß ſie dem
Schwindel
und ſonſtigen Täuſchungen in jeder möglichen Ge-
ſtalt
in die Hände arbeiten, zumal da die vorgeblichen Geiſter
die
unangenehme und bedenkliche Angewohnheit haben, ſich faſt
nur
inDunkelſitzungen” zu produzieren.
Da haben wir zunächſt die Produktionen derSchreib-
medien”
;
dies ſind gewiſſe Menſchen, die ſich, mit Papier und
Bleiſtift
oder Schiefertafel und Griffel bewaffnet, hinſetzen,
ohne
die Abſicht irgendwas zu ſchreiben oder zu zeichnen
meiſt
obendrein wieder im Dunkeln! Und wenn ſie dann ſo
ein
Weilchen geſeſſen haben, entdecken ſie zu ihrem Erſtaunen,
daß
ſie doch etwas geſchrieben oder gekritzelt haben.
Sehr
geiſtreich
, was?
Und dieſe Produktionen ſollen nun nach An-
ſicht
der Spiritiſten nur dadurch zu erklären ſein, daß die
Hand
des Mediums von Geiſtern geführt wurde.
Daß hier
dem
Betrug Thür und Thor offen ſteht, bedarf kaum der Er-
wähnung
, aber auch Leute, die es ganz ehrlich meinen, werden
in
der That nicht ſelten, wenn ſie den vermeintlich ganz
ſtill
auf dem Papier gehaltenen Bleiſtift entfernen, verſchiedene
Kritzeleien
vorfinden.
Bölſche ſagt darüber: Du ſetzt dich an
den
Tiſch, auch am beſten in ſtiller Nachteinſamkeit, legſt
600140 großes Blatt Papier vor dich hin und ergreifſt einen Blei-
ſtift
.
. . . Du ſelbſt darfſt an gar nichts denken, das iſt ſtrengſte
Vorſchrift
, auch wenn’s ſchwer fällt.
Nun iſt ſo viel ſicher,
daß
es viele Leute giebt, die in ſolchem Zuſtande anfangen zu
ſchreiben
oder Arabesken zu kritzeln.
Meiſt wieder ſinnloſe
Sachen
.
Kommt aber irgend ein vernünftiger Satz zu ſtande,
ſo
iſt es gerade der Spiritiſt ſelber, der anfängt zu warnen.
Er warnt vor 'Selbſtbetrug’. Der ſchleiche ſich hier leicht ein,
man
müſſe ſtreng die Grenze finden.
Ganz ehrliche Leute be-
ſchwindeln
ſich bei dieſem Schreiben unglaublich leicht ſelber.

Da
wird die Sache alſo noch ſchlimmer.
Nicht nur die echten
Geiſter
können Schwindler ſein, ſondern auch in jeder ehrlichen
Erdenhaut
kann ein verhüllter Selbſtbeſchwindler ſtecken der
erſt
bei dieſem Experiment zum Vorſchein kommt.
Und wo
finde
ich jene erforderliche feine Grenze?
Liegt ſie, wie Arne
Garborg
einmal ſehr gut geſagt hat, darin, daß notwendiger
Weiſe
ein Geiſt dann mit im Spiel iſt, wenn der geſchriebene
Blödſinn
ſo hochgradig iſt, daß ich ſelbſt ihn alle meine
gelegentlichen
Leiſtungen an menſchlicher Thorheit in Ehren
unmöglich
allein produziert haben kann?
Sie wäre ſelbſt dann
verzweifelt
ſchwer klar zu ziehen, denn es iſt beim leidigen
Stande
der Eitelkeit am Ende doch immer möglich, daß man
ſelbſt
noch dümmer iſt, als man weiß .
. . Die Geiſter können
dich
beſchummeln und du ſelbſt dich ſelbſt.
Und verſtändige
Sachen
hörſt du auf alle Fälle nicht.
Wenigſtens iſt das bis-
her
nicht vorgekommen, wie ſehr einſichtige Spiritiſten rund-
weg
zugeben.
Wenn aber die Spiritiſten ſelber zugeſtehen,
die
Geiſterantworten ſeien nicht ſelten neckiſch und ſogar albern,
und
wenn ſie dafür die offenbar ſehr naheliegende Erklärung
geben
, daß es auch unwiſſende, unorthographiſch ſchreibende
und
boshafte Geiſter giebt (!), ſo kann man doch derartige
Erklärungen
um einmal ganz offen zu reden nicht an-
ders
als höchſt ungeſchickte und kindiſche
601141 als unwürdige und unpaſſende Ausflüchte bezeichnen. Sollte
man
es wohl für möglich halten, was für unglaublich dumme
und
abgeſchmackte Kindereien zuweilen als Beweis für die
Exiſtenz
von Geiſtern herangezogen werden!
VI. Sonſtige Geiſterkundgebungen.
Wir warfen vorhin die Frage auf, ob denn nicht die ſo-
genannten
Geiſter ihre Exiſtenz auf andere und zwar etwas
verſtändigere
Weiſe darthun könnten als durch Klopfen und
ſinnloſe
Kritzeleien.
Nun, ſie haben noch andere Wege ob
dieſe
aber als verſtändiger bezeichnet werden können, mag ge-
troſt
dem Urteil des Leſers überlaſſen bleiben.
Denke Dir, lieber Leſer, einen zuſammenklappbaren Bett-
35[Figure 35] ſchirm in der Weiſe aufgeſtellt, wie
es
Dir nebenſtehende Skizze zeigt.
In
dieſen
abgegrenzten Verſchlag wird ein
Stuhl
geſtellt, und auf dieſen ſetzt
ſich
einMedium” ohne das geht’s
nun
einmal nicht.
Dies Medium kann
nun
, um jeden Verdacht der Täuſchung
zu
beſeitigen, von mißtrauiſchen Per-
ſonen
aus dem Publikum mit Stricken aller Art an allen
Gliedern
gefeſſelt und auf dem Stuhl feſtgebunden werden.
Nachdem dies geſchehen iſt, wird vor die offene, vierte Seite
des
Verſchlages eine Gardine gezogen, ſo daß das Medium
ſich
jetzt in einem nach allen vier Seiten geſchloſſenen Raum
befindet
.
Kaum iſt die Innenſeite des Verſchlages nebſt
Medium
und Stuhl den Blicken des Publikums durch die
Gardine
entzogen, ſo beginnt hinter der Gardine ein
602142 liches Rumoren: man hört Klopfen und Hämmern, Schellen-
geläute
und Klimpern, krächzende Geigentöne und Knarren;
kurz, es entſteht ein gräulicher Radau, der auf das muſikaliſche
Gefühl
der Geiſter gerade kein allzu günſtiges Licht wirft.

Der
Lärm wird immer ärger, und ehe man’s ſich verſieht, fliegen
alle
möglichen Gegenſtände über die Gardine und den Bett-
ſchirm
, Kartoffeln und Äpfel, Knüppel und Knochen und was
man
ſonſt nur begehren kann, auch eine Violine kommt über
den
Vorhang geflogen, und den Schluß bilden ein paar ganz
ungeheure
Knochen von Armeslänge.
Dann wird der Vorhang
wieder
aufgezogen, und das Medium ſitzt wieder, wie zuvor,
gefeſſelt
auf dem Stuhl und wird erſt durch das Publikum
von
ſeinen Banden befreit.
Eine Geiſterkundgebung von überwältigendem Tiefſinn,
nicht
wahr?
Aber hier iſt doch jede natürliche Erklärung
ausgeſchloſſen
, denn von den über den Vorhang geflogenen
Gegenſtänden
war doch vorher nicht die geringſte Spur zu
entdecken
, und das Medium war doch zum Schluſſe, wie wir
uns
ſelbſt überzeugen konnten, regelrecht gefeſſelt, kann ſich
alſo
doch inzwiſchen nicht freigemacht haben! Und doch wird
der
ſtrenge Forſcher ſich nicht mit dem Medium befreunden
können
:
Hm! Geht’s denn nicht auch ohne ſolch ein Medium?
Nein”, ſagt der Spiritiſt, “die Geiſter kommen immer nur,
wenn
eine von den ſelten vorkommenden, geeigneten Perſonen,
den
ſogenannten Medien, zugegen iſt.
So, das iſt ja ein
ganz
eigentümlicher Eigenſinn Ihrer Geiſter, der jedenfalls
der
Sache nicht gerade zum Vorteil gereicht.
Ich kann mir
nun
mal nicht helfen:
ſolange dies Medium da hinter dem
Schirm
ſitzt, habe ich ein gewiſſes Mißtrauen.
Aber das
verſtehe
ich nicht! Wie ſoll denn ein an Händen und Füßen
gefeſſeltes
Medium imſtande ſein, ſolche Produktionen zu voll-
bringen
?
Ja, es thut mir leid, aber ich bin noch nicht
ganz
überzeugt.
603143
Und ſiehe da! der ſkeptiſche Forſcher iſt doch mit ſeiner
thöricht
ſcheinenden Zweifelſucht vollauf im Recht.
Es iſt
thatſächlich
das Medium, das alle jene Wunderdinge verrichtet,
ſo
ſeltſam eine ſolche Behauptung auch auf den erſten Blick
erſcheinen
mag.
Das Medium kann es durch ein einfaches
Straffſpannen
der Muskeln während der Feſſelung, die ſchou
ſo
wie ſo um dem Medium nicht Schmerzen zu bereiten
nie
eine ſehr feſte ſein wird, leicht dahin bringen, daß es ohne
Mühe
aus den Feſſeln herauszuſchlüpfen und vor allem die
Arme
zu beſreien vermag, ebenſo wie es zum Schluß der
Produktion
leicht wieder in die Feſſeln hineinſchlüpfen kann.
Damit iſt freilich ſchon alles gewonnen und alles erklärt,
denn
wenn die Hände und Arme erſt frei beweglich ſind, kann
das
Medium natürlich ſchon unglaublich viel Unfug anſtellen.

Aber
wo hat es die zahlloſen Gegenſtände her, mit denen es
warf
, und die es doch nicht etwa alle vorher auf ſeinem Leibe
verſteckt
gehabt haben kann?
Nun, da giebt es verſchiedene
Möglichkeiten
:
die einfachſte iſt die, daß ſich in den Stoff-
wänden
des Bettſchirms und des Vorhangs geheime Taſchen
finden
, welche allerlei ſchöne Dinge beherbergen.
Voilà c’est
tout
!
Du machſt ein bedenkliches Geſicht, lieber Leſer? Die
Erklärung
erſcheint Dir doch ein bißchen gar zu geſucht und
unwahrſcheinlich
?
Du kannſt Dir erſtens mal nicht recht vor-
ſtellen
, daß das regelrecht gefeſſelte Medium wirklich ſo einfach
aus
ſeinen Banden herauskommt und ſich nachher gar ohne
weiteres
wieder hineinbegeben kann, und zweitens meinſt Du,
aus
obiger Erklärung würde ſich doch die Folgerung ergeben,
daß
alle Spiritiſten Schwindler und Betrüger ſein müßten,
und
das will Dir denn doch nicht recht in den Kopf;
nicht
wahr
?
Nun, was den erſten Punkt anbetrifft, ſo kannſt Du’s
ganz
ruhig glauben, daß ein geſchicktes Medium nach einiger
Übung
eine erſtaunliche Fertigkeit darin erlangt, mit
604144 Schnelligkeit die Feſſeln abzuſtreifen und wieder anzulegen.
Gerade in den letzten Jahren ſind in zahlreichen deutſchen
Städten
des öfteren durch ein Ehepaar Homes-Fey in Ver-
bindung
mit einem Fräulein Davenport ſogenannte anti-
ſpiritiſtiſche
Soiréen gegeben worden, d.
h. Vorſtellungen, in
denen
mit vollendeter Geſchicklichkeit dem Publikum alle mög-
lichen
ſpiritiſtiſchen Erſcheinungen vorgeführt wurden aber
mit
der ausdrücklichen Erklärung, daß alles auf natürlichem
Wege
ausgeführt werde, zuweilen ſogar mit einer Erklärung
der
vorgeführtenWunder”.
Und eins von dieſen Wundern
war
eben auch das oben geſchilderte, und das Publikum konnte
ſich
bei einigen Soiréen, wo die Produktionen bei offenem
Vorhang
ſtattfanden, mit eigenen Augen davon überzeugen,
wie
das Medium ſich von den feſſelnden Stricken losmachte
und
ſie ſich nachher ſelbſt wieder anlegte.
Sollteſt Du, lieber
Leſer
, mal Gelegenheit haben, die außerordenlich intereſſanten
und
höchſt dankenswerten Vorführungen von Homes-Fey ſehen
zu
können, ſo laſſe ſie ja nicht ungenutzt vorübergehen.
Hm! Das muß ich ja dann wohl allerdings glauben
aber
es iſt doch einfach nicht denkbar, daß alle die zahlloſen
Spiritiſten
ganz gewöhnliche Schwindler und Betrüger ſind!,
ſo
wirſt Du ausrufen, und Dein Zweifel hat entſchieden Be-
rechtigung
.
Uns liegt auch nichts ferner, als gegen jeden
Spiritiſten
einen ſo ſchweren Vorwurf zu ſchleudern:
aber
rund
heraus wollen wir’s ausſprechen, daß wir die angeblichen
ſpiritiſtiſchen
Medien“, deren Zahl ja nur eine geringe iſt,
allerdings
ausnahmslos für Taſchenſpieler und Schwindler
halten
.
Eine ſo ſchwerwiegende Beſchuldigung verlangt aller-
dings
erſt eine eingehende und vorſichtige Begründung.
Wir
glauben
aber den Beweis für unſere Behauptung vollauf er-
bringen
zu können und wollen uns daher, ehe wir uns den
übrigen
ſpiritiſtiſchen Phänomenen zuwenden, in einem beſon-
deren
Kapitel mit den Medien der Spiritiſten beſchäftigen
605145 den wunderbaren Erfahrungen, die man bisher mit ihnen ſchon
gemacht
hat.
VII. Von den ſpiritiſtiſchen Medien.
Wir wollen uns alſo keineswegs auf den Standpunkt der-
jenigen
ſtellen, welche alle Spiritiſten von vornherein für
Betrüger
oder Dummköpfe erklären.
Wir wiſſen ſehr wohl,
daß
die Spiritiſten höchſt achtbare, ja ſogar recht geiſtreiche
und
kluge Menſchen ſein können.
Sind doch ſelbſt einige der
glänzendſten
Namen naturwiſſenſchaftlicher Forſchung in den
Reihen
der Spiritiſten zu finden, der des berühmten engliſchen
Phyſikers
Crookes, des hervorragenden italieniſchen Aſtro-
nomen
Schiaparelli, des geiſtvollen italieniſchen Anthro-
pologen
Lombroſo, des hochbedeutenden engliſchen Zoologen
Ruſſel
Wallace, ebenſo von verſtorbenen deutſchen Natur-
wiſſenſchaftlern
die bekannten Namen Zöllner, Fechner und
Wilhelm
Weber.
Schon darin liegt ein Beweis, daß man
dem
Spiritismus mit hoher Achtung zu begegnen hat;
aller-
dings
wiſſen wir heut mit Beſtimmtheit, daß die Mehrzahl
der
genannten Forſcher Opfer von Schwindlern geweſen iſt,
daß
die Produktionen, welche ſie zum Spiritismus bekehrten,
ganz
raffinierte Taſchenſpielerkunſtſtücke geweſen ſind;
wir
kommen
darauf noch einmal zurück.
Was aber jenen paſſiert
iſt
, iſt Tauſenden von anderen Perſonen ebenfalls begegnet,
Perſonen
, die nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen zu der Anſicht
gelangten
, die Phänomene, welche ſie erblickt hatten, ließen auf
natürlichem
Wege eine Erklärung nicht zu, weshalb ſie oft
vielleicht
wider Willen die Exiſtenz von Geiſtern fortan
zuzugeben
gezwungen waren.
Und wenn Du, lieber Leſer, das
vielleicht
nicht begreifen kannſt und meinſt, die betreffenden
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XV.
606146
Perſonen müßten doch wohl etwas leichtgläubig geweſen ſein,
ſo
können wir Dir verſichern, daß jeder, der den Soiréen des
oben
erwähnten Ehepaares Homes-Fey einmal beigewohnt hat,
ebenfalls
rettungslos mit Haut und Haaren dem Spiritismus
verfallen
und fortan auf die Exiſtenz von Geiſtern und In-
telligenzen
ſchwören würde wenn er nicht eben fortwährend
die
Verſicherung erhielte, es ginge alles mit natürlichen
Dingen
zu.
Um wieviel mehr wird alſo jemand von der
Wirklichkeit
und Zuverläſſigkeit der geſchauten Wunder über-
zeugt
ſein müſſen, wenn er ſich in einer richtigen ſpiritiſtiſchen
Sitzung
befindet, wo Dunkelheit und Gläubigkeit der übrigen
Anweſenden
die Sache doppelt geheimnisvoll und unheimlich
erſcheinen
laſſen! Ein einziger geſchickter Betrüger vermag
durch
ſeine Produktion Hunderte und Tauſende begeiſterter An-
hänger
des Spiritismus zu ſchaffen.
Du ſchüttelſt den Kopf, lieber Leſer, und willſt nicht
glauben
, daß jemand eine Taſchenſpielerkunſt ſo mißbrauchen
wird
, daß er zahlloſen Menſchen die Köpfe verdreht und die
Weltanſchauung
verwirrt.
Aber Du denkſt zu gut von der
Welt
:
wo’s Geld zu verdienen gab, da fanden ſich noch immer
Schwindler
in reicher Anzahl ein, denen es gleichgültig war,
was
ſie für Unheil mit ihrer Beſchäftigung anrichteten, wenn
dieſe
nur für ſie ſelbſt recht einträglich war.
Und Geld haben
die
bisherigen Medien alle in ſchwerer Menge verdient, bis
ſie
eines ſchönen Tages vom Schickſal ereilt und als Schwindler
entlarvt
wurden.
Es iſt ein bedenkliches Zeichen für die Lehren
des
Spiritismus, daß unter allen bisher aufgetretenen, be-
kannteren
Medien groß iſt deren Zahl übrigens keineswegs
kaum
eines zu finden ſein dürfte, das nicht ſchließlich als
Betrüger
gebrandmarkt worden wäre, nachdem es jahrelang
mit
ſeinen ſtaunenswerten Wundern die ſpiritiſtiſche Welt in
Atem
gehalten hatte.
Da iſt z. B. das berühmteſte aller Medien, Slade, das
607147 den 80 er Jahren ſein Weſen trieb, und deſſen Produktionen
auch
unſre genannten großen, deutſchen Forſcher Fechner,
Wilhelm
Weber und Zöllner zum Spiritismus bekehrten.
Mit
Slade
ſchien die Sache des Spiritismus zu ſiegen, denn in
zahlloſen
Sitzungen, die mit ihm veranſtaltet wurden, geſchahen
Wunder
über Wunder, und auch die unbefangenſten Zuſchauer
erklärten
, das, was ſie dort geſehen hätten, ginge über den
Rahmen
des Natürlichen hinaus und könne unmöglich auf
bloße
Betrügerei zurückgeführt werden.
Niemand vermochte
Slade
irgend eine Unregelmäßigkeit nachzuweiſen, bis er
ſchließlich
von kompetenteſter Seite, von ſeinem eigenen Diener
und
Gehilfen, entlarvt wurde.
Als dieſer ſich aus irgend einem
Anlaß
mit ſeinem Herrn überworfen hatte, rächte er ſich an
ihm
, indem er die Künſte, die er Slade im Laufe der Zeit
abgelernt
hatte, gemeinſam mit ſeiner Frau in antiſpiritiſtiſchen
Sitzungen
nachmachte und erklärte.
Auch veröffentlichte die
Frau
des genannten Gehilfen, Hildegard Nilsſon, in Fritz
Mauthners
ZeitſchriftDeutſchland” ſeinerzeit eine Reihe von
Aufſätzen
, in denen ſie Slades Betrügereien vollſtändig enthüllte.
Ähnlich erging es dem kaum weniger berühmten Medium
Home
.
Nachdem ſo Slade und Home abgethan waren, war es
beſonders
eine Italienerin, Euſapia Paladino, welche Jahre
hindurch
von ſich reden machte und lange Zeit als das vorzüg-
lichſte
Medium galt.
Als eine Amerikanerin, Mrs. Williams,
die
eine mit großem Trara angekündigte ſpiritiſtiſche Tournée
durch
die europäiſchen Hauptſtädte unternehmen wollte, am
31
.
Oktober 1894 zu Paris als Betrügerin entlarvt wurde und
man
aus dieſem Vorkommnis vielfach Kapital gegen den
Spiritismus
ſchlug, da wies die europäiſche ſpiritiſtiſche Preſſe,
um
ſich zu verteidigen, ganz beſonders auf die Paladino hin
und
erklärte:
ja, über die Mrs. Williams könne ſie kein Urteil
abgeben
, aber bevor man dem Spiritismus etwas am
608148 flickte, ſollte man doch erſt einmal der Euſapia Paladino einen
Schwindel
nachweiſen;
dazu würde aber niemand imſtande ſein.
Nun, es dauerte nur ein Jahr, und auch die vielgefeierte
Euſapia
, die Euſapia, welche einen Schiaparelli und einen
Lombroſo
zum Spiritismus bekehrt hatte, wurde in England
ebenfalls
als Betrügerin entlarvt und iſt ſeitdem in der Ver-
ſenkung
der Zeitgeſchichte verſchwunden.
So erging es den berühmteſten und kompetenteſten ſpiri-
tiſtiſchen
Medien! Man wird demnach wohl zugeben, daß
es
eine heikle Sache iſt mit den Beweiſen des Spiritismus,
zumal
wenn man bedenkt, wieviel andere, weniger berühmte
und
gefeierte Medien im Lauf der Zeit ebenfalls entlarvt
wurden
.
Die letzte derartige Entlarvung, die desMediums”
Bernhard, fand erſt vor Kurzem in Köln ſtatt;
zwar
wurde
von ſpiritiſtiſcher Seite, wie immer in derartigen Fällen,
energiſch
beſtritten, daß hier ein Betrug vorgekommen ſei, aber
als
die Gegenpartei das gewiß berechtigte Verlangen ſtellte,
Bernhard
ſolle ſeine Produktionen vor einer erleſenen Kom-
miſſion
von ſtrengen Naturforſchern nochmals vorführen, da-
mit
endlich Klarheit in die Sache gebracht würde, ging man
bezeichnenderweiſe
auf dieſen Vorſchlag nicht ein.
Der unbe-
fangene
Leſer mag ſich danach ſelbſt ein Bild machen, wie es
um
die Glaubwürdigkeit der Medien beſtellt iſt;
zum mindeſten
wird
er die Stellungnahme der ſtrengen Naturforſchung ver-
ſtehen
, welche ſich den Medien und den durch ſie herbeigeführten
Geiſterkundgebungen
gegenüber ſchroff ablehnend verhält, ſo-
lange
nicht mindeſtens eine einzige Thatſache vorliegt, die
unbedingt
auf Zuverläſſigkeit Anſpruch machen kann.
Und
unter
allen bisherigen Medien das kann man ohne Vor-
eingenommenheit
behaupten iſt auch noch nicht eines
geweſen
, das mit ſeinenWundern” jeder Kritik trotzen und
jeder eingehenden Unterſuchung ſtandhalten konnte.
Man
darf
es alſo wahrlich der Naturforſchung nicht verübeln,
609149 ſie nach ſo ſchlimmen Erfahrungen vom Spiritismus nichts
wiſſen
will:
Gründe genug hat ſie dazu!
VIII. Die Geiſtererſcheinungen und Geiſter-
photographieen.
Wenn ſomit nun der Leſer auch mit uns zu der Anſicht
gekommen
ſein wird, daß alles, was mit den ſpiritiſtiſchen
Medien
zuſammenhängt, ein wenig anrüchig iſt, ſo wollen wir
doch
noch kurz einige der weſentlichſten Produktionen derartiger
Medien
beſprechen, teils damit der Leſer vorkommendenfalls
Beſcheid
weiß, woran er iſt, teils damit er erkenne, auf was
für
wunderlichen Grundlagen die ſpiritiſtiſche Lehre ruht.
Da haben wir nun als wichtigſte Thatſachen die Geiſter-
erſcheinungen
und alles, was drum und dran hängt.
Die
Geiſter
nämlich begnügen ſich nicht immer mit dem in jeder
Beziehung
ſo ungemeinintelligenten” Klopfen, um mit den
Menſchen
in Verkehr zu treten, ſondern manchmal laſſen ſie
ſich
auch herbei, in höchſteigener Geſtalt ſich den Blicken der
Sterblichen
zu zeigen und, wenn ſie beſonders gut gelaunt
ſind
, ſogar mit dem Publikum einige mehr oder wenigergeiſt-
reiche”
Worte zu wechſeln freilich thun ſie das alles nur,
wenn
erſtens einMedium” anweſend iſt, welches die Kunſt
verſteht
, ſie anzulocken, zweitens abſolute Dunkelheit herrſcht
und
drittens das Publikum durch eine angemeſſene Entfernung
gehindert
iſt, ihnen zu nahe auf den Leib zu rücken, wogegen
ſie
ſehr empfindlich zu ſein pflegen.
Leicht hat man’s alſo
abſolut
nicht, wenn man maleines Geiſtes einen Hauch ver-
ſpüren”
will;
im Gegenteil: es iſt ſogar niederträchtig ſchwer.
610150 Die Geiſter ſind nämlich, wie die Spiritiſten ſagen, mißtrauiſch,
folgen
gewöhnlich beim erſten Ruf noch nicht, auch bei den
folgenden
meiſt noch lange nicht, und müſſen erſt langſam, “mit
Höflichkeit
und Ausdauer” gewonnen werden.
Auch verlangen
ſie
, daß das Zimmerbehaglich und zugfrei” ſei und daß die
phyſiſche Atmoſphäre Harmonie erlangt” hat (ſo zu leſen im
Spiritismus” S.
29. Preisfrage: wer verſteht’s?) In der-
ſelben
SchriftDer Spiritualismus” ſtand nun aber, wie wir
oben
erfahren haben, (ſiehe S.
137), daß den Geiſtern ſehr viel
daran
liegt, die Aufmerkſamkeit der Menſchen auf ſich zu
lenken
, alſo mit den Erdenſöhnen in Verkehr zu treten.
Wie
ſich
das zuſammenreimt, mag ein andrer entſcheiden;
wir
fühlen
uns nicht imſtande, ſo was zu begreifen.
So viel ſteht
jedenfalls
feſt:
wenn ein ernſter Forſcher ſich die Mühe giebt
ſie
zu rufen und alle Vorbedingungen nach beſtem Wiſſen und
Gewiſſen
erfüllt hat, ſo kommen ſie nicht;
mag er auch noch ſo
ausdauernd
, beharrlich und langmütig ſein, ſie kommen nicht
nur
beim erſten Ruf nicht, ſondern auch bei keinem folgenden.
Wilhelm Bölſche klagt auch: Lieber Gott, ich bin auch be-
harrlich
geweſen.
Ich habe, mit gefalteten Händen oder auch
in
die des Nachbars verſchränkt, Stunden um Stunden ge-
ſeſſen
und, wenn man Geiſter ſchwitzen könnte, wäre es ge-
ſchehen
.
Ja, ſagt der Spiritiſt, “dann ſind eben die Geiſter
mißtrauiſch
geweſen! Mißtrauiſch;
aber du lieber Himmel,
gegen
was denn! Etwa dagegen, daß ſich mal ein vorurteils-
loſer
Menſch daran machte zu ſehen, wie es mit ihnen ſtände?

Sie
ſollten doch froh ſein, wenn überhaupt mal ein natur-
wiſſenſchaftlicher
Kopf Zeit und Mühe daran wendet ſich mit
ihnen
abzugeben.
Oder ſchenken ſie ihr Vertrauen nur ſolchen
Perſonen
, die von vornherein feſt und unerſchütterlich an ſie
glauben
?
Dann freilich möchte eine Verſtändigung ſchwer
ſein
, und die Geiſter dürften auf eine Anerkennung ſeitens
der
naturwiſſenſchaftlichen Forſchung nie zu rechnen haben.
611151Nein, ſagt der Spiritiſt, “aber du weißt ja doch, daß die
Geiſter
prinzipiell nur dann kommen, wenn unter denen,
die
ſie heraufbeſchwören, ſich ein Medium befindet.
Ein
Medium
?
Ah ſo, pardon, daran hatte ich freilich nicht ge-
dacht
.
Aber wenn ſie bloß ſolchen Leuten ihrVertrauen”
ſchenken
, dann werden ſie uns ſchon geſtatten müſſen, daß wir
ſie
auch ferner ignorieren und als Luft behandeln.
Geſchieht
ihnen
ganz recht!
Meinſt Du das nicht auch, lieber Leſer? Wenn die Geiſter
was
von uns Naturwiſſenſchaftlern wollen, dann können ſie ja
zu
uns kommen, nicht wahr?
Wir werden ihnen wahrhaftig
nicht
nachlaufen, wir werden auch ohne ſie fertig, ſogar viel
beſſer
als mit ihnen.
Haben ſie das Bedürfnis zu exiſtieren
bezw
.
uns Menſchenkindern von ihrer Exiſtenz Kunde zu geben,
dann
mögen ſie dies auf eine verſtändige Art und Weiſe thun,
wie
man es von halbwegs geſitteten Weſen erwarten darf.
Wenn ſie aber ſich einen Sport daraus machen, die Menſchen
an
der Naſe herumzuführen und wie die Schulbuben ihren
Lehrer
aus unkontrollierbarem Hinterhalt mit allerlei Spek-
takel
(Tiſchklopfen, Glockentöne u.
ſ. w.) und Schabernack
(fliegende Tiſche, Schinkenknochen, Kartoffeln u.
ſ. w.) zu
foppen
, ſo ſei die Bemerkung geſtattet, daß man dergleichen
zum
mindeſten nicht gerade als ein Zeichen von Bildung be-
zeichnen
kann.
Und wenn ſie ſchon mal etwas ernſthafter
werden
und in ſichtbarer Geſtalt ſich den Menſchen produ-
zieren
(ſichmaterialiſieren”), ſo geſchieht dies ſtets in ſolcher
Form
, daß jeder geſchickte Schwindler ihnen mit Leichtig-
keit
ihre Künſte nachmachen kann.
Und wie oft iſt das ſchon
geſchehen
!
Zahllos ſind die Geſchichten, wo man in irgend einem Geiſt,
der
in vorgeſchriebener Weiſe ins dunkle Zimmer zu ſchweben
geruhte
, irgend einen guten Bekannten entdeckte, der vorher,
als
die Sitzung begann, “Medium” oderPublikum”
612152 war. Slade ließ z. B. Geiſterhände erſcheinen, indem er ſeine
entblößten
Füße bald hier, bald dort erſcheinen ließ (er war
in
ſeiner Jugend Schlangenmenſch geweſen), da ſeine Hände
meiſt
einer ſcharfen Kontrolle unterlagen.
Andre Medien
machten’s
ebenſo:
man erzählt ſich von Napoleon III. eine
Geſchichte
, wonach er in einer ſpiritiſtiſchen Dunkelſitzung die
ihn
berührende eiskalteGeiſterhand” ſeiner Mutter in höchſt
pietätloſer
Weiſe packte und feſthielt, bis Licht herbeigeſchafft
war
und er ſich überzeugen konnte, daß er den nackten Fuß
des
Entrepreneurs in der Hand hielt.
Leicht iſt’s aber, wie
geſagt
, nicht, jemanden, derGeiſt” markiert, zu entlarven,
da
dasBerühren der Gegenſtände ſtreng unterſagt” und
meiſt
ohne weiteres von vornherein unmöglich gemacht iſt,
und
auf Fragen antworten die Geiſter nur ſehr ſelten.
Sie
können
dabei auch gar zu leicht hereinfallen, wie z.
B. jener
Geiſt
, der auf die Fragen ſeiner im Publikum ſitzenden Witwe
getreulich
antwortete, trotzdem er im Leben immer ſtocktaub
geweſen
war.
Wo hat ſich jemals der Fall ereignet, daß eine ſtatt-
findende
Geiſtererſcheinung über jeden Verdacht des Betruges
erhaben
war?
Wo hat jemals eine Geiſtererſcheinung einer
ſtrengen
naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchung ſtand gehalten?
Nie und nirgends! “Halt, ſagt wieder der Spiritiſt, “haſt
Du
denn nicht davon gehört, daß man zuweilen ſogar auf
photographiſchen
Platten ſolche Geiſtererſcheinungen hat ab-
bilden
und fixieren können?
daß in gewöhnlichen photographi-
ſchen
Gruppenaufnahmen ſich zuweilen Umriſſe von ganz un-
geheuren
Rieſen-Weſen mit menſchlichen Formen zeigen, deren
Entſtehung
ſich kein Menſch auf natürliche Weiſe erklären
kann
?
Willſt Du etwa dieſeGeiſterphotographieen” auch als
Produkte
menſchlichen Betrugs hinſtellen?
Ja, die Geiſter-
photographieen
! Es thut uns furchtbar leid, aber wir können
allerdings
auch dieſe nur als Ergebniſſe von Irrtum
613153 Schwindel betrachten, und wir können dieſe Anſicht ebenfalls
durch
einen Hinweis auf vorliegende Thatſachen begründen.
Es iſt wirklich zu ſonderbar, daß auch dieſe Art von Geiſter-
offenbarung
durch jeden Photographen künſtlich nachgeahmt
werden
kann, indem er eine ſchon gebrauchte Platte in be-
ſtimmter
Weiſe nochmals verwendet.
Manchmal mag eine
ſolche
zweimalige Benutzung lediglich aus Verſehen ſtattge-
funden
haben .
. . da haben wir ſchon eine lächerlich banale
Erklärung
für dasWunder.
Aber auch hier hat mehr als
einmal
der Schwindel ſeine Rechnung gefunden und mit voller
Abſicht
das Publikum dupiert, ſo neben einer Reihe von
amerikaniſchen
Geiſterphotographen der Franzoſe Buguet in
Paris
, welcher 1875 vor Gericht den ganzen Schwindel ein-
geſtand
.
Auch eine der Hauptleuchten des Spiritismus, der
ruſſiſche
Staatsrat Akſakow, welcher auf Grund eigner Er-
fahrungen
und Erlebniſſe ſich ſeinerzeit für die Echtheit der
Geiſterphotographieen
gar ſehr ins Zeug legte, iſt dabei von
dem
bekannten Medium Eglinton in der jämmerlichſten Weiſe
beſchwindelt
worden.
IX. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen.
Und nun betrachten wir einmal alles in allem! Was
bleibt
von dem ganzen Spiritismus an Beweiskraft und Zu-
verläſſigkeit
übrig?
Wo iſt unter den zahlloſenWundern”
des
Spiritismus auch nur ein einziges, das nicht eine natür-
liche
Erklärung gefunden hätte, ſobald ihm ein verſtändiger
Menſch
energiſch zu Leibe ging?
Gewiß, es giebt ja noch
andre
Erſcheinungen, die der Spiritismus als Beweiſe für ſich
in
Anſpruch nimmt.
614154
Wir haben noch nicht geſprochen von den Erſcheinungen
des
Hellſehens und den Ahnungen, welche die heutige Natur-
wiſſenſchaft
ebenfalls leugnet, für die aber doch ſo viele, be-
achtenswerte
Zeugniſſe vorliegen, daß der vorſichtige Beobachter
ein
Urteil darüber ablehnen und ſich auf den Standpunkt
ſtellen
wird:
Die Akten darüber ſind noch nicht geſchloſſen. Wir haben auch nicht geſprochen von dem ſogenannten
Gedankenleſen”, welches ebenfalls auf ſehr einfache und
intereſſante
Weiſe erklärt werden kann.
Wir konnten uns hier
nur
auf diejenigen Gebiete einlaſſen, welche mit der Lehre
von
der Exiſtenz derGeiſter” unmittelbar zuſammenhängen;
aber das ſind auch gerade diejenigen Gebiete, mit denen der
ganze
Spiritismus ſteht und fällt, denn wenn man ihm ſeine
Lehre
vom Weben und Wirken derGeiſter” nimmt, ſo
bleibt
nichts allzu Bemerkenswertes mehr von ihm übrig.

Ihm
liegt im weſentlichen nur daran zu beweiſen, daß die
Seele
nach dem Tode des Menſchen fortlebt, und zwar in
einer
höheren, reineren, geläuterten Sphäre.
Wie’s aber mit
dieſen
Beweiſen ausſieht, haben wir nun geſehen, und wir
können
nur unſre Verwunderung darüber ausſprechen, daß
die
verklärten Seelen der Verſtorbenen, die erhaben ſind über
alle
niedrigen Triebe des Menſchen, ſich nicht verſtändiger
ſollten
benehmen und offenbaren können, als auf die oben
genannte
Art und Weiſe.
Wir haben die wichtigſten Lehren des Spiritismus zu-
weilen
in humoriſtiſchem und ſpottendem Tone behandelt und
als
unhaltbar oder mindeſtens als unbewieſen von A bis Z
hinzuſtellen
verſucht;
wir möchten aber nicht, daß uns daraus
der
Vorwurf der Befangenheit oder Leichtfertigkeit des Urteils
1
11 Nur nebenbei kann bemerkt werden, daß ſelbſt die Möglichkeit
von
Ahnungen zugegeben daraus durchaus noch nicht unbedingt folgen
würde
: hier iſt einenatürliche” Erklärung unmöglich.
615155 gemacht werde. Der Leſer wird auch wohl erkannt haben,
daß
andre Gründe die Urſache dafür waren:
der waſchechte
Spiritismus
ſtrotzt eben derartig von naiver und abſolut
kritikloſer
Wundergläubigkeit, von kindlichen Widerſprüchen,
daß
der Naturwiſſenſchaftler, wenn er ein bißchen Sinn
für
Humor hat, unmöglich dabei ernſt bleiben kann, mag er
auch
ſonſt jeder gegneriſchen Anſicht mit noch ſo viel Achtung
begegnen
.
Wir wollen gern zugeben, daß im Seelenleben des
Menſchen
noch außerordentlich viele Rätſel zu finden ſind, daß
es
um das beliebteſte Schlagwort der Spiritiſten zu ge-
brauchen
noch viele Dinge zwiſchen Himmel und Erde
giebt
, welche die Schulweisheit ſich nicht träumen läßt, aber
wir
meinen, daß man dieſe mannigfachen Rätſel nur ver-
mittelſt
der ſchrittweiſen Forſchungsmethode der exakten Natur-
wiſſenſchaft
wird nach und nach löſen können, nicht aber da-
durch
, daß man ohne weiteres für alles, worauf man ſich
keinen Vers machen” kann, eine übernatürliche Erklärung
ſucht
und ſich dann damit zufrieden giebt.
Der gewiſſenhafte
und
gründliche Forſcher wird einſehen, daß eine derartige be-
queme
Methode ein Rätſel nur dadurch erklärt und beſeitigt,
daß
ſie mindeſtens zwei neue an deſſen Stelle ſetzt;
und wer nicht
gar
zu oberflächlich denkt, erkennt bald, daß er damit der
Forſchung
nicht, wie er hofft, den Weg ebnet, ſondern dieſen
mit
den Trümmern eines glücklich hinweggeräumten Hinder-
niſſes
nur noch mehr verrammelt.
Selbſtverſtändlich wird die Naturwiſſenſchaft, wenn ſie
dem
Spiritismus entgegentritt, nun nicht übereilt behaupten
wollen
:
die Exiſtenz von Geiſtern (im Sinne des Spiritismus)
iſt
unmöglich.
Zu einer derartig kategoriſchen Behauptung
reichen
unſre immerhin mangelhaften Kenntniſſe bei weitem
noch
nicht aus.
Aber das eine kann ſie mit vollſter Zuverſicht
und
beſtem Gewiſſen ausſprechen:
unſere bisherigen,
616156 Erfahrungen berechtigen uns in keiner, aber auch in gar keiner
Weiſe
dazu, die Lehren des Spiritismus für einigermaßen
wahrſcheinlich, für mehr als ganz willkürliche Phantaſie-
gebilde
zu halten, die nur im Wunderbedürfnis und in der
Selbſtliebe
der Menſchen ihre Nahrung finden und auch noch lange
finden
werden, die aber mit ſtrenger Forſchung nichts zu thun
haben
.
Das feſtgegründete, wunderherrliche Gebäude des Wiſſens,
das
die neuere Naturwiſſenſchaft zu errichten begonnen hat, mag,
ſoweit
es bisher vollendet iſt, noch an manchen Stellen ver-
beſſerungsbedürftig
und vervollkommnungsfähig ſein;
nirgends
aber
in dem ganzen, großen Rieſenbau zeigt ſich bisher eine
Lücke
, ein Riß, der ſich nur mit dem Kitt übernatürlicher Ver-
legenheitstheorieen
ausſtopfen ließe.
Sollten die vorgeblichen
Geiſter
der Verſtorbenen wirklich, wie die Spiritiſten ihnen
nachſagen
, das Bedürfnis haben, mit der Menſchenwelt in
Verkehr
zu treten, ſo wird die Naturwiſſenſchaft ſich gewiß
dieſem
Verkehr nicht entziehen, aber ihn aufzuſuchen, hat ſie
keinerlei
Grund;
und ſollte es einſt dahin kommen, daß die
Geiſter
unwiderlegliches Zeugnis für ihre Exiſtenz beizubringen
vermögen
, ſo wird ſicher die geſchmähteSchulwiſſenſchaft” die
erſte
ſein, welche als begeiſterter Jünger die neue Lehre kündet
und
den einmal erſchloſſenen Ausblick nach allen Richtungen
zu
erweitern und zu vertiefen ſucht.
Bevor aber nicht etwas
Derartiges
geſchehen iſt, muß die exakte Forſchung die Hy-
potheſe
von Geiſtern undIntelligenzen" aufs ſchärfſte ab-
lehnen
und bekämpfen, da bisher auch nicht der Schatten eines
Beweiſes
für die Zuläſſigkeit einer ſolchen Theorie vorliegt.

Wie
einſt der römiſche Geſandte dem nach langen Beratungen
noch
immer unſchlüſſigen karthagiſchen Senat die ſtolzen Worte
zurief
:
Ich trage in den Falten meiner Toga Krieg und
Frieden
;
wählt! genau ebenſo ſteht die moderne Natur-
wiſſenſchaft
den vom Spiritismus ſo energiſch verteidigten
Geiſtern
gegenüber und ruft ihnen zu:
In Eurer Hand
617157 wie ich mich zu euch ſtellen ſoll; mir iſt es gleich. Wenn Ihr
es
wünſcht, ſo können wir Freunde ſein;
wenn nicht, ſo bleiben
wir
Feinde, und ich bekämpfe und leugne Euch nach wie vor.

Ich trage bei mir Krieg und Frieden; wählt!
X. Die Urſachen der ſpiritiſtiſchen Bewegung.
Die alten Götter ſinken, eine neue Weltanſchauung ringt
ſich
ſiegend aus dem Schoße der wankenden Kirche hervor;
das Wiſſen verdrängt den Glauben. Mit unerbittlicher Kon-
ſequenz
zieht die Wiſſenſchaft ihre unerſchütterlichen, felſenfeſten
Schlüſſe
, Konzeſſionen kann und will ſie nicht machen und der
geängſtigte
Dogma-Glaube, der eine ſchöne Illuſion nach der
andern
fallen ſieht, flüchtet ſich, wohin er nur kann, jeder
Rettungsort
iſt ihm recht;
überall aber fühlt er ſchon, wie ſein
Widerſtand
erlahmt, und ſchließlich muß er ſich doch ergeben.

Jetzt
tobt der Kampf mit aller Kraft gerade um ſeine teuerſte
und
liebſte Illuſion, das Leben nach dem Tode, das ewige
Leben
.
Mit Donnerſtimme verkündet die Wiſſenſchaft den
Menſchen
:
Euer Leben iſt begrenzt, einmal nur könnt ihr
leben
, mit dem Tode iſt alles vorbei;
nicht erſt nach langer
Seelenwanderung
, wie die altindiſchen Philoſophen glaubten,
ſondern
ſogleich am Ende eures Einen Lebens umfängt euch
das
Nichts, das Urvergeſſen, das 'Nirwâna.
Nicht hinter
den
Wolken ſucht das Paradies, ſucht es auf Erden! Doch
hier
widerſteht der Glaube verzweifelter, als irgend wo anders,
von
dieſer Illuſion will er nicht laſſen, alle anderen läßt er
fallen
, dieſe Eine will er ſich retten.
Er bedenkt nicht,
daß
dasNirwâna” ſchöner und beſſer iſt als das
618158 Leben, er will nicht bedenken, nur leben will er, leben.
An dieſem Punkte treibt ihn der mächtigſte Faktor, den
es
giebt, die Furcht vor dem Tod, vor dem ewigen Tod.

Daher
wird auch dieſerKampf ums Daſein” weit länger
dauern
, als der Kampf um die übrigen Illuſionen.
Wenn der
Glaube
alle andern hat fahren laſſen, wird er ſich an dieſe
eine
Poſition noch klammern und ſie mit allen Mitteln ver-
teidigen
, ſo lange er nur irgend noch kann.
Hoffentlich iſt der Sinn dieſer allegoriſchen Darſtellung
verſtändlich
.
Es giebt ſeit einigen Jahrzehnten, beſonders
ſeit
Darwins großer That, mit der eine neue Ära begann, eine
ſtets
wachſende, große Zahl von Menſchen, welche dem alten
Glauben
entwachſen ſind.
Aber nicht alle ringen ſich durch zur
naturwiſſenſchaftlichen Weltanſchauung, viele ſchrecken zurück
vor
den letzten Konſequenzen und ſuchen anderweitigen Erſatz
für
das verlorene Paradies über den Wolken, ſie können ſich
nicht
mit dem bei näherer Betrachtung eigentlich äußerſt
wohlthuenden
und ſympathiſchen Gedanken vertraut machen,
daß
ihr Leben mit dem Tode aufhört;
ewig wollen ſie
ſein
, ewig ſich weiter entwickeln, ewig die Freude am Sein
genießen
können.
So erſcheint ihnen denn die ſpiritiſtiſche
(“theoſophiſche”) Lehre als eine wahre Erlöſung:
ſie geſtattet
ihnen
, alles, was die Wiſſenſchaft erforſcht hat, anzuerkennen
und
bietet ihnen dennoch die Erfüllung ihres Lieblingswunſches
dar
, zerſtört nicht ganz die dem Kinde lieb gewordenen Hoff-
nungen
, von denen ſich der Erwachſene ungern trennen
möchte
:
und neu ermutigt geben ſie ſich voll froher Zuverſicht
der
Bewegung hin, welche ihnen ſo wohlthuende Lehren kündet
und
wie ein Rettungsſtern ihre alten, lieben Illuſionen neu
belebt
;
und die Stimme der Kritik ſchweigt ihnen, aber ſie
wollen
ſie auch gar nicht vernehmen.
Es iſt zweifellos, daß die ſpiritiſtiſche oder theoſophiſche
Weltanſchauung
noch eine ungeheure Verbreitung und
619159 deutung gewinnen, noch einen ungeahnten Aufſchwung nehmen
wird
, aber nicht auf Koſten der Wiſſenſchaft ſondern der Re-
ligion
.
Auf die Dauer aber wird auch ſie nicht Beſtand haben,
auch
ſie wird ſinken, wie alle anderen Lehren, die der unauf-
haltſam
weiterſchreitenden Naturwiſſenſchaft in den Weg traten,
denn
dieſe kann nicht überwunden und nicht geſchwächt werden,
da
ſie mit einer Siegwaffe kämpft, der keine andere gleich-
kommt
:
der exakten Forſchung.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
620
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621
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Dotonié und R. Hennig.
Sechzehnter Teil.
36[Figure 36]
Berſin.
Ferd
. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
622
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
623
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Die Bewegung im Sonnenſyſtem.
I
. # Von der Ebene des Planetenſyſtems . . . . . . # 1
II
. # Eine Vorſtellung vom Sonnenſyſtem . . . . . . # 3
III
. # Wie die Planetenbewegung uns erſcheint und wie ſie
# wirklich iſt . . . . . . . . . . . . . . # 7
IV
. # Ein Beiſpiel für den ſcheinbaren Lauf des Planeten Venus # 14
V
. # Ein Beiſpiel von der Bewegung des Planeten Mars . # 19
VI
. # Die Bewegungen von Weſt nach Oſt . . . . . . # 23
VII
. # Verſuch einer Geſamtüberſicht . . . . . . . . . # 27
VIII
. # Die Erde und der Mond . . . . . . . . . . # 30
IX
. # Merkwürdiger Lauf des Mondes . . . . . . . . # 33
X
. # Non Mars und den kleinen Planeten . . . . . . # 35
XI
. # Von Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun . . . . # 38
XII
. # Zur Erklärung einer wunderbaren Entdeckung . . . # 43
XIII
. # Die Hauptſtütze der Leverrier’ſchen Entdeckung . . . # 46
XIV
. # Die großartige Entdeckung . . . . . . . . . . # 48
## Eine Phantaſie-Reiſe im Weltall.
I
. # Die Abreiſe . . . . . . . . . . . . . . . # 54
II
. # Auf der Station zwiſchen Erde und Mond . . . . # 57
III
. # Wir langen auf dem Monde an . . . . . . . . # 61
IV
. # Auf dem Monde . . . . . . . . . . . . . # 64
V
. # Was beginnen wir auf dem Monde? . . . . . . # 68
VI
. # Etwas wiſſenſchaftliche Schwärmerei . . . . . . . # 71
VII
. # Ein paar Reiſe-Gedanken . . . . . . . . . . # 73
VIII
. # Kleine Reiſe-Begegnungen . . . . . . . . . . # 76
IX
. # Weitere Reiſe-Abenteuer . . . . . . . . . . . # 79
X
. # Die Oberfläche der Sonne . . . . . . . . . . # 82
XI
. # Wir ſuchen uns ein Abſteige-Quartier . . . . . . # 85
XII
. # Die Größe der Sonne . . . . . . . . . . . # 88
XIII
. # Allen Reſpekt vor einer Kubik-Meile . . . . . . . # 91
XIV
. # Wir bekommen noch mehr Reſpekt vor der Sonne . . # 94
XV
. # Die Raumverſchwendung im Sonnen-Syſtem . . . . # 98
XVI
. # Ein Sonnen-Syſtem im Kleinen . . . . . . . . # 101
XVII
. # Wie das Modell ſtimmt . . . . . . . . . . # 104
XVIII
. # Was wir zuweilen am Himmel ſehen können . . . . # 107
XIX
. # Auf dem Mars . . . . . . . . . . . . . # 110
XX
. # Die kleinen Planeten . . . . . . . . . . . # 114
XXI
. # Die Bahnen der kleinen Rundläufer . . . . . . # 116
XXII
. # Zwei eigentümliche Kometen . . . . . . . . . # 119
XXIII
. # Ein wenig Kometen-Furcht . . . . . . . . . . #
11624IV # # Seite
XXIV
. # Jupiter, der gewichtigſte der Planeten . . . . . # 124
XXV
. # Wie ſich’s auf Jupiter lebt . . . . . . . . . # 127
XXVI
. # Die Jupiters-Monde . . . . . . . . . . . # 129
XXVII
. # Saturn und ſein Ring . . . . . . . . . . # 131
XXVIII
. # Wie Saturn zu ſeinem Ring gekommen . . . . # 135
XXIX
. # Das Wohnen auf dem Saturn . . . . . . . # 139
XXX
. # Die etwaigen Bewohner des Saturn-Ringes . . . # 143
XXXI
. # Das Schickſal des Saturn-Ringes . . . . . . # 146
XXXII
. # Uranus . . . . . . . . . . . . . . . # 149
XXXIII
. # Neptun . . . . . . . . . . . . . . . # 153
XXXIV
. # Die Stellung der Kometen im Sonnenſyſtem . . . # 156
XXXV
. # Die berechneten und unberechneten Kometen . . . # 159
XXXVI
. # Die ſonderbare Beſchaffenheit der Kometen . . . # 162
XXXVII
. # Der Komet vom Jahre 1680 . . . . . . . . # 166
XXXVIII
. # Kometen aus den Jahren 1729 bis 1759 . . . . # 169
XXXIX
. # Kometen aus den Jahren 1769 und 1770 . . . # 173
XL
. # Kometen aus den Jahren 1807 bis 1811 . . . . # 177
XLI
. # Was im Halley’ſchen Kometen im Jahre 1835 vorging # 180
XLII
. # Die Kometen von 1843 und 1858 . . . . . . # 183
XLIII
. # Die Kometen von 1880 und 1882 . . . . . . # 185
XLIV
. # Sternſchnuppen und Meteore . . . . . . . . # 187
XLV
. # Aërolithenfälle . . . . . . . . . . . . . # 191
XLVI
. # Höhe und Maſſe der Meteore . . . . . . . . # 204
XLVII
. # Was wir heimbringen . . . . . . . . . . # 208
## Über die Größe der Erdbahn.
I
. # Der Zollſtock der Aſtronomie . . . . . . . . # 213
II
. # Die Venus-Durchgänge . . . . . . . . . . # 216
III
. # Ergebniſſe der Beobachtungen der Venus-Durchgänge # 220
IV
. # Die Störungen des Mondlaufs . . . . . . . # 223
V
. # Wie die Erde und der Mond um die Sonne wandern # 227
VI
. # Der Schwerpunkt der Erd- und Mondmaſſe . . . # 231
VII
. # Die Störungen der Planeten-Bahnen . . . . . # 234
VIII
. # Beobachtungen des Planeten Mars im Jahre 1862 # 238
IX
. # Die Geſchwindigkeit des Lichts . . . . . . . # 241
X
. # Bradley’s Entdeckung . . . . . . . . . . # 245
XI
. # Die Geſchwindigkeit des Lichts und die Größe der
# Erdbahn . . . . . . . . . . . . . . # 249
XII
. # Wie man größte Räume durch kleinſte Zeitteilchen
# meſſen kann . . . . . . . . . . . . . # 252
XIII
. # Fizeau’s Meſſungen der Geſchwindigkeit des Lichtes . # 256
XIV
. # Genauere Beſtimmung der Licht-Geſchwindigkeit . . # 260
XV
. # Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . # 263
625
Die Bewegung im Sonnenſyſtem.
I. Von der Ebene des Planetenſyſtems.
Jeder gebildete Menſch weiß und redet auch wohl einmal
davon
, daß die Sonne ſich um ihre Axe dreht, daß die Pla-
neten
ſich um die Sonne herumbewegen, daß die Monde um
die
Planeten herumgehen, und dergleichen durch alle Schul-
bücher
bereits geläufig gewordenen Dinge;
wenn’s aber dazu
kommt
, daß ſie einem die Geſchichte, wie ſie iſt, einmal klar
machen
ſollen, ſo merkt man bald, daß ſie das, wovon ſie ſo
geläufig
reden, ſich ſelber nicht klar gemacht haben.
Da giebt es viele, die man ganz gebildet nennen kann,
denn
ſie leſen franzöſiſche, engliſche Bücher, ſprechen ein recht
vernünftiges
Deutſch, wiſſen etwas von der Weltgeſchichte und
ſind
überhaupt bekannt mit mannigfachen Dingen in der Welt,
ſo
daß ſie ganz angenehme und auch nützliche Menſchen ſind.
Dieſe Leute wiſſen auch viel von den Dingen, die am Himmel
vorgehen
, zu reden und ſprechen die Sachen auch ganz richtig
mit
all ihren wiſſenſchaftlichen Bezeichnungen aus.
Wenn
man
ihnen aber einmal auf den Zahn fühlt, ſo ſieht man zu
ſeinem
Erſtaunen, daß ſie gerade in der Aſtronomie über die
allereinfachſten
Dinge ſtolpern und von all demHerumgehen”
und
Herumdrehen” undHerumbewegen” ganz kopfverdreht
werden
und bald eingeſtehen müſſen, daß ſie ſich von all dem
keine
rechte Vorſtellung machen können.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
6262
Ich hatte einmal einen ſolchen gebildeten Menſchen
vor
mir, der mir über eine halbe Stunde lang in den ſchul-
gerechteſten
Ausdrücken von der Bewegung der Erde um die
Sonne
ſprach, und mich dann endlich über einige Dinge um
Aufſchluß
bat, aus denen mir erſt klar wurde, daß er ganz
verkehrte
Vorſtellungen von den Dingen hatte und ſich ein-
bildete
, die Sonne hänge im Raume oben, ſo wie ein Kron-
leuchter
oben in der Mitte der Stube und die Erde laufe tief
unter
ihr im Kreis herum, etwa ſo wie eine Kugel auf dem
Fußboden
der Stube.
Aus ſolchen und ähnlichen verkehrten Grundvorſtellungen
entſteht
die große Verwirrung über dieſe Dinge in ſelbſt ganz
guten
Köpfen;
und es thut not, die Sache einmal ſo klar und
anſchaulich
wie möglich zu machen.
Wenn Du, mein lieber Leſer, auch zu denen gehörſt, die
ſich
das Ding nicht recht klar vorſtellen können, ſo will ich es
mit
Dir ſo machen, wie ich es mit jenem Manne machte, der
ſich
die Sonne wie einen Kronleuchter dachte, um den ſich die
Planeten
in immer weiter und tiefer nach unten liegenden
Kreiſen
herumbewegen.
Denn es gelang mir, ihm die Sache
in
ſehr kurzer Zeit recht klar zu machen.
Ich fragte ihn: Sagen Sie mir einmal, wenn es z. B. dem
lieben
Gott heute einfiele, die Sonne und ſämtliche Planeten
und
deren Monde, ohne dieſe in ihrem Lauf zu ſtören, in eine
recht
paſſende Kiſte einzupacken, was für eine Form müßte
wohl
dieſe Kiſte haben?
Nach einigem Nachdenken kam es denn heraus, daß ſein
Sonnenſyſtem
, wie er ſich dies im Kopfe vorſtellte, in eine Kiſte
paſſen
würde, die gebaut wäre wie eine Tüte für einen Hut
Zucker
.
Nämlich oben an der Spitze, wo der Zucker bekanntlich
recht
hart iſt, da müßte die Sonne ſein, ein Stückchen weiter
herunter
, wo der Umfang ſchon etwas größer wird, da liefe
der
erſte Planet Merkur, weiter nach unten, wo der Kreis
6273 größer iſt, liefe Venus, noch weiter abwärts in einem größern
Kreis
machte die Erde ihre Runde und dann ſo fort, bis denn
endlich
die große Zuckertüte fertig daſtand.
Als ich ihn ſo weit gebracht hatte, da ſagte ich ihm: Nun
mein
Lieber, das iſt ganz und gar falſch! Wenn der liebe
Gott
das Sonnenſyſtem verpacken will, ohne es im Gange zu
ſtören
, ſo wird er dazu eine ſehr breite, aber recht flache
Schnupftabaksdoſe
wählen.
Und glaube mir, mein lieber Leſer, ich erzähle Dir eine
wahre
Thatſache:
durch dieſen Scherz gelang es mir, jenem
Manne
zum erſtenmal in ſeinem Leben die richtige Anſchauung
des
Dinges, wie es iſt, zu geben, und nachdem er einmal den
richtigen
Anfang der Sache hatte, wurde es ihm leicht, ſich ſo
weit
einen richtigen Überblick zu verſchaffen, wie ihn jeder ver-
nünftige
Menſch haben ſoll.
Und wahr iſt es, das Sonnenſyſtem, das heißt: die Sonne
ſamt
ſämtlichen Bahnen der Planeten und ihrer Monde paßt
ganz
gut hinein in eine runde Doſe, die ungefähr die Form
einer
Schnupftabaksdoſe hat.
Nur muß man hierbei von den
Kometen
abſehen, denn dieſe machen ihren Lauf auch ſeitwärts
nach
den verſchiedenſten Richtungen.
Die Kometen ſind über-
haupt
Weſen, die in dem Himmelsraum etwas unordentlich
herumſtreichen
und ganz kurioſe Läufe unternehmen.
Dahin-
gegen
ſind Planeten und Monde ſehr ſolide und machen ihren
Umlauf
in faſt gleicher Richtung, in faſt gleicher Ebene und in
faſt
regelmäßigen Kreiſen.
II. Eine Vorſtellung vom Sonnenſyſtem.
Willſt Du Dir nun eine richtige Vorſtellung vom Sonnen-
ſyſtem
verſchaffen, ſo will ich es verſuchen, ob ich es Dir
deutlich
machen kann.
6284
Denke Dir auf Deinem Tiſch eine Kugel, etwa ſo groß
wie
ſie zum Billard gebraucht wird, und ſtelle Dir vor, daß
dies
die Sonne iſt.
Nun kannſt Du Dir ein Sandkörnchen
denken
, etwa einen Fuß weit von jener Kugel entfernt, und
dies
Sandkörnchen hat die beſondere Eigenſchaft, daß es einen
Kreis
um jene Kugel beſchreibt.
Warum es dies thut, das
mag
vorerſt unerörtert bleiben.
Aber dieſen Kreis denke Dir
ſo
, daß das Handkörnchen von der Tiſchplatte ſich aufhebt und
im
Bogen hinüberſchwebt, bis es grade einen Fuß hoch über
der
Kugel ſteht, dann geht es weiter und zwar abwärts im
Bogen
, bis es auf der andern Seite und zwar wiederum einen
Fuß
weit ab von der Kugel die Tiſchplatte erreicht.
Allein
das
Körnchen iſt noch nicht fertig, ſondern denke Dir, es hat
auch
die Kraft, durch die Tiſchplatte durchzuwandern, und nun
geht
es unter der Tiſchplatte immer einen Fuß weit von der
Kugel
entfernt abwärts, bis es grade unter der Kugel ſteht,
ſo
wie es früher über der Kugel geſtanden.
Nun geht es in
derſelben
Kreisrichtung weiter und ſteigt wiederum aufwärts
zur
Tiſchplatte, bis es wieder durch die Tiſchplatte hindurch
aufſteigt
und grade auf dem Punkt ankommt, von wo es ſeinen
Lauf
angefangen.
Das iſt nun bisher ſehr einfach. Das Sandkörnchen hat
einen
wirklichen Kreis um die Kugel durchlaufen und hat
einmal
auf der einen Seite, einmal auf der andern Seite, ein-
mal
über, einmal unter der Kugel geſtanden und ſo macht
es
auch ein Planet.
Nun kommt aber das, was eigentlich viele Leute ſo ſehr
verwirrt
.
Wenn ſie ſich nämlich einen zweiten Planeten dazu denken
ſollen
, der etwa zweimal ſo weit ab von der Sonne iſt, und
es
auch ſo macht, ſo denken ſie dieſen zweiten Planeten nach
rechts
oder links ab von dem Weg des erſten Planeten;
aber
das
iſt eben nicht der Fall.
Sondern der Weg des
6295 Planeten liegt nicht rechts und nicht links ab; ſondern er liegt
ganz
in derſelben Lage, wie der Weg des erſten Planeten.
Damit ich aber ſicher bin, daß Du mich recht verſtanden
haſt
, ſo muß ich Dich bitten, wieder einmal zu Kugel und
Sandkörnchen
auf Deinem Tiſch zurückzukehren.
Mach Dir
einmal
eine grade Linie von der Kugel zum Sandkörnchen
hin
;
dieſe Linie wird einen Fuß lang ſein. Nun mache die-
ſelbe
grade Linie noch länger, bis ſie drei Fuß lang iſt und
dort
, wo die Linie jetzt aufhört, da denke Dir das zweite
Sandkörnchen
hin.
Dieſes zweite Sandkörnchen, mußt Du Dir
wiederum
denken, erhebt ſich von der Tiſchplatte und macht
eine
Bewegung im Bogen, die der Bewegung des erſten Sand-
körnchens
ganz ähnlich iſt, bis es endlich auch einmal oben
über
der Kugel ſteht.
Dann geht es eben ſo wie jenes ab-
wärts
und dann auch durch den Tiſch unten herum, bis es
wieder
da ankommt, wo es zuerſt gelegen hat.
Nun ſtelle Dir einmal dieſe zwei Wege, die die Sand-
körnchen
durchlaufen haben, ordentlich vor.
Der eine iſt zwar
viel
kleiner als der andere;
aber ſie haben viel Gleiches mit
einander
.
Erſtens bleibt jedes Sandkörnchen, wo es ſich auch
befunden
haben mag, ſtets in der Entfernung von der Kugel,
die
es anfangs hatte.
Das eine war immer einen Fuß, das
andere
immer drei Fuß von der Kugel entfernt, d.
h. ſie haben
richtige
Kreiſe um die Kugel gemacht.
Zweitens gingen beide
Sandkörnchen
in einer Richtung, d.
h. es kam nie dazu,
daß
das eine dem andern unter oder über der Tiſchplatte be-
gegnete
, wie etwa zwei Menſchen ſich begegnen, wenn der eine
grade
dorthin geht, wo der andere herkommt.
Vielmehr liefen
ſie
immer, wenn ſie ſich nahe waren, nach einer und derſelben
Gegend
hin.
Endlich drittens, ihre Laufbahnen liegen nicht
quer
durcheinander, ſondern die kleinere Bahn liegt flach in
der
größern drin.
Das heißt: die beiden Bahnen liegen in
derſelben
Ebene
.
6306
Nun denke Dir einmal den Tiſch, worauf die Kugel liegt,
37[Figure 37]Fig. 1.O S 1 2 3 4 5 W N ganz fort, und ſtelle Dir
vor
, daß die Kugel durch
irgend
welches Kunſt-
ſtück
in der Luft ſchweben
bleibt
, und daß die Sand-
körnchen
ſich immer im
angegebenen
Kreiſe um
die
Kugelherumbewegen,
ſo
haſt Du eine nahe
richtige
Vorſtellung vom
Sonnenſyſtem
, in wel-
chem
die Kugel die
Sonne
vorſtellt, und die
Sandkörnchen
zwei Pla-
neten
, die um dieſelbe
im
Kreis herumlaufen.
Die Fig. 1 mag Dir die
Vorſtellung
noch etwas
erleichtern
, und Du wirſt
ſchon
einſehen, was ich
damit
ſagen wollte, daß
dies
ganze Syſtem in
einer
ſehr flachen Doſe
Platz
hat, die wie eine
runde
Tabaksdoſe aus-
ſieht
.
In der Mitte un-
ſerer
Fig.
1 ſehen wir die
Sonne
und die durch die
perſpektiviſche
Zeichnung
ellipſenförmig
erſcheinen-
den
Kreiſe ſind die Bah-
nen
der Planeten.
6317
III. Wie die Planetenbewegung uns erſcheint und
wie ſie wirklich iſt.
Zwar habe ich Dir bis jetzt nur ein Bild von der Sonne
und
zwei Planeten gegeben;
nun weißt Du ſchon, und ich
werde
noch ſpäter darauf zurückkommen, daß es viele hundert
Planeten
giebt;
aber ich bitte Dich, kümmere Dich vorerſt nicht
drum
.
Denn wenn Du Dir nicht vollkommen klar darüber
biſt
, wie es um ein Syſtem von zwei Planeten ausſieht, ſo
wirſt
Du nur um ſo verworrener, wenn Du Dich mit den
übrigen
Planeten zugleich plagſt.
Zudem brauchſt Du das auch gar nicht. Denn was Du
von
den zwei Bahnen geſehen, das kannſt Du vorerſt ganz
ohne
Gefahr von den Bahnen aller andern Planeten annehmen.
Denke Dir nur, daß die Bahnen alle Kreiſe ſeien, daß ſich die
Planeten
alle in einer Richtung bewegen, und daß die Bahnen
alle
in einer Fläche liegen, und Du wirſt Dir dadurch eine
richtige
Vorſtellung verſchaffen;
und darauf kommt es zuerſt
an
.
Später, dann werde ich Dir’s ſchon ſagen, daß das
Alles
nicht ſo ganz genau richtig iſt;
für jetzt aber bitte ich
Dich
, die Sache ſo zu nehmen, wie ich’s Dir vorgeſtellt habe,
denn
das Ding wird verwickelt genug, wenn ich Dich einen
kleinen
Schritt weiter führe.
Für jetzt habe ich Dir das Sonnenſyſtem in der bewußten
Tabaksdoſe
gezeigt, wo es ganz gemütlich Platz hat und im
Gange
bleiben kann.
Um Dir nun einen Begriff davon zu
geben
, wie das Ding iſt, und wie es uns, die wir auf der
Erde
leben, ganz anders erſcheint, bin ich genötigt, Dich,
mein
lieber Leſer, mit in die bewußte Tabaksdoſe einzuſperren;
und dadurch wird das Ding wieder etwas verworren.
Du mutzt nämlich wiſſen, daß wir auf der Erde leben,
und
daß dieſe Erde ſelber ein Planet iſt, und daß ſie auch
6328 gut, wie die andern Planeten, um die Sonne läuft. Und
ſchon
das allein macht die Sache wirklich ſo verwickelt, daß
ſich
unter Zehntauſenden, die all das wiſſen, kaum einer
findet
, der ſich daraus am wirklichen Sternenhimmel zurecht-
finden
kann.
Wenn wir nämlich nicht auf der Erde lebten und auch
nicht
auf einem andern Planeten oder der Soune, ſondern auf
irgend
einer Stelle ſeitwärts vom Sonnenſyſteme, ſo könnte
man
das ganze Sonnenſyſtem den Kindern zeigen und es
ihnen
leichter erklären, als man ein Spielzeug erklärt.
Denn
ſo
iſt es einmal, wer nicht tanzt, der kann all die Paare, die
in
einem großen Saale herum tanzen, ſehr gut überſehen,
wenn
er ſich ein gutes Plätzchen zum Zuſehen auswählt;
wer
aber
mitten drin in den tanzenden Paaren ſich bewegt, dem
erſcheinen
die Bewegungen ſehr verwickelt.
Drum wiſſen auch
unzählige
Leute, die vortreffliche Bücher über die Natur leſen,
weit
mehr Richtiges von den Nebelſternen, von den Fix-
ſternen
, von den Doppelſternen und dergleichen, was außer-
halb
des Sonnenſyſtems vorgeht, als von dem, was in dem
Sounenſyſtem
los iſt.
Alſo nimm mir’s nicht übel: Du mußt in die Tabaksdoſe
hinein
.
Aber ich will Dir ein gutes Plätzchen anweiſen, damit Du
Alles
möglich bequem ſehen kannſt, was Du eigentlich zu
ſehen
haſt.
Die Erde iſt von der Sonne aus gerechnet der dritte
Planet
, denn zuerſt geht Merkur um die Sonne, dann kommt
Venus
und dann erſt die Erde.
Da aber das Ding über-
ſichtlicher
iſt, wenn man nur einen Planeten betrachtet, ſo
wollen
wir uns den Planeten Merkur ganz wegdenken und an-
nehmen
, die Erde hätte zwiſchen ſich und der Sonne nur den
einzigen
Planeten Venus.
Und nun ſetze ich Dich in die Doſe und zwar auf
6339 Erde und mit dem Geſicht zur Sonne, ſo daß Du die Sonne
und
Venus vor Dir haſt und ſie mit dem Blick verfolgen
kannſt
.
Um Dir nun alle möglichen Vorteile zu bieten, will
ich
erſtens annehmen, daß ſich die Erde mit Dir gar nicht
fortbewegt
, zweitens magſt Du Dir vorſtellen, daß Du unge-
niert
vom Sonnenlicht in die Sonne zu ſehen vermagſt, und
drittens
, daß Du auch trotz des hellen Sonnenlichts Venus
auf
allen ihren Bewegungen mit dem Auge verfolgen kannſt.
Nun will ich Dir nur ſagen, daß Du Dich um all’ das,
was
an den Seitenwänden vorgeht, nicht zu bekümmern brauchſt,
denn
Du weißt ja, das Sonnenſyſtem iſt ungemein flach ge-
baut
.
Drum blicke alſo nur auf Venus und die Sonne, und
gieb
acht, was Du zu ſehen bekommſt.
Gewiß glaubſt Du, daß Du es nun einmal recht deutlich
ſehen
wirſt, wie Venus in einem Kreis um die Sonne geht;
aber es thut mir leid, Du bekommſt nichts davon zu ſehen.
Vor allem darfſt Du nämlich nicht vergeſſen, daß die
Erde
ſich nicht ſeitwärts nach rechts oder nach links hin von
der
Venus-Bahn, ſondern daß ſie ſich hinter der Venus-Bahn
befindet
.
Der Kreis, in dem Venus wirklich geht, ſteht nicht
vor
Dir, wie etwa der Umfang eines Rades, wenn Du neben
der
Droſchke ſtehſt, ſondern der Kreis liegt in einer ſolchen
Lage
vor Dir, wie etwa das Rad einer Droſchke, die Dir auf
der
Straße weit voraus iſt.
Wenn Du Dich weit hinter einer
Droſchke
befindeſt, ſo erblickſt Du vom Rade nur die ſcharfe
Kante
.
Das runde Rad erſcheint Dir in ſolcher Stellung nur
wie
ein aufrecht ſtehender, gerader Strich.
Um Dir das noch deutlicher zu machen, magſt Du Dir
vorſtellen
, daß irgend ein Künſtler ein ſehr großes Rad an-
gefertigt
hat, das ganz allein die Straße entlang laufen kann.
Nimm nun an, es laufe eine große Strecke vor Dir her, und
Du
ſiehſt ihm von hinten nach, ſo wird es Dir wie eine
Stange
erſcheinen, die ſich fortbewegt.
Freilich, wenn
63410 eine Wendung machen würde, um quer über die Straße von
einem
Bürgerſteig zum andern zu laufen, dann wirſt Du
ſofort
ſehen, daß dies ein Rad iſt;
aber ſobald Du hinter dem
Rade
biſt, oder richtiger, weun Du Dich in der verlängerten
Ebene
des Rades befindeſt, ſo ſiehſt Du ſtatt des runden Um-
fanges
nur einen geraden Strich.
Nun aber weißt Du ſchon, daß die Kreiſe aller Planeten
in
nahe einer Ebene liegen.
Die Erde alſo iſt ſo hinter die
Venus-Bahn
geſtellt, daß Du ganz was anders ſehen wirſt,
als
Du Dir anfangs vorgeſtellt haben magſt.
Jetzt könnte ich Dir alſo ſchon eher zeigen, was Du von
der
Erde aus erblicken würdeſt, wenn Du Deinen angewieſenen
Platz
einnimmſt und Sonne und Venus vor Dir haſt.
Allein,
nimm
mir’s nicht übel ich muß Dich noch mit einem kleinen,
aber
wichtigen Umſtand bekannt machen.
Wenn wir zwei Gegenſtände auf der Erde in der Ferne
ſehen
, ſo giebt es viele Merkmale, durch die wir imſtande
ſind
zu ſagen, welcher von ihnen uns näher und welcher uns
entfernter
iſt.
Dahingegen können wir Gegenſtände in der
Luft
oder gar am Sternenhimmel nicht ſo abſchätzen.
Von
zwei
Wölkchen, die in der Luft ſchweben, weiß man dem
Augenmaß
nach meiſt nicht anzugeben, welches uns näher und
welches
uns entfernter iſt;
noch weniger kann man ohne ſcharf-
ſinnig
erdachte Meſſungen wiſſen, welcher von zwei Himmels-
körpern
, die man ſieht, uns näher iſt.
Und nun ſind wir ſo weit, es mit anzuſehen, was Du von
Deinem
Sitze auf der Erde aus erblicken wirſt, wenn Du
Sonne
und Venus vor Dir haſt.
Nehmen wir an, Du beginnſt Deine Beobachtung grade
um
die Zeit, wo ungefähr Venus zwiſchen der Erde und der
Sonne
ſteht, ſo wirſt Du ſehen, daß ſie anfängt in die Höhe
zu
ſteigen.
Nun weißt Du zwar, daß Venus Dir näher als
die
Son@e und daß ſie in einem Kreis um die Sonne
63511 gehen ſich anſchickt; aber mit dem Auge ſiehſt Du davon nichts.
Dir wird es vielmehr erſcheinen, als ob Venus in der Sonne
geſteckt
hätte und nun von ihr nach oben wie ein kleiner Luft-
ballon
in die Höhe ſteigt.
Erſt ſchnell, dann langſamer und
endlich
ganz langſam, bis zuletzt Venus eine tüchtige Strecke
von
der Sonne ganz ſtille ſteht.
Dann aber ſiehſt Du, daß
Venus
ſehr langſam zu ſinken anfängt, dann immer ſchneller
ſinkt
, bis dieſer Stern wieder mit der Sonne zuſammentrifft.

Nun
weißt Du zwar, daß ſich Venus jetzt jenſeits der Sonne
befindet
;
allein Deinem Auge wird es nicht anders erſcheinen,
als
ob Venus wirklich wieder in die Sonne hineingefallen iſt,
aus
der ſie früher hinauf ſtieg.
Nun aber warteſt Du eine Weile, und dann wirſt Du
Venus
wieder crblicken und zwar jetzt unter der Soune, als
ob
die Sonne dieſen Stern hinunterfallen ließe.
Er fällt nun
jetzt
ganz ſo, wie er früher emporgeſtiegen iſt, bis er dann an-
fängt
, ſehr langſam hinunter zu wandern, endlich hält er nach
und
nach wieder an, wenn er ſich eben ſo weit unten befindet,
wie
er früher nach oben geſtanden, und bald darauf würdeſt
Du
merken, daß er ſich wieder zu heben anfängt und immer
ſchneller
auf die Sonne zu wandert, bis er richtig wieder in
die
Sonne hineinkehrt.
Dies Spiel wiederholt ſich nun in einem fort und es wird
Deinem
Auge ſo erſcheinen, als ob die Sonne mit Venus auf
eine
merkwürdige Art Fangeball ſpielt.
Bald wirft ſie ihn
nach
oben und läßt ihn wieder zu ſich herabfallen, bald wirft
ſie
ihn nach unten und zieht ihn auf wunderbare Art wieder
zu
ſich hinauf.
Jetzt, wo Du ſchon weißt, daß das Ding nicht wirklich ſo
iſt
, wie es erſcheint, jetzt kannſt Du Dir mit wenig Nachdenken
die
Erſcheinung erklären.
Venus iſt in Wirklichkeit nur in
einem
Kreis um die Sonne gegangen und iſt der Sonne nie-
mals
ſo nahe gekommen, wie es Dir erſchienen iſt.
63612
Daher haben Jahrtauſende lang die Menſchen ſich auch
ganz
falſche Vorſtellungen von den Planeten gemacht.
Fig. 2
zeigt
Dir, wie man ſich die Sache vorſtellte, als man noch
glaubte
, die Erde ſei der Mittelpunkt des Weltalls, um den
38[Figure 38]Fig. 2.Fixstern Sphäre
Saturn
Jupiter
Mars
Sonne
Venus
Merkur
Mond
Feuermeer
Lufthulle
Erde
Urkraft
oder Primum mobile oder Weltrad.
ſich Sonne und Mond, Planeten und Fixſterne drehten,
während
Dir Fig.
3 zeigt, wie die Dinge in Wirklichkeit
liegen
.
Verſetze Dich nun einmal in die Zeit zurück, wo die
Menſchen
ſolche Vorſtellungen hatten, dann wirſt Du ſchon
Reſpekt
vor dem Manne bekommen, der zuerſt auf den
63713 Gedanken kam, und dieſer Manu hieß Kopernicus. (1473
bis
1543.)
Aber ich muß es Dir nur ſagen, dieſer Mann hatte es
nicht
ſo leicht wie Du.
Denke Dir nur, daß Kopernicus ſich das Ding nicht
unter
ſo günſtigen Umſtänden anſehen konnte, wie Du;
und
39[Figure 39]Fig. 3.Saturn
Jupiter
Mars
Erde
u. Mond
Venus
Merkur
Sonne
was die Hauptſache iſt, kein Menſch konnte ihm zu Gefallen
die
Erde einſtweilen ſtille ſtehen laſſen, bis Venus einen
ſolchen
Umlauf gemacht hat, der eben in der Wirklichkeit
224
Tage dauert, daß alſo der Mann ein ganz eignes Hinder-
nis
hatte, in dem Lauf der Venus einen einfachen Kreis zu
erkeunen
.
63814
Wenn Du Dir ein wahres Seelenvergnügen bereiten willſt,
das
Dich mehr amüſieren wird, als ein Dutzend Romane, ſo
ſcheue
nicht die Mühe, Dir die Verwirrung anzuſehen, die die
einfache
Erſcheinung des Umlaufs der Venus verurſacht, wenn
man
ſich die Erde, worauf wir ja nun einmal leben, gleich-
falls
in Bewegung denkt.
Du wirſt dadurch den Nutzen haben,
Dir
mannigfache Erſcheinungen vom Himmel dadurch erklärlich
machen
zu können.
Alſo, laß Dich die Mühe nicht ver-
dreießen
, die Dir vielleicht das Folgende verurſacht;
ich will
mich’s
auch nicht verdrießen laſſen, Dir Alles ſo deutlich zu
machen
, als es mir nur menſchenmöglich erſcheint.
IV. Ein Beiſpiel für den ſcheinbaren Lauf des
Planeten Veuus.
Ich muß aber wieder eine kleine Bemerkung voran-
ſchicken
, die Dir nicht viel Mühe machen, Dir aber ſehr nütz-
lich
ſein wird.
Der Bau unſeres Auges iſt ſo, daß Alles, was wir
über
uns erblicken, uns in dem großen Gewölbe vorzugehen
ſcheint
, das wir Himmel nennen.
Die Wolken ſind von uns
zumeiſt
keine Meile hoch entfernt, wenn wir aber des Nachts
den
Mond zwiſchen Wolken ſehen, ſo erſcheint es uns ſo, als
ob
der Mond wirklich mitten drin unter den Wolken ſtäke, ob-
gleich
der Mond mehr als fünfzigtauſend Meilen von uns
entfernt
iſt.
Eben ſo erſcheint es unſerm Auge, als ob der
Mond
unter den Fixſternen herumwandelte, obgleich dieſe von
uns
ſo weit ſind, daß wir, wenn wir in jeder Sekunde einen
Sprung
thun könnten, ſo lang wie von der Erde zum Mond,
wir
mehr als drei Jahre ſo fort ſpringen müßten, um nur
den
nächſten Fixſtern zu erreichen.
63915
Gleichwohl ſieht es ſich ſo an, als ob der Mond zwiſchen
Sternen
ſtände, und im Altertum hat man auch die Sterne
für
Dingerchen betrachtet, die dem Mond des Spaßes halber
beigegeben
ſind.
Hiernach wirſt Du es auch einſehen, daß Du den Weg,
den
Venus in ihrem Umlauf um die Sonne macht, nicht an-
ders
als auf dem großen Hintergrund des Himmelsraumes
ſehen
wirſt, woſelbſt ſich auch andere Sterne, die Fixſterne,
befinden
.
Und nun bitte ich Dich, einmal den Blick auf die um-
ſtehende
Figur 4 zu richten, und nicht vor den vielen Linien
zu
erſchrecken.
Das Ding iſt gar nicht ſo verwickelt, wie es
ausſieht
.
Du erblickſt in einem kleinen Kreis einen Punkt mit
dem
Buchſtaben S bezeichnet, denke Dir, daß dieſer Punkt
die
Sonne vorſtellt.
Um dieſen Punkt ſiehſt Du den Kreis,
der
mit den römiſchen Zahlen I II III IV gezeichnet iſt.
Denke Dir, dies ſei die Bahn, welche Venus um die Sonne
macht
.
Nun erblickſt Du weiter unten einen kleinen Bogen mit
den
Zahlen 1 bis 4.
Denke Dir, dies iſt ein Stückchen von
der
Bahn, welche die Erde um die Sonne macht.
Und endlich
erblickſt
Du oben das Stück eines großen Kreiſes, woſelbſt die
Zahlen
ein wenig verworrener unter einander ſtehen.
Dies
Stück
ſtellt den Teil des Himmelsgewölbes vor, wo man den
Lauf
der Venus ſehen wird.
Und nun ſind wir ſo weit, uns einmal den Lauf der Venus
anzuſehen
, erſtens wie er wirklich iſt, ſodann aber wie er am
Himmel
erſcheint, wenn während ihres Umlaufs die Erde
nicht
ſtille ſteht, ſondern auch noch ein Stück ihrer Bahn
zurücklegt
.
Die Bahn der Venus, wie ſie wirklich iſt, ſiehſt Du in
dem
kleinen Kreis, der ganz regelmäßig iſt.
Während
64016 Zeit, daß Venus von I nach II und III und IV herumgeht,
geht
die Erde auf ihrer Bahn von 1 nach 2 nach 3 und nach
4
.
In Wirklichkeit alſo iſt das alles ſehr einfach und regel-
mäßig
.
Allein, Du wirſt ſofort ſehen, wie verworren dies ein-
fache
Ding erſcheint.
40[Figure 40]Fig. 4.Himmelsbogen
Erdbahn
3 1 4 2 III IV S II I
Denke Dir, daß Venus dort ſteht, wo die römiſche Zahl I
ſteht
, und die Erde ſich zur ſelben Zeit da befindet, wo auf
dem
kleinen Bogen gleichfalls 1 verzeichnet iſt, ſo erblickt Dein
Auge
von der Erde aus Venus oben am Himmelsgewölbe an
der
Stelle, wo gleichfalls die Zahl 1 ſteht.
Nach einiger Zeit
iſt
die Erde auf dem untern Bogen das Stück von 1 nach 2
gegangen
, und in derſelben Zeit iſt Venus in ihrem Kreis
64117 I nach II gegangen. Nunmehr wird Dein Auge von der Erde
aus
Venus am Himmelsbogen dort ſehen, wo oben im großen
Bogen
die Zahl 2 ſteht.
Wenn Du Dir nun den Lauf der
Venus
merken willſt, ſo wirſt Du finden, daß ſie ſich am Himmel
von
der Linken zur Rechten bewegt hat.
Nun aber geht die
Erde
weiter von 2 nach 3, und auch Venus geht in ihrem
Kreiſe
von II nach III.
Willſt Du aber ſehen, wo Venus
jetzt
ſteht, ſo wirſt Du eine Linie ziehen müſſen von 3, wo die
Erde
ſteht, durch III, wo Venus ſteht, nach dem Himmels-
gewölbe
, und wie Du auf der Zeichnung ſehen kannſt, erſcheint
Venus
in dieſer Zeit am Himmelsbogen bei 3, das heißt, ſie
iſt
ſcheinbar, ſtatt wie früher von links nach rechts zu gehen,
in
2 ſtehen geblieben und fing dann an, immer ſchneller und
ſchneller
zurückzulaufen nach 1, bis ſie weit hinauskam über
dieſe
Stelle, wo ſie anfangs ſtand.
Sie befindet ſich jetzt oben
am
Himmelsbogen in 3, alſo links von 1 und eine tüchtige
Strecke
davon entfernt.
Sie hat alſo ſcheinbar erſt einen kleinen
Weg
nach rechts hin unter den Sternen gemacht, dann beſann
ſie
ſich und lief recht eilig wieder rückwärts ein großes Stück
nach
links hin.
Geht nun Venus weiter von III nach IV und die Erde
gleichzeitig
auch von 3 nach 4, ſo ſieht man von der Erde aus
Venus
am Himmelsbogen bei 4, alſo noch ein tüchtig Stück
weiter
nach links.
Wollten wir den wirklichen und ſchein-
baren
Lauf weiter verfolgen, ſo würden wir ſehen, daß Venus
alsbald
wieder in ihrem Lauf nach links hin inne hält und
zurückzulaufen
anfängt nach rechts, ſo daß ſie einen ganz
wunderlichen
Weg am Himmelsbogen unter den Fixſternen zu
nehmen
ſcheint, der auch nicht die entfernteſte Ähnlichkeit mit
einem
Kreis hat.
Und doch iſt Venus in Wirklichkeit in
einem
regelmäßigen Kreis gegangen, und die große Verworren-
heit
ihres Laufes iſt nur ſcheinbar und rührt nur daher, daß
die
Erde, der Standpunkt, von welchem aus wir ſie beobachten,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
64218
nicht ſtille ſteht, ſondern während der Zeit ebenfalls ein Stück
ihres
Umlaufs um die Sonne macht!
Vielleicht ahneſt Du nunmehr, wie ſchwierig es ſein mußte,
aus
einem ſolchen verworrenen Lauf es herauszukriegen, daß es
ein
wirklicher einfacher Kreislauf ſei, daß ſeine Verwirrung
41[Figure 41]Fig. 5.Bahn des Staurn
Bahn
des Jupiter
Sonnenbabn
Erde
nur ſcheinbar ſei, und nur daher rühre, daß die Erde ſelber
ein
Planet iſt, der um die Sonne geht.
Lange Zeit hielt man
daher
auch die verzwickten Bahnen, welche die Planeten nur
ſcheinbar durchlaufen, für thatſächlich vorhandene und glaubte,
daß
z.
B. Jupiter und Saturn ſolche Schnörkel beſchrieben,
wie
Fig.
5 zeigt, während man ſich bei den noch wunder-
licheren
Bewegungen der näheren Planeten überhaupt nicht
64319 helfen wußte. Und alle dieſe Schwierigkeit hat ein deutſcher
Denker
, Nikolaus Kopernicus, gelöſt, der trotz tauſendfacher
Vorurteile
und vorgefaßter Meinungen ſeines Zeitalters mit
ungeheurer
Klarheit das Richtige herausfand und den erſten
Anſtoß
gab, die Menſchheit aus dem Joch des trügeriſchen
Scheins
zu erlöſen und ſie auf die Bahn der wirklichen Wahr-
heit
zu führen!
Nicht umſonſt wurde die Lehre des Kopernicus von Rom
aus
gar eifrig verbannt, und nicht umſonſt feiern wir das
Andenken
dieſes großen Denkers, dieſes großen Erlöſers der
Menſchheit
!
V. Ein Beiſpiel von der Bewegung des Planeten
Mars.
Und nun, mein freundlicher Leſer, kann ich Dich noch
nicht
laſſen, ſondern ich muß Dich noch auf eine kurze Weile
in
Deiner merkwürdigen Stellung in der bewußten Doſe be-
laſſen
, denn ich habe Dir etwas zu zeigen, was hinter Deinem
Rücken
inzwiſchen vorgegangen iſt.
Du haſt bisher mit dem Geſicht zur Sonne gekehrt ge-
ſeſſen
und haſt den Lauf eines Planeten geſehen, der wie
Venus
der Sonne näher ſteht, als die Erde der Sonne nahe
iſt
.
Ich muß Dich umdrehen, das heißt, ich muß Dich mit
dem
Rücken zur Sonne ſetzen und Dir einmal zeigen, was Du
da
zu ſehen bekommſt.
Ein tüchtiges Stück hinter der Erde bewegen ſich noch eine
ganze
Maſſe von Planeten in großen Kreiſen um die Sonne
herum
.
Aber auch dieſe Kreiſe liegen nicht rechts und nicht
links
ab von den Bahnen der übrigen Planeten, ſondern auch
die
Bewegungen dieſer Planeten gehen in derſelben Ebene
64420 ſich. Auch hier brauchſt Du Dich nicht darum zu kümmern,
was
rechts oder links vorgeht, denn da iſt vom Sonnenſyſtem
nichts
zu ſehen;
es ſei denn, daß einmal ein Komet auge-
wandert
kommt, der dieſe Räume durchſchweift.
Du brauchſt
nur
immer in der Linie geradeaus zu blicken, und da wirſt Du
ſchon
auf Planeten ſtoßen, die Dein Auge feſſeln werden.
Von der Sonne aus gezählt iſt die Erde der dritte Planet;
der vierte, alſo der erſte Planet, der hinter der Erde die Sonne
umläuft
, iſt Mars.
Er iſt etwa anderthalb mal ſo weit ent-
fernt
von der Sonne als die Erde.
Sein Lauf geht auch in
derſelben
Richtung um die Sonne, wie der jedes andern
Planeten
.
Das heißt: Wenn z. B. Sonne, Erde und Mars
in
einer Linie hintereinander ſtehen, ſo bewegen ſich Erde und
Mars
nicht etwa ſo, daß der eine aufwärts geht, während der an-
dere
nach unten ſeinen Lauf nimmt, ſondern ſie gehen beide
nach
einer und derſelben Gegend hin.
Die Erde freilich in
einem
kleinern, Mars in einem größern Kreis, die Erde durch-
läuft
ihren Kreis in 365 Tagen, während Mars faſt noch ein-
mal
ſo viel Zeit braucht, nämlich 686 Tage, ehe er herum und
auf
dieſelbe Stelle kommt, wo er ſeinen Kreis vollendet.
Wir wollen nun einmal die Erſcheinung ſeines Laufes
etwas
näher kennen lernen.
Nehmen wir an, Du haſt jetzt die Sonne gerade im Rücken
hinter
Dir, und vor Dir ſteht Mars, ſo iſt dies eine Stellung,
in
welcher Du Venus niemals geſehen haſt und niemals ſehen
wirſt
.
In dieſer Stellung ſteht Mars gerade der Sonne ent-
gegengeſetzt
.
Wenn Du die Sonne hinter Dir haſt, ſo haſt Du
Mars
vor Dir;
wenn Du Dich umkehrſt, ſo haſt Du die
Sonne
vor Dir und Mars hinter Dir.
Man nenut dieſe
Stellung
die Oppoſition oder den Gegenſchein.
Das
will
ſoviel ſagen, Mars ſteht in Oppoſition mit der Sonne,
der
eine ſteht vorne, wenn der andere hinten ſteht, oder er iſt
im
Gegenſchein, das heißt, wenn das Licht des einen
64521 Beobachter ins Geſicht ſcheint, ſo fällt das Licht des andern
auf
den Rücken des Beobachters.
Nun beginnt Mars ſeinen Lauf, während gleichzeitig auch
die
Erde um die Sonne läuft.
Obgleich nun der Lauf des
Mars
wiederum ein Kreis iſt, ſo wird er dennoch durch die
Bewegung
der Erde ſo verworren, daß der Kreis noch ſchwie-
42[Figure 42]Fig. 6.Himmelsbogen
Marsbahn
4 3 2 5 1 5 4 3 2 1 III IV S II V I
riger aus der Erſcheinung
zu
erkennen iſt, als der
Kreis
der Venus;
nament-
lich
wenn Mars etwa ſeinen
halben
Weg zurückgelegt hat
und
jetzt ſich von der Erde
aus
geſehen ſcheinbar in der
Nähe
der Sonne befindet.
Wenn es mir gelungen
iſt
, Dir die obige Zeich-
nung
vom Lauf der Venus
verſtändlich
zu machen, ſo
wird
Dir die nebenſtehende
Zeichnung
vom Lauf des
Mars
ſehr leicht verſtänd-
lich
ſein.
Denken wir uns wieder
in
der nebenſtehenden Zeich-
nung
(Fig.
6) S als die
Sonne
.
Der Kreis, der mit den römiſchen Zahlen I bis V
bezeichnet
iſt, ſoll der Kreis ſein, in dem die Erde um die
Sonne
läuft.
Der über dem Kreis ſtehende kleine Bogen, in
welchem
die Zahlen von 1 bis 5 ſich befinden, mag ein Stück
der
Bahn bezeichnen, die Mars in ſeinem Umlauf um die
Sonne
macht, während der obere Bogen, wo die Zahlen in ver-
worrener
Ordnung ſtehen, den Himmelsraum vorſtellen mag, in
welchem
Mars ſcheinbar zwiſchen den Fixſternen umherwandelt.
64622
Setzen wir nun den Fall, daß die Erde ſich in ihrer
Kreisbahn
befindet, wo die römiſche Zahl I iſt, und Mars
ſich
auf ſeiner Bahn dort befindet, wo die gewöhnliche Zahl 1
ſteht
, ſo wird Dein Auge, wenn Du Dich auf der Erde be-
findeſt
, den Mars oben am Himmelsbogen erblicken, dort
wo
die Zahl 1 ſteht.
Nun geht die Erde von I nach II,
und
Mars geht in derſelben Zeit von 1 nach 2.
Wenn Du
nun
nach Mars ſuchſt, ſo wirſt Du ihn am Himmelsbogen
in
der geraden Linie finden, die oben mit 2 bezeichnet iſt.
Alſo Du wirſt daraus ſchließen, daß Mars in der Zwiſchen-
zeit
am Himmel den Weg von 1 nach 2 zurückgelegt hat, er
iſt
alſo von rechts nach links gegangen.
Wenn Du nun wieder
eine
Zeit warteſt und Mars aufſuchſt, ſo iſt inzwiſchen die
Erde
von II nach III und Mars in ſeiner Bahn von 2 nach
3
gegangen;
allein er wird unter den Fixſternen einen ganz
ſonderbaren
Weg gemacht haben, denn Du wirſt ihn am
Himmelsbogen
bei 3 ſehen, alſo mußt Du ſchließen, er ſei
während
der Zeit zurückgelaufen, das heißt, er habe in 2 inne
gehalten
und ſei rechts gelaufen, um wieder nach 1 zurück-
zukehren
.
Nach einiger Zeit ſuchſt Du wiederum Mars auf.
Die
Erde iſt aber inzwiſchen von III nach IV und auch Mars
iſt
in ſeiner wirklichen Bahn von 3 nach 4 gegangen.
Nun
ſiehſt
Du wieder Mars am Himmelsbogen, wie er in 3 auf-
gehört
hat, rechts zu gehen und in der ganzen Zeit ſich äußerſt
langſam
das kleine Stückchen von 3 nach 4 und zwar wieder
links
bewegt hat.
Endlich willſt Du nach einiger Zeit wiederum
nachſehen
, wo Mars jetzt ſteht, da iſt inzwiſchen die Erde von
IV
nach V und auch Mars in der wirklichen Bahn von 4 nach
5
gegangen, und Du nimmſt nun wahr, daß Mars am Himmels-
bogen
wieder mit einem Male einen ganz gewaltigen Lauf
von
4 nach 5 gemacht hat, und zwar in derſelben Zeit, in
welcher
er früher das kleine Stückchen von 3 nach 4 durch-
lief
.
64723
Gewiß wird nun jedermann einſehen, daß der wirkliche
Weg
, den Mars hier lief, ein ſehr regelmäßiger Weg auf
ſeiner
Bahn geweſen iſt, daß aber durch die Bewegung der
Erde
eine ſcheinbare Unregelmäßigkeit in dieſer Bewegung
hervortritt
, ein bald ſchnellerer, bald langſamerer, ein bald
rechts
, bald links liegender Weg, der denjenigen Zeitaltern,
die
es nicht ahnten, daß ſie ſich mitſamt der Erde um die Sonne
bewegen
, auch die Wege aller anderen Planeten rein unerklär-
lich
machen mußte.
Und auch hier war es Nikolans Koperni-
cus
, deſſen großer Geiſt dieſes Dunkel lichtete und der Menſch-
heit
die Lehre gab, zwiſchen Schein und Wahrheit zu unter-
ſcheiden
.
Somit, mein verehrter Leſer, habe ich Dir erſtens die
Lage
, zweitens die wirkliche Bewegung, drittens die Schein-
bewegung
eines Planeten gezeigt, der wie Venus nicht ſo weit
ab
von der Sonne ſteht, als die Erde.
Sodann habe ich Dir
die
Lage, die wirkliche und die Scheinbewegung eines Planeten
gezeigt
, der, wie Mars, von der Sonne noch entfernter iſt, als
die
Erde.
Wenn es mir gelungen iſt, all’ das Geſagte Dir
recht
deutlich und anſchaulich zu machen, ſo wirſt Du Dir von
der
Lage des ganzen Sonnenſyſtems ſehr leicht eine richtige
Grundanſchauung
verſchaffen können.
VI. Die Bewegungen von Weſt nach Oſt.
Wir wollen ſofort zu dieſer Geſamtüberſicht kommen, ſo-
bald
ich Dir nur noch eine Thatſache mitgeteilt haben werde.
Die Sonne ſelbſt, die in der Mitte all’ der Kreiſe ihrer
Planeten
ſteht, macht eine Bewegung um ſich ſelber.
Man
nennt
das im gewöhnlichen Sinne:
ſie dreht ſich um
64824 Axe. Das heißt, man ſtellt ſich das ſo vor, als ob mitten
durch
die große Sonnenkugel, gerade vom Nord- zum Süd-
pol
eine Stange durchgeſteckt wäre, wie man etwa eine Strick-
nadel
durch einen Apfel durchſteckt.
Nimmt man nun die
beiden
Enden der Stricknadel in beide Hände und dreht dieſe
zwiſchen
den Fingern, ohne die Hände ſelber fortzubewegen,
ſo
wird die Oberfläche des Apfels ebenfalls eine Drehung
machen
, und dieſe Art der Drehung neunt man eine Drehung
um
ſich ſelber, oder um ſeine eigene Axe, oder mit dem wiſſen-
ſchaftlichen
Ausdruck, eine Rotation.
Wenn man aber auch weiß, daß die Sonne ſolch eine
Drehung
macht und das weiß wohl ſchon jeder Schul-
knabe
, ſo kommt es doch hauptſächlich für eine richtige
Grundanſchauung
vom Sonnenſyſtem darauf an, daß man es
ſich
deutlich mache, in welcher Richtung und in welcher Ebene
dieſe
Drehung vor ſich geht?
Stelle Dir nur noch einmal recht lebhaft vor Augen, daß
ſämtliche
Planeten in Kreiſen um die Sonne gehen, daß ſämt-
liche
Kreiſe faſt in einer und derſelben Ebene liegen, ſo daß,
wie
wir ja bereits wiſſen, ſämtliche Kreiſe der Planeten in eine
flache
Doſe eingeſperrt werden können.
Ferner verliere es nicht
aus
den Augen, daß ſämtliche Planeten ſich ſtets in gleicher
Richtung
bewegen;
das heißt, daß ſich niemals zwei Planeten
begegnen
, indem der eine her- und der andere hingeht, ſondern
daß
ſie, wie die Zeiger einer Uhr ſtets nach gleicher Gegend
hin
in Bewegung ſind.
Und nun denke Dir die Sonne in
der
Mitte dieſer Kreiſe, die eine Drehung um ſich ſelber, oder,
wie
man es gewöhnlich ſagt, um ihre Axe macht, und es wird
Dir
leichter verſtändlich ſein, wenn ich Dir ſage, daß auch
dieſe
Drehung der Sonnenkugel um ſich ſelber in derſelben
Richtung
und in derſelben Ebene erfolgt, wie die Umläufe und
Bewegungen
der Planeten.
Um ganz ſicher zu ſein, daß wir uns nicht
64925 ſo bitte ich Dich, daß Du Dich wieder in jene merkwürdige
Doſe
verſetzeſt, worin das Sonnenſyſtem eingeſperrt werden
kann
, und meinetwegen magſt Du jetzt Deinen Standpunkt,
der
Abwechſelung wegen, auf Merkur nehmen, der der nächſte
Planet
iſt an der Sonne.
Von dort wirſt Du an dunkeln
Flecken
, die ſich oft auf der Oberfläche der Sonne bilden, be-
merken
, daß die Sonnenoberfläche eine Umdrehung macht, ganz
ſo
, als ob ſie auf einer Axe beweglich wäre, und zwar geht
die
Bewegung eben ſo wenig, wie die der Planeten von rechts
nach
links, oder von links nach rechts, ſondern die Kugel wälzt
ſich
um ſich ſelber herum;
und die Drehung ſelber erfolgt ſo,
daß
ein Punkt auf der Oberfläche der Kugel nicht dem Lauf
des
Merkur entgegen kommt, ſondern ſich nach gleicher
Gegend
hin bewegt.
Man kann alſo ſagen: Die Planeten bewegen ſich um die
Sonne
in gleicher Richtung und in gleicher Ebene, wie die
Sonne
ſelber ſich um die Axe dreht.
Nun aber wiſſen wir auch, daß die Planeten ſich gleich-
falls
um ihre Axen drehen.
Auch hier kann die Lage der
Axen
und alſo auch die Drehung in ſehr verſchiedener Richtung
und
in Ebenen vor ſich gehen, die von der Richtung und der
Ebene
der Sonnenumdrehung oder der Lage und Richtung der
Planetenumläufe
verſchieden iſt.
Allein auch dies iſt nicht
der
Fall.
So weit man die Umdrehung der Planeten um ihre Axe
mit
Sicherheit beobachtet hat, iſt dieſe faſt immer ein wahres
Abbild
von der Umdrehung der Sonne.
Da wir nun bis zur Umdrehung der Planeten um ihre
Axe
gekommen ſind und auch alle Welt weiß, daß die Erde
ein
Planet iſt, und außer ihrem Umlauf um die Sonne in
365
Tagen noch in 24 Stunden eine Umdrehung um ihre Axe
macht
, ſo können wir jetzt einen beſtimmten Ausdruck für die
Richtung
und die Ebene aller Bewegungen im
65026 finden, wenn wir einen kurzen Blick auf die Umdrehung der
Erde
um ihre Axe werfen.
Wenn man ſich die Gegend merkt, wo die Sonne im
Herbſt
oder im Frühjahr aufgeht und ſich mit dem Geſicht
nach
dieſer Gegend hinſtellt, ſo hat man vor ſich die Himmels-
gegend
, die man Oſten nennt;
im Rücken hat man dann
Weſten
, oder die Gegend, wo die Sonne untergeht;
zur Rechten
hat
man Süden, und zur Linken hat man dann Norden.
Scheinbar macht die ganze Himmelskugel ſamt allen
Sternen
in 24 Stunden eine Bewegung um eine Axe, die von
Norden
nach Süden geht, und zwar ſieht dieſe Bewegung ſo
aus
, als ob ſich die Himmelskugel von Oſten nach Weſten
drehen
würde.
Allein, es iſt ſchon allbekannt, daß dies nur
ein
trügeriſcher Schein iſt und daher rührt, daß die Erde ſelber
eine
Umdrehung in umgekehrter Richtung macht, das heißt, daß
ſie
ſich, wie alle andern Planeten um ihre Axe dreht, und zwar
in
umgekehrter Richtung, wie die ſcheinbare der Himmelskugel.
Die Erde dreht ſich in 24 Stunden von Weſten nach Oſten.
Hältſt Du nun, mein verehrter Leſer, dieſe eine Thatſache
feſt
, ſo haſt Du eine untrügliche Grundlage, um Dir ein Bild
vom
ganzen Sonnenſyſtem zu verſchaffen, wie es für den An-
fang
vollkommen ausreichend iſt;
und dieſes nahezu richtige
Bild
für den Anfang iſt in allen Dingen die Hauptſache.
Du brauchſt eben nur den ganz leicht faßlichen Gedanken
feſtzuhalten
, daß hauptſächlich alle Bewegungen, die im Sonnen-
ſyſtem
vorkommen, in ihrer Richtung und Ebene nahe ſo ſind,
wie
die Richtung und Ebene der Erdumdrehung, das heißt,
von Weſt nach Oſt, und dies allein genügt, um mannigfache
Irrtümer
zu beſeitigen und ſich auch am wirklichen Himmel
ein
wenig zurechtzufinden.
Und nun wollen wir zu der Geſamtüberſicht des Sonnen-
ſyſtems
kommen, denn es wird uns jetzt äußerſt leicht und
überſichtlich
werden.
65127
VII. Verſuch einer Geſamtüberſicht.
Denke Dir in dem unendlichen Weltranm eine grade Weſt-
Oſt-Linie
gezogen.
Den Raum, der über dieſer Linie liegt,
wollen
wir mit oben bezeichnen;
den Raum, der unter der
Linie
liegt, wollen wir mit unten bezeichnen.
Und nun ſtelle
Dir
in der Mitte dieſes ungeheuren, leeren Raumes die
Sonnenkugel
vor, die einen Durchmeſſer von 185 000 Meilen hat.
Denke Dir, daß dieſe Sonnenkugel für den erſten Augen-
blick
ruht, und daß ſie dann erſt ihre Umwälzung um ihre Axe
beginnt
.
So lange ſie ruht, wird ein Punkt der Kugel nach
Weſt
hinblicken, ein Punkt nach Oſt, ein Punkt nach oben, ein
Punkt
nach unten, ein Punkt nach Norden, ein Punkt nach
Süden
, auf den Du grade hinblicken magſt, ſo daß er für Dich
ſcheinbar
im Mittelpunkt der Sonne liegt.
Soll dieſe nun ihre Umwälzung beginnen, ſo ſtelle Dir vor,
daß
der weſtliche Punkt der Oberfläche nach oben hin ſich be-
wegt
, der öſtlichſte wird ſich dann nach unten hin bewegen.
Bald wird der Punkt, der früher im Weſten war, ganz oben
und
der öſtliche wird ſodann ganz unten liegen.
Alsdann geht
der
ehemals weſtliche Punkt immer weiter nach unten, bis er
die
unterſte Stelle einnimmt, durch dieſe hindurch geht und
wieder
dort ankommt, wo er beim Anfang der Bewegung ge-
weſen
war.
Dies iſt eine Umdrehung oder eine Rotation der Sonne,
und
dies nennt man eine Umdrehung von Weſt nach Oſt, ob-
gleich
ſich ja gleichzeitig der Punkt, der im Oſten liegt, ſtets
unten herum nach Weſt begiebt.
Wenn man daher von
einer
Umdrehung von Weſt nach Oſt ſpricht, ſo muß man ſich
ja
nicht irre machen und ſtets dabei die Vorſtellung feſt
halten
, daß dies ſo viel ſagen will:
wie von Weſt nach Oſt
oben herum, wenn Du Dich gegenüber dem Südpol befindeſt.
65228
Dieſe Umdrehung geſchieht bei der Sonne fort und fort,
ohue
Unterlaß, und zwar um eine gedachte Axe;
und dieſe Axe
liegt
in ihrer Richtung von Nord nach Süd.
Eine einmalige
Umdrehung
dauert 25 Tage, weshalb wir denn durch Fern-
röhre
, vor die man ein geſchwärztes Glas anbringt, damit
man
in die Sonne hineinſehen kann, etwaige Sonnenflecke um
die
Sonnenkugel herum wandern ſehen können, und wenn ein
Fleck
ſich nicht ſehr verändert hat, ſo wird man ihn nach
25
Tagen an derſelben Stelle der Sonnenkugel ſehen, wo man
ihn
früher geſehen hat.
Der nächſte Planet zur
43[Figure 43]Fig. 7.C E M B A D Sonne heißt Merkur.
Er iſt
etwa
7 {1/2} Millionen Meilen
von
der Sonne entfernt und
hat
einen Durchmeſſer von
nur
600 Meilen.
Denken wir
uns
vorerſt, daß dieſer Planet
im
Weſten der Sonne ſteht,
das
heißt, daß er noch weiter
nach
Weſt ſteht, als die Sonne.
Um alle Irrungen zu meiden,
wollen
wir uns auch dieſen
Planeten
vorerſt in abſoluter Ruhe denken und uns vorſtellen,
er
beginne ſich um ſeine Axe zu drehen, ehe er noch um die
Sonne
ſeinen Kreis macht.
Es iſt dies nun ſehr leicht.
Merkurs
Umdrehung um ſeine Axe iſt ganz ſo wie die Axen-
drehung
der Sonne.
Sie erfolgt auch von Weſt nach Oſt
oben herum, und die Axe ſeiner Drehung liegt ungefähr mit
der
Sonnenaxe in ganz gleicher Lage.
Er vollendet ſeine Um-
drehung
in etwa 24 Stunden.
Und ſo ſich um ſeine Axe
drehend
, ſo mögen wir uns denken, daß er ſeinen Lauf be-
ginnt
um die Sonne.
Er erhebt ſich nun von ſeinem Stand-
punkt
im Weſten und geht oben herum in einem Bogen
65329 Oſten, um von unten herum wieder von Oſten nach Weſten zu
kommen
.
Dieſen Umlauf um die Sonne vollendet er in
88
Tagen.
Er macht alſo zwei Bewegungen, eine um ſeine
Axe
und eine um die Sonne;
aber beide Bewegungen ſtören
weder
einander, noch befördern ſie einander, denn ſie würden
in
dem einen oder dem andern Falle nicht gleichmäßig fort-
dauern
können.
Ich habe oben davon
44[Figure 44]Fig. 8.A P M N B O D geſprochen, daß die Bewe-
gung
der Planeten um die
Sonne
in Kreiſen geſchähe.
Das iſt an ſich nicht richtig,
denn
die Bahn eines Pla-
neten
um die Sonne iſt eine
Ellipſe
, und ich darf jetzt
dies
nicht unerwähnt laſſen,
da
Merkur grade zu den
Planeten
gehört, deren Bahn
am
meiſten von einem Kreis
abweicht
.
Eine Ellipſe iſt
ein
nach einer Richtung etwas
in
die Länge gezogener, alſo
etwa
ein eiförmiger Kreis,
wie
Du ihn erhältſt, wenn
Du
in Fig.
8 den Kegel A B D
in
der Richtung M N durch-
ſchneideſt
.
Bei den Plancten iſt die Abweichung vom Kreis nur
eine
außerordentlich geringe, wie etwa in Fig.
7 die Abweichung
der
punktierten Linie vom Kreiſe A B C.
Daher iſt es für den
Anfang
, wo man ſich nur eine richtige Anſchauung verſchaffen
will
, beſſer, wenn man die Abweichung einer Ellipſe vom
Kreis
ganz außer acht läßt, zumal ſich das genaue Weſen der
Ellipſe
nicht leicht allgemein verſtändlich wiedergeben läßt.
65430
Ganz ſo wie man ſich Merkurs Umdrehung um ſeine Axe
und
ſeinen Umlauf um die Sonne vorſtellt, ganz ſo hat man
es
ſich bei dem von der Sonne aus zweiten Planeten, bei
Venus
, zu denken.
Venus iſt 15 Millionen Meilen von der
Sonne
entfernt.
Sie bewegt ſich um ihre Axe in 23 Stunden.
Außer dieſer Bewegung macht ſie noch einen Umlauf um die
Sonne
in einem faſt gleichförmigen Kreiſe, und zwar dauert
dieſe
Umlaufszeit 224 Tage.
Der Durchmeſſer von Venus iſt
faſt
dem Durchmeſſer der Erde gleich und beträgt nahe an
1650
Meilen.
Die Richtung ihres Umlaufs iſt gleichfalls von
Weſt
nach Oſt oben herum.
VIII. Die Erde und der Mond.
In einer noch weitern Entfernung von der Sonne bewegt
ſich
die Erde um dieſelbe.
Sie iſt an 20 Millionen Meilen
von
der Sonne entfernt und macht ihren Umlauf in 365 Tagen
und
ungefähr 6 Stunden.
Von dieſer Umlaufszeit hängt die
Dauer
unſeres Jahres ab, und da man nicht in der Mitte emes
Tages
ein neues Jahr beginnen mag, ſo hat man die Über-
einkunft
getroffen, die 6 Stunden gewöhnlich unberückſichtigt
zu
laſſen und dafür alle vier Jahre, wo die aufgeſammelten
6
Stunden aus jedem Jahr faſt genau 24 Stunden betragen,
ein
Jahr von 366 Tagen zu zählen.
Dieſer 366 ſte Tag iſt der
eingeſchaltete
29.
Februar, nach welchem das Jahr ein Schalt-
jahr
genannt wird.
Außer dieſer Bewegung macht die Erde gleichfalls eine
Umdrehung
um ſich ſelber oder um ihre Axe;
durch dieſe Um-
drehung
geſchieht es, daß abwechſelnd bald die eine, bald die
andere
Seite der Erdkugel der Sonne zugekehrt iſt,
65531 Tag und Nacht entſteht. Die ganze Umdrehungszeit hat man
in
24 Stunden eingeteilt, ſo daß eine Stunde nichts weiter
bedeutet
, als daß die Erde ein Vierundzwanzigſtel ihrer Um-
drehung
vollendet hat.
Auch beim Umlauf der Erde um die Sonne und der Um-
45[Figure 45]Fig. 9.Z D N b N a Q S’ L’ B Q’ D H V R N’ Z T W drehung der Erde um ihre eigene Axe gilt das allgemeine Ge-
ſetz
, daß die Bewegungen von Weſt nach Oſt oben herum ge-
ſchehen
.
Allein ganz genau iſt dieſes nicht der Fall, ſondern
wenn
wir uns die Bahn der Erde um die Sonne als eine
Ebene
denken, ſo liegt die zweite Ebene, welche ſämtliche Punkte
der
Erdoberfläche in ihrer Umwälzung um die Erdaxe machen,
in
einer geneigten Lage zu jener erſten Ebene, wodurch die
65632 der Erde herrſchenden Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbſt
und
Winter entſtehen.
Die Größe dieſer Neigung zeigt die
nachgebildete
Erdkugel in Fig.
9.
Indem es mir in dieſem Aufſatz nur darum zu thun iſt,
ein
überſichtliches Bild von dem geſamten Sonnenſyſtem zu
geben
, bitte ich Dich, mein verehrter Leſer, für jetzt von dieſer
eben
erwähnten Abweichung abzuſehen, um für jetzt nur noch
einen
Moment bei der Erde zu verweilen und eine neue Er-
ſcheinung
hier vorzuführen.
Die Erde wird in ihrem Umlauf um die Sonne von einem
Himmelskörper
begleitet, der ſcheinbar ſo groß iſt wie die
Sonne
ſelber.
Dies iſt der Mond. Allein ſeine ſcheinbare
Größe
wird nur durch ſeine verhältnismäßige Nähe veranlaßt.
Er iſt 51 800 Meilen von der Erde entfernt, iſt alſo faſt
viertauſendmal
der Erde näher, als es die Sonne iſt.
Er
iſt
in einem fortwährenden Umlauf um die Erde begriffen
und
vollendet dieſen Umlauf, wenn man ſich die Erde in-
zwiſchen
ſtillſtehend denkt, in 27 Tagen.
Allein er iſt auch
zugleich
der Begleiter der Erde, er läuft mit der Erde um die
Sonne
;
und da während der 27 Tage die Erde ein Stück in
ihrer
Bahn um die Sonne gegangen iſt, ſo dauert es länger
als
27 Tage, ehe der Mond wieder dieſelbe Stellung zur Erde
und
zur Sonne einnimmt, die er vorher eingenommen hatte.

Er
muß gewiſſermaßen in jedem Augenblick der Erde in ihrer
Bahn
nachlaufen, wodurch ſeine Umlaufszeit um mehr als zwei
Tage
verläugert wird, ſo daß er erſt in 29 und einem halben
Tag
dieſelbe Stellung zur Erde und Sonne einnimmt, die er
vor
ſeinem letzten Umlauf eingenommen hatte.
Man kann ſich hiervon eine richtige Vorſtellung machen,
wenn
man ſich denkt, daß eine Lokomotive, die im Fahren
begriffen
iſt, von einer Weſpe, die bekanntlich außerordentlich
ſchnell
fliegen kann, umkreiſt wird.
Die Weſpe wird offenbar
weit
mehr Zeit brauchen, um die Lokomotive herum
65733 kommen, wenn dieſe ſehr ſchnell fährt, als wenn ſie langſam
fährt
oder gar ſtill ſteht.
Denn ſo oft ſie hinten an der Lo-
komotive
iſt, muß ſie nicht nur das Stück vom Hinterteil der
Lokomotive
nach dem Vorderteil fliegen, ſondern ſobald die
Lokomotive
im Fahren begriffen iſt, hat ſie außerdem noch
einen
beſondern Flug zu machen, der gleich iſt dem Lauf der
Lokomotive
.
Es iſt wohl nun Jedem klar, daß die Weſpe
deshalb
eine längere Zeit braucht, um herum zu kommen, als
wenn
die Lokomotive langſamer geht oder gar ſtill ſteht.
IX. Merkwürdiger Lauf des Mondes.
Dieſes Beiſpiel iſt vollkommen ausreichend und auch zu-
treffend
, um die angeführte Verzögerung der Umlaufszeit des
Mondes
ſich deutlich zu machen.
Ich muß aber noch einen
Augenblick
bei dieſem Beiſpiel verweilen, weil es geeignet iſt,
die
merkwürdige Bahn, die der Mond macht, der Anſchauung
näher
zu bringen.
Stelle Dir nun einmal die Lokomotive vor, wie ſie im
Fahren
begriffen iſt, und die Weſpe, die ſie umkreiſt, ſo wirſt
Du
ſofort merken, daß es ein ganz wunderlicher Weg iſt, den
ſie
wirklich fliegt.
Denken wir uns, die Wespe befindet ſich jetzt vorne vor
dem
Schornſtein, und ſie will nun nach dem Hinterteil der
Lokomotive
, ſo iſt es klar, daß ſie ſich gar nicht anzuſtrengen
braucht
.
Sie wird nur ein wenig zur Seite fliegen und die
Lokomotive
wird vor ihr vorbei eilen, wodurch die Weſpe ſich
von
ſelber am Hinterraum der Lokomotive befindet.
Jetzt
freilich
muß ſie ſich beeilen.
Sie muß von der einen Seite
ſchnell
hinüberfliegen zur andern und dabei zugleich der Loko-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
65834
motive nacheilen, ja ihr voranjagen, um wieder vor den Schorn-
ſtein
zu kommen und ihren Rundflug zu vollenden.
Stellen wir uns nun den Lokomotivführer vor, der die
Weſpe
beobachtet und ſich vielleicht wundert, wie ſo ein
kleines
Weſen noch beſſer von der Natur mit Bewegungskraft
ausgeſtattet
iſt als die hohe Menſchenkunſt ſeine Maſchine aus-
ſtatten
konnte, der Lokomotivführer wird in dem Flug der
Weſpe
einen wirklichen, länglichen Kreis ſehen, denn er hat ſie
von
der einen Seite nach hinten und dann von der andern nach
vorn
fliegen, alſo in Bezug auf ſeinen Standpunkt einen läng-
lichen
Kreis machen ſehen.
Dahingegen wird jemand, der nicht
auf
der Lokomotive, ſondern ruhig neben der Bahn ſteht, den
Flug
der Weſpe ganz anders ſehen.
Denn er wird bemerken,
daß
die Weſpe eigentlich niemals zurückgeflogen ſei, ſondern nur
die
Lokomotive ſich von der einen Seite vorüber eilen ließ und
nur
auf der andern Seite der Lokomotive voranzueilen ſuchte.
Ganz in ähnlicher Weiſe verhält es ſich mit dem Umlauf
des
Mondes um die Erde, während ſich die Erde um die
Sonne
bewegt.
In der That, von irgend einem Punkt des
Weltraumes
aus betrachtet, ſieht man die Bahn des Mondes
als
keinen geſchloſſenen, ſondern als einen weitgeöffneten Kreis,
eine
Bahn, die man Cykloide nennt.
Eine Art von Sprung-
linie
, die ſich auf der Linie der Erdbahn wie Figur 10 aus-
nimmt
.
46[Figure 46]Fig. 10.I 1 IV 4 III 3 2 II 1 I IV 4 III 3 2 II 1 I
Will man ſich alſo die Bewegung des Mondes im Sonnen-
ſyſtem
mit der gleichzeitigen Bewegung der Erde vorſtellen, ſo
hat
man ſich zu denken, daß der Mond in jedem Monat
65935 29 {1/2} Tag eine Art Sprung in jenem hier aufgezeichneten
Halbbogen
von der römiſchen Zahl I nach der nächſten römi-
ſchen
Zahl I macht, während zu gleicher Zeit die Erde in
ihrer
einfachen Bahn, wo die gewöhnlichen Zahlen ſtehen, von
1
nach 1 geht.
Für Denjenigen, der ſich die näheren Umſtände
dieſes
merkwürdigen Laufes anſchaulich machen will, habe ich
die
Zahlen 2, 3 und 4 und II, III, IV in beiden Bahnlinien
hingeſtellt
, die andeuten, daß ſich die Erde immer im Punkt,
wo
die gewöhnliche Zahl iſt, befindet, wenn der Mond in der
Stelle
ſeiner Sprungbahn iſt, wo die gleiche römiſche Zahl
ſteht
.
Hieraus aber leuchtet ſchon ein, daß auch der Mond
im
Lauf nach Oſten begriffen iſt, und die Beobachtung lehrt,
daß
dieſer Lauf faſt in derſelben Ebene liegt, wie der Lauf
der
Erde ſelber.
X. Von Mars und den kleinen Planeten.
Entfernter als die Erde von der Sonne iſt Mars (Fig. 11)
von
dieſer.
In einem Abſtand von 30 Millionen Meilen bewegt
ſich
Mars in einer ziemlich länglichen Bahn um die Sonne,
und
außerdem hat er gleichfalls eine Bewegung um ſich ſelbſt.
Den Umlauf um die Sonne vollendet er in 687 Tagen,
während
er die Umwälzung um ſeine Axe in etwas mehr als
24
Stunden macht.
Beide Bewegungen aber, ſowohl die um
ſeine
Axe als die um die Sonne geſchehen zwar nicht in einer
und
derſelben Ebene, aber trotzdem tritt auch hier entſchieden
der
Charakter der Bewegung als der des ganzen Sonnen-
ſyſtems
hervor, denn ſie ſind beide, wie wir ſie bereits oben
näher
bezeichnet haben, von Weſt nach Oſt oben herum.
Bis Ende des vorigen Jahrhunderts war der Planet
Jupiter
als der nächſte angeſehen, der hinter Mars die Sonne
umkreiſt
.
Allein die Wahrnehmung, daß zwiſchen Mars
66036 Jupiter ein verhältnismäßig weit größerer Zwiſchenraum iſt, als
man
ihn nach den Abſtänden der andern Planeten von einander
vermuten
ſollte, hat es vielen Denkern wahrſcheinlich gemacht,
47[Figure 47]Fig. 11.Mars.
Süd
Nord
daß zwiſchen Mars und Jupiter noch ein Planet vorhanden
ſei
.
Dieſe Vermutung, obgleich ſie auf keinem wiſſenſchaft-
lichen
, klaren Grund beruhete, hat ſich glänzend beſtätigt.
66137
Am 1. Januar 1801, in der erſten Nacht dieſes Jahr-
hunderts
, wurde ein kleiner Planet entdeckt, der in ſeiner Ent-
fernung
dort etwa ſteht, wo man den Planeten vermutete.
Seiner Kleinheit wegen war er bis dahin überſehen worden,
als
man aber erſt ſeine Aufmerkſamkeit auf dieſe Lücke richtete,
entdeckten
die Aſtronomen bald in den darauf folgenden Jahren
noch
drei andere kleine Planeten, die in nahe gleicher Ent-
fernung
von der Sonne ihren Umlauf um dieſelbe machen.

So
kannte man denn von 1807 bis 1845 vier kleine Planeten,
die
hinter Mars ihre Bahn haben.
Von dieſem Jahre ab
und
bis zum Jahre 1898 ſind aber in dieſer Gegend des
Sonnenſyſtems
alljährlich neue Planeten entdeckt worden, ſo daß
eine
große Zahl kleiner Himmelskörper bekannt iſt, welche
in
wenig abweichender Entfernung von der Sonne ihren
Umlauf
um dieſelbe vollenden.
Merkwürdiger Weiſe war man
ſehr
galant gegen dieſe neuen Gäſte;
während man bisher nur
einem
Planeten, der ganz beſonders ſchön leuchtet, einen weib-
lichen
Namen, den Namen der griechiſchen Liebesgöttin:
Venus
gegeben
hatte, erhielten die bisher neu entdeckten 400 kleinen
Planeten
weibliche Namen, ſo daß den Namen nach eine Art
Weiberwirtſchaft
im Sonnenſyſtem herrſcht.
Wir wollen uns begnügen, hier die Namen der erſten
24
herzuſetzen, und zwar der Reihe nach, wie ſie in den Ent-
fernungen
von der Sonne ſtehen.
Sie heißen: 1) Flora;
2) Melpomene; 3) Victoria; 4) Veſta; 5) Iris; 6) Metis;
7
) Hebe;
8) Parthenope; 9) Fortuna; 10) Maſſalia; 11) Lutetia;
12
) Thetis;
13) Egeria; 14) Aſträa; 15) Irene; 16) Eunomia;
17
) Thalia;
18) Juno; 19) Ceres; 20) Pallas; 21) Calliope;
22
) Pſyche;
23) Hygiea; 24) Phocäa u. ſ. w. Sie ſind ſämt-
lich
von ſo kleinem Durchmeſſer, daß man ihre Größe nicht
mit
Sicherheit hat beſtimmen können;
die Bahnen aber, in
welchen
ſie ſich um die Sonne bewegen, ſind bereits mit ziem-
licher
Genauigkeit beſtimmt und bieten untereinander ſo
66238 Verſchiedenheit dar, daß man die ehemals herrſchende Vor-
ſtellung
, als ob ſie die Stücke eines großen, geſprengten
Planeten
ſeien, ziemlich aufgegeben hat.
Man nimmt vielmehr
an
, daß ſie in dieſer Himmelsgegend urſprünglich ſich nur als
kleine
Planeten gebildet haben und daß ſie eine Art demokra-
tiſches
Reich im großen Sonnenſyſtem bilden, das in ſeiner
Verfaſſung
ſonſt mehr eine monarchiſche Regierung hat.
XI. Von Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.
In faſt noch einmal ſo großer Entfernung als die kleinen
Planeten
von der Sonne wandert Jupiter ſeine Bahn um dieſelbe.
Jupiter (Fig. 12) iſt nächſt Venus der leuchtendſte Stern am
Himmel
und iſt deshalb ſehr leicht aufzufinden, zumal wenn
man
ſich’s merkt, daß das Licht aller Planeten ein ruhiges
und
nicht ein flimmerndes iſt, wie das der Fixſterne, wodurch
man
nicht leicht das Anſehen des Jupiter mit irgend einem
Fixſtern
erſter Größe verwechſelt.
Wenn man ein mäßiges
Taſchen-Fernrohr
von guter Lichtſtärke auf dieſen Stern richtet,
ſo
ſieht man nicht nur eine volle Kugelgeſtalt desſelben, ſondern
man
nimmt auch bei ruhiger Luft ſchon wahr, daß er an den
Polen
etwas abgeplattet iſt.
Intereſſanter noch iſt es, wahr-
zunehmen
, daß er von fünf Monden in ſeiner Bahn begleitet
wird
, die Jupiter ganz in derſelben Weiſe umkreiſen wie unſer
Mond
die Erde, und deren letzter erſt am 9.
September 1892
entdeckt
wurde.
Die Bewohner des Jupiter haben daher eine
Mondſcheinbeleuchtung
ganz eigener Art, indem bei ihnen fünf
Monde
dieſen Dienſt verſehen, den bei uns der eine leiſtet.

So
intereſſant die Betrachtung an ſich über dieſe fünf Monde
iſt
, ſo ſehr wird ſie doch von der Wichtigkeit aufgewogen, die
dieſe
fünf Monde Jupiters für uns haben.
Denn dieſe
66339 eben waren es, deren Betrachtung und Beobachtung uns die
Geſchwindigkeit
des Lichtes lehrte, und ſie ſind noch jetzt die
ſicherſten
Zeichen zur Beſtimmung aller Entfernungen auf der
Erde
.
Wir haben es bereits an einer anderen Stelle aus-
einandergeſetzt
, wie das zugeht, daß man erſt aus den Monden
48[Figure 48]Fig. 12.Jupiter. Jupiters genau erfahren kann, wie weit es z.
B. von Berlin
bis
London iſt.
Wir würden dieſe Entfernung, die man nicht
mit
dem Zollſtock ausmeſſen kann, unmöglich ſo genau wiſſen,
wenn
man nicht die Verfinſterung der Monde Jupiters ſo
genau
ſtudiert und berechnet hätte, und wenn nicht deren gleich-
zeitige
Beobachtung in Berlin und London einen
66440 Maßſtab geben würde, durch den man ſehr genau die Ent-
fernung
der beiden Städte von einander abmeſſen kann.
Die Entfernung Jupiters von der Sonne beträgt 103 Mill.
Meilen. Er iſt an 1300 mal größer als unſere Erde. Seine
Umlaufszeit
um die Sonne dauert nahe an 12 Erdjahre.
Dabei
dreht
er ſich in zehn Stunden um ſeine Axe, ſodaß die Tage
und
ebenſo die Nächte auf Jupiter nur je 5 Stunden lang ſind.

Auch
der Umlauf Jupiters um die Sonne geſchieht in der-
ſelben
Richtung, wie die der anderen Planeten und ſeine Bahn
liegt
faſt in derſelben Ebene;
desgleichen umkreiſen ihn die fünf
Monde
ebenfalls in derſelben Richtung und derſelben Ebene,
und
auch ganz dasſelbe iſt mit der Umdrehung Jupiters um
ſeine
Axe der Fall, da auch hier Umdrehung und Ebene dem
allgemeinen
Geſetz im Sonnenſyſtem folgen.
Intereſſanter noch als der Anblick Jupiters iſt der des
Saturn
, wenn man Gelegenheit hat, ihn durch ein gutes Fern-
rohr
zu ſehen.
Er iſt etwa 700 mal größer als die Erde und
erſcheint
am Himmel als ein ziemlich heller, aber keineswegs
ſtark
leuchtender Stern.
Durch Fernröhre geſehen, zeigt er
aber
eine Erſcheinung, die einzig am Himmel iſt.
Seine
Kugelgeſtalt
iſt nämlich von einem weiten, breiten Ring ein-
geſchloſſen
, und wenn man ihn in einer Zeit beobachtet, wo
der
Ring am deutlichſten zu ſehen, was nicht immer der Fall
iſt
, dann kann man ſich des Staunens nicht enthalten, ſelbſt
49[Figure 49]Fig. 13.
Fig
. 14.
Fig
. 15.
Fig
. 16.
Saturn
in verſchiedenen Stellungen.
wenn man dieſen Anblick öfter gehabt hat.
Die Figuren 13
bis
16 zeigen den Anblick des Saturn in verſchiedenen
66541 lungen zur Erde und zur Sonne. Wie dieſer Ring ent-
ſtanden
ſein mag, iſt eine Frage, die viele Antworten hervor-
gerufen
hat.
Die wahrſcheinlichſte iſt immer, daß einſt Saturn
ſo
groß war, daß ſein Durchmeſſer dem des Ringes gleich
kam
, daß ferner Saturn eben wie alle Planeten eine Um-
drehung
um die Axe hatte, wie man ſolche auch noch jetzt an
ihm
wahrnimmt;
daß aber zugleich auch eine Verdichtung und
Verkleinerung
des Planeten ſtattgefunden, während ſein Äquator
bereits
erhärtet war, ſo daß dieſer ſich nicht verkleinerte und
als
Ring verblieb, indes der Planet ſelber zu einer kleinen
Kugel
in ſeiner Mitte ſich zuſammen zog.
Wie dem aber auch
geweſen
ſein mag, es iſt eine Thatſache, daß die Geſtaltungen
und
Formen auch in der Planetenwelt manigfaltig ſind und
ſein
können, und der Ring des Saturn, wie die bedeutend an-
gewachſene
Zahl der kleinen Planeten, die ſchwerlich Bruch-
ſtücke
von einem einzigen Planeten ſind, lehren uns, wie leicht
man
irrt, wenn man im voraus die ganze Natur ſo ſich denkt,
wie
gerade dasjenige Stückchen erſcheint, das wir überſehen
können
.
Denn trotz allen Philoſophierens und kühnen
Weisſagens
über die Natur hat doch kein Menſch an einen
Planeten
mit einem ſolchen Ring um den Leib und an eine
Sammlung
kleiner Planeten ſtatt eines großen gedacht, ehe
nicht
das Fernrohr unſern Blick geſchärft und die Natur ſelber
ſprechen
ließ über die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen.
Auch die Bewegungen des Saturn, der faſt noch einmal
ſo
weit entfernt iſt von der Sonne als der Jupiter und 9 {1/2} mal
ſo
weit von ihr als die Erde und faſt dreißig Jahre braucht,
um
ſeinen Umlauf um die Sonne zu vollenden, ſind ganz in
derſelben
Weiſe wie die ſämtlichen Planeten, d.
h. von Weſt
nach
Oſt oben herum.
Außer ſeinem Ring, der ſich um ihn
mit
einer Schnelligkeit dreht, als ob jeder einzelne Punkt des-
ſelben
ein Mond wäre, bewegen ſich noch 8 Monde um ihu,
die
nur durch ſehr große Fernröhre ſichtbar ſind;
und ihre
66642 wegungen ſind gleichfalls denen gleich, die im Sonnenſyſtem
vorherrſchen
, ſo daß die Richtung der Bewegung dem allgemein
herrſchenden
Geſetze unterworfen ſcheint.
Bis zum Jahre 1781 glaubte man, daß mit Saturn das
Sonnenſyſtem
abgeſchloſſen ſei, d.
h. daß ſich kein Planet in
noch
größerer Entfernung von der Sonne um dieſe bewege.
Allein der große Aſtronom William Herſchel entdeckte am
13
.
März jenes Jahres einen neuen Planeten, den man
Uranus
nannte, und der in einer Entfernung von 380 Millionen
Meilen
von der Sonne ſeinen Umlauf um dieſelbe macht, wozu
er
mehr als 84 Jahre braucht.
Obwohl man ihn ſeit der
Zeit
fleißig beobachtete, hat man doch Näheres über ſein Um-
drehen
um ſeine Axe noch nicht bemerken können, woran die
große
Entfernung von uns ſchuld iſt.
Es bewegen ſich auch
ſechs
Monde um ihn herum;
allein ſie gehören zu den ſchwie-
rigſten
Gegenſtänden des Himmels und ſind mit den beſten
Fernröhren
oft nicht zu ſehen.
Hier bei dieſem Planeten
und
ſeinen Monden zeigt ſich eine eigentümliche Merk-
würdigkeit
der Bewegung.
Während der Planet ſelber ſich in
der
Richtung und der Ebene ganz ſo bewegt, wie die übrigen
Bewegungen
im Sonnenſyſtem ſind, bewegen ſich wenigſtens zwei
ſeiner
Monde von Oſt nach Weſt.
Hier alſo zeigt es ſich zum
erſtenmal
, daß eine Bewegung im Sonnenſyſtem der allgemeinen
Richtungen
der Bewegungen nicht entſpricht.
Es lehrt uns
dies
wieder, wie gefährlich es iſt, allgemeingültige Geſetze aus
vielfach
wiederholten Erſcheinungen feſtzuſtellen, wenn man die
innern
Gründe der Geſetze nicht kennt! Offenbar liegt der
Übereinſtimmung
in den Bewegungen der Himmelskörper, in
Richtung
und Ebene ein Geſetz zu Grunde;
daß es aber kein
unumſtößlich
allgemeines ſein kann, geht aus den Bewegungen
der
Uranusmonde hervor, die dem Geſetze widerſprechen.
Wir kommen zum Reptun, dem letzten Körper des Sonnen-
ſyſtems
;
aber was wir über ſeine Entdeckung
66743 haben, iſt eine Thatſache, die unſerm Jahrhundert Urſache
giebt
, mit größtem Stolz auf eine der bewundernswerteſten
Thaten
menſchlichen Scharfſinns zurückzublicken.
Wir wollen
ſie
daher unſern Leſern etwas ausführlicher vorführen.
XII. Zur Erklärung einer wunderbaren Entdeckung.
Es wundern ſich oft viele, daß, wenn ein neuer Planet
entdeckt
wird, und dies iſt in den letzten Jahren oft der
Fall
geweſen man ſchon nach wenig Tagen zu beſtimmen
weiß
, wie weit er von der Sonne entfernt iſt, und in wie viel
Jahren
er ſeinen Umlauf um dieſelbe macht.
Wie iſt es
möglich
, meinen ſie, den neuen, unbekannten Gaſt ſchon nach
kurzer
Bekanntſchaft ſo genau zu kontrolieren, daß man
ſeinen
Weg und die Zeit, die er dazu braucht, auf Jahre
voraus
genau beſtimmen kann?
In Wahrheit aber kann man das; und es ſteht feſt, daß
keine
Poſt und keine Eiſenbahn ſo ſicher ihre Ankunft an einer
Station
auf die Stunde anzugeben imſtande iſt, als die Aſtro-
nomen
die Aukunft eines Himmelskörpers, den ſie, wenn auch
nur
kurze Zeit, beobachtet haben.
Aber es geſchieht zuweilen noch mehr. Jm Jahre 1846 hat
ein
Pariſer Naturforſcher, Leverrier, ohne in den Himmel
zu
ſehen, ohne Beobachtungen anzuſtellen, rein durch Rechnung
herausgebracht
, daß 600 Millionen Meilen von uns entfernt
ein
Planet vorhanden ſein muß, den kein Menſch noch geſehen
hat
;
daß dieſer Planet in 60 238 Tagen und 11 Stunden
ſeinen
Umlauf um die Sonne macht;
daß er 24 {1/2} mal ſchwerer
iſt
, als unſere Erde, und zu einer beſtimmten Stunde an einer
beſtimmten
Stelle am Himmel aufgefunden werden würde,
wenn
man nur ſo gute Fernröhre hätte, um ihn ſehen zu können.
Iſt das nicht ſtaunenswert?
66844
Leverrier zeigte all’ dies der Akademie der Wiſſenſchaften
in
Paris an;
und die Akademie der Wiſſenſchaften ſagte nicht,
der
Mann iſt thöricht, wie kann er wiſſen, was 600 Millionen
Meilen
weit vorgeht, da er nicht einmal weiß, was morgen
für
Wetter ſein wird?
Die Akademie ſagte nicht: der Mann
will
uns täuſchen, da er Dinge behauptet, von denen ihm niemand
beweiſen
kann, daß ſie unwahr ſind.
Die Akademie ſagte auch
nicht
:
der Mann iſt ein Betrüger, denn er wird wohl den
Planeten
ſchon geſehen haben und thut ſo, als ob nur ſeine
Weisheit
deſſen Daſein ausfindig gemacht hat, ſondern die
Akademie
nahm ſeine Arbeit mit großem Ernſt auf, denn man
kannte
Leverrier als großen Naturforſcher und hatte auch von
ihm
erfahren, auf welchem Wege er zu ſeiner Eutdeckung ge-
kommen
, und welche guten Gründe er hatte, ſeine Behauptungen
für
wahr zu halten.
Und der Erfolg krönte ſeine Entdeckungen in der glänzendſten
Weiſe
.
Im Januar 1846 hatte er dieſe Anzeige der Akademie
gemacht
;
am 31. Auguſt teilte er nähere Beſtimmungen über
den
neuen, noch ungeſehenen Planeten mit, und wie ſich denken
läßt
, erweckte dies Erſtaunen und Verwunderung aller Forſcher
und
Lächeln und Unglauben aller Halbgebildeten.
Am 23. September desſelben Jahres erhielt Galle,
ſpäter
langjähriger Direktor der Breslauer Sternwarte, da-
mals
Gehülfe an der Berliner Sternwarte, jetzt in Potsdam
lebend
, der ſich durch glückliche Entdeckungen bereits aus-
gezeichnet
hatte, ein Schreiben von Leverrier mit der Aufforde-
rung
, an der genau bezeichneten Stelle am Himmel dem neuen
Planeten
aufzulauern.
Die Berliner, die Königsberger und
die
Dorpater Sternwarte beſaßen nämlich damals die beſten
Fernröhre
;
Berlin aber hatte von den genannten Orten die
günſtigſte
Lage zur Beobachtung des Himmels, weil es nicht
ſo
weit nördlich wie dieſe liegt.
66945
Und noch an demſelben Abend beobachtete Galle den
Himmel
an der angegebenen Stelle und fand wirklich den
Planeten
, und zwar nur außerordentlich wenig entfernt von
50[Figure 50]Fig. 17. dem Punkt, den Leverrier angegeben hatte.
Wie außerordent-
lich
gering die Abweichung der wirklichen Neptunsbahn von
der
durch Leverrier errechneten iſt, zeigt Fig.
17.
67046
Mit Recht nennt man dieſe Entdeckung Leverrier’s den
größten
Triumph, den jemals eine Forſchung erlebt hat.
Der-
gleichen
iſt in der That noch niemals dageweſen, und unſer
Jahrhundert
hat Urſache ſtolz darauf zu ſein.
Aber, mein
verehrter
Leſer, wer in ſolcher großen Zeit lebt, und ſich gar
keinen
Begriff davon machen kann, auf welchem Wege ſolche
Entdeckungen
gemacht werden, der verdient faſt nicht, ein Ge-
noſſe
dieſer Zeit zu ſein.
Jch will Dich nicht zu einem Aſtronomen machen; aber
ich
hoffe, daß es mir gelingen wird, Dir das Wunder dieſer
Entdeckung
erklären zu können.
XIII. Die Hauptſtütze der Leverrierſchen
Entdeckung.
Als Leverrier auf ſeine große Entdeckung ausging, betrat
er
nicht einen neuen, ſondern einen bereits durch die Wiſſen-
ſchaft
gebahnten Weg und ſtützte ſich hierbei auf ein großes
Naturgeſetz
, das die Grundlage aller aſtronomiſchen Kennt-
niſſe
iſt.
Es iſt dies das Geſetz von der Anziehungskraft der
Himmelskörper
, welches der große Newton entdeckt hat.
Diejenigen Leſer, die ſich das vollkommen klar gemacht,
was
wir an einer früheren Stelle vom Licht geſagt haben und
von
der Art und Weiſe, wie es abnimmt mit der Entfernung,
werden
jetzt leicht das begreifen, was wir in der Hauptſache
von
der Anziehung ſagen wollen.
Jeder Himmelskörper beſitzt eine Anziehungskraft und
zieht
den andern auch wirklich an, ganz ſo, wie ein Magnet
Eiſen
anzieht.
67147
Wären die Himmelskörper, alſo alle Planeten, z. B. nicht
in
Bewegung, ſo würden ſie in der That einander immer
näher
und näher kommen, und da die Sonne eine ſo überaus
ſtarke
Anziehungskraft hat, ſo würden ſie alle der Sonne
zuſtürzen
und ſich mit ihr zu einem einzigen Körper vereinigen.
Nur dadurch, daß ſie alle eine eigene Bewegung haben,
bewirkt
die Anziehung nur eine Veränderung des Laufes, und
dieſe
eigene Bewegung der Planeten in Verbindung mit der
Anziehungskraft
der Sonne bewirkt es, daß ſie ſich um die
Sonne
herum in Kreiſen bewegen.
Man kann ſich hiervon leicht eine Vorſtellung machen,
wenn
man ſich Folgendes denkt.
Nehmen wir an, daß in der Mitte des Tiſches ein großer,
ſtarker
Magnet liegt.
Legt nun jemand eine eiſerne Kugel auf
den
Tiſch hin, ſo wird die Kugel geraden Weges auf den Magnet
zulaufen
, wenn aber jemand die Kugel rollt, ſo daß ſie an dem
Magnet
vorüberlaufen müßte, ſo würde die Kugel in gerader
Linie
über den Tiſch hinlaufen, da aber der Magnet ſie in jedem
Augenblicke
anzieht, ſo wird ſie von der geraden Linie ab-
weichen
und ſtatt deſſen einen Umlauf um den Magneten machen.
Dieſer Umlauf rührt alſo von zwei Kräften her, erſtens
von
der Kraft der Hand, welche die Kugel in gerader Linie
fortrollen
wollte, und zweitens von der Anziehung des Mag-
neten
, der die Kugel in jedem Augenblicke ihres Laufes zu ſich
heranziehen
will.
Newton (1642—1727) hat nachgewieſen, daß alle Um-
läufe
der Planeten um die Sonne von eben ſolchen zwei
Kräften
hervorgerufen werden, nämlich von einer Bewegungs-
kraft
der Planeten, die ihnen inne wohnt, und die ſie in
gerader
Linie durch den Weltraum treiben würde, und von
einer
Anziehungskraft der Sonne, welche dieſen geradlinigen
Lauf
fortwährend ſtört und die Planeten zwingt, einen Umlauf
um
die Sonne zu machen.
67248
Newton hat aber noch mehr entdeckt. Er hat durch Rech-
nungen
nachgewieſen, daß man genau aus der Umlaufszeit
eines
Planeten beweiſen kann, wie ſtark die Anziehungskraft
der
Sonne auf ihn wirkt.
Iſt nämlich die Anziehungskraft
ſtark
, ſo wird ſein Umlauf ſchnell ſein;
iſt die Anziehungs-
kraft
ſchwach, ſo wird ein Planet langſamer um die Sonne
laufen
.
Wenn z. B. die Sonne mit einem Male einen Teil ihrer
Anziehungskraft
verlieren würde, ſo würde die Erde weit
langſamer
um die Sonne laufen, und das Jahr, das jetzt
365
Tage hat, würde dann viel mehr Tage haben.
Endlich aber hat Newton nachgewieſen und das iſt für
uns
jetzt die Hauptſache daß die Anziehungskraft der Sonne
in
ihrer Nähe ſtark iſt und in ihrer Entfernung ſchwächer
wird
, daß alſo die entfernten Planeten ſchwächer von der
Sonne
angezogen werden, als die ihr nahen, und zwar nimmt
die
Anziehungskraft mit der Entfernung ganz in derſelben
Weiſe
ab, wie wir es beim Licht geſehen haben, nämlich:
im
Quadrat
der Entfernung.
Das heißt: ein Planet, der zwei-
mal
ſo weit entfernt iſt von der Sonne, als die Erde, wird
viermal
, einer der dreimal ſo weit entfernt iſt, wird neunmal
ſchwächer
von ihr angezogen.
Dieſes große, durch die ganze Natur gehende Geſetz
iſt
, ſo zu ſagen, die Grundlage der Aſtronomie, und war auch
die
Hauptſtütze für die großartige Entdeckung des Naturforſchers
Leverrier
.
XIV. Die großartige Entdeckung.
Jedem denkenden Menſchen muß wohl ſchon die Frage
nahe
gelegen haben:
wenn es wahr iſt, daß die
67349 einander anziehen, warum zieht nicht ein Planet den andern
ſo
an, daß ſie um und durch einander herumlaufen?
51[Figure 51]Fig. 18.
Größenverhältniſſe der Planeten untereinander.
Dieſe Frage hat ſich auch bereits Newton vorgelegt und
hat
auch die Antwort darauf gegeben.
Die Anziehungskraft
hängt
ab von der größeren oder geringeren Maſſe der Himmels-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
67450
körper. Im Sonnenſyſtem hat nun die Sonne eine ſo große
überwiegende
Maſſe gegen alle Planeten, daß ſie die Haupt-
anziehung
und darum den Umlauf der Planeten um die Sonne
bewirkt
.
Würde die Sonne einmal verſchwinden, ſo würde
wirklich
die Einwirkung der Planeten auf einander ungeheuer
52[Figure 52]Fig. 19.
Größenverhältniſſe der Planeten zur Sonne.
Merkur
Venus
Erde
Mars
Jupiter
Saturn
Uranus
Neptun
Vierter Theil der Sonnenscheibe
ſein, und namentlich würden alle einen neuen Umlauf um den
Planeten
Jupiter machen, der unter den Planeten die größte
Maſſe
hat.
So iſt z. B. die Sonne eine Maſſe, die 319 500
mal
ſchwerer iſt, als die Erde, wohingegen Jupiter nur
305
mal ſchwerer als die Erde iſt.
Es iſt klar, daß die Maſſe
der
Sonne an tauſendmal die des Jupiter überwiegt,
67551 deshalb auch die Erde, ſo lange die Sonne exiſtiert, niemals
um
Jupiter ſich bewegen wird.
Allein trotz alledem zieht dennoch Jupiter die Erde an;
aber wenn er auch dieſelbe nicht aus der Bahn um die Sonne
reißen
kann, iſt er doch nicht ohne Einfluß auf den Lauf der
Erde
, und wirklich haben Beobachtung und Rechnung gezeigt,
daß
durch die Anziehung des Jupiters auf die Erde ihr Lauf
um
die Sonne etwas verändert, oder was man ſo nennt:
ge-
ſtört”
wird.
Und wie das mit Jupiter und der Erde der Fall iſt, ſo
iſt
es auch mit allen Planeten der Fall, ihre gegenſeitigen An-
ziehungen
ſtören wirklich ihre Bahnen um die Sonne, und
jeder
Planet geht wirklich in einer anderen Bahn um dieſelbe,
als
er ohne dieſe Störung gehen müßte.
Dieſe Störungen zu berechnen iſt die größte Schwierigkeit
in
der Aſtronomie, und erfordert die ausdauerndſten und aller-
ſcharfſinnigſten
Studien, die jemals im Gebiet der Natur-
wiſſenſchaften
gemacht worden ſind.
Freilich wird ſich jeder von ſelbſt fragen, ob nicht Störungen
mit
der Länge der Zeit ſo groß werden können, daß ſie das
ganze
Sonnenſyſtem in Verwirrungen bringen?
Und dieſe
Frage
hat ſich auch wirklich der große Mathematiker Laplace
(1749—1827) vorgelegt.
Er hat aber in einem unſterblichen
Werke
:
die Mechanik des Himmels” den Beweis geliefert,
daß
alle Störungen nur eine beſtimmte Zeitdauer haben, und
daß
das Sonnenſyſtem ſo konſtruiert iſt, daß gerade durch die
Anziehungen
, die die Störungen veranlaßt haben, wieder nach
beſtimmten
Zeiten eine Regulierung eintritt, ſo daß für die
Dauer
die Ordnung immer wieder hergeſtellt wird.
Nunmehr wird es jedem klar ſein, daß, wenn irgend ein
Planet
unſichtbar wäre, er dennoch den Naturforſchern ſein
Daſein
verraten würde, und zwar durch die Störungen, die
er
.
im Lauf der anderen Planeten veranlaßt, ſobald ſeine
67652 nicht gar zu gering und alſo ſeine Anziehungskraft nicht gar
zu
unbemerkbar iſt.
Und nun ſind wir ſo weit, daß wir zu unſerem Haupt-
thema
kommen können.
Bis zum Jahre 1846, wo Leverrier ſeine große Entdeckung
machte
, glaubte man, daß der Planet Uranus der letzte Planet
ſei
, der um die Sonne läuft.
Uranus ſelber wurde erſt im
Jahre
1781 von Herſchel in England entdeckt, und da er
84
Jahre braucht, um ſeinen Umlauf um die Sonne zu
vollenden
, ſo hatte man im Jahre 1846 noch nicht einmal
einen
ganzen Umlauf des Uranus beobachtet gehabt;
trotzdem
aber
berechnete man ſeinen Lauf ſehr genau, weil man die
Anziehungskraft
der Sonne kannte und auch die Störungen in
Rechnung
brachte, welche die bekannten Planeten auf ihn aus-
üben
.
Aber aller Sorgfalt der Rechnung zum Trotz wollte der
wirkliche
Lauf des Uranus nicht mit dem berechneten überein-
ſtimmen
.
Man kam alſo ſchon vor Leverrier’s Entdeckung auf
den
Gedanken, daß jenſeits des Uranus, in einer Region,
wohin
unſer Auge ſelbſt mit Hilfe der Fernröhre nichts ent-
decken
konnte, wohl noch ein Planet vorhanden ſein müßte, der
den
Lauf des Uranus ändere.
Der leider für die Wiſſenſchaft
zu
früh verſtorbene Beſſel (1784—1846) in Königsberg war
ſchon
hinterher, durch Rechnung den unbekannten Störer her-
auszufinden
.
Er ſtarb aber kurz vor Leverrier’s Entdeckung.
Ja ſchon im Jahre 1840 ſchrieb Mädler in Dorpat ein ſehr
ſchönes
Kapitel in ſeiner populären Aſtronomie über dieſen
ungeſehenen
Störer.
Leverrier aber ging ans Werk, er
rechnete
mit einem von Kennern bewunderten Scharfſinn.
Er
forſchte
nach, wo dieſer Störer am Himmel ſtehen muß, wenn
er
den Uranus ſo und ſo zu ſtören vermag?
Wie ſchnell be-
wegt
ſich dieſer Störer ſelber in ſeiner Bahn?
Und wie groß iſt
ſeine
Maſſe?
Und ſo haben wir den Triumph der
67753 ſchaft erlebt, daß ein Leverrier mit dem geiſtigen Auge, nur
durch
Rechnungen einen Planeten entdeckte, der 600 Millionen
Meilen
weit von ihm entfernt war.
Darum: Ehre dieſer Wiſſenſchaft! Ehre den Männern,
die
ſie pflegen! Und Ehre dem Menſchengeiſt, der ſchärfer
blickt
, als das Menſchenauge!
678
Eine Phantaſie-Reiſe im Weltall.
I. Die Abreiſe.
Wer bereit iſt, mit uns einen Ausflug in den Weltraum
zu
machen, der ſchnüre ſein Bündel, verſehe ſich mit einer Paß-
karte
und verſorge ſich mit etwas Proviant;
denn unſere Reiſe
wird
zwar ſehr ſchnell gemacht, aber dafür ſehr weit in den
Raum
hinausgehen.
Was aber wollen wir ins Bündel thun? Was ſoll in
der
Paßkarte ſtehen?
und was müſſen wir im Proviant-Beutel
mitführen
?
Im Bündel wollen wir unſere Gedanken beiſammenhalten.
In der Paßkarte wollen wir uns die Stationen vorſchreiben
laſſen
, und in den Proviant-Beutel wollen wir unſere ganze
Unterhaltungs-Gabe
einpacken.
Reiſen wir zu Waſſer? zu Pferde? per Eiſenbahn?
Nichts von dem! Wir reiſen mit Hilfe eines elektriſchen
telegraphiſchen
Apparats!
Die alten Griechen haben ſich zwar die Phantaſie durch
ein
Pferd mit Flügeln zu verſinnlichen geſucht;
die alten
Hebräer
haben ſich ſogar die göttliche Allmacht auf Sturmes-
Fittigen
einherfahrend gedacht.
Hätten die Griechen eine
Lokomotive
und die Hebräer einen Luftballon gekannt, ſo
würden
ſie genötigt geweſen ſein, für Phantaſie und Allmacht
andere
Reiſegelegenheiten zu erſinnen, und hätten ſie wie
67955 elektriſche Telegraphen gehabt, ſo würden ſie jene Vorſtellungen
wahrſcheinlich
durch einen Metalldraht verſinnlicht und würden
vielleicht
alle verketzert haben, die ſolchem Draht ſamt Gutta-
Percha-Überzug
keine begeiſterte Verehrung zollen mochten.
Wir aber ſind in dieſem Sinne wenigſtens keine Ketzer;
ja wir gehen noch ein Stückchen weiter. Wir wollen uns zur
Phantaſie-Reiſe
einen elektriſchen Telegraphen phantaſieren, der
zunächſt
von der Erde zum Mond, unſerm nächſten Nachbar
am
Himmel, führt, und uns die noch ſchönere Phantaſie vor-
phantaſieren
, daß man auf ſolchem Draht nicht nur Packete,
ſondern
auch Paſſagiere, mindeſtens Gedanken-Paſſagiere, be-
fördern
kann.
Alſo friſch auf! Wir treten die Reiſe an!
Doch halt! Wir müſſen für diejenigen, die noch mit-
wollen
, auch den Ort bezeichnen, wo wir von dem Erdenrund
abfahren
, da möglicherweiſe viele Zweifel hierüber entſtehen
könnten
.
Der Ort, den wir meinen, wird bald gefunden ſein.
Wer einen Globus oder eine Landkarte vor ſich hat,
worauf
die ganze Erde abgemalt iſt, der wird zugeben, daß
die
Erde eine Kugel iſt.
Dieſe Kugel, das iſt ausgemacht,
dreht
ſich in vierundzwanzig Stunden um ihre Axe, deren beide
Enden
als zwei Pole bekannt ſind.
Rings um die Mitte dieſer
Kugel
, ſozuſagen um den Bauch der Erde, iſt auf Globus und
Landkarte
ein dicker Strich, ein Gürtel zu ſehen, den man
Äquator” nennt, und da wir zu gutgeſinnt ſind, um uns nach
irgend
einer Seite hin entſchieden zu halten, wollen wir uns
auf
dieſer Mittel-Linie einen Punkt zur Abfahrt auswählen.
Der Punkt iſt gleichfalls ſchnell gefunden.
Auf Globus und Landkarte wird jedermann ſchon geſehen
haben
, wie da von einem Pol zum andern feine Linien ge-
zeichnet
ſind, die quer durch den Äquator laufen, ſogenannte
Meridiane
.
Die Linien ſind numeriert, und da wir die erſten
Paſſagiere
auf unſerer Phantaſie-Reiſe ſind, wollen wir
68056 Linie, die mit Nummer Null bezeichnet iſt und welche in ihrem
weiteren
Verlauf grade durch die berühmte, alte Sternwarte
in
Greenwich bei London geht (Greenwicher Meridian), ins
Auge
faſſen, und den Punkt zur Abreiſe wählen, wo dieſe von
Pol
zu Pol laufende Linie den Gürtel quer durchkreuzt, ob-
gleich
dieſer Punkt mitten im Meere liegt und ſchwerlich ein
Konſtabler
da iſt, um unſere Reiſe zu legitimieren.
Und nun: Adieu! Der Zug geht ab!
Wohin?
Unſere erſte Station wird der Mond ſein; zunächſt jedoch
wollen
wir oben ein paar tauſend Meilen von der Erde ab ein
wenig
Halt machen und einmal ſehen, wie es unſerer Erdkugel
ohne
uns ergeht.
Unter uns liegt dieſe Erdkugel von einer Lufthülle um-
geben
.
Die Lufthülle iſt dunſtig, wolkig und läßt ſich nicht
durchblicken
;
über uns iſt der Himmel merkwürdig klar, eher
ſchwarz
als blau, und die Sterne, die ſonſt durch die bewegte
Luft
geſehen ſo ſehr funkeln, leuchten jetzt in nie geſehenem,
ruhigen
Glanze.
Wären wir gewöhnliche Paſſagiere, ähnlich
denen
, die ſich in Luftballons ein Stückchen von der Erde ent-
fernen
, ſo würden wir wie dieſe von der Erde nichts ſehen,
als
Dunſt und Nebel.
Da wir aber Phantaſie-Reiſende ſind,
ſo
wollen wir unſer Gedanken-Bündel vornehmen und mit
Hilfe
von Gedanken, die bekanntlich zollfrei ſind, uns dieſe
Dünſte
und Nebel fortwiſchen.
Ah! Da ſehen wir richtig die Erde!
Sie iſt wirklich eine Kugel und dreht ſich ſo, daß der
Punkt
, von wo wir abgereiſt ſind, ſchon nicht mehr unter uns
liegt
.
Er hat ſich fortgewendet nach der Richtung, die man
da
unten Oſten nennt.
Eigentlich iſt ungeheuer viel Waſſer,
und
nur ſehr wenig Erde auf der Erde.
Das, was die
Menſchen
da unten Erde oder gar Welt nennen, ſind nur
Inſeln
, die das Waſſer nicht bedeckt hat.
Wie nichtig klein
68157 dort links Europa! Da nehmen ſich Aſien und Afrika ſchon
ganz
reſpektabel dagegen aus.
Wo iſt des Deutſchen Vater-
land
?
Wahrhaftig, wir können es von hier nicht einmal
finden
.
Heſſen-Darmſtadt iſt ſogar mit dem Mikroſkop kaum
aufzuſpüren
.
Doch halt! hier ſehen wir etwas Neues, das müſſen wir
uns
näher betrachten!
II. Auf der Station zwiſchen Erde und Mond.
Die eine Halbkugel iſt von der Sonne beleuchtet; aber
wir
ſtehen glücklicherweiſe auf unſerer Phantaſie-Station ſo,
daß
wir auch noch ein Stück unbeleuchtete Erde ſehen.

Welch’
ein herrlicher Saum von Dämmerlicht grenzt den lichten
von
dem dunkeln Teil der Erde ab.
Auch der dunkele Teil iſt
nicht
völlig finſter und unſichtbar, denn die durchleuchtete Luft
ſenkt
milde, matte, aber doch wirkſame Sonnenſtrahlen nieder
zur
Erde.
Dazu kommt noch, daß ein großes Stück der Mond-
ſcheibe
von der Sonne beleuchtet iſt und ſomit der dunkle Teil
der
Erde vom Mondſchein erleuchtet wird.
Auf unſerer Station haben wir nicht nur Sonnenlicht,
ſondern
auch Mondlicht und obendrein auch Erdlicht;
denn die
beleuchtete
Erde beleuchtet auch den Weltraum.
Das Sonnenlicht
kommt
von der ſtets vollen Sonnenſcheibe.
Das Mondlicht kommt
nur
von dem Stück beleuchteter Mondoberfläche, das ſich uns
gerade
zugewendet hat, das Erdlicht ebenfalls nur von einer zum
Teil
beleuchteten Oberfläche der Erdkugel, welcher wir zugewendet
ſind
.
Wir Phantaſie-Reiſende, die wir uns auf einer Station
zwiſchen
Erde und Mond befinden, ſehen dieſe zwei Kugeln
von
dem fernen Sonnenlicht erleuchtet und merken dabei,
68258 wenn von der Erde ein großes Stück erleuchtet iſt, vom Monde
nur
ein kleiner erleuchteter Teil uns ſichtbar ſein kann;
würden
wir
vom Mond viel erleuchtet ſehen, ſo würde die Erdkugel
uns
nur ein kleines Stückchen ihrer erleuchteten Oberfläche zu-
wenden
können.
Doch das iſt eigentlich nicht das Merkwürdige, das wir
ins
Auge faſſen wollen;
wir werden, wenn wir erſt auf dem
Mond
angekommen ſind, noch Gelegenheit haben, die Wunder-
lichkeiten
des Erdlichtes dort zu beobachten;
für jetzt nimmt
uns
etwas Anderes in Anſpruch, das an der Erde ſichtbar iſt,
von
dem wir auf der Erde lebend nichts Rechtes geſehen
haben
.
Um die beiden Pole der Erde ſchwebt ein eigenes Licht
und
dieſes Licht, das ſich über der Luftſchicht befindet, flammt
wunderbar
von Zeit zu Zeit auf.
Es ſcheint, als ob es über
den
Polen der Erde entſteht, und als ob das Licht des einen
Pols
das des andern Pols anzieht, ſodaß ſich Lichtſtröme von
den
beiden Polen entfernen, und gegencinander ſtrömend ſich
über
dem Äquator der Erde vereinigen, und dabei zugleich er-
löſchen
.
Daß dieſe Polar-Lichter dasſelbe ſind, was man dort unten
auf
ErdenNordlicht” nennt (ſ.
Fig. 20), iſt ganz unzweifelhaft.
Die armen Menſchen da unten auf der Erde haben bisher nur
wenig
Gelegenheit gehabt, dasſelbe Polarlicht am ſüdlichen Pol
kennen
zu lernen.
Es darf uns auch nicht Wunder nehmen,
daß
die Menſchen, die auf dem Grund und Boden des Luft-
meeres
herumwandeln, ſich einbilden, daß das Nordlicht nur
da
iſt, um die monatelangen Nächte des Nordens zu erleuchten.

Das
Nordlicht iſt wir ſehen das von hier aus beſſer
auch
dann vorhanden, wenn die Sonne monatelang den Nord-
pol
beleuchtet und den halbjährigen Tag dort veranlaßt.
Die
Menſchen
aber beachten das nicht, was ihnen nicht nötig zu
ſein
ſcheint.
Am Tage iſt ihnen ein Nordlicht gleichgültig,
68359 weil ſie es nicht ſehen, behaupten ſie auch ſteif und feſt, es ſei
nicht
vorhanden.
Gleichwohl iſt es da, und wären wir nicht
Phantaſie-Reiſende
, denen man nicht viel glauben wird, ſo
würden
wir behaupten, daß es unausgeſetzt an beiden Polen
erſteht
, und unausgeſetzt von Zeit zu Zeit von den beiden
53[Figure 53]Fig. 20.
Polarlicht
.
Richtungen her hinüberwallt zum Äquator, um daſelbſt ſich
wieder
zu vereinigen.
Woher kommt dieſes Licht?
Ja, das wiſſen wir Phantaſie-Reiſende auch nicht. Es iſt
1
11 Polarlichter am Tage ſind auch in unſeren Breiten wirklich beob-
achtet
worden.
68460 elektriſcher Natur; Elektrizität aber iſt eine Art Geheimnis,
von
dem ſich nur Philoſophen einbilden, es zu wiſſen, und
da
wir trotz der reichen Phantaſie der Philoſophen keinen
ſolchen
auf unſerer Reiſe mitgenommen haben, ſo müſſen wir
auch
unſere Unwiſſenheit eingeſtehen.
Nur ſo viel wiſſen wir, daß die Erde eine Art großer
Magnet
iſt, daß alle kleinen Magnetnadeln, die man auf der
Erde
wie einen Wagebalken hin- und her-, auf- und abſchwingen
läßt
, ſich endlich von dem großen Erd-Magneten oder dem
Erd-Magnetismus
dirigieren laſſen, und jeder der kleinen
Magnete
eine ganz beſtimmte Stellung auf jedem Punkte der
Erde
einnimmt, wie es der Erd-Magnetismus gebietet.
Da es jedoch für Phantaſie-Reiſende nicht ziemt, gar zu
gelehrt
zu ſein, wie es dem Gelehrten nicht anſteht, ſich mit
Phantaſien
zu beſchäftigen, ſo wollen wir nur ſagen, daß dieſes
Polar-Licht
mit den elektriſchen Strömen in Zuſammenhang
zu
ſtehen ſcheint, welche in der Richtung des Äquators um die
Erde
herumwirbeln, und daß wir uns dabei nicht ſo lange auf-
halten
können;
denn wir ſehen eben, wie ſich die Erde ſo ge-
dreht
hat, daß wir jetzt das Feſtland von Amerika erblicken,
und
mit der größten Leichtigkeit von der Ferne das ſchauen,
was
die Menſchen durch Jahrtauſende in ihrer Nähe nicht ent-
deckt
haben, bis Columbus den glücklichen Griff that.
So iſt
es
aber dort unten auf der Erde.
Sie ſehen zuweilen, was
ihnen
nahe liegt, weniger klar, als das, was ſie von der Ferne
aus
überſehen können.
Doch genug jetzt; wir wollen nach dem Mond und da er
wahrhaftig
nicht ſtille ſteht, ſo iſt es Zeit zur Abfahrt von der
Station
.
Demnach: auf Wiederſehen!
68561
III. Wir langen auf dem Monde an.
Alſo gehts jetzt nach dem Monde? Ja!
Aber unterwegs müſſen wir uns die Zeit zu vertreiben
ſuchen
, da es eine bekannte Erfahrung iſt, daß man ſich auf den
ſchnellſten
Dampfreiſen mehr langweilen kann, als einſt bei den
langſamſten
Poſt- und Stellwagen-Fahrten.
Bei den ſchnellſten
Phantaſie-Reiſen
muß man demnach erſt recht für Unterhaltung
ſorgen
.
Zum Glück haben wir die Unterhaltung leicht. Wir
brauchen
nur bald vorwärts, bald rückwärts zu blicken, und
wir
ſehen dann mit jedem Tauſend von Meilen, das wir hinter
uns
bekommen, wie die Erde immer kleiner und der Mond
immer
größer und größer erſcheint.
Es wird nicht lange
dauern
, ſo wird uns die Erde gar nicht mehr wie ein irdiſcher,
ſondern
wie ein himmliſcher Wohnſitz erſcheinen.
Wären Dichter
mit
uns auf der Reiſe, ſie würden wahrſcheinlich die Erde zu
beſingen
anfangen, mehr noch als denguten Mond, derſo
ſtille
geht;
wären Religionsmacher unter unſern Reiſegefährten,
ſie
würden für die Erdkugel, die jetzt wie ein ungeheuer großer
Stern
ausſieht, einen Kultus erfinden und vielleicht jedweden
verketzern
, der dieſes erhabene, geſtirnartige Weſen für einen
Erdkoloß
anſieht.
Wir aber wiſſen’s beſſer. Da oben iſt keineswegs der
Himmel
auf Erden, ſondern wir ſehen es, die Erde iſt im
Himmel
.
Je weiter wir uns von ihr entfernen, deſto mehr
nimmt
ſie das Anſehen eines Geſtirnes an, eines ſehr großen
Geſtirnes
, das ſelbſt auf halbem Wege zum Monde faſt als
eine
zehnmal ſo große Kugel erſcheint, wie uns hier die
Sonne
.
Und nun wollen wir uns einen kleinen Scherz erlauben.
Einer aus unſerer ehrenwerten Reiſegeſellſchaft mag ſo
68662 ſein, einmal ſeinen Hut auf die Erde fallen zu laſſen. Da
oben
auf dem Erdenrund würde er zum Fenſter des erſten
Stockes
blickend ihn kaum loslaſſen, und ſofort würde der Hut
in
der erſten Sekunde 10 Meter fallen.
Den Hut loslaſſen
und
ihn wiedererhaſchen, iſt da unten ein Kunſtſtück.
Hier auf
unſerer
Reiſe iſt es ein Spaß.
Wir befinden uns nämlich ſo weit ab von der Erde, daß
ihre
Anziehungskraft bedeutend geſchwächt iſt.
Wir ſind auf
halbem
Wege ſechsundzwanzigtauſend Meilen vom Mittelpunkt
der
Erde entfernt, das iſt ſo ungefähr dreißigmal entfernter
von
dieſem Mittelpunkt, als wir ſonſt auf der Oberfläche der
Erde
herumwandelnd waren.
In der dreißigmaligen Ent-
fernung
iſt aber die Anziehungskraft der Erde nicht bloß
dreißigmal
ſchwächer geworden, ſondern das hat ein
Menſch
Namens Newton bereis vor zweihundert Jahren
richtig
herausgerechnet die Anziehung iſt um 30 mal 30,
das
iſt um 900 mal ſchwächer geworden.
Fiel unten der Hut
in
der erſten Sekunde 10 Meter, ſo fällt er hier, wie uns der
Verſuch
zeigt, 900 mal weniger in der erſten Sekunde, und das
iſt
nur wenig mehr als ein Centimeter, ein ſolch kleines Stück-
ſchen
, daß wir faſt Zeit haben, dreimal zu nieſen, ehe wir die
Hand
auszuſtrecken und den fallenden Hut einzufangen brauchen.
Das hat nun ſein Gutes, aber auch ſein Übles; denn
wollten
wir hier einen Nagel mit einem Hammer einſchlagen,
um
irgendwo ein Loch in die Natur zu machen, ſo würden
wir
den Hammer zwar federleicht heben können;
aber er würde,
wenn
wir ihn ſinken laſſen, äußerſt matt den Nagel auf den
Kopf
treffen und ihm ſicherlich ſo gut wie gar keinen Schlag
verſetzen
.
Wir merken hierbei aber noch etwas. Wir befinden uns
nämlich
zwiſchen Erde und Mond.
Nun aber hat der Mond
auch
eine Anziehungskraft, wie wir uns aus einem Spazier-
gang
auf dem Monde überzeugen werden.
Dort auf
68763 52 000 Meilen vom Monde entfernt, merkt man nichts von
dieſer
Anziehungskraft des Mondes, außer an der Ebbe und
Flut
, daß das Waſſer ſich hinter dem Mondlauf aufſtaut.
Hier oben auf halbem Wege iſt es ſchon ein wenig anders; hier
kann
man ſchon bemerken, daß der Mond ungefähr ein achtzigſtel
von
der Anziehungskraft der Erde beſitzt, und da es Phantaſie-
Reiſenden
nicht an Phantaſie fehlen kann, ſo können wir uns
recht
gut ein Inſtrument zuſammenſtellen, das dieſe Mond-
anziehung
recht deutlich macht.
Doch wir wollen nicht auf halbem Mege ſtehen bleiben;
denn wir haben nur noch eine kleine Strecke von einigen
tauſend
Meilen zu machen, um eine neue Unterhaltung zu
finden
.
An dieſem Punkte iſt die Erde ſo klein und der Mond ſo
groß
geworden, daß ſie beide in gleicher Größe erſcheinen, und
gar
nicht weit von dieſer Stelle iſt ein Punkt vorhanden, der
uns
ſehr viel Spaß macht.
Wir meinen nämlich den Punkt, wo die Erd-Anziehung
und
die Mond-Anziehung gleich groß ſind.
Der Punkt liegt
dem
Mond ſchon ſehr nahe.
Es ſind nur etwa noch wenige
tauſend
Meilen bis zum Monde.
Der nahe Mond iſt hier in
der
Anziehung genau eben ſo ſtark, wie die entfernte Erde, und
wir
benutzen dieſen Punkt, um Toilette zu machen, da wir bald
auf
dem Mond ankommen, dort auch anſtändig erſcheinen und
den
etwaigen Konſtablern, die uns nach unſern Päſſen fragen,
nicht
als Vagabunden vorkommen wollen.
Wir legen nun unſer ganzes Gepäck auf dieſen neutralen
Punkt
und überzeugen uns, wie gut doch die Neutralität in
allen
Fällen iſt.
Was wir auch hier hinlegen, bleibt ruhig
und
unbeweglich ſtehen oder hängen oder ſchweben oder liegen,
wie
man das nennen will.
Die Erde zieht es hin, der Mond
zieht
es mit gleicher Kraft her, und wir freuen uns, daß
beide
Seiten gleich ſtark ziehen und wir in echter
68864 gar nichts zu thun und uns nicht vom Fleck zu rühren brauchen,
um
unſer Gepäck feſtzuhalten, damit es nicht fällt.
Doch wir dürfen uns nicht aufhalten. Und ſomit Adieu,
Neutralität
! und mit einem Ruck langen wir auf dem
Monde
an.
IV. Auf dem Monde.
Willkommen auf dem Monde!
Wir ſetzen kaum den Fuß auf den Mond, ſo greifen wir
auch
ſchon wie gutgeſinnte, legitimierte Erdbewohner eines
deutſchen
Vaterlandes nach unſern Paßkarten;
aber niemand
empfängt
uns.
Wir blicken um uns; wir ſind in einer ge-
birgigen
Einöde.
Wir rufen: Holla! Heda! aber zu unſerem
Schrecken
hören wir unſer eigenes Wort nicht.
Wir ſind taub,
total
taub, und wir merken’s auch ſchon, woher dies kommt;
es
iſt
keine Luft da, welche den Schall des Wortes fortpflanzt.
Der Mond iſt nicht von einer Lufthülle umgeben wie die Erde,
oder
wie andere Planeten, die wir noch beſuchen werden;
und
ſomit
fehlt auf dem Monde dasjenige, was von jedem Schall,
jedem
Ton, jedem Laut in Schwingungen verſetzt wird und
an
das Trommelfell des Ohres ſchlägt, um es hören zu machen.
Wären wir nicht Phantaſie-Reiſende, ſo würden wir hier
gar
nicht leben können;
ja wir würden bereits bei der Abfahrt
von
der Erde und nur 1 {1/2} Meilen von ihrer Oberfläche ent-
fernt
in der dort dünner werdenden Luft die Beſchwerden
gefühlt
haben, die gewöhnliche Luftſchiffer dort empfinden.
Da
wir
aber die Phantaſie nicht allzuweit treiben dürfen, ſo iſt es
genug
, wenn wir das Leben hier oben auf dem Monde er-
halten
, und es wäre zu viel, wenn wir uns noch gar Luft vor-
phantaſierten
, um eine Unterhaltung führen zu können.
68965
Jſt aber keine Luft auf dem Monde und die Aſtronomen
da
oben auf der Erde wiſſen das eben ſo gut wie wir ſo
folgt
daraus, daß auch kein Waſſer hier ſein kann;
denn im
luftleeren
Raum verdunſtet Waſſer vollſtändig.
Jſt aber
auch
kein Waſſer vor-
handen
, ſo nimmt es
54[Figure 54]Fig. 21.
Letztes Viertel” im Fernrohr.
uns nicht Wunder,
daß
wir hier ſonſt
gar
keine Flüſſigkeit
entdecken
können und
hier
auf dem Monde
derart
aufs Trockene
geraten
ſind, wie man
ſich
dies auf Erden
gar
nicht vorſtellen
kann
.
Unterſolchen Um-
ſtänden
ſind wir leider
genötigt
, auf Vieles
zu
verzichten, was
uns
unſere Phantaſie
auf
Erden vom Leben
im
Monde vorgeſpie-
gelt
hat.
So weit unſer
Auge
reicht, ſehen wir
um
uns Gebirge und
Thäler
, wie ſie die
Mond-Karten
von deutſchen und engliſchen Aſtronomen abge-
malt
enthalten (ſ.
Fig. 21). Wir ſehen an der Oberfläche der-
ſelben
noch gar viele Dinge, aber wir wiſſen nicht, was ſie
ſein
ſollen.
Vielleicht ſind es Pflanzen; aber Pflanzen in
unſerem
Sinne und nach unſeren Begriffen können hier nicht
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
69066
ſein. Die Pflanze lebt von Luft und Waſſer und andern
luftartigen
und waſſerförmigen Speiſen;
hier aber iſt nichts
derart
vorhanden.
Hier iſt kein Sauerſtoff, kein Waſſerſtoff,
kein
Stickſtoff und am allerwenigſten Kohlenſtoff, der auch
auf
Erden faſt nur als Pflanzenreſt exiſtiert, ſelbſt wenn er
als
Graphit gefunden wird.
Iſt aber keine Pflanze in unſerem Sinne und nach unſeren
Begriffen
hier zu finden, wovon ſollen Tiere oder gar
Menſchen
hier leben.
Sollten aber nicht doch vernunftbegabte Weſen hier zu
finden
ſein?
Wohl iſt dies möglich; allein es iſt platterdings unmög-
lich
, ſie als ſolche zu erkennen, ſelbſt wenn wir ſie hier vor
uns
hätten.
Sprechen können wir mit ihnen nicht, denn ohne Luft giebt
es
keinen Laut, und da ſie unter ſolchen Umſtänden natürlich
auch
keine Ohren haben würden, ſo würde es uns auch nichts
helfen
, wenn wir uns auch ein paar Ballons mit Luft mit-
genommen
hätten, wie es die Taucher thun, welche in die Tiefe
des
Meeres hinabſteigen.
Riechen können die Mondbewohner auch nicht, denn ohne
Luftarten
giebt es keinen Geruch;
was nicht gasförmig wird,
riecht
nicht.
Da es aber ohne Gaſe keine Flüſſigkeiten giebt,
ſo
iſt es ausgemacht, daß die Mondbewohner auch nicht
ſchmecken
können in unſerem Sinne;
denn geſchmeckt kann
nur
dasjenige von den Speiſen werden, was ſich zwiſchen
Zunge
und Gaumen in eine Flüſſigkeit verwandelt oder ſich in
der
Mundflüſſigkeit auflöſt.
Wo es keine Flüſigkeit giebt, da
giebt
es auch keinen Geſchmacksſinn.
Haben aber die Mondbewohner keinen Geſchmacksſinn, ſo
haben
ſie auch ſicherlich keine Zunge, und haben ſie keine Luft
zum
Atmen, ſo haben ſie natürlich auch keine Lunge, und des-
halb
auch höchſt wahrſcheinlich keinen Mund.
Giebt’s
69167 keine Flüſſigkeit, ſo giebt’s auch kein Blut. Haben die Mond-
bewohner
kein Blut, ſo haben ſie auch ſchwerlich ein Herz im
Leibe
, und mit einem Weſen, das kein Herz im Leibe hat,
da
hört alles auf.
Alſo kein Ohr, keine Naſe, kein Mund, keine Lunge, keine
Bruſt
, kein Blut, kein Herz, da erkenne einmal jemand ein
Ding
, das mit den Erdgeſchöpfen noch Ähnlichkeit hat!
Aber Licht herrſcht hier. Es giebt hier Sonnenlicht, Erd-
licht
und Sternenlicht, und deshalb ſuchen wir umher, ob wir
nicht
ein Weſen entdecken, das, wie es auch geſchaffen ſein
mag
, ein Auge oder ein Organ beſitzt, das als Auge dienen
kann
?
Und doch iſt unſere Mühe vergeblich. Wiſſen wir es
ja
von der Erde her, daß das Auge tieriſcher und menſchlicher
Weſen
auch nur vermittelſt der in demſelben exiſtierenden
Flüſſigkeiten
für Licht empfänglich iſt, und die Erfahrung hat
uns
auf Erden ſchon gelehrt, daß die Einwirkung des Lichtes
auf
Pflanzen und vollkommen lebloſe Dinge vorhanden iſt, ob-
ſchon
ſie kein Auge haben.
Demnach kann das Daſein von
Licht
noch keineswegs darauf ſchließen laſſen, daß hier auf
dem
Monde Weſen mit Augen ſeien.
Hat aber ein Mondbewohner ohne Mund, Naſe und Ohren
auch
kein Auge, ſo ſehen wir nicht ein, wozu er einen Kopf
braucht
, und da er auch kein Herz, keine Bruſt, kein Blut und
keinen
Leib hat, ſo könnten wir höchſtens das Vergnügen haben,
ein
paar Hände und Füße als neue Menſchen zu begrüßen,
und
da wir Phantaſie-Reiſenden fürchten müſſen, daß beim An-
blick
eines ſolchen Weſens uns die Phantaſie ſtockt, und ſo die
Reiſegelegenheit
in die Brüche geht, die uns noch weiter in
den
Weltraum und endlich wieder in die liebe Heimat führen
ſoll
, ſo wollen wir uns nur nicht weiter den Kopf zerbrechen,
ob
es Mond-”Menſchen” giebt oder nicht und uns die Zeit
auf
dem Monde ſelbſt zu vertreiben ſuchen.
69268
V. Was beginnen wir auf dem Monde?
Wir müſſen alſo auf menſchliche Unterhaltung im Monde
gänzlich
verzichten, und ſo gut es geht, uns anderweitig er-
bauen
, und da wir aus Mangel an Luft vollſtändig taub ſind,
ſo
wollen wir wenigſtens Hände und Beine, die einzigen Or-
gane
, die ſich möglicherweiſe hier heimatlich fühlen können,
nach
Herzensluſt verwenden.
Und dies gelingt gar prächtig.
Vor allem fühlen wir uns ſo leicht, daß wir uns eher
wie
Vögel als wie Menſchen vorkommen.
Die Anziehungskraft
auf
der Oberfläche des Mondes iſt ſechsmal ſchwächer als die
auf
der Erdoberfläche.
Unſere Glieder können wir daher mit
einer
Leichtigkeit heben, die uns wahrhaftig wie eine Fabel
vorkommt
.
Wäre es nur möglich, hier Muſik zu machen
ohne Luft giebt’s aber keine Muſik ſo würden wir tanzen
und
Sprünge machen, daß ſelbſt die geſchickteſte Ballet-Tänzerin
über
dieſe unſere Poeſie der Beine den Kopf verlieren müßte.
Jeder von uns, der unten auf Erden mit einem Satz auf einen
Tiſch
ſpringen könnte, ſpringt hier mit gleicher Anſtrengung
auf
einen kleinen Hügel von 7 Meter Höhe.
Wenn wir unſere
Kinder
herſchicken könnten, um zu turnen, ſo würden ſie mit
einer
Schnelligkeit Rännten, um zu turnen, ſo würden ſie mit
anſehen
könnte.
Kopfſtehen iſt hier ein Privat-Vergnügen,
denn
das Blut wird ſo wenig nach unten gezogen, daß man
erſt
recht bei Sinnen iſt, wenn man die Beine zum Himmel
ſtreckt
.
Einen Nebenmenſchen in die Taſche ſtecken und mit
ihm
davon laufen, iſt eine Kleinigkeit, denn er wiegt hier nur
ſo
ſchwer, wie auf Erden zwanzig Pfund.
Berge beſteigen iſt
hier
ein Spaß.
Was das Gehen betrifft, ſo müſſen wir leider ſagen, daß
unſere
Beine viel zu kurz ſind, um recht ausholen zu könuen.
69369 Wir ſetzen mit Leichtigkeit über einen Abgrund, der ſieben
Meter
breit iſt.
Beim Laufen ſchweben wir faſt, und wären
hier
nicht gar zu unmäßig hohe Gebirge, ſo könnten wir in
wenigen
Tagen um den ganzen Mond herum rennen.
Unter ſolchen Umſtänden könnte man ſich freilich einbilden,
daß
es auf dem Monde ein wahrhaft himmliſches Leben gebe.
Sind die Glieder unſeres Leibes an ſechsmal leichter als auf
Erden
, ſo folgt daraus, daß wir an einem Tage ſechsmal ſo
viel
verrichten können als auf unſerem irdiſchen Wohnſitz und
deshalb
auch wahrſcheinlich ſechsmal weniger Ruhe und Schlaf
bedürfen
, um uns zu ſtärken.
Allein wie alles in der Welt
ſeine
Schattenſeite hat, ſo iſt es auch hier der Fall.
Was
hilft
es uns, daß die Anziehung des Mondes uns ſechsmal
weniger
ſchwer macht als die der Erde und darum unſere
Arbeitsfähigkeit
um ſechsmal ſteigert, wenn der Tag auf dem
Monde
volle zwei Wochen dauert, alſo die Zeit der Arbeit
vierzehnmal
länger iſt als auf Erden!
Volle zwei Wochen?
Ja, volle zwei Wochen und ſogar noch achtzehn Stunden
drüber
!
Der Mond nämlich, davon überzeugen wir uns hier voll-
kommen
, dreht ſich nicht in vierundzwanzig Stunden um ſeine
Axe
.
Wenn man will, kann man faſt ſagen, er mache gar
keine
eigentliche Umdrehung.
Er läuft, wie man das längſt
weiß
, in ungefähr einem Monat in einem großen Kreis um
die
Erde, deren ſteter, treuer Begleiter er iſt.
Bei dieſem Um-
lauf
wendet der Mond immer und ewig nur die eine Kugel-
Hälfte
zur Erde;
wie die andere Hälfte des Mondes ausſieht,
das
hat noch kein Menſchenkind geſehen, und das werden wir
auch
nie ſehen.
Er gleicht jenen unterthänigſten Dienern
großer
Herren, die dieſen ſtets das Geſicht zukehren und nie-
mals
den Rücken zeigen.
Während die Erde ſich täglich um-
dreht
, und deshalb vom Monde aus von allen Seiten
69470 werden kann, geht der Mond um die Erde, als ob er auf
einer
Stange angeſpießt wäre, und läßt ſich von den Erd-
bewohnern
ſtets nur von der einen Seite beſehen.
Hier-
durch
aber erwächſt ihm die große Unbequemlichkeit, daß er
ſeinen
ganzen Umlauf um die Erde vollenden muß, um ſich
von
der Sonne von allen Seiten beleuchten zn laſſen, und da
dies
an 29 {1/2} Tag dauert, ſo iſt ein Tag und eine Nacht auf
dem
Monde beiſammen ſo lang, wie 29 Tage und 29 Nächte
auf
der Erde ſind.
Und das iſt wirklich langweilig!
Einen Tag von 14 Tagen und 18 Stunden Länge ließe
man
ſich noch gefallen;
aber eine Nacht, die eben ſo lang iſt,
und
auf einem Wohnſitz, wo es keine Maskenbälle, kein Theater,
keine
Bierhalle, ja nicht einmal eine Nachtdroſchke giebt, da iſt
es
nicht auszuhalten.
Was fangen wir in ſolcher Nacht an? Nun wir ſchwärmen!
Zwar
nicht wie Verliebte im Mondſchein, denn wir ſind auf
dem
Monde;
aber dafür im Erdſchein, und der iſt wahrhaftig
nicht
übel.
Im Gegenteil, es iſt ein herrlicher, himmliſcher Anblick!
Wenn
wir auf dem Monde Nacht haben, ſo ſtehen wir zwiſchen
Sonne
und Erde, und ſehen dieſe, die Erde, aufs prachtvollſte
im
Sonnenlicht glänzen.
Die Erdſcheibe iſt von hier geſehen
ſo
groß, daß ſie an 14 mal größer erſcheint, als der Mond auf
Erden
.
Dabei dreht ſich dieſe Erde in einer Mondnacht 14 mal
in
der Runde.
Wir ſehen ſie alſo von hier als ein mächtiges,
milde
leuchtendes Geſtirn, das viel pompöſer ausſieht als die
Sonne
.
Dies Geſtirn iſt ſo freundlich, unſere Nächte zu er-
hellen
, und beim Umdrehen auch alle Abwechſelungen zu
bieten
, die die Erdkugel in ihrer Verſchiedenheit an Land und
Waſſer
zeigt.
Regt aber ſchon der Mondſchein zum Schwärmen
an
, wie viel mehr muß das der Erdſchein thun, und darum
wollen
wir ein klein wenig Schwärmerei betreiben.
69571
VI. Etwas wiſſenſchaftliche Schwärmerei.
Unſere Schwärmerei ſoll nicht verliebter, ſondern ein wenig
wiſſenſchaftlicher
Natur ſein.
Wenn die Menſchen ſtatt auf der Erde auf dem Monde
lebten
, was würden dieſe für ſonderbare Begriffe von der Welt
bekommen
haben?
Der Mond, das wiſſen wir Erdbewohuer, geht in einem
Kreiſe
allmonatlich rings um die Erde;
würden die Menſchen
dies
auch gewußt haben, wenn ſie Mondbewohner wären?

Es
läßt ſich Tauſend gegen Eins wetten, daß dies nicht der
Fall
wäre.
Auf dem Monde das können wir verſichern
verſpürt
man nicht das mindeſte davon, daß die Mondkugel
auf
Reiſen begriffen iſt;
im Gegenteil, wenn man den Mond
mit
der ſich ſtets um ihre Axe drehenden Erde vergleicht, ſo
gerät
man auf die natürliche Vermutung, daß der Mond ein
feſter
, unbeweglicher Wohnſitz ſei, während alles andere in Be-
wegung
iſt.
Nichts ſcheint von hier aus natürlicher, als daß
die
Erde es iſt, welche den Mond umkreiſt, daß die Erde ſo
zu
ſagen nur geſchaffen iſt, um die Nächte des Mondes zu
beleuchten
, ganz ſo wie manche Menſchen auf Erden ſich ein-
bilden
, daß der Mond nur da ſei, um der Erde als Fackel-
träger
zu dienen.
Vom Mond aus erſcheint aber die Erde an vierzehnmal
größer
als die Sonne.
Sicherlich würde eine Bibel, auf dem
Monde
geſchrieben, die Erde das große und die Sonne das
kleine
Geſtirn genannt haben, und ganz ohne Zweifel würden
die
Religionsmacher auf dem Monde die Weisheit der Vor-
ſehung
geprieſen haben, daß ſie das kleine Geſtirn, die Sonne,
ſtark
leuchtend und wärmend, in beſcheidene Ferne hingeſtellt
hat
, um den Mond zu bedienen, während das große Geſtirn, die
Erde
, mit ihrem milden Lichte ſich der Nähe des Mondes
69672 welcher, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, der wichtigſte Punkt des
Weltalls
ſein muß.
Würde nicht jeder verketzert, gepeinigt
und
geſteinigt worden ſein, der fromme Thorheiten ſolcher Art
bei
ihrem rechten Namen zu nennen wagte, und würde man es
nicht
als die ſchändlichſte Bosheit ausgeſchrieen haben, wenn
jemand
es unternehmen wollte zu beweiſen, daß die Erde viel
kleiner
ſei als die Sonne, und der Mond noch kleiner als die
Erde
, und keineswegs der Weltmittelpunkt ſei, für welchen er
ausgegeben
wird?
Wenn wir dies bedenken, ſo ſcheint es uns recht gut, daß
hier
auf dem Monde keine Menſchen zu entdecken ſind;
ihr
Wohnſitz
wäre noch weniger geeignet, den menſchlichen Geiſt
über
die Welt aufzuklären, und es iſt eine bekannte Erfahrung:
je trüber die Einſicht der Menſchen über die Dinge in der
Natur
iſt, deſto eingebildeter ſind ſie, deſto unverträglicher,
herrſchſüchtiger
, abergläubiſcher, verketzernder und grauſamer.
Da man aber nicht wiſſen kann, ob nicht der Mond
der wahrſcheinlich jünger iſt als die Erde noch einmal
menſchenähnliche
Weſen erhält oder früher gehabt hat, ſo
wollen
wir uns wenigſtens die Freiheit nehmen zu betrachten,
was
ſie von der Erde zu ſehen imſtande ſind, wenn ſie ſo
große
Fernröhre beſitzen werden wie wir.
Richten wir daher einmal vom Mond aus ein Fernrohr
auf
die Erde.
Man ſollte es gar nicht glauben, was doch die Lufthülle,
die
um die Erde liegt, ſtörend iſt, wenn wir durch unſer
Fernrohr
den Blick auf dieſe werfen.
Wir ſind wirklich ge-
nötigt
, ganze Partien Wolken fortzuwiſchen, um nur einiger-
maßen
hindurchſehen zu können.
Da aber die Luft ſich trotz
all
unſerer hilfreichen Phantaſie fortwährend bewegt, ſo er-
blicken
wir alle Punkte der Erde in einem fortwährenden
Schwanken
und Schweben, ſo daß es ſich von hier aus an-
ſieht
, als ob auf Erden ganze Weltteile Ballet-Tänze aufführen.
69773
Nach ſorgſamer Beobachtung gelingt es uns dennoch, bei
einer
1200 maligen Vergrößerung zu ſehen, daß Paris, London,
Wien
, Berlin und Petersburg noch auf dem alten Flecke
ſtehen
.
Auch Städte mittlerer Größe ſind zu erkennen. Einen
prachtvollen
Anblick gewährt es uns, die Pole der Erde im
Winterſchnee
, die Äquator-Gegenden in Sonnenglut leuchtend
zu
finden.
Wenn ſich die Erde dreht und Europa für uns
unſichtbar
wird, ſo ſehen wir von hier aus das Feſtland
von
Amerika vor uns.
New-York iſt nicht minder klar zu er-
kennen
wie die größten Städte Europas.
Der Miſſiſſippi ſieht
ſich
ganz prächtig an.
Die Erde dreht ſich weiter, und wir
erblicken
auch Californien.
Dann beſehen wir uns ganz ſtill
den
ſtillen Ozean, bis das Feſtland von Aſien ſichtbar wird,
dem
die neueſte Welt Auſtralien wieein Tropfen am Eimer”
anhängt
.
Chiua, Indien und das ungeheuer große Rußland
fällt
uns ins Auge.
Ein Seitenblick zeigt uns Afrika wieder,
das
in ſeinen Wüſten viel Platz zu einer ſchönen Gegend hat,
bis
wir endlich den Punkt auch vor uns ſehen, wo wir ab-
gereiſt
ſind, und dies uns mahnt, daß wir uns ſputen müſſen,
um
weiter in der Welt fortzukommen.
Machen wir uns alſo fertig zur Weiterreiſe; denn wir
gehen
direkt zur Sonne, und das iſt ein ganz gewaltiges Stück
Weges
.
VII. Ein paar Reiſegedanken.
Friſchauf! Wir ſpannen unſeren Phantaſie-Telegraphen
wieder
vor;
wir verlaſſen den Mond, an deſſen einſeitiger Be-
kanntſchaft
wir nicht halb ſo viel gewonnen, als viele ſich vor-
geſtellt
haben mögen, und nehmen von ihm nun eigentlich zwei
Rätſel
mit, die unſer Nachdenken erregen.
69874
Wir fahren zur Sonne hin, und auf dieſer langen Reiſe
ſoll
uns ein wenig Nachdenken über dieſe zwei Mondrätſel die
Zeit
vertreiben helfen.
Warum hat der Mond keine Lufthülle, die, wie wir be-
ſtimmt
wiſſen, andern Geſtirnen des Sonnenſyſtems nicht fehlt?
Weshalb wendet der Mond der Erde immer nur die eine Seite
zu
und vermag ſich nicht eben ſo frei zu drehen, wie dies an-
dere
Himmelskörper thun?
Die Gelehrten geben hierauf ſo gut wie gar keine Ant-
wort
, und die Philoſophen, die für Alles eine Antwort bereit
haben
, ſind ſelbſt für Phantaſie-Reiſende zu phantaſtiſch;
darum wollen wir uns ſelber helfen, ſo gut es geht, und in
einer
Kürze, wie ſie ſolchen Schnellſeglern ziemt, eine Antwort
geben
.
Die Anziehungskraft der Erde wirkt auf die ihr zugewen-
deten
, nächſten Stellen des Mondes, welche der Erde an
234
Meilen näher ſind als der Mittelpunkt desſelben, ſo ſtark,
daß
es einer beſonderen Kraft bedarf, um dieſe der Erde ein-
mal
nahe Stelle von ihr zu entfernen.
Wäre nun der Mond
eine
vollkommen gleichmäßige Kugel, ſo würde dennoch die
leiſeſte
Anregung hinreichen, ſie um die Axe zu drehen.
Denn
der
Punkt des Mondes, der jetzt der Erde am nächſten iſt,
würde
bei einer Störung ſeiner Stellung keineswegs wie ein
Pendel
zur Erde zurückſchwingen, weil bei einer ganz gleich-
mäßigen
Kugel ſofort ein anderer Punkt ganz dieſelbe An-
ziehungskraft
erfahren würde, wenn er an die Stelle des
nächſten
Punktes tritt.
Da aber der Mond keine gleichmäßige
Kugel
iſt, ſondern bedeutende Gebirge hat, ſo iſt die ſtärkere
Anziehungskraft
der Erde auf den nächſten Punkt nicht in jeder
Stellung
des Mondes gleich, und der Mond wird, ſelbſt wenn
er
aus ſeiner Stellung für einen Moment geſtört wird, immer
wie
ein Pendel in diejenige Lage zurückkehren, wo die An-
ziehung
der Erde den größten Effekt ausübt.
69975
Macht aber der Mond keine Umdrehung um ſeine Axe,
und
gleicht er in dieſer Beziehung einer Kugel, welche, an das
Ende
einer Stange aufgeſpießt, pendelartig in einem weiten Kreis
herumgeſchleudert
wird, ſo läßt ſich leicht einſehen, daß der-
jenige
Punkt, welcher der Erde am nächſten iſt, ſtets den kleinſten
Schwung
beim Umlauf um die Erde hat, während der ent-
fernteſte
Punkt die größte Schwungkraft erleidet.
In all ſolchen
Fällen
aber hat wie dies allbekannt iſt jeder Punkt der
Kugel
das Beſtreben, ſich vom Mittelpunkt des Kreiſes zu ent-
fernen
.
Die feſten Teile der Mondkugel können dies nun nicht,
während
Luftarten und Flüſſigkeiten dieſem Beſtreben folgen
und
ſomit mindeſtens jenſeits nach dem äußerſten Punkt des
Mondes
hinfliehen müſſen, der von der Erde nicht geſehen
werden
kann.
Wollten wir nun unſerer Phantaſie die Zügel über das
Ziel
wiſſenſchaftlicher Betrachtung hinaus ſchießen laſſen, ſo
wäre
es uns ein leichtes, bei der Abfahrt zur Sonne uns die
Rückſeite
des Mondes zu beſehen und unſern Leſern von der
Waſſer-
und Luft-Flut, welche kegelartig wie ein Zuckerhut
dort
aufgetürmt iſt, etwas vorzuphantaſieren.
Da wir jedoch
unſere
Phantaſie nicht überbieten wollen, ſo müſſen unſere
Leſer
auch ihrem Wiſſensdurſt einen Zügel anlegen und ſich
mit
einer flüchtigen Andeutung begnügen, wie wir ſie als flüch-
tige
Reiſende hingeben.
Drum hinweg mit zu vielem Nachdenken! wir ſind auf der
Reiſe
zur Sonne.
Schon liegen Mond und Erde hinter uns.
Die Erde wie ein Spielball, der Mond wie eine Erbſe, die
rings
um den Spielball ſich im Kreiſe bewegt;
und beide in
Bewegung
, um in einem großen Kreis von 120 Millionen
Meilen
Umfang um die Sonne zu wandern.
Die Erde das
können
wir verſichern greift ganz gehörig aus.
Sie legt in
jeder
Sekunde mehr als vier Meilen zurück, das heißt, ſie läuft
faſt
zweitauſendmal ſchneller als eine Lokomotive.
Der
70076 aber, der mitläuft, muß ſich noch mehr ſputen, denn er hat
außerdem
während des Jahres mehr als zwölfmal um die Erde
zu
laufen, wobei er freilich, wie wir dies hier recht gut merken
ganz eigentümliche Bewegungen macht, die eigentlich Bogen-
ſprünge
auf einem Kreiſe bilden, Bogenſprünge, welche es be-
wirken
, daß der Mond auf der Bahn um die Sonne bald
hinter
, bald vor der Erde ſteht.
Und ſo ſchnell dieſe Bewegungen ſind, ſo ſind ſie doch
viel
zu langſam gegen die Geſchwindigkeit der Elektrizität und
des
Lichtes.
Wenn man imſtande wäre, einen telegraphiſchen
Draht
der Bahn der Erde entlang zu legen, ſo könnte man
die
Ankunft der Erde auf jeder beliebigen Station voraus-
telegraphieren
, wie man es mit den Eiſenbahn-Zügen macht.
Eine Depeſche würde nur etwa eine Stunde Zeit brauchen, um
den
ganzen Kreis zu durchlaufen, zu dem die Erde ein Jahr
lang
braucht, und da der Umlauf der Erde eigentlich die
Grundlage
der Zeiteinteilung iſt, ſo würde eine ſolche Depeſche
der
Zeit voraneilen und gewiſſermaßen der Ewigkeit ins Hand-
werk
pfuſchen.
Doch, wo geraten wir hin? Wir wollen nach der Sonne
und
nicht ins trübe Meer der Philoſophie hineinfahren, und
darum
ſehen wir hier lieber zu, ob uns auf dem Wege dahin
nichts
Intereſſantes begegnet.
VIII. Kleine Reiſe-Begegnungen.
Schau! Da kommt uns der nächſte Nachbar-Planet in den
Lauf
, der liebliche Morgen- und AbendſternVenus”, der der
Sonne
um fünf Millionen Meilen ein Katzenſprung im
Weltall
näher iſt als die Erde und ſich ſputen muß,
70177 die Sonne herumzuſpazieren, weil es ihm ſchon die Rechnungen
des
großen Newton vorgeſchrieben haben, daß er in 224 Tagen
ſeine
Reiſe vollenden müſſe.
Kein Planet des Sonnenſyſtems iſt der Erde ähnlicher
als
dieſer.
Seine Maſſe iſt faſt der der Erde gleich, ſeine
Kugelgeſtalt
iſt der der Erde an Größe nahe.
Seine Ober-
fläche
iſt von einer Lufthülle umgeben.
Seine Umdrehung um
die
Axe geſchieht in 23 Stunden.
Auch Gebirge giebt es auf
dieſem
Planeten, und ohue Zweifel Gewäſſer und Meere, und
wenn
wir einen Spaziergang auf ſeiner Oberfläche verſuchten,
würden
wir wahrnehmen, daß ſeine Anziehungskraft der Erde
faſt
gleich iſt und ſomit weder eine weſentliche Erleichterung
noch
eine Erſchwerung unſerer Bewegung zu Wege briugt.
Sicherlich iſt dieſer Nachbar-Planet ein guter Duz-Bruder
der
Erde, oder eine Duz-Schweſter, da man ihn mit weiblichem
Namen
belegt, während die übrigen ordentlichen Planeten
Männernamen
führen und nur die kleinen Herumtreiber zwiſchen
Mars
und Jupiter die Ehre haben, daß man alle Weiber-
namen
der griechiſchen Göttinnen ausbeutet, um ſie nicht un-
getauft
und namenlos in der Welt herumlaufen zu laſſen.
Nur in einem Punkte ſoll Venus eine kurioſe Marotte an
den
Tag legen;
ſie oder er wir wiſſen nicht recht, wie man
einen
Planeten mit einem Weibernamen tituliert ſoll ſich,
wie
einige Herren Aſtronomen geſehen haben wollen, um
eine
Axe drehen, die äußerſt ſchief zu ihrer Bahn ſteht, ſo daß
Sommer
und Winter auf Venus noch ſonderbarer abſtechen
müſſen
als auf Erden.
Aber wenn Venus wirklich ein Frauenzimmer iſt, ſo müſſen
wir
ihr ſchon einige Marotten verzeihen, zumal ſie ſtrahlend ſchön
iſt
und an Lichtglanz alle andern Planeten übertrifft.
Wir
ſagen
das nicht aus Schmeichelei, denn wir wollen aufrichtig
geſtehen
, daß wir uns ihrer näheren Bekanntſchaft keineswegs
zu
erfreuen haben, ſondern es iſt wirklich wahr.
Das
70278 dieſes Planeten iſt blendend weiß, währeud Mars rot, Jupiter
gelb
, Saturn blaßblau bleiern, und das Licht des Uranus und
Neptun
ſo zu ſagen gar keinen Charakter hat.
Das Licht der
Venus
iſt ſo leuchtend, daß wir uns hier, wo wir ihr immer
näher
und näher kommen, gar nicht wundern, wenn die Aſtro-
nomen
, die mit ſtarken Vergrößerungen zu ihr aufblicken, ge-
blendet
das Auge
55[Figure 55]Fig. 22.
Die
Hörner” der Venus.
ſchließen müſſen, wie
denn
der Aſtronom
Mädler
wirklich ſei-
nem
Augenlicht außer-
ordentlich
geſchadet
hat
, als er einige
Jahre
die Hörner der
Venus
unterſuchte.
Wie? Venus hat
Hörner
?
Iſt dieſer
Duzbruder
der Erde
gar
ein Untier?
Keineswegs, aber
Hörner
hat ſie oder
er
.
Der Planet er-
ſcheint
nämlich, wenn
er
ungefähr zwiſchen
Erde
und Sonne ſteht, ganz wie der Neumond als Sichel,
weil
wir dann nur einen kleinen Teil der Kugel erleuchtet
ſehen
(ſ.
Fig. 22); und die Spitzen dieſer Sichel nennen die
Aſtronomen
ſehr ungalantHörner” und beobachten dieſe
fleißig
, um aus den Veränderungen derſelben, welche von
Gebirgsgegenden
auf Venus herrühren, die Umdrehungszeit
dieſes
Planeten um ſeine Axe kennen zu lernen.
70379
IX. Weitere Reiſe-Abenteuer.
Doch wir müſſen noch in zwei andern Punkten dem Pla-
neten
Venus zugeſtehen, daß er die Erde übertrifft, obgleich
dies
nicht ſein Verdienſt, ſondern von ſeiner nähern Stellung
zur
Sonne abhängig iſt.
Beleuchtung und Heizung, die man bekanntlich in jeder
Wirtſchaft
nicht wenig in Auſpruch nimmt, ſind im Haushalt
des
Sonnenſyſtems in ganz eigner Weiſe verteilt.
Die Sonne
beleuchtet
und heizt die Oberfläche eines Planeten viermal
ſtärker
als einen audern, der noch einmal ſo weit entfernt von
ihr
iſt.
Iſt ein Planet dreimal entfernter von der Sonne als
ein
anderer, ſo wird der dreimal entferntere neuumal (drei-
mal
drei) ſchwächer geheizt und beleuchtet.
Das geht wie
man
ganz genau berechnen kann ſo fort und iſt ſo wahr
wie
das Einmaleins, das bekanntlich die unbeſtreitbarſte Wahr-
heit
iſt, die man der Welt ohne Furcht vor Mißliebigkeit
lehren
darf.
Da nun Venus nur 15 Millionen Meilen von
der
Sonne entfernt iſt, ſo läßt es ſich kinderleicht ausrechnen,
daß
es zweimal ſo hell und zweimal ſo heiß auf Venus iſt
als
auf der Erde, deren Entfernung 20 Millionen Meilen
beträgt
.
Wer nun Luſt hat, einen kleinen Abſtecher auf den Planeten
Venus
zu machen, der muß auf eine Beleuchtung gefaßt ſein,
wie
ſie bei uns wäre, wenn zwei Sonnen gleichzeitig am
Himmel
ſtänden.
Bei klarem Sonnenſchein ſind wir ſchon auf
Erden
genötigt, die Augen halb zu ſchließen, wenn wir auf
freier
Straße ſind;
wie es uns ergehen würde, wenn ein dop-
pelt
ſo ſtarkes Licht herrſchte, davon haben wir wirklich keinen
rechten
Begriff.
Bedenken wir aber gar, daß die Blutwärme
des
Menſchen ungefähr der Wärme gleich iſt, die in heißen
Erdgegenden
herrſcht, und entnehmen wir hieraus als
70480 ſcheinlich, daß die Bewohner des Planeten Venus eine doppelte
Blutwärme
haben könnten, die in heißen Venus-Gegenden vor-
handen
iſt, ſo müſſen wir im voraus ſagen, daß hiernach das
Blut
der Venus-Geſchöpfe an ſechzig Grad betragen werde,
und
wir ihnen gegenüber ſo kalt erſcheinen würden, wie etwa
Fröſche
und Schlangen im Vergleich mit uns.
So gern wir nun in unſerer Phantaſie-Reiſe auf Venus
Station
machen möchten, ſo offen geſtehen wir, daß uns bei
der
letzten Möglichkeit der Appetit danach vergeht.
So ähn-
lich
in aſtronomiſchen Beziehungen auch Venus der Erde iſt,
ſo
ganz entſchieden anders werden die darauf wohnenden
Weſen
ſein.
Für ein doppelt ſo ſtarkes Licht und eine doppelt
ſo
große Portion Wärme geſchaffen, würden ſie ſicherlich ſehr
leicht
in Hitze geraten, wenn ſie uns kalte Eindringlinge ge-
wahren
, und erwägen wir gar, daß die Erde einſtmals, als ſie
noch
wärmer war, Fröſche von der Größe unſerer jetzigen Kälber,
Eidechſen
von der Größe unſerer Ochſen, Fiſche mit ſo langen
Hälſen
, daß ſie Vögel in der Luft fingen, und friedliche
Grasfreſſer
zur Welt brachte, bei denen ein jeder Zahn ſo
groß
und breit war, wie bei uns jetzt ein Fünfgroſchen-Brot,
erwägen wir dies Alles, ſo iſt es unſerer Phantaſie zu
viel
zugemutet, wenn wir aus bloßer Wißbegierde uns dort
niederlaſſen
ſollten.
Freuen wir uns alſo, vorerſt Venus von geriuger Ferne
her
begrüßen zu können;
denn dieſer Planet ſieht herrlich aus.
Wir ſind eine kleine Strecke, circa 100 000 Meilen, von ihm
ab
, und er erſcheint uns ſchon an ſiebenmal ſo groß wie die
Mondkugel
auf Erden.
Er leuchtet ſo ſtark, daß wir ihn ſelbſt
beim
hellſten Sonnenlicht mit vollſter Klarheit betrachten
können
;
was unſere Leſer uns glauben dürfen, da wir ihnen
verſichern
können, daß man mit gutem Auge auch von der
Erde
aus Venus am Tage ſehen kann, wenn ſie ſich in gün-
ſtiger
Stellung zur Erde befindet.
70581
Manchmal aber, wenn Venus genau zwiſchen Sonne und
Erde
ſteht, ſieht man Venus am Tage auch mitten in der
Sonnenſcheibe
.
Da haben bereits unſere Aſtronomen am
9
.
Dezember 1874 den Planeten Venus als ſchwarze Kugel
durch
die Sonnenſcheibe wandern ſehen.
Wer damals dieſes
Schauſpiel
verſäumt hatte, der mußte warten bis zum
6
.
Dezember 1882, wo dasſelbe Stück nochmals gegeben wurde.
Wer auch dieſen Termin unbenutzt vorüber gehen ließ, der
hat’s
verſpielt, es ſei denn, daß er bis zum Jahre 2004, alſo
noch
über 100 Jahre lebt, wo er am 8.
Juni das Verguügen
haben
kann, mit unſern Ur-Eukeln das ſeltene Schauſpiel zu
genießen
.
Und ſo ſenden wir denn dieſem Liebesſtern unſern lieben
Gruß
, und wollen nur ſagen, daß die Herren Aſtronomen
Fontana
, Caſſini und Short, die im vorigen Jahrhundert
einen
Mond um Venus herumlaufend geſehen haben wollen,
im
Irrtum geweſen ſind, obgleich Friedrich der Große ſo feſt
an
die Exiſtenz dieſes Mondes glaubte, daß er ihn zu Ehren
ſeines
gelehrten Freundes, des Aſtronomen d’Alembert, mit
dem
Namen desſelben benannt wiſſen wollte.
Wir fahren auf und davon, und immer weiter und weiter
der
Sonne entgegen.
Die Flammenkugel wird immer größer,
immer
leuchtender und blendender.
Aber noch ein kleines Be-
gebuis
haben wir zu ſchildern, denn in der Nähe der Sonne,
nur
7 {1/2} Millionen Meilen von ihr entfernt, fliegt ein Planet
Merkur
in einem Kreiſe um dieſelbe.
Er iſt der kleinſte der
großen
Planeten und nicht viel größer als unſer Mond.
Er
iſt
ſo verſteckt und verdeckt von der Nähe der Sonne, daß der
große
Kopernicus noch auf dem Totenbette ſein Bedauern aus-
ſprach
, ihu nie geſehen zu haben.
Sein Gang um die Sonne
iſt
wegen der Nähe und Anziehung derſelben ſehr raſch;
er
geht
an 6 {1/2} Meile in der Sekunde, weshalb er denn in 88 Tagen
ſchon
die Reiſe um die Sonne vollendet hat.
Auch er hat
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
70682
offenbar eine Lufthülle um ſich; aber ein Beſuch auf dem-
ſelben
iſt keineswegs einladend, denn es iſt dort ſiebenmal
heller
und ſiebenmal heißer als bei uns;
und das iſt keine
Kleinigkeit
.
Bei einem Spaziergang im Sonnenſchein würden
wir
eine Hitze von 200 Grad zu ertragen haben, eine Hitze,
bei
welcher uns die Blei- und Zinn-Knöpfe von den Bein-
kleidern
ſchmelzen würden, was gewiß nicht angenehm iſt.
Leben da Menſchen, ſo müſſen ſie aus Kalk oder Kieſel gebaut
ſein
, uud wir haben ein weichherziges Entgegenkommen der-
ſelben
ſchwerlich zu gewärtigen.
X. Die Oberfläche der Sonne.
Wir nähern uns jetzt unſerm vorläufigen Reiſeziel, der
Sonne
, welche in einer Größe und einem ſtrahlenden Lichte
vor
uns prangt, die die Phantaſie aller Phantaſie-Reiſenden
überſteigt
.
Von der Entfernung aus, in welcher Merkur um die Sonne
wandert
, erſcheint dieſes mächtige Geſtirn ſchon in einer ſieben-
mal
größern Oberfläche als Sonne und Mond auf Erden;
da
wir
uns jedoch der Sonne immer mehr nähern, und nur einige
Millionen
Meilen zu durcheilen haben, um auf ihrer Ober-
fläche
anzulangen, ſo dehnt ſich die Sonnenkugel immer
mächtiger
aus und läßt uns ein Schauſpiel.
auf ihrem Rund
wahrnehmen
, von dem man auf Erden erſt durch die ſorg-
fältigſten
, unermüdlichſten Beobachtungen der Aſtronomen
Kunde
erhalten hat.
Die eigentliche Maſſe der Sonne ſcheint aus einer un-
geheuren
, lichten, luftartigen Kugel zu beſtehen, deren An-
ziehungskraft
ſämtliche Planeten und Kometen des
70783 ſyſtems zwingt, ihre Umläufe um dieſen Haupt-Himmelskörper
zu
machen, und welche in noch nicht erklärter Weiſe Licht
und
Wärme in ſich erzeugt und leuchtend und wärmend weit
hinaus
in den unendlichen Raum wirkt.
Wunderbar iſt die fortwährende, wallende Bewegung,
welche
wir auf ihrer Oberfläche beobachten können.
Sie, die
von
der Erde aus geſehen, ganz glatt erſcheint, zeigt ſich uns
bei
näherer Betrachtung riſſig oder brüchig, von dunklen
Punkten
und feinen Linien durchzogen, die wie Schlacken auf
geſchmolzenem
Metall herumſchwimmen.
Es entſtehen und
vergehen
dieſe Punkte und Linien, als ob ſie von der Tiefe
nach
der Oberfläche ſtrömten, auf dieſer auftauchten, um nach
kurzer
Zeit wieder von neuem verdrängt zu werden und unter-
zutauchen
in die tiefere Schicht des Sonnenkörpers.
Es deutet
dies
auf ein Auf- und Niederſtrömen hin, in welchem die
Sonnenatmoſphäre
ſtets begriffen iſt.
Und ſtellen wir uns vor,
daß
in der Tiefe ein höherer Grad der Wärme herrſcht, und
folglich
luftartige Maſſen, welche durch die höhere Erwärmung
leichter
werden, aufwärts ſteigen, ſo iſt es denkbar, daß dieſe
Maſſen
an der Oberfläche, wo ſie Wärme ausſtrahlen,
wiederum
kälter und alſo auch ſchwerer werden, und nachdem
ſie
ſich zuſammengezogen und ſichtbar geworden, in die Tiefe
niedertauchen
, um leichtere und wärmere Maſſen aufſteigen zu
laſſen
.
Außer dieſem Auf- und Niederwallen von der Tiefe zur
Höhe
und der Höhe zur Tiefe zeigt die ganze Sonne eine
regelmäßige
Umdrehung um eine Axe, eine Umdrehung, die
immer
erſt in 25 Tagen und 6 Stunden vollendet iſt.
Dieſe
Umdrehung
iſt an ganz eigentümlichen, großen Flecken erkenn-
bar
, welche auf der Oberfläche entſtehen und vergehen, Flecken,
die
ſo groß ſind, daß man ſie zuweilen mit einem guten
Taſchenfernrohr
von der Erde aus ſehen kann, ſobald man
die
Sonne durch den Nebel des Abend- oder
70884 ohne Blendung beobachten kann, oder wenn man die blendenden
Sonnenſtrahlen
durch ein ſchwarzes Glas oder ſonſt ein
anderes
Mittel unſchädlich für das Auge gemacht hat (ſ.
Fig. 23).
Aber die Flecken ſind keine vereinzelt auftretende Er-
ſcheinung
, ſondern ſie ſtehen mit anderen Erſcheinungen in
Zuſammenhang
, welche ſich auf der Sonnenoberfläche zeigen.
Wir beobachten nämlich in der Umgebung dieſer Flecken
ſtellenweis
ein ſtärkeres
56[Figure 56]Fig. 23.
Ein
Sonnenfleck.
Leuchten der Hülle, und
ein
Hervortreten von
beſonders
lichten Stellen,
welche
man Sonnen-
Fackeln
genannt hat.
Was ſind dieſe
Flecken
?
woher rühren
ſie
?
Auf dieſe Fragen
wiſſen
wir auch hier in
der
Nähe der Sonne
nichts
Beſſeres zu ant-
worten
als die beob-
achtenden
Aſtronomen
unten
auf Erden.
Die
Flecken
ſind nichts an-
deres
, als jene bereits
erwähnten
, dunklen Streifen und Punkte, Teile der glühenden
Sonne
, welche an der Oberfläche erkaltet, dichter geworden ſind
und
ihre leuchtende Kraft verloren haben.
Am paſſendſten ſind
ſie
mit unſern Wolken zu vergleichen, welche ſich gleichfalls
hoch
in luftiger Umgebung durch Abkühlung aus dem Luftmeere
bilden
.
Auch in der glühenden Sonnenatmoſphäre entſtehen ſolche
Verdichtungen
, die kälter und feſter als ihre Umgebung,
70985 und Wärme der Sonne nicht durchtreten laſſen, und deshalb
als
ſchwarze Flecken auf dem lichten Sonnenkörper erſcheinen.
Die Schwungkraft der Umdrehung, die am Äquator größer
ſein
muß als an den Polen, und die ungleichmäßige Ab-
kühlung
veranlaßt auf der Sonne ähnliche Strömungen, wie
unſere
Winde, und dieſe Winde jagen, zerteilen und ſammeln
die
Sonnenwolken in gleicher Weiſe, wie ſie auf unſerer kleinen
Erde
mit unſeren Waſſerwolken ihr Spiel treiben.
Doch wir dürfen uns hierbei nicht aufhalten, und müſſen
uns
einen Ort ſuchen, von dem aus wir dieſem glühenden
Meer
uns nähern können.
XI. Wir ſuchen uns ein Abſteige-Quartier.
Ohne Zweifel wäre eine ſolche Sonnenwolke die aller-
ſchönſte
Gelegenheit, uns auf der Sonne niederzulaſſen.
An Platz würde es uns da durchaus nicht fehlen. Schon
im
vorigen Jahrhundert wurde ein Sonnenfleck beobachtet, der
fünfmal
größer war als die Erde.
Der berühmte Aſtronom
Herſchel
(der Vater) ſah ſogar einen Sonnenfleck, der fünfzehn-
mal
größer als die Erde war.
Aus den ſorgfältigen Beob-
achtungen
des Aſtronomen Schwabe in Deſſau ging hervor,
daß
die Wolken in der Atmoſphäre der Soune von der Größe
Europas
zu den gewöhnlichſten Erſcheinungen gehören;
und
wenn
es auch richtig iſt, daß dieſe Wolken zuweilen in kleine
Teile
zerriſſen werden, ſo iſt doch nicht der mindeſte Zweifel
vorhanden
, daß auf dem kleinſten Sonnenfleck jedes kleine
deutſche
Vaterländchen aufs allerbequemſte Platz fände, und
es
keiner Steuerkunſt ſeiner großen Diplomaten bedürfte, um
das
Gleichgewicht zu erhalten.
71086
Gleichwohl hat das Niederlaſſen ſein Bedenkliches, und
wir
hoffen, nicht für zaghaft verſchrieen zu werden, wenn wir
uns
von ſolchem etwas fern halten.
Vor allem muß man wiſſen, daß ſelbſt die Mitte eines
Sonnenfleckes
, wo er freilich weit dunkler iſt als am Rand,
immer
noch ſtark leuchtet.
Im Vergleich zur Oberfläche der
Sonne
, die blendende Strahlen ausſendet, erſcheint der Mittel-
punkt
eines Sonnenfleckes freilich pechſchwarz;
aber ſo oft der
Planet
Merkur vor der Sonnenſcheibe vorüberzieht und als
ſchwarzer
Fleck auf derſelben erſcheint (und dies geſchieht in
einem
Jahrhundert an die zwanzig Mal), ſo oft der Planet
Merkur
alſo vor der Sonnenſcheibe als wirklich ſchwarzer
Fleck
vorüberzieht, und zuweilen auch vor dem Kern eines
Sonnenfleckes
ſteht, ſo bemerkt man, daß der Kern keineswegs
pechſchwarz
, ſondern noch ſehr lichtſtark iſt, woraus folgt, daß
die
Wolke noch ſo ungemein viel Wärme beſitzt, daß ein
Aufenthalt
auf derſelben höchſt bedenklich erſcheint.
Sollten wir aber auch Mut faſſen, um dieſes Hindernis
zu
überwinden, ſo wird man uns dennoch geſtatten müſſen,
daß
wir uns erſt überlegen, welche Rolle wir auf der Sonne
ſpielen
wollen.
Sie kommt uns, aufrichtig geſtanden, ein wenig jammer-
voll
vor.
Die Anziehungskraft der Sonne im Ganzen iſt 320000mal
ſtärker
als die der Erde.
Mit welchem Ruck wir alſo auf der
Sonne
anprallen würden, iſt für unſere Begriffe kaum faßbar.
Dieſer Ruck wird noch ſtärker ſein müſſen, wenn wir von
der
Sonnenkugel die ſehr dicke Atmoſphäre abrechnen, und
den
Kern der Sonne demnach noch maſſiger und dichter an-
nehmen
müſſen, als es gewöhnlich geſchieht.
Auf der Ober-
fläche
der Sonne fallen die Dinge in einer Sekunde mindeſtens
140
Meter und ſind auch mindeſtens an 30mal ſchwerer als
auf
der Erde.
Würden wir nun auch mit ganzen
71187 bis auf die Oberfläche der Sonne gelangen was wir keines-
wegs
beſchwören möchten ſo iſt es doch ausgemacht, daß
jeder
von uns ſich dreißigmal ſchwerer fühlen muß als auf
Erden
, und das iſt milde geſagt ein bißchen zu viel für
unſere
Phantaſie.
Selbſt ein Phantaſie-Reiſender wiegt mindeſtens einen
Zentner
, und unſer Körper wird auf der Sonne ſo ſchwer
werden
, als ob neunundzwanzig Zentner auf uns lägen.
Schlagen wir das Gewicht unſeres Kopfes auch ganz gering
auf
fünf Pfund an, ſo würde uns dort der Kopf wirklich
zentnerſchwer
werden.
Das Herz, das etwa 400 Gramm
wiegt
, würde auf der Sonne wie ein Stein von 10 Kilo ins
Gewicht
fallen.
Iſt es demnach ausgemacht, daß wir nur mit
ſehr
ſchwerem Kopfe und außerordentlich ſchwerem Herzen dort
eine
Luſtpartie unternehmen könnten, ſo iſt es doch wahr-
ſcheinlicher
, daß wir uns dort platt auf den Boden hinlegen
müßten
, und warten, ob wir auch Kräfte genug bekommen,
um
auch nur ein einziges unſerer ſchwerer gewordenen Glieder
zu
bewegen.
Wir machen deshalb in einiger Entfernung von der Sonne
Halt
, und werfen ungefähr 32 000 deutſche Meilen von ihr
entfernt
Anker, und zwar an einer ſehr berühmten Stelle, an
der
Stelle, wo der große Komet im Jahre 1680 der Sonne
am
nächſten ſtand, und dann in einer merkwürdigen Wurflinie
wieder
davon abging, um, wie der große Aſtronom Encke be-
rechnet
hat, nach circa 8000 Jahren wieder zu kommen,
wieder
die Sonne anzugucken oder ſich von ihr durchſcheinen
oder
durchwärmen zu laſſen und dann wieder auf und davon
zu
rennen, und zwar auf neue 8000 Jahre.
Hier machen wir Halt, und es ahnt uns ſo, daß wir auf
unſerer
Reiſe noch irgend einem Kometen begegnen werden,
um
ihm einen Gruß an den großen Herumtreiber von 1680
aufzutragen
, deſſen Landungsplatz wir inne haben, und auf
71288 wir’s uns gemütlich machen müſſen, da wir ſo manch In-
tereſſantes
zu betrachten haben.
XII. Die Größe der Sonne.
Hier von unſerem berühmten Ruheplätzchen aus ſehen wir’s
ſo
recht, wie groß die Sonne iſt.
Wie groß iſt ſie denn?
Sie erſcheint uns hier ſo groß, daß ſie uns faſt die
Hälfte
des Himmels verdeckt;
allein das will nicht viel ſagen,
denn
wenn wir uns einen Groſchen dicht vors Auge halten,
verdeckt
er uns auch faſt den ganzen Himmel.
Die ſcheinbare
Größe
alſo vermag uns über die wirkliche Größe ſehr zu
täuſchen
.
Wir wollen von der wirklichen Größe der Sonne
ſprechen
, und zwar von der Größe der ganzen Kugel ſamt
ihrer
Atmoſphäre, da wir die Dicke dieſer Hülle aufrichtig ge-
ſtanden
nicht gut anzugeben wiſſen.
Wollten wir der Sonne einen Spieß in den Bauch ſtecken,
der
durch den Mittelpunkt der Kugel geht und auf der andern
Seite
herauskommt, ſo würden wir, wenn wir uns einen
kleinen
Kerb an jede Seite des Spießes machten, wo er aus
der
Sonne hervorragt, ein ganz genaues Maß von der Dicke
der
Sonne, oder was man ſo ſagt, von demDurchmeſſer”
der
Sonne haben.
Und thun wir das, ſo ſehen wir, daß
die
Aſtronomen ganz richtig gerechnet haben, denn der Durchmeſſer
iſt
185 200 Meilen.
Wie viel ſind aber 185 200 Meilen?
Nun, davon wollen wir uns bald einen Begriff zu machen
verſuchen
.
Wenn wir ein Band von 185 200 Meilen Länge
haben
, ſo können wir uns folgenden Spaß machen.
Wir
binden
das eine Ende an den Eiffel-Turm, reiſen mit
71389 andern Ende nach dem Monde, wickeln dem Mond ſechsmal
das
Band um den Bauch, und kommen mit dem Ende wieder
zurück
zum Eiffel-Turm, umwickeln hier den Fuß des Turmes,
reiſen
ſechsmal kreuz und quer um die Erde und wickeln
ebenfalls
das Band ſechsmal um dieſelbe, und wenn wir bei
dieſer
Gelegenheit gerade in der Meß-Zeit nach Leipzig
kommen
, ſo haben wir noch ein Endchen Band übrig, das wir
zu
Cotillon-Schleifen verkaufen können.
Laſſen wir nun, “nicht
zum
Schaden unſerer Konkurrenten, ſondern zum Vorteil
unſerer
Käufer”, die Elle für nur einen Groſchen, ſo können wir
ſieben
Wochen langwirklichen Ausverkauf wegen Aufgabe
des
Geſchäfts” machen und täglich 1200 Ellen verkaufen, und
von
dem Endchen mehr als 6000 Mark löſen.
Das ſind 185 200 Meilen!
Der Umfang der Sonne aber iſt gar ungefähr 555 600
Meilen
, das heißt, man brauchte ein Band von dieſer Länge,
wenn
man dasſelbe einmal um die Sonne wickeln wollte.
Ein
Band
von dieſer Länge kann man aber zehndoppelt nehmen
und
einen Strick daraus drehen, und dieſer Strick wäre lang
genug
, um damit den Mond an die Erde anzubinden.

Wenn die Eiſenbahnen auf der Sonne auch 100 Meilen
den
Tag zurücklegen, ſo dauert eine Reiſe um die Sonne
direkt
per Dampf volle 16 Jahre, während eine gleiche Reiſe
um
die Erde in zwei Monaten zurückgelegt wäre.
Wenn das nun vom Durchmeſſer und Umfang der Sonne
geſagt
werden muß, ſo ſind wir wirklich in Verlegenheit, von
dem
ganzen Inhalt dieſer Kugel ein Wort zu ſagen, denn wenn
wir
verſicherten, daß ſie 3500 Billionen Kubikmeilen enthält, ſo
wäre
das doch ein leeres Wort, ſolange wir uns nicht mindeſtens
einen
Begriff von einer einzigen Kubikmeile verſchafften und
zugleich
eine Ahnung davon, wie viel eine einzige Billion iſt.
Wie groß iſt eine Kubikmeile? und was iſt eine Billion?
das wollen wir gleich ſehen.
71490
Wir wollen einmal eine Stange von einer Meile hinlegen,
und
, nachdem das geſchehen iſt, wollen wir ſie grade aufrecht
in
die Höhe ſtellen.
Nun gucken wir einmal hinauf, um zu
ſehen
, wie hoch ſie iſt!
Wie hoch? das wiſſen wir ja: eine Meile!
Freilich, wir wiſſen’s; aber wir machen uns doch ſchwerlich
ein
richtiges Bild davon, wenn wir uns nicht einiger Hilfs-
mittel
dazu bedienen.
Wir wollen uns deshalb vorſtellen,
daß
neben dieſer Stange die gleich große Bildſäule eines
Menſchen
hingeſtellt würde;
alſo eine Bildſäule, die eine
Meile
groß iſt, und nun werden wir uns ſchon einigermaßen
richtigere
Begriffe von dieſer Höhe machen können, wenn wir
folgende
Betrachtung anſtellen.
An einer Bildſäule von der Höhe einer Meile liegt das
Knie
eine viertel Meile, alſo faſt 2000 Meter hoch, und da
der
Eiffelturm nur 300 Meter hoch iſt, ſo müßte man 6 ſolcher
Türme
übereinander ſtellen, um zum Knie zu gelangen.

Erwähnen
wir nun noch, daß man 25 ägyptiſche Pyramiden
eine
über die andere ſtellen müßte, um gleiche Höhe mit der
Hüfte
dieſer Bildſäule zu erreichen, ſo iſt es klar, daß wir
ganze
Gebirge nötig haben, um daran die Höhe der Figur zu
meſſen
, denn nur ſehr wenige Berge auf Erden ſind eine Meile
hoch
:
der höchſte von allen, der Mount Ewereſt im Himalaya,
iſt
ein und eine ſechſtel Meile hoch.
Hiernach läßt ſich’s
ungefähr
bildlich begreifen, was eine Meile hoch ſagen will.
Nun aber kehren wir wieder zu der Stange zurück, die
wir
ſenkrecht aufgerichtet haben, und denken uns geradeaus in
der
Entfernung von einer Meile ebenfalls ſolch’ eine Stange
aufgerichtet
und nageln wir uns einmal Bretter von der einen
Stange
zur andern, ſodaß wir eine Bretterwand von der Länge
einer
Meile bekommen, und da wir immer höher mit dem
Annageln
der Bretter vorſchreiten, ſo bekommen wir endlich
eine
Wand, die eine Meile lang und eine Meile hoch iſt.
71591
Iſt das eine Kubik-Meile? I bewahre, noch lange
nicht
, denn dieſe Wand iſt nur eine Quadrat-Meile.
XIII. Allen Reſpekt vor einer Kubik-Meile.
Denken wir uns nun eine ſolche Bretterwand von einer
Meile
Länge und einer Meile Höhe wirklich gezogen, ſo wollen
wir
nur beiläufig bemerken, daß durch dieſelbe die Witterung
in
einer ganz fabelhaften Weiſe umgeſtaltet würde.
Die nörd-
liche
Seite würde einen ungeheuer langen Winter, wäh-
rend
die ſüdliche Seite einen ungemein frühen und langen
Sommer
haben würde.
Man köunte im April auf der einen
Seite
Waſſer-Korſo fahren, auf der andern Seite Schlittſchuh
laufen
.
Allein das gehört nicht hierher und wir wollen uns
nicht
weiter auf ſolche Vergnügungen einlaſſen.
Was wir eigentlich ſagen wollen, iſt Folgendes:
Wir haben jetzt eine einzige Bretterwand aufrecht ſtehend.
Nun wollen wir uns aber vier ſolche Bretterwände denken und
wollen
dieſe vier Wände zu einer Kiſte zuſammennageln und
da
die Kiſte oben noch offen iſt, ſo wollen wir uns einen
Deckel
, der gleichfalls wird eine Meile breit und lang ſein
müſſen
, dazu zimmern und richtig aufſetzen.
Dieſe Kiſte würde den Raum einer Kubik-Meile einnehmen,
oder
einfacher eine Würfel-Meile ſein, denn jeder wird zu-
geben
, daß die Kiſte einen Würfel bildet, von dem jede Seite
eine
Meile lang und hoch iſt.
Da wir nun wiſſen, was eine Kubik-Meile iſt, wollen
wir
einmal ſehen, was ſolch’ eine Kubikmeile zu ſagen hat,
oder
einfacher, was ſolche Kubik-Meile in ſich hat.
Zu dieſem Zweck wollen wir den Deckel, der jetzt
71692 eeren Kiſte öffuen und verſuchen, die Kiſte mit allem, was wir
zur
Hand haben, vollzupacken.
Die Stadt Berlin liegt uns
ſo
recht bequem, wir nehmen ſie wie ein Kinderſpielzeug
und
werfen ſie in die Kiſte.
Darauf laufen wir ſchnell nach
Potsdam
und nehmen beiläufig alle Dörferchen auf dem
Wege
mit und packen alles zuſammen und werfen’s in die
Kiſte
.
Da aber mit all’ dem nicht viel mehr als der
Boden
der Kiſte bedeckt iſt, ſo müſſen wir weiter aus-
holen
.
Wir ergreifen ganz Paris mit allen Säulen, Türmen,
Triumphbogen
und Kirchen und werfen’s hinein;
da aber all’
das
noch kaum zu merken iſt, müſſen wir auch ganz London
zuſchmeißen
.
Daß Wien mit hineingehört, verſteht ſich von
ſelbſt
, und um den Frieden nicht zu ſtören, wollen wir auch
Petersburg
zuthun.
Da aber all das noch nichts hilft, um die
Kiſte
nur merklich zu bepacken, wollen wir anfangen, Provinzial-
ſtädte
hineinzuthun, und um keinen Neid und Rangſtreit auf-
kommen
zu laſſen, wollen wir alle Feſtungen, Dörfer, Schlöſſer,
Gehöfte
beilegen.
Aber all’ das zieht noch nicht. Wir werfen
alles
, was Menſchenhände in Europa gemacht haben, hinein;
aber das füllt kaum den vierten Teil der Kiſte. Wir thun all
die
Schiffe vom Meere dazu;
es hilft nichts. Wir greifen nach
der
alten und neuen Welt, und werfen Aegyptens Pyramiden
und
Nord-Amerikas Eiſenbahnen und Maſchinen-Fabriken
hinein
;
wir thun alles, was wir von Menſchenwerken in Afrika,
Aſien
, Amerika und Auſtralien vorfinden, in die Kiſte und
ſie
wird kaum zur Hälfte gefüllt werden.
Nun wollen wir die Kiſte ein bißchen ſchütteln, dann ſackt
ſich
alles beſſer und legt ſich in Ordnung, und da wir’s uns
einmal
in den Kopf geſetzt haben, die Kiſte vollzupacken, ſo
wollen
wir verſuchen, ob wir ſie nicht mit Menſchen voll-
bekommen
.
Wir raffen nun alles Stroh zuſammen, das auf der
ganzen
Erde zu haben iſt, und breiten dies in der Kiſte aus;
71793 da es jedoch nicht ausreicht, um das Gerümpel darunter zu
bedecken
, ſo müſſen wir Baumlaub zu Hilfe nehmen und ſtellen
ſomit
eine weiche Schicht her, um Menſchen drauf packen zu
können
.
Da wir für jeden Menſchen etwas über 60 Centimeter
Breite
brauchen, ſo legen wir an die eine Wand der Kiſte,
die
7 500 Meter Länge hat, eine Reihe von 12,000 Menſchen;
und da wir’s den Menſchen gern bequem machen, wollen
wir
die Höhe der Menſchen zu faſt 2 Metern annehmen,
ſodaß
wir auf das Strohlager 4 000 ſolche Reihen legen
können
.
Nun weiß es aber jeder, daß 4 000 mal 12,000
genau
48,000,000 macht, und da Deutſchland nicht viel
mehr
als 48 Millionen Menſchen hat, ſo hat die Bevölkerung
des
deutſchen Reiches in der unterſten Schicht ſo ziemlich
Platz
.
Nun decken wir dieſe mit irgend einer weichen Schicht von
einem
Fuß Höhe zu, und legen auf dieſes Lager die zwei
Millionen
Menſchen, die in Auſtralien leben, und behalten
noch
Platz, um 46 Millionen Menſchen aus Aſien neben ſie
hinzulagern
.
Decken wir nun auch dieſe Schicht zu und
bereiten
immer neue Lager, um immer weitere 48 Millionen
Menſchen
einzupacken, ſo gehören kaum ſiebzehn Schichten
dazu
, um die 800 Millionen Menſchen Aſiens hinzulagern.
Für Afrika, wo circa 210 Millionen Menſchen wohnen, brauchen
wir
kaum fünf ſolche Schichten in unſerer Kiſte, und die
332
Millionen große europäiſche Menſchheit, für die ſonſt die
Welt
zu klein iſt, nimmt in unſere Kiſte eingepackt kaum ſechs
Schichten
ein.
Im ganzen alſo können wir in unſerer Kiſte nur
20
Schichten mit Menſchen vollpacken, und wenn wir für jede
Schicht
nebſt Strohverpackung drei Fuß rechnen, ſo nimmt die
ganze
Menſchheit des Erdballs in unſerer Kiſte nur 60 Fuß
Höhe
weg, ſo daß wir 200 mal ſo viel Menſchen, als in
71894 Welt exiſtieren, brauchen, um nur die halbvolle Kiſte ganz zu
füllen
.
Was bleibt uns nun übrig? Wollten wir auch die Tier-
welt
in die Kiſte einpacken, und Ochſen, Eſel, Schafe, Pferde,
Mauleſel
, Kamele, Elephanten über die eingepackte Menſchheit
werfen
, und darauf Geflügel und Fiſche und Schlangen und
alles
, was kriecht und fliegt, ſie würde doch nicht voll, wenn
wir
nicht noch zu Felſen und Gebirgen unſere Zuflucht nehmen.
Und das alles iſt nur eine einzige Kubik-Meile! Gewiß
man
bekommt Reſpekt vor einer Kubik-Meile.
XIV. Wir bekommen noch mehr Reſpekt vor der
Sonne.
Iſt es denn aber auch wirklich wahr und richtig und
menſchenmöglich
, daß eine einzige Kubikmeile ſo groß iſt?
Sollte man wirklich eine Kiſte, von der jede Wand eine Meile
lang
und hoch iſt, gar nicht füllen können?
Wie, haben wir
nicht
Maſchinen, die alles in der Welt machen, ſollten wir
nicht
eine Maſchine herſtellen können, die auch dieſe Aufgabe
erfüllt
?
Friſch auf! wir müſſen’s gleich probieren!
Wir bauen eine Ziegelbrennerei und wenden eine ſolche
Maſchinerie
dabei an, daß in jeder Sekunde ein Ziegelſtein
fertig
wird, der eine halbe Elle hoch und ebenſo dick und
ebenſo
breit iſt, das heißt:
ein ziegelſteinerner Würfel von
einem
Fuß.
Wir richten die Maſchine ferner ſo ein, daß ſie
Tag
und Nacht im Gange bleibt, und zugleich bei der Fabri-
kation
jeden fertigen Stein ordnungsmäßig in die Kiſte packt.
Da müßte es denn doch kurios zugehen, wenn wir nicht bald
die
Kiſte voll bekämen!
71995
Wohlan, die Maſchine iſt fertig, und ſie arbeitet ſchon!
In
jeder Sekunde das iſt keine Kleinigkeit liefert ſie
einen
Stein und legt ihn was noch mehr iſt, ordentlich
in
die Kiſte.
Das geht ſo ſchnell, daß unſer Auge kaum folgen
kann
, darum wollen wir’s abwarten, denn ſie wird gewiß recht
bald
damit fertig werden!
O ja, recht bald! Wir können’s ganz genau berechnen.
In jeder Sekunde macht ſie einen Ziegelſtein; alſo in der
Minute
60;
in der Stunde 60mal ſo viel, alſo 3600; und in
einem
Tage 24 mal ſo viel, alſo 86,400.
Durch ein ganzes
Jahr
gar macht ſie 365 mal ſo viel, und das giebt 31,536,000
ſolcher
Ziegelſteine.
Nun wollen wir einmal ſehen, wie viel ſolcher Ziegelſteine
in
unſere Kiſte hineingehen.
Wir belegen erſt ordnungsmäßig reihenweiſe den Boden
der
Kiſte.
Jede Reihe iſt eine Meile lang, folglich gehen auf
eine
Reihe 24,000 Steine.
Da aber der Boden vierundzwanzig
ſolcher
Reihen faßt, ſo müſſen wir 24,000mal 24,000 Steine
haben
, um den Boden zu bedecken, und das ſind netto
576
,000,000 Steine.
Da nun unſere Maſchine nur 31,536,000 jährlich liefert,
kann
ſich’s jedes Kind ausrechnen, daß ſie in 18 Jahren, in
welchen
ſie Tag und Nacht arbeitet, noch nicht einmal ſo weit
iſt
, auch nur den Boden der Kiſte mit Steinen zu belegen!
Nun aber iſt unſere Kiſte auch eine Meile hoch, das heißt,
ſie
braucht, um gefüllt zu werden, 24,000 ſolche Schichten, wie
die
iſt, welche den Boden bedeckt, und wenn man eine kleine
Rechnung
, die jeder Schulknabe machen kann, ausführen will,
wird
man ſich überzeugen, daß unſere Maſchine doch nicht ſo
ſchnell
mit ihrer Arbeit fertig wird, als wir es geglaubt haben.
Sie wird Tag und Nacht, Jahr aus, Jahr ein ohne Unter-
brechung
volle 438,356 Jahre, 58 Tage, 9 Stunden und
36
Minuten arbeiten müſſen, um ihre Aufgabe zu vollenden.
72096
Das iſt eine einzige Kubik-Meile, ein Würfel, der nur eine
Meile
lang, eine Meile breit und eine Meile hoch iſt, und da
57[Figure 57]Fig. 24. man aus der Erdkugel 2650 Millionen ſolcher Würfel ſchneiden
kann
, ſo müſſen wir bei allem Reſpekt vor einem
72197 ſolchen Würfel, einen ganz beſondern Reſpekt vor der Erdkugel
bekommen
!
Und dabei müſſen wir bedenken, daß die Erde früher, als
ſie
noch gasförmig war, einen ungeheuer vielmal größeren
Raum
einnahm als jetzt, wo ſie erkaltet iſt.
Fig. 24 zeigt
uns
das damalige Volumen der Erde im Vergleich zur
heutigen
Größe (a).
Nun mache man ſich eine Vorſtellung
von
den Raumverhältniſſen in unſerm Sonnenſyſtem! und
wie
verſchwindend klein ſind dieſe Größenmaße wieder gegen-
über
denen im geſamten Weltall!
Wir vergeſſen aber ganz und gar, daß wir eigentlich auf
unſerer
Phantaſie-Reiſe vor der Sonne Station gemacht haben,
um
die Größe der Sonne zu betrachten.
Wie bereits erwähut,
enthält
die Sonne 3500 Billionen Kubikmeilen, und da wir
uns
nun ungefähr ein Bild von einer einzigen Kubik-Meile
machen
können, müſſen wir auch die Frage beantworten:
wie
viel
iſt denn eigentlich eine Billion?
Eine Billion iſt eine Million mal Million und ſieht in
Zahlen
geſchrieben ſo aus:
1,000,000,000,000. Allein Zahlen-
reihen
geben nicht die mindeſte Vorſtellung von der Menge,
welche
ſie ausdrücken.
Unſer Auge vielleicht auch unſer
Verſtand
iſt ſo beſchränkt in Auffaſſung von Mengen, daß wir
kaum
mehr als drei Dinge mit einem Blick überſchauen.
Wenn
wir
die nebenſtehenden ſechs Gedankenſtriche ( )
mit
einem einzigen Blicke zählen wollen, ſo teilen wir ſie un-
willkürlich
in zweimal drei oder in dreimal zwei ein und
faſſen
ſie dann erſt als ſechs auf.
Unſere beſten Karten-
ſpieler
würden nicht ſo ſchnell eine Pik-fünf von einer Pik-ſechs
oder
gar eine Pik-acht von einer Pik-zehn mit einem einzigen
Blick
unterſcheiden können, wenn die Zeichen der Karten nicht
in
der gewohnten Ordnung zu drei und drei und vier und
vier
ſtänden.
Größere Mengen lernen wir erſt nach vieler
Erfahrung
ſchätzen, und von Mengen, über welche wir keine
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
72298
Erfahrungen haben, können wir uns auch gar keine Vorſtellung
machen
.
Eine Billion iſt ſo viel, daß ein Menſch, der imſtande iſt,
in
jeder Sekunde drei zu zählen, an zehntauſend Jahre Tag
und
Nacht zählen müßte, um eine Billion auszählen zu können!
Da man nun aus der Sonne 3500 Billionen Würfel
ſchneiden
kann, von denen jeder eine Meile hoch und lang
und
breit iſt, ſo iſt es ganz unzweifelhaft, daß, wenn irgend
eine
Hand es vermöchte, in jeder Sekunde drei ſolche Kubik-
Meilen
von der Sonne abzureißen und fortzuſchleudern, ſie
volle
35 Millioneu Jahre zu thun hätte, um die ganze Sonne
zu
vernichten.
Stellen wir uns vor, daß bei der Entſtehung der Sonne
ſich
in jeder Sekunde eine Kubik-Meile dieſer Maſſe bildete
was
wahrhaftig ein bißchen ſehr übertrieben iſt ſo hat es
106
Millionen Jahre gedauert, bevor die Sonne fertig wurde!
Unter ſolchen Umſtänden nehme man es uns Phantaſie-
Reiſenden
nicht übel, wenn wir ungeheuren Reſpekt vor der
Sonne
bekommen und von unſerer Reiſe-Station aus anfangen,
uns
einmal in der Welt umzuſehen, welche von dieſem Natur-
Ungeheuer
erwärmt und erleuchtet wird.
XV. Die Raumverſchwendung im Sonnen-Syſtem.
Welch’ ungeheure Größe auch die Sonne hat, hier von
unſerer
Station aus vermögen wir doch nur zu ſagen, daß ſie
klein
, unendlich klein iſt gegen den Raum, welcher ihr als Ge-
biet
angewieſen iſt.
Wir erſchrecken vor der ungeheuren Maſſe, welche in der
Sonne
angehäuft iſt;
aber wir entſetzen uns noch mehr vor
72399 ungeheuren Leerheit im Raume, die rings um die Sonne
herrſcht
.
Es bewegen ſich zwar eine Reihe von Planeten
um
die Sonne, die wir recht bald die Ehre haben werden,
näher
kennen zu lernen;
allein ſie alle bewegen ſich in Kreiſen,
die
faſt in einer und derſelben Ebene mit dem Äquator der
Sonne
liegen.
Ein Menſch auf der Sonne, der ſich ſo hin-
ſtellt
, daß ihm zur Rechten der eine und links der andere Pol
der
Sonnenkugel liegt, und nun geradeaus in die Ferne blickt,
der
wird ſämtliche Planeten um die Sonne laufen ſehen, als
ob
ſie alle beiſammen eine gemeinſame, nur ſehr ſchmale Renn-
bahn
hätten.
Keiner der Planeten weicht bedeutend nach rechts
oder
links von dieſer Bahn ab.
Wendet dieſer Menſch aber
das
Geſicht rechts oder links nach einem der Pole der Sonnen-
kugel
und blickt hier hinaus in die Ferne, ſo blickt er weit,
weit
hinein in einen leeren Raum, der ganz unbevölkert wäre,
wenn
nicht Kometen die Güte hätten, von Zeit zu Zeit
Phantaſie-Reiſen
in dieſe Einöde zu machen und ohne Ordnung
rechts
und links und nach allen Weltgegenden ihren Umlauf
um
die Sonnenkugel auszuführen.
Es iſt eigentümlich, wie ungeheuer weit das Sonnenſyſtem
in
die Welt hinausreicht, und wie merkwürdig ſchmal dasſelbe
trotzdem
iſt.
Wollte man die Sonne mit ſamt allen Planeten
einpacken
, ohne ſie im Lauf zu ſtören, ſo würde man, wie wir
ſchon
wiſſen, dazu eine Kiſte brauchen, die die Form einer ge-
wöhnlichen
, flachen, runden Schnupftabakdoſe hat.
Die Weite
dieſer
Doſe, in welcher Neptun, der letzte der jetzt bekannten
Planeten
ſich noch in ſeinem Kreiſe um die Sonne bewegen
könnte
, müßte 600 Millionen Meilen betragen, während die
Höhe
der Doſe kaum eine Million Meilen zu ſein brauchte.
Sehen wir uns nun rechts und links von dieſem unſern
Standpunkt
aus um, das heißt, blicken wir nach der Richtung
hin
, nach welcher die Pole der Sonne zeigen, ſo finden wir
einen
leeren Raum, der bis zu den Fixſternen geht,
724100 wollten wir einen Beſuch bei einem der nächſten dieſer Fix-
ſterne
machen, ſo würden wir eine Reiſe vor uns haben, die
ſelbſt
auf dem elektriſchen Telegraphen, der uns als Phantaſie-
Reiſegelegenheit
dient, nicht weniger als zwei und ein halbes
Jahr
Zeit erfordert.
Daß dies eine Entfernung iſt, die jede Phantaſie über-
ſteigt
, werden wohl Alle zugeben müſſen.
Man wird uns
daher
erlauben, daß wir uns in dieſem leeren Raum nur ein
Plätzchen
ausſuchen, von wo aus wir das Sonnenſyſtem ſeit-
wärts
anſehen können, und zu dieſem Zweck machen wir auf
unſerer
Reiſetour von der Erde zur Sonne einen Abſtecher
rechts
in den leeren Weltraum hinein, um dort das ganze
Sonnenſyſtem
, das heißt die Sonne ſamt all’ den Kreiſen, in
welchen
die Planeten um dieſelbe wandern, ſo recht vor Augen
zu
haben.
Damit wir indeſſen nicht allzuweit in dieſe leere Unend-
lichkeit
hineingeraten, wollen wir auf unſeren Seiten-Abſtecher
nur
{3/4} Stunden verwenden, und das heißt ungefähr ſo viel,
daß
wir dort Halt machen wollen, wohin uns die Geſchwindig-
keit
der Elektrizität in dreiviertel Stunden zu tragen imſtande
iſt
, was beiläufig bemerkt ungefähr 108 Millionen Meilen aus-
macht
.
Und indem wir dies ſofort ausführen, befinden wir
uns
ſchon außerhalb des Gebietes, wo die Planeten um die
Sonne
kreiſen, und beſehen uns das Ding weit überſichtlicher
und
anſchaulicher von der Ferne.
Allein ſo bequem und ungeſtört wir auch hier Platz nehmen,
ſo
ſehr ſtört doch ein Umſtand unſern Plan, ein Umſtand, den
wir
gar nicht zu bewältigen imſtande ſind.
Von hier aus geſehen erſcheint uns die Sonnenſcheibe
ſchon
fünfmal kleiner, als wir ſie von der Erde aus ſehen;
das will jedoch nicht allzuviel ſagen. Zu erkennen iſt ſie
trotzdem
durch ihr noch immer ſehr helles Licht, das etwa
fünf
und zwanzig Mal ſchwächer als auf Erden in unſer
725101 ſtrahlt; allein mit den Planeten iſt dies ein übel Ding, denn
unſere
Erde ſieht von hier wie ein feines Pünktchen aus, das man
kaum
recht ſehen kann, unſer Nachbar Mars verſchwindet faſt,
während
die kleinen Planeten, die zwiſchen dieſem und Jupiter
ihren
Rundlauf um die Sonne nehmen, vollkommen unſichtbar
ſind
.
Wir überzeugen uns hier von einer etwas ſonderbar
klingenden
Wahrheit, die aber leider nicht wegzuleugnen iſt,
von
der Wahrheit nämlich, daß es im Weltraum keinen Punkt
giebt
, von wo aus ein menſchliches Auge mit Bequemlichkeit
unſer
Sonnenſyſtem überblicken könnte.
In der Nähe dieſes
Syſtems
ſind die Kreiſe ſo furchtbar groß, daß ſie ſich
nicht
mit einem Blick umfaſſen laſſen;
in der Ferne von
demſelben
iſt ein Teil der Planeten ſo klein, daß ſie ganz ver-
ſchwinden
.
Von hier aus ſehen wir’s erſt recht, welch’ furchtbare
Raumverſchwendung
im Sonnenſyſtem herrſcht, ſelbſt dort
herrſcht
, wo es von den Planeten durchwandert iſt.
Nimmt
man
nur die Planeten als belebt an, während der Raum,
durch
welchen ſie wandern, der unbelebte, leere Teil der Welt
iſt
, ſo nimmt das Leben in einem unendlichen, großen Weltall
nur
einzelne, äußerſt kleine Punkte ein, die neben der Größe
der
Welt als die unſcheinbarſten Dinge ganz und gar dem
Auge
verſchwinden.
XVI. Ein Sonnenſyſtem im Kleinen.
Der Überſichtlichkeit wegen wollen wir uns nun ein
Sonnenſyſtem
im Kleinen machen, und dabei zugleich die Größe
der
Sonne und der Planeten wie deren Entfernung von ein-
ander
in ſolchen Verhältniſſen darſtellen, wie ſie für unſere
Sinne
am leichteſten faßlich ſein werden.
726102
Denken wir uns alſo eine Kugel von {2/3} Meter Durch-
meſſer
, die die Sonne vorſtellen ſoll.
Eine Kugel von dieſer
Größe
iſt in der Nähe betrachtet ſchon recht anſehnlich;
ihr
Umfang
iſt etwa dem eines Vorderrades einer Droſchke gleich;
eine ſolche Kugel vermag ſchon ein Menſch nicht zu umſpannen.
Dies
alſo ſoll die Sonne vorſtellen.
Wie groß müſſen wir Merkur, den nächſten Planeten,
machen
, um ein richtiges Verhältnis herauszubekommen?
Eine einfache Rechnung zeigt, daß wir unter dieſen Um-
ſtänden
den Merkur nicht größer als ein Senfkörnchen machen
dürfen
.
Wer ſich nun die Größe eines Senfkörnchens gegen die
einer
Kugel von {2/3} Meter Durchmeſſer lebhaft vorſtellen kann,
der
wird geſtehen, daß ſie für unſer Auge in gar keinem
ſchätzbaren
Verhältnis zu einander ſtehen.
Wo ſoll man ſolch’
ein
Körnchen hinlegen, damit es für unſer Auge auch nur be-
merkbar
iſt gegen die größere Kugel?
Ein Körnchen, das unter unſerm Nagel hängen bleibt und
eine
Kugel, die wir mit beiden Armen nicht umſpannen können,
laſſen
ſich kaum gleichzeitig betrachten;
wollte man auch das
Körnchen
der beſſern Beſchaulichkeit wegen, auf die Kugel
ſelber
legen, ſo würde es bei dem gewöhulichen Anſehen ſo
wenig
beachtet werden, ſo wenig wir ein Sandkörnchen beachten,
das
am Wagenrade klebt.
Wo aber müſſen wir das Senfkörnchen hinlegen, um unſer
kleines
Sonnenſyſtem dem wirklichen nach Verhältnis ähnlich
zu
machen.
Wir müſſen zu dieſem Zweck etwa 25 Meter abmeſſen,
und
in ſolcher Entfernung von der größeren Kugel legen wir
das
Senfkörnchen hin.
Wollen wir nun auch den zweiten Planeten, Venus, an
der
paſſenden Stelle anbringen, ſo müſſen wir zu ſeiner Dar-
ſtellung
ſchon eine Erbſe wählen, und wenn wir dieſe in
727103 Entfernung von 50 Meter von der Kugel ab hinlegen, ſo wird
dies
unſerm Modell ſo ziemlich entſprechen.
So groß wir kleinen Menſchen uns auch dünken, ſo klein
ſind
wir bekanntlich gegen die Erdkugel, und dennoch dürfen
wir
für unſer Modell nur eine zweite Erbſe wählen, um ſie
die
Erde vorſtellen zu laſſen.
Legen wir dieſe Erbſe in einer
Entfernung
von 65 Meter von der Kugel, ſo wird ſie an
dieſer
Stelle unſerm Zwecke entſprechen.
Für den Planeten Mars können wir nur ein Kügelchen
von
halb ſo großem Durchmeſſer wie eine Erbſe brauchen.
Nunmehr müſſen wir gar zu etwa 400 äußerſt feinen
Stäubchen
, die man mit bloßem Auge kaum ſehen kann, unſere
Zuflucht
nehmen, um die vierhundert ſehr kleinen Planeten
darzuſtellen
, welche hinter Mars ihren Umlauf um die Sonne
nehmen
.
Jetzt müſſen wir uns für den größten Planeten, für
Jupiter
, eine paſſende Kugel ſuchen;
ſie iſt gegen die andern
ſchon
ſehr beträchtlich;
im Verhältnis zu unſerm Modell jedoch
können
wir für Jupiter höchſtens einen Pfirſich brauchen, und
dieſen
müſſen wir ſchon etwa 350 Meter tragen, um ihn dort
ſeinen
Platz anzuweiſen.
Hier müſſen wir nunmehr nachſinnen, wie wir uns den
Saturn
darſtellen, der bekanntlich eine Kugel iſt, welche frei
in
einem flachen Ringe ſchwebt.
Eine Kirſche wird uns leicht
aus
der Verlegenheit helfen, ihre Größe iſt für unſer Modell
ungefähr
paſſend, und wenn wir zwei lange Stengel zu einem
Ring
verwenden, den wir irgend wie haltbar um die Kirſche
legen
, ſo können wir uns damit etwa 650 Meter weit be-
geben
, um daſelbſt für ſie die paſſende Stelle ausfindig zu machen.
Für Uranus können wir eine recht kleine Haſelnuß nehmen.
Endlich brauchen wir für den erſt im Jahre 1846 entdeckten
Neptun
eine Kugel von der Größe einer Quitte, und dieſe
legen
wir 2 Kilometer entfernt nieder.
728104
Dies iſt ein ungefähr entſprechendes Modell für das
Sonnenſyſtem
, wenn wir für die Sonne eine Kugel von {2/3} Meter
Durchmeſſer
nehmen.
Und an dieſem Modell, das wir auch in Bewegung
ſetzen
müſſen, wollen wir verſuchen, das zu zeigen, was wir
im
Weltraum, ſeitwärts ab vom Sonnenſyſtem ſchwebend, zu
ſehen
bekommen.
XVII. Wie das Modell ſtimmt.
Bevor wir unſer Modell in Bewegung ſetzen, müſſen wir
uns
eine kleine Bemerkung erlauben.
Was würde wohl jemand dazu ſagen, wenn er einen ſo
weiten
Raum, mehr als {1/2} Meile, mit nichts weiter beſetzt
ſehen
würde, als mit unſerer Kugel von {2/3} Meter Durchmeſſer
und
all den kleinen Körnchen und Kügelchen, die wir für unſer
Modell
gebraucht haben?
Gewiß, er würde vor allem über
die
furchtbare Raumverſchwendung erſtaunt ſein;
und mit
Recht
würde er ſich fragen, ob, wenn dies wirklich das Sonnen-
ſyſtem
vorſtellen ſoll, nicht noch viel tauſendmal mehr
Kügelchen
derart Platz hätten.
Wir glauben auch in der That, daß, wenn man einem
Menſchen
dieſe Kugel ſamt den Körnchen und Kügelchen gäbe,
damit
er ſie nach ſeinem Geſchmack und ſeinem Belieben
placiere
, er ohne allen Zweifel ganz etwas anderes daraus ge-
macht
haben würde, und ſind deshalb auch ernſtlich der Anſicht,
daß
die Welt, das heißt das Sonnenſyſtem ganz anders aus-
ſehen
würde, wenn irgend ein Menſch bei ſeiner Entſtehung
etwas
drein zu ſprechen gehabt hätte.
Allein eben ſo aufrichtig wollen wir’s nur geſtehen, daß
wir
nicht glauben, es würde irgend ein Menſchenkind
729105 Sonnenſyſtem beſſer und, was die Hauptſache iſt, dauernder
eingerichtet
haben.
Unſerem Geſchmack, das iſt richtig, ſagt das Sonnenſyſtem
durchaus
nicht zu;
aber nachdem wir wiſſen, daß es ſeine
Jahre
ſchon gehalten hat, nachdem wir aus den Schlüſſen
der
Naturforſcher gelernt haben, daß es vielleicht Billionen von
Jahren
ſchon exiſtiert, und endlich gar, nachdem der ſcharf-
ſinnigſte
der Aſtronomen, der franzöſiſche Naturforſcher Laplace
den
unumſtößlichen Beweis geliefert hat, daß das Sonnen-
ſyſtem
ſo ſolide eingerichtet iſt, daß es nach Billionen und
Billionen
von Jahren noch haltbar ſein wird, und daß
eigentlich
gar keine Zeit in Ausſicht ſteht, wo es einmal zu
Schanden
geht, da bekommen wir einen Reſpekt vor dieſer
offenkundigen
Weitläufigkeit, und haben umſomehr Urſache,
uns
darüber zu beruhigen, weil wir’s doch einmal nicht zu
ändern
imſtande ſind.
Und weil dem ſo iſt, wollen wir uns drein finden, und
an
unſerm Modell auch zugleich die Bewegungen der wirklichen
Planeten
betrachten.
Zu dieſem Zweck wollen wir uns die Reihe all’ der
Kugeln
und Kügelchen in ihren Entfernungen von einander
recht
lebhaft vorſtellen, und uns dabei alles andere fortdenken.
Wir nehmen alſo an, daß nichts als leerer Raum da iſt,
worin
eben nur die eine größere Kugel ſamt den vierhundert
kleineren
Kügelchen in den angegebenen Entfernungen exiſtiert.

Denken
wir uns dies recht lebhaft, ſo haben wir in vollſter
Wahrheit
ein Sonnenſyſtemchen vor uns.
Denn im leeren Raum wird ganz unzweifelhaft die Maſſe
der
größern Kugel all’ die andern, ſelbſt die entfernteſte an-
ziehen
.
Sie würden ſich alſo in gerader Richtung wirklich
nach
der großen Kugel hinbewegen.
Nun brauchen wir nur
jedem
Kügelchen einen kleinen Stoß von unten zu verſetzen,
der
dasſelbe mit ungefähr gleicher Kraft, wie die der
730106 ziehung aufwärts treibt, um ſämtliche Kügelchen in ewigen
und
unendlichen Kreiſen um die große Kugel wandern zu
ſehen
.
Das Senfkörnchen, das Merkur darſtellt, wird wirklich in
einem
Kreis um die große Kugel gehen, und zwar in 88 Tagen;
ganz ſo wie der wirkliche Planet Merkur um die Sonne; denn
unſere
Kugel von zwei Fuß Durchmeſſer wird, vorausgeſetzt,
daß
ſie aus dem Holz einer friſch gefällten Steineiche oder
aus
einem gleich ſchweren Stoff angefertigt iſt, auf das
Senfköruchen
, das 25 Meter von ihr entfernt ſich fortbewegt,
gerade
ſo wirken, wie die große, mächtige Sonne auf den Pla-
neten
Merkur.
Der Kreis, den das Senfkörnchen beſchreibt, wird, wenn
wir
uns die Richtung, in welcher es gelegen, merken, nach
aufwärts
gehen.
Nach zweiundzwanzig Tagen wird es 25 Meter
hoch
gerade oben über der Kugel ſchweben, ſodann wird es
ſich
auf der andern Seite nach abwärts wenden, und nach
neuen
22 Tagen wird es ſich in gerader Linie auf der andern
Seite
der großen Kugel befinden.
Nach wieder neuen 22 Tagen
wird
es nach unten gegangen ſein, und ſich unter der Kugel
25
Meter von ihr entfernt bewegen, um nach neuen 22 Tagen
wieder
dort zu ſein, wo wir ihm den kleinen Stoß verſetzt
haben
;
und ohne einen neuen Stoß zu erhalten, wird es den
jetzt
vollendeten Kreis wiederum zu durchlaufen anfangen, und
richtiger
und pünktlicher als alle Uhrwerke der Welt ſeinen
Rundlauf
in der Ewigkeit vollführen.
Denn um eine Sonne
und
einen Planeten zu machen, dazu gehört, wenn man von
vielen
andern Dingen abſieht, in der That nicht viel;
und zwar
braucht
man ein Stück leeren Raum, ferner eine Gegend, wo
eine
andere Anziehungskraft nicht ſtörend einwirkt, und dazu
eine
größere Kugel und eine kleinere, und endlich giebt man
der
kleinern Kugel, die man entfernt von der großen hält,
einen
ganz leichten Stoß, der ſie ſeitwärts treibt, und
731107 wird von ſelber ſchon durch die Anziehung der großen Kugel
geleitet
, im Kreiſe um dieſelbe wandern.
Und wie das Senfkörnchen getreu den Merkur in ſeiner
Wanderung
nachahmen wird, ſo wird die Erbſe, welche Venus
darſtellt
, nach einem leichten Stoß aufwärts wirklich die Be-
wegungen
des Planeten Venus nachahmen.
Die Erbſe wird
in
224 Tagen ihren Kreis um die Kugel machen.
Sie wird
ähulich
, wie wir dies beim Senfkörnchen geſehen, nach 56 Tagen
oben
über der Kugel ſo weit abſtehen, ſo weit ab wie wir ſie
hingelegt
hatten.
Nach neuen 56 Tagen wird ſie ſich jenſeits
in
gerader Linie mit der großen Kugel befinden;
nach weiteren
56
Tagen wird ſie unter der großen Kugel ſtehen, um nach
wiederum
56 Tagen an dem Punkt anzulangen, von wo ſie
ausging
, und um weiter einen gleichen Kreis in Ewigkeit
herum
zu wandern.
Wenn wir nun verſichern, daß die zweite Erbſe, welche
die
Erde darſtellt, ein Jahr brauchen wird, um ihren Kreis
zu
vollenden, daß ferner das kleine Kügelchen, welches Mars
bedeuten
ſoll, in 687 Tagen ſeinen Rundlauf machen wird,
daß
die feinen Stäubchen, welche die 400 kleinen Planeten
vorſtellen
, in 1100 bis 2000 Tagen, je nach ihrer Entfernung,
ihren
Spaziergang machen, daß auch der Pfirſich in 12 Jahren,
die
Kirſche in 29, die kleine Haſelnuß in 84, und die Quitte
in
165 Jahren um die Kugel wandern werden, ganz ſo wie
es
Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun machen, ſo wird
man
geſtehen, daß das Modell ganz gut ſtimmt.
XVIII. Was wir zuweilen am Himmel ſehen
können.
Nehmen wir nun an, daß wir unſer kleines Sonnenſyſtem
wirklich
in Bewegung geſetzt, und zwar daß wir zu
732108 Zeit dem Senfkörnchen, den beiden Erbſen und den übrigen
Kügelchen
, Stäubchen u.
ſ. w. den Stoß verſetzt haben, der ſie
wandern
läßt, ſo wird es ſich bald zeigen, daß die Kügelchen,
welche
die Planeten vorſtellen, nicht immer in einer Linie
und
auch nicht gemeinſam ſtets auf einer Seite der großen
Kugel
verharren.
Schon vierundzwanzig Tage nach dem Beginn der Be-
wegung
ſteht Merkur jenſeits der Sonne, denn er hat ſeinen
halben
Rundlauf gemacht;
Venus iſt auch ſchon ein tüchtiges
Stück
vorwärts gerückt;
die Erde hat ſich gleichfalls gehoben
und
um ein merkliches ihren Standpunkt verändert;
auch bei
den
weiter ſtehenden Planeten war dies in den 44 Tagen der
Fall
, wenngleich ihre Orts-Veränderung unmerklicher wird, je
weiter
ab ſie von der Sonne ſtehen.
Denken wir uns nun, daß
unſer
künſtliches Sonnenſyſtem auch nur ein paar Jahrhunderte
Beſtand
hat, und während dieſer Zeit alle Planeten unbekümmert
um
einander ihre Bahn in den vorgeſchriebenen Zeiten wandern,
ſo
wird es natürlich kommen, daß, wenn wir zu irgend einer
Zeit
einmal nachſehen, wie es mit unſerm Kunſtwerk ſteht, wir
finden
werden, daß die Planeten ſich auf allen Seiten in ſehr
verſchiedenen
Stellungen zur Sonne befinden, daß der eine
rechts
, der andere links, der eine ſeinen oberſten, der andere
ſeinen
unterſten Stand erreicht hat, und mit einem Worte, alle
ſich
ſo gruppiert haben, wie es die bisher verlaufene Zeit
ihrer
Bewegung mit ſich bringt, ohne Rückſicht darauf, ob ſie
ehedem
alle in einer Linie und nach einer Seite hin geſtanden
haben
.
Da man aber den Lauf der Planeten kennt und ihn im
voraus
berechnen kann, ſo kann man den Zeitpunkt ſehr leicht
angeben
, wo drei oder auch vier beliebige Planeten einmal in
einer
geraden Linie ſtehen.
Bei den Planeten, die der Sonne
nahe
ſind, alſo einen ſchnelleren Umlauf um dieſelbe haben,
wird
der Fall zwar öfter vorkommen, als bei den
733109 Planeten, die ſich nur äußerſt langſam bewegen; gleichwohl
gehört
es ſchon zu den größten Seltenheiten, wenn einmal nur
die
vier nächſten Planeten ſolch’ eine Stellung haben, daß, wenn
man
einen Strich von einem zum andern zieht, man eine gerade
Linie
hat.
Dieſer ſeltene Fall hat ſich am 7. und 8. Februar des
Jahres
1855 ereignet, aber eine zweite Erſcheinung dieſer Art
erleben
wir alle ſamt und ſonders nicht mehr.
Wir wollen kurz das darſtellen, was Mittwoch, den
7
.
Februar und auch noch Donnerstag, am 8. Februar 1855
kurz
nach Sonnenuntergang ungefähr nach 5 Uhr abends am
Himmel
zu ſehen war.
Wenn man an den genannten Tagen
dem
Sonnenuntergang das Geſicht zugewendet und in der
Abendröte
etwas links über den Punkt, wo die Sonne unter-
gegangen
iſt, hinblickte, ſo ſah man drei Sterne ſehr dicht
nebeneinander
;
zwei derſelben waren ſchwächer zu ſehen, und
nur
der dritte konnte ſelbſt von ſchwachen Augen deutlich er-
blickt
werden.
Alle drei waren Planeten, die eigentlich um die
Sonne
laufen, und die in Wahrheit weit ab von einander
ſtanden
;
nur dadurch, daß die Erde, welche ja auch ein Planet
iſt
, gerade in dieſen Tagen bei ihrem Rundlauf um die Sonne
ſo
ſtand, daß alle vier Planeten in faſt einer geraden Linie
waren
, nur dadurch erblickte man jene drei Sterne, die tief
hinter
einander ſtehen, neben einander.
Der helle Stern war
Venus
, von den kleinern Sternen war der weiße der Planet
Merkur
, der rötliche der Planet Mars.
In dieſer Stellung,
wie
man ſie in der bezeichneten Stunde ſehen konnte, war
Merkur
uns am nächſten von allen;
gleichwohl war er noch
an
28 Millionen Meilen von uns entfernt.
Daß alſo dieſe drei Sterne dicht nebeneinander zu ſehen
waren
, hatte nur ſeinen Grund in einem ſeltenen Zuſammen-
treffen
, daß vier Planeten in ihrem von einander unabhängigen
Rundlauf
einmal ſo ſtanden, daß ein Strich von einem
734110 andern gezogen, eine gerade Linie bildete, an deren einem Ende
wir
uns auf der Erde befanden.
Aber durch ſolche Betrachtungen iſt unſre Reiſe gar zu
lange
aufgehalten worden;
wir wollen uns daher nun beeilen,
um
weiter zu kommen.
XIX. Auf dem Mars.
Wir machen einen Ausflug nach dem Planeten Mars und
müſſen
uns ſputen, zur rechten Zeit da anzukommen, denn es
wartet
unſer dort ein aſtronomiſches Schauſpiel, das wir zwar
auf
Erden genießen, wenn ein wolkenloſer Himmel es zu ſehen
geſtattet
, das aber deshalb prachtvoller als das unſrige iſt,
weil
die Erde zwar vom Mars ſo weit abſteht, wie Mars
von
der Erde, aber dennoch einen ſchönern Anblick darbietet,
indem
die Erdkugel um eine ganze Portion größer und alſo
auch
beſſer zu ſehen iſt als die Marskugel von der Erde aus.
Da wir nun einmal auf dem Mars ſind, wollen wir uns
auch
umſehen, ob wir etwas Neues auf ihm entdecken.
Vor allem können wir verſichern, daß es ſich auf Mars
äußerſt
leicht lebt.
Die Maſſe des Mars iſt an achtmal ge-
ringer
und die ganze Kugel hat einen nur etwa halb ſo großen
Durchmeſſer
als die Erde.
Nun aber wiſſen wir ſchon, daß
die
Anziehungskraft der Planeten ſchwächer iſt, wenn die Maſſe
derſelben
geringer iſt und ſomit iſt auch die Auziehungskraft
des
Mars achtmal geringer als die der Erde;
allein wir wiſſen
zugleich
, daß die Anziehungskraft an der Oberfläche eines
Planeten
viermal ſtärker iſt, wenn dieſe Oberfläche nur halb
ſo
weit entfernt iſt vom Mittelpunkt der Planetenkugel als die
der
Erde von ihrem Mittelpunkt.
Demnach iſt es ausgemacht,
daß
die Anziehungskraft des Mars auf ſeiner Oberfläche
735111 ſeiner geringen Maſſe achtmal ſchwächer iſt als die der Erde,
aber
wegen der Kleinheit der Kugel viermal kräftiger wirkt;
es
läßt
ſich alſo leicht einſehen, daß alle Dinge auf der Ober-
fläche
des Mars nur halb ſo ins Gewicht fallen wie auf dem
Erdenrund
.
Blicken wir vom Mars nach der Sonne, ſo finden wir,
daß
ſie um ein volles Drittel kleiner im Durchmeſſer iſt als
auf
Erden;
ihr Licht und die von ihr ausgehende Wärme iſt
um
die Hälfte geringer als auf Erden.
Dabei fehlt es nicht
an
Wolken, an Regen und Schnee auf dieſem Planeten, ja an
der
Winterſeite des Mars und er gleicht in dieſer Beziehung
ſo
ziemlich der Erde, daß ebenfalls an einem Pole Winter,
wenn
am andern Sommer iſt, finden wir Eismaſſen an-
gehäuft
, die des kommenden Sommers harren müſſen, um
teilweiſe
abzuſchmelzen.
Der Tag auf Mars iſt noch nicht eine halbe Stunde
größer
als auf Erden.
Seine Umdrehungszeit beträgt 24
Stunden
und 37 Minuten;
aber ſein Jahr, ſein Umlauf um
die
Sonne, dauert faſt noch einmal ſo lange, wie auf der Erde.
Mars geht 687 Tage, um ſeine Bahn rings um die Sonne
zu
vollenden, und da dieſe Bahn ſtark von einem Kreiſe ab-
weicht
und nicht unbeträchtlich länglich iſt, ſo kommt er bei
ſeinem
Umlauf der Sonne einmal bedeutend näher als an der
anderen
Seite.
Gar zu gern möchten wir unſern Reiſebericht auch auf die
Merkwürdigkeiten
der Pflanzen- und Tierwelt oder gar des
Menſchen”-Geſchlechts auf Mars ausdehnen;
allein, wenn wir
wahr
ſein ſollen, ſo müſſen wir geſtehen, daß wir hiervon
nicht
mehr wiſſen als die Naturforſcher, die unſere Reiſe nicht
mitgemacht
haben.
Nur ſo viel dürfen wir ſagen, daß,
wenn
irgend ein Planet mit Pflanzen, ähnlich den unſeren,
und
mit Tieren und Menſchen unſerer Gattung belebt iſt, dies
beim
Mars am eheſten der Fall ſein kann.
736112
Luft, Wolken, Regen, Schnee und Eis, die Mars in Wirk-
lichkeit
beſitzt, deuten darauf hin, daß die Witterungs-Verhält-
niſſe
auf Mars von den unſern nicht allzu ſehr abweichen.
Zwar iſt auf ihm die Erwärmung und Beleuchtung durch die
Sonne
nur halb ſo bedeutend wie auf Erden:
allein wir haben
auf
Erden Gegenden genug, wo Sonnenwärme und Sonnen-
licht
in eben ſo geringem Grade herrſchen, und finden dieſe
doch
von Pflanzen, Tieren und Menſchen belebt.
Die Tages-
länge
iſt der unſern ſehr gleich und Abwechslung von Tag
und
Nacht nur in unweſentlichem Grade von der irdiſchen ver-
ſchieden
.
Nur die Schwere iſt um die Hälfte geringer, und
wenn
wir hieraus den Schluß ziehen ſollen, daß Pflanze,
Tier
und Menſch an Wachstum und Muskel-Stärke ſtets ſo
eingerichtet
ſind, daß ſie in einem gewiſſen Verhältnis zur An-
ziehungskraft
ihres Planeten ſtehen, ſo haben wir nur das
Recht
, anzunehmen, daß die Geſchöpfe auf Mars wohl nur halb
ſo
groß und halb ſo ſtark als unſere ſein werden.
Das auffallendſte auf dem Planeten Mars, wie er ſich
im
Fernrohr darſtellt, ſind eine große Menge außerordentlich
langer
und breiter, ſchnurgerader Kanäle, die meiſt die Meere
des
Mars mit einander verbinden und die auf Fig.
11 deutlich
zu
ſehen ſind.
Von Zeit zu Zeit zeigen dieſe Kanäle ſich ſogar
doppelt
, ſo daß man immer zwei genau parallel neben einander
herlaufen
ſieht (Fig.
25). Was es mit dieſen auffallend regel-
mäßigen
Gebilden für eine Bewanduis hat, läßt ſich nicht mit
Sicherheit
erſehen.
Es iſt aber leicht möglich, daß man es
hier
mit Kunſtwerken denkender Weſen zu thun hat, wenngleich
man
aus der ungeheuren Größe der Kanäle auf eine Intelligenz
und
techniſche Geſchicklichkeit der Marsbewohner ſchließen müßte,
welche
die unſere weit, weit überragt.
Aber dafür, daß wir vom Mars-Rund und was auf ihm
lebt
und atmet, nicht viel ſagen können, wollen wir verſichern,
daß
der Himmel des Mars in weſentlichen Beziehungen
737113 eſſantes darbietet, und das beſteht darin, daß man auf dem
Mars
längſt alle kleinen Planeten entdeckt hat, die erſt auf
Erden
in dieſem Jahrhundert entdeckt wurden, und daß der
58[Figure 58]Fig. 25. Kanäle auf Mars, verdoppelt.Süd
Nord
Jupiter, der ſchon bei uns ſo ſchön leuchtet, auf dem Mars
eine
wahre Zierde des Himmels und für Verliebte ganz ſo ein
Gegenſtand
der Schwärmerei iſt, wie wir für den ſchönen Abend-
ſtern
ſchwärmen, der den Liebesnamen Venus führt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
738114
XX. Die kleinen Planeten.
Vom Mars aus führt uns unſer Weg nach einer Gegend
des
Weltraums, die man noch vor wenigen Jahrzehnten für
den
Schauplatz einer einſtmals ſtattgehabten, entſetzlichen Zer-
ſtörung
ausgab, die aber, wie wir uns überzeugen werden,
ganz
unſchuldig zu ihrem üblen Ruf gekommen iſt.
Wir nahen uns nämlich der Weltgegend, wo mindeſtens
vierhundert
kleine Planeten ſich um die Sonne bewegen.
Dieſer
Raum
wurde noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts für
vollkommen
leer gehalten, weil man dieſe kleinen Wanderer
noch
nicht entdeckt hatte, vielmehr meinte, daß zwiſchen Mars
und
Iupiter kein weiterer Planet vorhanden ſei.
Gleichwohl fiel dieſe Lücke den Aſtronomen des vorigen
Jahrhunderts
ſehr auf.
Der Abſtand Merkurs von der Sonne
beträgt
acht Millionen Meilen;
hierauf folgt Venus, deren
Entfernung
kaum noch einmal ſo groß iſt, da dieſe nur
14
Millionen Meilen beträgt.
Die Erde iſt 20 Millionen
Meilen
von der Sonne entfernt, ihre Bahn iſt alſo von der
der
Venus eben ſo weit abliegend, wie die von Venus und
Merkur
.
Mars, der in 31 Millionen Meilen Entfernung ſeinen
Lauf
um die Sonne nimmt, ſteht von der Erde wiederum nur
um
einen kleinen Teil ſeiner Entfernung von der Sonue ab.
Nun aber folgte nach den Wahrnehmungen der älteren Aſtro-
nomen
, welche die kleinen Planeten nicht kannten, ſofort Iupiter
als
der Planet hinter Mars.
Iupiter aber iſt 103 Mil-
lionen
Meilen von der Sonne entfernt, das heißt, ſeine Ent-
fernung
von der Sonne übertrifft die des Mars um mehr als
dreimal
.
Eine ſolche Raumverſchwendung im Weltgebäude,
wo
zwar keine Raumerſparnis exiſtiert, erſchien auch den Aſtro-
nomen
des vorigen Jahrhunderts zu auffallend, und es ſprachen
einige
von ihnen die Vermutung aus, daß der große
739115 zwiſchen Mars und Iupiter wohl auch urſprünglich von einem
Planeten
bevölkert geweſen ſein möge, der aber durch irgend
einen
Umſtand zerſtört worden ſei.
So überaus kühn dieſe von dem Berliner Aſtronom Bode
(1747—1826) ſehr ernſt ausgeſprochene Anſicht auch erſchien,
ſo
ungemein ſchnell neigte man ſich dieſer Anſicht zu, als am
1
.
Januar 1801 ein kleiner Planet entdeckt wurde, deſſen Bahu
zwiſchen
Mars und Iupiter ſich befindet, und als man einige
Jahre
darauf noch drei andere kleine Planeten entdeckte, die
alle
in jener längſt aufgefallenen Lücke ihren Rundgang um
die
Sonne machen.
Es galt nun für ausgemacht, daß an
dieſer
Stelle einmal ein ordentlicher Planet exiſtiert habe, daß
aber
derſelbe durch irgend eine Urſache zerſprengt und in
einzelue
Stücke zerbrochen worden ſei, die nun als Trümmer
einer
Welt um die Sonne wandern.
Es iſt kaum glaublich, wie ſehr dieſer Gedanke eines zer-
ſtörten
Planeten Eingang fand unter den Aſtronomen und
unter
den Naturforſchern überhaupt! Nicht nur wurden die
Möglichkeiten
aufgeführt, die dieſes Zerſpringen veranlaßt haben
könnten
, ſondern die Frage, ob unſerer Erde einmal ein ſolches
Schickſal
bevorſtehe, fand ernſte und andauernde Behandlung.
Das mildeſte, das man als Urſache dieſer Zerſtörung eines
Planeten
auffand, war der Zuſammenſtoß desſelben mit einem
Kometen
, ein Zuſammenſtoß, der freilich nur möglich wäre,
wenn
Komet und Planet ſich einmal in ganz genauer gerader
Linie
aufeinanderzu bewegen, und bei dem vorausgeſetzt werden
muß
, daß der Komet eine feſte, kompakte Maſſe iſt, gewaltig
genug
, um ſolche Wirkung hervorzubringen.
Allein beide An-
nahmen
haben keinen innern Grund.
Das Zuſammenſtoßen
in
ganz gerader Liuie gehört faſt zu den Unmöglichkeiten im
Weltraum
, wo ſich alle Himmelskörper in krummen Linien be-
wegen
und ſchon in weiter Ferne auf ihren Lauf einen Ein-
fluß
ausüben.
Zudem iſt es Thatſache, daß die Kometen
740116 aus einer äußerſt loſen Maſſe beſtehen, und als ſolche keinem
Planeten
einen derartigen Schaden zufügen können, wie es
denn
erwieſen iſt, daß ein Komet im Jahre 1770 und bald
darauf
noch einmal im Jahre 1776 mitten zwiſchen Iupiter
und
ſeinen vier Monden hindurchging, ohne die allermindeſte
Zerſtörung
daſelbſt anzurichten oder auch nur auf den Lauf
dieſer
Monde einen Einfluß ausgeübt zu haben.
Es blieb alſo nichts übrig als ein ſo gewaltiges Erd-
beben
oder richtiger Planet-Beben als den Grund der Zer-
ſprengung
jener Planeten anzunehmen, deſſen einzelne Stücke
wir
jetzt zu ſehen bekämen.
Allein auch dieſe Anſicht iſt abenteuerlich und ſogar natur-
wiſſenſchaftlich
falſch;
denn neuere Unterſuchungen über die
Wärme
haben den Beweis geliefert, daß dieſe niemals eine
ſolche
und in keinem Fall eine größere Kraft ausüben kann,
wie
die, welche zur Erzeugung derſelben notwendig geweſen iſt.
Rührt nun die innere Wärme der Planeten von der Zu-
ſammenziehung
und Verdichtung derſelben her, ſo iſt es rein
unmöglich
, daß dieſelbe Wärme wiederum den ganzen Planeten
zerſprengen
könne.
XXI. Die Bahnen der kleinen Rundläufer.
Es iſt nicht leicht, ſich einen ſichern Standort im Welt-
raum
zur ungeſtörten Betrachtung der kleinen Planeten zu ver-
ſchaffen
;
denn in Wahrheit kennt man den Lauf der meiſten
doch
nur unvollkommen, und man iſt außerdem nicht ſicher,
daß
nicht noch ſehr viel kleine, ungekannte Planeten in dieſer
Himmelsgegend
exiſtieren, und kann darum nicht dafür ein-
ſtehen
, daß man nicht von irgend einem, der bisher noch nicht
entdeckt
iſt, in ſehr unhöflicher Weiſe angerannt wird.
741117
Gleichwohl hoffen wir, daß wir auf dem Punkt am
ſicherſten
ſein werden, wo die kleinen Planeten in ihrem Rund-
lauf
um die Sonne zugleich dem Planeten Iupiter, ihrem Nach-
bar
, am nächſten kommen, denn wenn wir auch das Ungemach
hätten
, gerade in der ordentlichen Bahn eines ſolchen Wan-
derers
Platz genommen zu haben, ſo würde er dennoch
nicht
auf uns zukommen, ſondern durch die Anziehung Iu-
piters
abgelenkt ein recht gründliches Stück uns vom Leibe
bleiben
.
Aber gerade dieſer Umſtand, daß nämlich dieſe kleinen
Plaueten
, welche wahrſcheinlich in ſehr, ſehr großer Zahl
exiſtieren
, von denen wir nur die größten, 400 bisher, von der
Erde
aus zu ſehen vermochten, der Umſtand, daß dieſe
Dingerchen
kranzartig um die Sonne wandern, daß aber jeder
von
ihnen, wenn er nach der Gegend kommt, wo Iupiter ihm
am
nächſten iſt, von dieſem angezogen und abgelenkt wird von
ſeiner
Bahn, gerade dieſer Umſtand wird es begreiflich
machen
, daß der Lauf der kleinen Planeten in nicht ge-
ringe
Verwirrung kommen und es nicht wenig Schwierig-
keiten
bieten muß, jedem von ihnen die Marſchroute genau
vorzuſchreiben
.
Die Bahnen der kleinen Planeten zeigen auch in Wahr-
heit
Abweichungen von denen der andern Planeten, die nicht
unbeträchtlich
ſind.
Mehrere derſelben haben ſtatt eines runden
einen
ſehr in die Länge gezogenen Rundlauf, einige gehen,
ſtatt
immer in der Ebene der andern Planeten zu bleiben, be-
trächtlich
nach beiden Seiten aus, ſo daß ihre Bahnen ſich ſchon
ganz
bedeutend mit den Bahn-Ebenen der andern Planeten
kreuzen
;
aber in dieſem Lauf erleiden ſie nicht nur von der
Maſſe
Jupiters allein, ſondern auch durch die gegenſeitige Ein-
wirkung
auf einander Störungen, die ſo weſentlich ſind, daß
ſie
ſelbſt beim beſten Willen von der Welt nicht in gar zu ge-
ordnetem
Zuſtand bleiben könnten.
742118
Und ſo @llen wir denn dieſe kleinen Rundläufer im
Parademarſch
an uns vorbeipaſſieren laſſen, und nur gelegent-
lich
einige Bemerkungen an dieſelben knüpfen.
Vor allem
müſſen
wir ſagen, daß diejenigen ſich ſehr irren, welche ſich
die
Vorſtellung machen, daß wir wirklich 400 Planetchen als
eine
gemeinſchaftliche Reiſegeſellſchaft wahrnehmen.
Die Reiſe
dieſer
Himmelskörper geht durchweg vereinzelt.
Wenn der eine
an
uns vorüberzieht ſeines Weges, müſſen wir bald längere,
bald
kürzere Zeit warten, um einen zweiten auf ähnlichem
Marſch
zu ſehen.
Da aber die der Sonne entfernteren lang-
ſamer
im Rundlauf ſind als die nahen, ſo kommt es freilich
oft
genug vor, daß man zwei kleine Planeten für eine kurze
Zeit
wie in gemeinſchaftlicher Reiſe erblickt;
allein wenn ſie
ſich
auch in ſolchen Fällen gegenſeitig anziehen und ein wenig
einander
nähern, ſo hört doch dies bald auf, weil der der
Sonne
nähere Planet immer bei ſeinem ſchnellern Lauf ver-
harrt
, aus dem er ſich nur ſehr wenig von ſeinem Kollegen
ſtören
läßt, und demnach voreilt in der Bahn und dem ent-
fernteren
Mitläufer die Sorge überläßt, wie er mit ſeiner
Bahn
allein fertig wird.
Freilich giebt es einige Punkte im Weltraum, wo ſchein-
bar
einzelne Bahnen der kleinen Planeten ſich näher aneinander
befinden
als ſonſt wo, und ein ſolcher Punkt iſt ungefähr die
Gegend
am Himmel, wo wir im Auguſt die Sonne ſehen, alſo
eine
Gegend etwa im Sternenbild der Jungfrau.
Hier in
dieſer
Himmelsgegend, die von den Aſtronomen eine Zeitlang
fleißiger
beobachtet wurde als eine andere, hat man auch einige
Wanderer
unſerer Sorte ertappt;
allein man darf ſich nicht
vorſtellen
, als ob dies der geeignete Ort iſt, wo ſich die kleinen
Planeten
wirklich ein Rendezvous geben, ſondern darf in dieſer
Gegend
nur die Stelle ſuchen, wo ſich mehrere Bahnen der
kleinen
Planeten kreuzen und deshalb einem Auflauern der
Aſtronomen
einigen Erfolg verſprechen.
743119
Wie mag ſich’s wohl auf ſolch’ kleinem Planeten leben?
Hierauf wiſſen wir freilich nur ſehr wenig zu antworten,
denn
man kennt bisher noch ſehr wenig die Maſſe eines kleinen
Planeten
, und ſelbſt ihr Durchmeſſer iſt noch ſehr unbe-
ſtimmbar
.
Aus der Helligkeit der kleinen Planeten hat Klein
ihre
Durchmeſſer berechnet, und für dieſelben Werte gefunden,
welche
an Kleinheit alle Erwartungen übertreffen.
Der größte
hat
hiernach einen Durchmeſſer von nur 46,2 Meilen, und der
kleinſte
ſogar nur 4,9 geographiſche Meilen im Durchmeſſer.
Nicht gar fern von dieſen Rundläufern aber entdecken wir
zwei
neue Himmelskörper, die intereſſanter Natur ſind, und
dieſe
müſſen wir uns näher betrachten.
XXII. Zwei eigentümliche Kometen.
Die zwei eigentümlichen Himmelskörper, welche wir jetzt
ins
Auge faſſen wollen, gehören nicht den Planeten an, ſondern
ſind
Gäſte, die ſich eigentlich ganz unberufen eingedrängt
haben
in die Bahnen der Planeten, und die, wie wir ſehen
werden
, Urſache haben, ſich zu hüten, daß ſie nicht einem Pla-
neten
größerer Sorte einmal begegnen.
Um es mit einem Worte zu ſagen, wir verſtehen unter
den
zwei fremdartigen Gäſten zwei kleine Kometen, welche
ganz
kurioſe Umläufe um die Sonne machen, wie das den
Kometen
überhaupt eigen zu ſein ſcheint.
Der eine dieſer
Kometen
, der unter dem Namen Encke’ſcher Komet bekaunt iſt,
weil ſein Lauf von Encke (1791—1865), dem früheren
Direktor
der Berliner Sternwarte, berechnet worden geht
in
einem ſo länglichen Kreis um die Soune, daß er der Sonne
bis
auf 6 Millionen Meilen nahe kommt, ihr alſo näher
744120 als der ihr nächſte Planet Merkur; aber wenn dies geſchehen
iſt
, läuft der Komet in ſeiner Bahn wieder davon und entfernt
ſich
von der Sonne, bis er ſeine größte Entfernung, 80 Millionen
Meilen
von derſelben, erreicht hat.
Man ſieht, daß der
Rundlauf
dieſes Kometen ſo in die Länge gezogen iſt, daß
ſeine
Bahn die Bahnen aller Planeten, die wir bisher be-
trachtet
haben, durchkreuzt, und daß dieſer Komet den Vorteil
genießt
, bald der Sonne näher zu ſein als irgend ein Planet,
und
bald ſich von ihr mehr zu entfernen als irgend einer der
400
kleinen Planeten.
Dieſen Rundlauf macht er in drei Jahren und hundert-
fünfzehn
Tagen, und zwar geht er in der Hälfte der Zeit die
halbe
Reiſe von ſeiner Sonnenferne bis zur Sonnennähe in
immer
zunehmender Geſchwindigkeit;
in der Sonnennähe hat
er
die größte Geſchwindigkeit erreicht und macht nun, daß er
davon
kommt, und zwar mit abnehmender Geſchwindigkeit, ſo
daß
er in der andern halben Umlaufszeit die andere Hälfte
ſeiner
Reiſe vollendet und in ſeiner Sonnenferne mit ſeiner
kleinſten
Geſchwindigkeit ankommt, um ſofort wieder ſeinen
Rundlauf
aufs Neue zu beginnen.
Der zweite Komet, der gleichfalls ſo kühn iſt, ſeine Bahn
unter
die der Planeten zu verlegen, der aber inzwiſchen ſich
vollſtändig
in ſeine Teile aufgelöſt hat und jetzt nur noch einen
Sternſchnuppenſchwarm
darſtellt, (ſ.
Teil VII) iſt unter dem
Namen
der Biela’ſche bekannt, weil er von Biela, einem öſter-
reichiſchen
Offizier, im Jahre 1826 entdeckt und auch berechnet
worden
iſt.
Er läuft in ſechs Jahren und neun Monaten um
die
Sonne, und zwar ebenfalls nach Kometen-Art in einem
ſehr
länglichen Rundlauf, wobei er einmal der Sonne auf
18
Millionen Meilen nahe kommt, und nach ſeinem halben
Umlauf
ihr wieder auf 120 Millionen Meilen entfernt iſt.
Dieſer Komet, der in der mittleren Entfernung auch in der
Gegend
iſt, wo die kleinen Planeten hauſen, unterſcheidet
745121 von dem Encke’ſchen Kometen dadurch, daß er etwa nur bis
über
die Erd-Bahn ſtreift, wenn er der Sonne ſich nähert,
während
der Encke’ſche ſogar bis über Merkurs Bahn hin der
Sonne
nahe tritt.
Beide Kometen aber haben inſofern Ähnlichkeit, daß ſie
erſtens
gar niemals aus dem Bereich der Planeten-Bahnen
hinauskommen
, daß ſie ferner eine Umlaufszeit haben, die weit
kleiner
iſt als die meiſten der ſonſt bekannten Kometen;
zudem
wandern
ſie in gleicher Richtung mit den Planeten, das heißt,
wie
dieſe, ſtets von Weſten nach Oſten, und endlich gehen ſie
zwar
ein wenig quer durch die Bahnen und weichen beide
etwas
im Lauf nach Norden und Süden aus;
aber doch nicht
ſo
wie manche andere Kometen, die in allen möglichen Rich-
tungen
ihren Lauf um die Sonue nehmen.
Zwei Umſtände aber ſind es, die dieſe Himmelskörper
ganz
beſonders vor allen bisher bekannten auszeichnen, denn
ſie
bieten Erſcheinungen dar, die ganz eigentümlich und einzig
in
ihrer Art ſind.
Der Encke’ſche Komet zeigt etwas, was ſich bei keinem
Himmelskörper
ſonſt zeigt.
Seine Umlaufszeit um die Sonne
wird
immer kürzer.
Die Rechnung zeigt, daß dieſer Komet in
einer
Art länglicher Spiral-Linie um die Sonne geht und
dadurch
der Sonne immer nach und nach näher kommt.
Bei
jedem
Umlauf nimmt ſeine Sonnennähe zu, und es unterliegt
keinem
Zweifel, daß er einmal, wenngleich erſt nach vielen
Jahrtauſenden
in die Sonne hineinlaufen und daun ſich nicht
mehr
von ihr wird losmachen können.
Die einzige Erklärung
dieſes
merkwürdigen Umſtandes kann nur darin gefunden
werden
, daß man annimmt, es ſei der Weltraum nicht völlig
leer
, ſondern mit einem äußerſt feinen, gasartigen Stoff erfüllt,
den
man Äther nenut.
Obgleich man dieſen Äther nirgend
ſpürt
oder ſieht, ſo zweifelt man doch nicht mehr an ſeiner
Exiſtenz
, ſeitdem es ſich durch Rechnungen und Verſuche
746122 geben hat, daß das Licht der Soune und der Geſtirne über-
haupt
nur dadurch bis zu uns dringt, daß die leuchtenden Ge-
ſtirue
dieſen Äther in Schwingungen verſetzen und dieſe
Schwingungen
mit ungeheuerer Geſchwindigkeit ſich nach allen
Richtungen
hin verbreiten.
Der Äther aber, ſo fein er iſt, und
ſo
wenig Widerſtand er dem Lauf der andern Himmelskörper
bereitet
, genügt doch, dem Fortſchreiten des Encke’ſchen Kometen,
der
von äußerſt loſer Maſſe iſt, hinderlich zu ſein, und ſo
überwiegt
denn bei ihm die Anziehungskraft der Sonne derart,
daß
er nach und nach ihr unterliegen und in die Sonne hinein
laufen
muß.
XXIII. Ein wenig Kometen-Furcht.
Indem wir das Gebiet verlaſſen, wo die kleinen Planeten
ihren
Rundlauf machen, wollen wir noch einen Blick auf den
Biela’ſchen
Kometen werfen, der in ganz eigner Weiſe entzwei
gegangen
iſt, und es nur ſagen, daß es ihm ſchon recht ge-
ſchehen
, da er vor etwa ſiebzig Jahren ſo kühn war, der
Menſchheit
einigen Schreck einzujagen.
Die Sache war nämlich folgende. Dieſer Komet geht, wie
bereits
geſagt, in 6 {3/4} Jahren um die Sonne und iſt in ſeiner
Sonnennähe
nur noch 19 Millionen Meilen von derſelben ent-
fernt
.
Nun iſt die Erde überhaupt nur 20 Millionen Meilen
entfernt
von der Sonne;
wenn demnach dieſer Komet auf der
Reiſe
zu ſeiner Sonnennähe ſo weit gekommen iſt, daß er nur
noch
eine Million Meilen zu machen oder auf der Rückreiſe
daſelbſt
eine Million Meilen zurückgelegt hat, iſt er eben ſo
weit
entfernt von der Sonne wie die Erde.
Geſchieht nun
dies
ſo, daß der Komet einmal auf der einen Seite der Sonue
zwanzig
Millionen Meilen weit von ihr entfernt iſt,
747123 die Erde ebenſo weit entfernt auf der andern Seite der Sonne
ihren
Spaziergang macht, ſo hat das begreiflicherweiſe nichts
zu
ſagen, weil dann die beiden Himmelskörper volle 40 Mil-
lionen
Meilen von einander getrennt ſind.
Allein im Lauf
der
Zeit kann ſich’s doch ereignen, daß der Komet gerade der
Erde
über den Weg läuft oder, was noch kurioſer wäre,
gegen
die Erde anrennt, und das klingt denn doch etwas be-
denklich
.
Die Aſtronomen haben deshalb gleich nach der Eutdeckung
dieſes
Kometen den Punkt und die Zeit zu beſtimmen geſucht,
wo
dergleichen geſchehen kann, und bei dieſer Gelegenheit er-
gab
es ſich durch die Rechnung, daß der Komet am 29.
Ok-
tober
1832 nur etwa 1500 Meilen von der Erdbahn entfernt
ſein
wird.
Kaum wurde dies im Publikum bekannt, als
ſich
auch bereits eine ungemeine Furcht vor einem nahen Welt-
untergang
der Gemüter bemächtigte.
Vergeblich machten die Naturforſcher zur Entkräftung des
Irrtums
darauf aufmerkſam, daß zwar der Komet nur 1500
Meilen
von der Erdbahn entfernt ſein wird, aber die Erdbahn
iſt
ja nicht die Erde ſelber, die Erdbahn ſei vielmehr an ſich gar
nichts
;
eben ſo wenig ein Ding, wie etwa der Weg, den ein
geworfener
Stein zurücklegt.
Die Erde ſelber aber werde am
29
.
Oktober 1832 noch über 13 Millionen Meilen zu laufen
haben
, bevor ſie an die Stelle komme, wo an dieſem Tage der
Komet
ſtehen werde, und inzwiſchen ſei der Komet wieder ſo
zu
ſagen über alle Berge.
Es war vergeblich; die Furchtſamen ließen ſich’s nicht
ausreden
, bis die Zeit ſelbſt ſie von ihrer Furcht geheilt hat.
Die Welt ging bekanutlich nicht unter, und die Meuſchen ver-
gaßen
ihre Thorheit, um ſich gelegentlich andere Thorheiten in
den
Kopf ſetzen zu könuen.
Wie aber ſteht’s denn wirklich mit dieſem Kometen?
Kaun er nicht einmal in der That an einem und
748124 Punkt mit der Erde zugleich eintreffen? Wie wird es dann
ihm
und der Erde ergehen?
Nun: Am 27. November 1872 iſt, wie wir ſchon hörten
(ſ.
Teil VII) nach der Annahme mehrerer Aſtronomen der Biela’ſche
Komet
wirklich mit der Erde zuſammengeſtoßen, ohne ihr, wie
wir
nun wiſſen, irgend welchen Schaden zugefügt zu haben.
Alſo iſt es abſolut thöricht, vor den Kometen ſolche Furcht
zu
haben, wie ſie noch heute bei zahlreichen Menſchen zu
finden
iſt.
XXIV. Jupiter, der gewichtigſte der Planeten.
Nunmehr müſſen wir unſere Reiſe weiter ausdehnen, um
zu
Jupiter zu gelangen, der ſo eigentlich den erſten Rang
unter
den Planeten eiunimmt.
Um eine Kugel wie die des Jupiters herzuſtellen, müßte
man
1289 Kugeln ſo groß wie die Erde zu einer einzigen
Kugel
zuſammenballen, und das iſt keine Kleinigkeit.
Da aber
Jupiter
nicht kompakt wie die Erde, ſondern aus einem Stoff
zuſammengeſetzt
iſt, der etwa viermal loſer iſt als der Stoff
unſerer
Erde, ſo wird es nur 309 Erdkugeln bedürfen, um die
Kugel
Iupiters aufzuwiegen;
das heißt: wenn Iupiter in einer
Schale
einer Wage läge, ſo würden 309 Erdkugeln in die
andere
Schale gelegt ausreichen, um ihm das Gleichgewicht
zu
halten.
Obgleich Iupiter an 103 Millionen Meilen von der Sonne
entfernt
iſt und die Erde ihm deshalb ſelbſt im günſtigſten
Falle
nur bis auf 80 Millionen Meilen nahe kommen kann,
iſt
doch der Iupiter ein Planet, der von der Erde aus
mit
gutem Erfolg erforſcht worden iſt.
Man kennt ihn
749125 allen Beziehungen weit genauer als Venus, die doch zuweilen
nur
fünf Millionen Meilen von der Erde abſteht.
Der Grund hiervon läßt ſich auch leicht einſehen. Wenn
Venus
uns am nächſten iſt, ſteht ſie zwiſchen Sonne und Erde;
in dieſer Stellung iſt ſie von der Erde aus wegen zwei Ur-
ſachen
unſichtbar.
Erſtens verhindern die Sounenſtrahlen
überhaupt
das Sehen der Venus, und zweitens wendet ſie uns
in
dieſer Stellung ihre dunkele, von der Sonne nicht beleuch-
tete
Seite zu, ſo daß wir ſie höchſtens als ſchwarzen Fleck
ſehen
könnten.
Iſt aber auch Venus eiumal in der günſtigſten
Stellung
und in ihrer größten Lichtſtärke, ſo iſt ihr Licht ſo
blendend
bei ſtarker Vergrößerung, daß man ſo gut wie nichts
auf
ihr ſehen kann.
Bei Iupiter iſt es anders. Wenn die Erde ihm am
nächſten
iſt, dann ſteht ſie, die Erde, zwiſchen Iupiter und
Sonne
.
Jupiter geht dann im Oſten auf, wenn die Soune
untergeht
, er wendet uns ſeine ganze, mild beleuchtete Hälfte
zu
und bildet dann durch die ganze Nacht den hellſten und
größten
Stern am Himmel.
Intereſſant iſt es nun, daß man den Iupiter ſchon in
einer
einzigen ſolchen Nacht von allen Seiten kennen lernen
kann
.
Die Iupiterskugel dreht ſich nämlich ſchon in 9 Stunden
und
55 Minuten um ihre Axe und zeigt uns ſo beide Hälften
in
einer Zeit, wo man auf Iupiter nicht viel mehr als ein
Drittel
der Erd-Umdrehung beobachten könnte.
Wenn ſich eine
ſo
gewaltige Kugel ſo ſchnell um die Axe dreht, ſo darf es
nicht
Wunder nehmen, daß ſie an den Polen ſehr abgeplattet
iſt
, und in der That kann man dies ſchon durch ein ganz
mäßiges
Fernrohr bemerken, wie denn die Meſſung ergiebt,
daß
der Durchmeſſer des Äquators an 20 000 Meilen beträgt,
während
der Durchmeſſer von Pol zu Pol nur 18 500 Meilen
lang
iſt.
Zugleich aber zeigt bereits der erſte Blick auf
750126 daß er von einer ſtarken Lufthülle umgeben iſt, und daß in
dieſer
dicke Wolken ſchweben, die mit dem Planeten ſich um
ihre
Axe drehen.
Aber intereſſanter als all’ dies iſt es, daß
man
ſchon mit einem guten Taſchen-Fernrohr ſehen kann, daß
Jupiter
fünf Monde hat, die einen Rundlauf um denſelben
machen
, fünf Monde, die in verſchiedenen Entfernungen von
ihm
ſtehen, und von denen der dritte der größte iſt und am
leichteſten
geſehen wird.
Die nähere Beobachtung zeigt nun, daß er von ſeinen
Monden
beſſer bedient iſt als die Erde.
Der nächſte ſeiner
Monde
läuft ſchon in nicht ganz 12 Stunden rings um Iupiter
herum
;
der zweite, entferntere, braucht einen Tag 18 Stunden
zum
vollen Rundlauf;
der dritte noch entferntere macht dies
Kunſtſtück
in drei Tagen dreizehn Stunden, der vierte braucht
7
Tage und 3 Stunden, der fünfte 16 Tage und 18 Stunden dazu.
Da Jupiter an ſich ein finſterer Körper iſt, und nur wie
alle
Planeten von der Sonne beleuchtet wird, ſo tritt der Fall
ſehr
oft ein, daß einer ſeiner Monde derart vor Jupiter ſteht,
daß
er einen Schatten auf denſelben wirft, und ſomit auf
Jupiter
eine Sonnenfinſternis hervorruft.
In ſolchem Falle, der äußerſt genau beobachtet wird, ſieht
man
einen ſchwarzen Flecken auf der hellen Iupiterskugel
langſam
vorüber ziehen.
Der Schatten des zweiten Mondes
geht
an 2 {1/2} Stunden, um über die Iupiterskugel zu kommen,
der
Schatten des dritten braucht 3 Stunden, der des vierten
3
{1/2} Stunden, der des fünften 4 {3/4} Stunden hierzu.
Da aber
auch
die Monde dunkel ſind und nur von der Sonne ihr Licht
erhalten
, ſo ſieht man auch dieſe oft verfinſtert, wenn ſie hinter
Jupiter
oder in deſſen Schatten kommen.
Sie verſchwinden
dann
plötzlich dem Auge und werden erſt ſichtbar, ſobald ſie
aus
dem Schatten Jupiters heraustreten.
Man ſieht, es fehlt nicht an Abwechſelung auf Jupiter,
und
es muß dort, beſonders für Verliebte, die im
751127 ſchwärmen wollen, ein Leben wie im Himmel ſein. Zuweilen
ſtehen
alle vier Monde gleichzeitig am dortigen Himmel, von
denen
der eine oder der andere ſich verfinſtert, zuweilen, aber
freilich
ſelten, ſtehen zwei Monde dicht hinter einander, daß ſie
ſich
gegenſeitig verfinſtern, und einen Anblick gewähren, der
uns
ganz fremdartig vorkommen würde.
Wie aber würde uns das Leben auf Jupiter ſchmecken?
Nun das wollen wir ſogleich ſehen!
XXV. Wie ſich’s auf Jupiter lebt.
Ob uns trotz der ſchönſten Mondſchein-Scenen das Leben
auf
dem Planeten Jupiter munden würde, möchten wir ſehr
bezweifeln
.
Jupiter braucht, in Erdzeiten gemeſſen, eine Zeit von elf
Jahren
314 Tagen, um einmal ſeinen Lauf um die Sonne zu
vollenden
:
ein Jupitersjahr iſt alſo faſt an Dauer gleich zwölf
Erdjahren
.
Da ferner Jupiter ſich ſchon in 9 Stunden 55 Minuten
um
ſeine Axe dreht, ſo iſt ſein Tag nicht halb ſo groß als der
unſere
.
Alſo hat das Jahr auf Jupiter an 10 000 Tage.
Vielleicht aber ſitzt jetzt gerade in dieſem Augenblick, wo
wir
an die langen Jahre und die kurzen Tage Jupiters denken,
dort
auf dem Jupiter ein vernunftbegabtes Weſen, das ſich
zerſinnt
, wie wir es hier wohl machen mit unſern zwölfmal
kürzeren
Jahren und faſt drittehalb mal längern Tagen, und
begreift
es nicht, wie wir mit einem ſo kurzen Jahr auskommen
und
einen ſo langen Tag hinbringen können!
Wahrſcheinlicher jedoch iſt es, daß man auf Jupiter gar
nicht
nach Jahren rechnet, ſelbſt nicht nach Jupitersjahren.
752128 Jupiter nämlich dreht ſich derart um ſeine Axe, daß Tag und
Nacht
faſt auf jedem Punkte der Jupiterskugel ſtets gleiche
Längen
ſind.
Man kennt alſo auf Jupiter gar nicht den
Wechſel
der Jahreszeiten, hat alſo wenig Veranlaſſung, nach
dem
Lauf um die Sonne zu fragen, und wird die Zeit deshalb
weit
bequemer nach den Umläufen der Monde einteilen, die
merkwürdig
genug, ſich vortrefflich dazu eignen, ſowohl kleinere
wie
mittlere und größere Zeitabſchnitte nach ihnen abzugrenzen.
Auf einem Planeten, wo, wie auf Jupiter, nicht Sommer
und
Winter, Frühling und Herbſt mit einander abwechſeln, da
bedient
man ſich ſchwerlich eines Kalenders fürs Sonnenjahr,
ſondern
teilt die Lebenszeit nach andern, näher ſichtbaren und
überſehbaren
Naturerſcheinungen ein, und hierzu ſind die vier
Monde
und deren Verfinſterungen merkwürdig gut geeignet.
Auf Jupiter alſo giebt es keinen Wechſel der Jahreszeiten.
Auf dem Äquator herrſcht ewiger, ununterbrochener Sommer,
nach
den Polen hin wird es regelmäßig kälter.
Der Tag iſt
faſt
gleichmäßig durch das ganze Jahr 4 Stunden 57 Minuten
lang
, eben ſo lang iſt die Nacht zu allen Zeiten.
Die dichte
Luftſchicht
, die Jupiter umgiebt, verlängert jedoch die Morgen-
und
Abend-Dämmerung namentlich in den Polgegenden, und
es
iſt auf denſelben eigentlich gar kein nächtliches Dunkel.
Rechnen wir hierzu, daß die Bewohner der Äquator-Gegend
faſt
ununterbrochenen Mondſchein haben, ſo dürfen wir nicht
erwarten
, daß die Jupiters-Menſchen gute Aſtronomen ſein
werden
, denn Mondſchein und Dämmerlicht laſſen eine genaue
Betrachtung
des Himmels und der Geſtirne nicht zu.
Auf Jupiter erſcheint die Sonne über fünfmal kleiner als
bei
uns;
das Licht der Sonne wirkt daſelbſt an 27 mal ſchwächer,
und
auch die Wärme der Sonnenſtrahlen muß in demſelben
Maße
abnehmen.
Die Jupiters-Weſen würden daher wahr-
ſcheinlich
Katzen-Augen haben, wenn ſie im ſchwachen Sonnen-
licht
ſo gut ſehen ſollen, wie wir im bedeutend hellern;
753129 haben ſie aber noch ſicherlich geſunde, kräftige Muskeln, denn
die
Anziehung Jupiters auf ſeiner Oberfläche iſt derart, daß
ein
Pfund auf Jupiter gebracht, dort faſt 2 {1/2} Pfund ſchwer
wird
.
Würden wir uns auf Jupiter niederlaſſen, ſo würde
unſer
Leib ſo gedrückt werden, als ob 1 {1/2} Zentner auf uns
laſteten
, und wir müßten in der erſten Viertel-Stunde ſo matt
und
müde werden, daß wir uns flach auf den Boden hinſtrecken
und
alle Luſt zum Aufſtehen verlieren würden.
XXVI. Die Jupiters-Monde.
Vielleicht möchte mancher dem Jupiter ſeine Monde des-
halb
gönnen, weil er ein gar mächtiger Planet iſt und an
Maſſe
die Erde über dreihundertmal übertrifft.
Es möchte
manchem
gerecht erſcheinen, daß jedem Planeten je nach ſeiner
Größe
auch Trabanten beigegeben werden mögen, und demnach
die
fünf Monde als Trabanten des Jupiter das mindeſte wären,
das
ihm zu gönnen ſei.
Allein dieſer Grund reicht nicht aus.
Jupiter iſt zwar der Hauptplanet im Sonnenſyſtem, und
es
unterliegt nicht dem geringſten Zweifel, daß, wenn die
Sonne
plötzlich ihr Regiment einſtellte oder ihre Anziehungs-
kraft
verlöre, dann Jupiter derjenige Himmelskörper ſein
würde
, um welchen ſich ſämtliche Planeten bewegen müßten.
So unfehlbar wie jetzt die Erde alljährlich um die Sonne
wandert
, würde ſie in ihrem mittleren Abſtand in 380 Jahren
in
einem Kreiſe um Jupiter gehen.
Allein auch dieſe Wichtig-
keit
Jupiters kann ihm nicht die Auszeichnung, fünf Monde
zu
beſitzen, verſchafft haben, denn wir werden recht bald ſehen,
daß
der Planet Saturn, der an Maſſe geringer iſt als Ju-
piter
, gar acht Monde beſitzt, und außerdem noch etwas, das
A. Bernftein Naturw. Volfsbücher XVI.
754130
ohne Gleichen am Himmel iſt, nämlich einen Ring, oder rich-
tiger
ein ganzes Syſtem von ineinanderliegenden Ringen, das,
wenn
man es in Stücke zerbräche, eine ungeheure Anzahl
von
Monden bilden würde, die alle um den Saturn laufen
müßten
.
Wie aber mag es ſich auf einem der Jupitermonde leben?
Wir wiſſen hierüber nur wenig zu ſagen, aber das Wenige
genügt
, um uns jeden Beſuch eines Jupitermondes gründlich
zu
verleiden.
Die Monde des Jupiters ſind eben ſo wenig von Luft
umgeben
, wie der Mond der Erde.
. Sie gleichen ferner auch
darin
unſerm Monde, daß ſie ſtets eine und dieſelbe Seite
ihrem
Hauptplaneten zuwenden.
Der Punkt des Jupiter-
mondes
, der dem Jupiter am nächſten iſt, wird von ihm der-
art
angezogen, daß der Mond ſich nicht um die Axe drehen
kann
.
Nur in ſo fern ſie um Jupiter herumlaufen, wenden
ſie
während des Umlaufs alle ihre Seiten der Sonne zu, um
ſie
erleuchten zu laſſen.
Ein Tag auf einem Jupitersmond iſt
alſo
ſo groß, wie die Umlaufszeit desſelben um Jupiter.
Dafür aber genießen ſie das Glück, daß ihre Nächte vom
Jupiter
erleuchtet werden, und zwar in einer Weiſe er-
leuchtet
werden, wovon wir uns ſchwerlich einen richtigen Be-
griff
machen können.
Die etwaigen Bewohner des erſten Jupitermondes ſehen
in
ihrerNacht” den Jupiter erleuchtet und leuchtend an ihrem
Himmel
, und zwar in einer Größe, die alles übertrifft, was
wir
am Himmel ſehen.
Die Jupiterskugel erſcheint ihnen
dreiundneunzigmal
größer im Durchmeſſer als uns die Sonne,
das
heißt, es nimmt für ſie die Jupiterskugel den achten Teil des
ganzen
ſichtbaren Himmelsgewölbes ein! Selbſt vom äußerſten
Monde
aus ſieht ſich die Jupiterskugel 64 mal größer an als
uns
die Sonne erſcheint, und da die Sonne dort an dreißig-
mal
kleiner ausſieht als bei uns, ſo iſt es höchſt
755131 lich, daß die Bewohner eines Jupitermondes den mächtigen
Jupiter
als Hauptkörper des ganzen Weltſyſtems betrachten
und
der Sonne nur die beſcheidene Rolle eines Lichtes zu-
weiſen
, das den Weg beleuchten muß, den ſie dahin wandeln.
DieNacht” auf den Jupitermonden wird daher viel, viel
heller
ſein als derTag”, da ja die Sonne viel ſchwächer
leuchtet
wie das ungeheuer große und ſtarke Sonnen-Reflexlicht
vom
Jupiter.
XXVII. Saturn und ſein Ring.
Der ſonderbarſte aller Himmelskörper iſt ganz ohne Zweifel
Saturn
, denn ſeinesgleichen findet man im Weltall nicht
wieder
.
Saturn iſt ein Planet, der aus einer Kugel beſteht; aber
dieſe
Kugel ſchwebt frei mitten in einem weiten Ring;
oder
richtiger
, die Kugel iſt von einem weit abſtehenden, ſehr großen
Ring
umgeben, der ſich um die Kugel dreht (Fig.
26—28).
Der Ring umzieht die Saturnkugel ganz ſo wie ein Reifen,
in
deſſen Mitte ein Apfel ſchwebt.
Der Ring und die Kugel
ſind
durchaus nicht durch irgend eine Brücke verbunden;
die
innere
Kaute des Ringes ſteht vielmehr an 4400 Meilen von
der
Oberfläche der Saturnkugel ab, und wenn die Menſchen
auf
der Saturnkugel nicht Phantaſie-Reiſen machen können,
oder
Mittel beſitzen, die wir noch nicht entdeckt haben, ſo ſind
ſie
nicht imſtande, auf dieſen ihren Planeten umgebenden Ring
zu
gelangen, ebenſo wenig wie wir auf unſern Mond zu
kommen
vermögen.
Dieſer Ring iſt nicht etwa von einer Luftmaſſe gebildet,
ſondern
es iſt ein ganz kompakter Ring, der, wenn die Sonne
ihn
beſcheint, ſeinen Schatten auf die Saturnkugel
756132 und ein ganz beträchtliches Stück dieſer Kugel gründlich ver-
finſtert
(Fig.
27
u
.
28).
59[Figure 59]Fig. 26.
Der Ring iſt
auch
nicht etwa
gar
ſo dünn und
ſchmal
, ſeine
Kante
iſt vielmehr
an
30 Meilen dick,
und
er beſitzt eine
Breite
von mehr
als
6000 Meilen.
Von der Erde
aus
kann man den
Ring
des Saturn
ſchon
durch ein
mäßig
großes
Fernrohr
ſehen,
aber
nur dann,
wenn
der Ring ſo
ſteht
, daß er uns
nicht
bloß die
ſchmale
Kante zu-
wendet
(Fig.
26);
denn der Saturn
iſt
von uns ſo
entfernt
, daß die-
ſer
Streif von 30
Meilen
Dicke faſt
ganz
unſichtbar
werden
kann, und
man
ſelbſt durch
die
ſchärfſten
757133 größten Fernröhre ihn nur als einen äußerſt feinen, lichten Strich
erblickt
.
Am beſten iſt der Ring ſichlbar, wenn er die ſchrägſte
Lage
für unſer Auge
60[Figure 60]Fig. 27. einnimmt (Fig.
27 u.
28). Man ſieht dann
die
6000 Meilen breite
Fläche
derſelben, wie
ſie
bogenartig die
Kugel
des Saturn
von
allen Seiten
umgiebt
, und erkennt
ihn
ſofort als einen
für
unſer Auge ſchräg
liegenden
Ring, in
deſſen
Mitte die Kugel
des
Planeten ſchwebt.
Die Entdeckung dieſes Ringes gehört zu den luſtigſten
Geſchichten
der wiſſenſchaftlichen Entdeckungen und iſt auch
lehrreich
für Viele, die
allzu
haſtig mit der Ver-
61[Figure 61]Fig. 28. kündigung deſſen ſind,
was
ſie in der Natur
zu
ſehen glauben.
Vor Erfindung der
Fernröhre
hatte man
keine
Ahnung davon,
daß
ein Planet noch
einen
weit abſtehenden
Ring
um den Leib haben
könne
.
Die erſten Fern-
röhre
waren noch viel zu
unvollkommen
, um ſofort
den
Ring des Saturn
758134 ſolchen ſehen zu laſſen, gleichwohl zeigten dieſe ſchon, daß es
etwas
beſonderes mit dieſer Kugel auf ſich haben müſſe, und
man
ſah, daß eigentlich Saturn keine runde Kugel, ſondern
eine
Art Ei ſein müſſe.
Sofort machten ſich ſpekulierende Köpfe daran, dieſes Ei
als
ein Welt-Ei zu verkünden, aus dem ein neuer Planet
erſt
herauskriechen werde, und zogen den Schluß, daß auch die
Erde
aus einem Ei gekrochen ſein müſſe.
Da entdeckte denn Galilei ſelber, daß es mit dem Ei auch
nicht
richtig ſei, ſondern daß der Saturn zu beiden Seiten
zwei
feſt angewachſene Monde haben müſſe.
Kaum aber hatten
die
angewachſenen Monde wieder die ſpekulierenden Köpfe an-
gefeuert
, ein paſſendes Syſtem der Philoſophie hierzu zu er-
finden
, ſo hörte mit einemmale Alles auf, denn Saturn nahm
eine
Lage an, in welcher vom Ring nur die ſchmale Kante zu
ſehen
iſt, und da man dieſe durch die damaligen Fernröhre
nicht
ſehen konnte, erſchien der Planet als einfache, runde Kugel,
die
aller gelehrten Theorien ſpottete.
Aber auch dies konnte
nicht
lange anhalten;
denn bald ſah man wiederum etwas zu
beiden
Seiten dieſer Kugel, und wenn das auch nicht als an-
gewachſene
Monde genommen werden konnte, ſo mußte man
ſich
doch dazu verſtehen, dem Saturn zwei Henkel zuzuſchreiben,
die
aus der Kugel zu beiden Seiten hervorragen.
Es dauerte aber auch dies nicht lange, und man ſah wieder
das
Ei;
aber ein Ei, das an beiden Enden zwei Löcher haben
müſſe
, durch die man hindurchſehen könne.
Endlich, nachdem vierzig Jahre vergangen waren, in
welchen
man Syſteme und Theorien eifrig zuſchnitt, um ſich das,
was
man zu ſehen glaubte, philoſophiſch zurecht zu legen, zeigte
der
ſcharfſinnige Naturforſcher Huyghens (1629—1695), der
auch
beſſere Fernröhre fabrizierte, daß all’ das, was man
Sonderbares
geſehen, nichts ſei als ein Ring, den Saturn um
ſich
habe, daß der Ring unſichtbar werde, wenn er die
759135 Kante uns zuwendet und deshalb den Saturn als runde
Kugel
erſcheinen läßt;
daß wenn die Lage des Ringes ſchräg
für
unſer Auge wird, bald eine Eigeſtalt, bald eine Ver-
wachſung
mit zwei Monden, bald eine Henkelform am Saturn
zu
ſehen ſei, ſobald man nicht ſcharfe Fernröhre habe, die in
allen
Lagen den Ring als ſolchen genauer erkennen laſſen.
So hat denn ſeitdem Saturn ſeinen Ring unbeſtritten und
ſteht
als eigentümliches Naturwunder ſondergleichen da, das
wir
uns jetzt näher anſehen müſſen.
XXVIII. Wie Saturn zu ſeinem Ring gekommen.
Wie mag wohl Saturn zu ſeinem ſonderbaren Ring ge-
kommen
ſein?
Dieſe Frage iſt wiſſenſchaftlich nicht ſo leicht zu beant-
worten
;
doch hat eine genauere Beobachtung dieſes Ringes auf
Vermutungen
geführt, die einiges Licht über die Bildung von
Planeten
verbreitet.
Wir wiſſen von der Geſchichte unſerer Erde, daß ſie der-
einſt
vor vielen, vielen Millionen von Jahren in einem ge-
ſchmolzenen
, feurigen Zuſtand geweſen ſein muß.
Vielleicht iſt
ſogar
noch gegenwärtig das Innere der Erde feurigflüſſig.
Die harte Schale, auf der wir jetzt leben, iſt alſo erſt nach
und
nach durch Abkühlung der obern Schicht der Kugel ent-
ſtanden
, und zwar muß dieſe Abkühlung und dies Erhärten
der
Oberfläche ſehr langſam vor ſich gegangen ſein.
Eine Folge dieſer langſam vor ſich gegangenen Abkühlung
iſt
die Abplattung der Erde an ihren beiden Polen.
Man
kann
ſich nämlich die Abplattung nur dadurch erklären, daß
man
annimmt, es habe ſich die Erde, als ſie noch im
760136 geſchmolzenen Zuſtand war, bereits um ihre Axe gedreht; bei
einer
ſolchen Umdrehung aber erhebt ſich immer die Mittellinie
einer
flüſſigen Kugel;
ſie
dreht
ſich im Äquator
62[Figure 62]Fig. 29. Abplattung einer rotierenden Kugel. aus und plattet ſich an
den
Polen ab (Fig.
29).
Erkaltet eine ſolche Kugel
in
dieſem Zuſtand lang-
ſam
, ſo daß die Ober-
fläche
ſtarr und feſt wird,
ſo
bleibt ſie für immer
in
dieſer Geſtalt, und
das
iſt auch mit der
Erde
der Fall, die gegen-
wärtig
noch in ihrer
Abplattung
an den Polen
Zeugnis
giebt von ihrem
ehemaligen
Ur-Zuſtand
vor
langen, unberechen-
baren
Zeiten.
Je größer die Ge-
ſchwindigkeit
der Um-
drehung
iſt, deſto größer
iſt
ſtets die Abplattung,
ja
man kann die Um-
drehung
einer Kugel ſo
ſchnell
bewerkſtelligen,
daß
alle loſen Teile von
ihr
davonfliegen, und
das
wird am eheſten
dort
geſchehen, wo der
Umſchwung
am ſtärkſten iſt, alſo am Äquator der Kugel.
Bei faſt allen durch unſere Fernröhre meßbaren
761137 hat man ſolche Abplattung der Pole bemerkt; der einzige
Himmelskörper
, der trotz ſeiner Umdrehung keine ſolche Ab-
plattung
zeigt, iſt die Sonne, von der wir freilich nur die
Lichthülle
, nicht aber die wirkliche Sonnenmaſſe ſelber ſehen
können
.
Nicht minder aber iſt es eine ausgemachte Sache, daß alle
Maſſen
ſich in der Hitze ausdehnen und in der Kälte ſich zu-
ſammenziehen
und kleiner werden.
Will man nun dies auf die Entſtehungs-Geſchichte des
Planeten
Saturn anwenden, ſo hat man ſich Folgendes vor-
zuſtellen
.
Die Kugel des Saturn iſt urſprünglich ebenfalls im voll-
ſtändig
geſchmolzenen Zuſtand und alſo flüſſig geweſen.
Zu-
gleich
hat ſie ſich mit großer Geſchwindigkeit um ihre Axe ge-
dreht
, und hierbei war ſie in Folge der Hitze und der Drehung
an
ihrem Äquator ſo groß, wie jetzt ihr Ring iſt.
Nunmehr
fing
ſie an, langſam zu erkalten;
da aber ausgedehnte Maſſen
ſich
leichter abkühlen als dicht aneinander gelagerte, ſo mußte
der
Äquator des Saturn zuerſt ſtarr werden, während die
übrigen
Teile noch flüſſig geblieben ſind.
Als ſich nun bei
der
weiteren Abkühlung die Maſſe zuſammenzog, war der
Äquator
bereits ſo feſt und ſtarr, daß er der Kugel in ihrer
Zuſammenziehung
nicht folgte;
es blieb alſo der Äquator
Saturns
als ein ſtarrer Ring ſchweben, während die Kugel
ſelbſt
ſich nach und nach verkleinerte und zuſammenzog, und
endlich
als Planet ausbildete, von dem ſich der ehemalige
Äquator
losgetrennt hat.
Während nun aber derartige Ab-
trennungen
des Äquators von einem Planeten nicht ſelten vor-
gekommen
ſind, ſo liegen doch beim Saturn die Dinge beſonders
eigentümlich
.
Der gewöhnliche Gang iſt der, daß der abge-
trennte
Ring an irgend einer Stelle ſich verdichtet und ſchließlich
zu
einer Kugel aufwickelt, die fortan den Planeten als Trabant
umkreiſt
:
es iſt ein Mond entſtanden. Fig. 30 zeigt uns
762138 Entſtehen eines Trabanten (d) aus einem Ringe. Beim Saturn
muß
nun aber der Ring erſtarrt ſein, bevor er Zeit hatte ent-
zweizureißen
, und ſomit hat ſich denn hier kein Mond gebildet,
ſondern
es iſt die Entwickelung auf einem früheren Stadium
ſtehen
geblieben, indem eben jener Ring, der uns ſo ſeltſam
erſcheint
, als Trabant den Saturn umkreiſt.
63[Figure 63]Fig. 30.
Ring-
und Mondbildung eines Planeten.
Dieſe Erklärung wird zum Teil dadurch beſtärkt, daß man
nach
genaueren Beobachtungen entdeckt hat, daß der Ring
eigentlich
aus einer Anzahl einzelner, in einander liegender
Ringe
beſteht, die alle in ähnlicher Weiſe wie der größte Ring
nach
einander den Äquator des Planeten gebildet haben, und
immer
nach ihrer Erſtarrung und dem weiteren Zuſammen-
ziehen
und Erkaltung der Planeten-Maſſe als immer kleinere
Ringe
von der noch ſtets kleiner werdenden Kugel zurück-
blieben
.
Genug, der Ring iſt da, und zwar ein gar nicht kleiner
Ring
, denn ſein Durchmeſſer beträgt 37 000 Meilen.
Er iſt
zwar
ſehr dünn, denn ſeine Kante iſt nur etwa dreißig Meilen
ſtark
;
aber dafür iſt er breit, denn er beträgt ſamt all’ den
inneren
Ringen ſo ziemlich 6000 Meilen Breite, und da
763139 Umfang an 120 000 Meilen beträgt, ſo folgt, daß man aus
dem
Ring allein circa fünf Kugeln machen könnte, ſo groß wie
die
Erde iſt.
Wie mag ſich’s aber auf ſolchem Planeten, oder gar auf
dem
Ring ſelber lcben?
Nun, das wollen wir ſogleich be-
trachten
, ſo weit man’s eben anzugeben weiß.
XXIX. Das Wohnen auf dem Saturn.
Wie es ſich auf einem Planeten leben mag, wo Sonnen-
Licht
und Wärme an 100mal ſchwächer ſind als bei uns und
der
hellſte Mittag unſerem Dämmerlicht gleicht, wie es ſich
auf
Saturn leben mag, der eine ſolche Stellung ſeiner Axe zu
ſeinem
Umlauf um die Sonne hat, daß bei ihm ähnlich wie
bei
uns die Jahreszeiten ſehr verſchieden ſind, daß Sommer
und
Winter abwechſelnd bald auf der einen, bald auf der
anderen
Hälfte der Kugel herrſchen, auf welchen aber jede
dieſer
Jahreszeiten, wie der zwiſchen ihnen liegende Herbſt und
Frühling
ſieben und ein halb Jahr dauert;
wie es ſich leben
mag
auf einem Planeten, deſſen Tag nur halb ſo lang iſt wie
der
unſrige, deſſen Jahr aber 29 {1/2}mal länger iſt als das
Erdenjahr
, dieſe Fragen dürfen wir der Phantaſie unſerer
Leſer
zur Beantwortung überlaſſen.
Wir wollen nur die eine Frage in Betracht ziehen, welchen
Einfluß
wohl der Ring des Saturn auf die etwaigen Be-
wohner
desſelben, wenn ſie den Menſchen geiſtig ähnlich ſind,
haben
mag;
welche Erſcheinungen er ihnen bietet und welche
Vorſtellungen
er in ihnen erweckt?
Denn dieſe einzige Be-
trachtung
iſt ausreichend, um zu zeigen, daß es recht
764140 um uns Menſchen ſtände, wenn unſere Erde die Ehre hätte,
ſolch’
einen Ring um den Bauch zu beſitzen.
Die Weſen auf dem Saturn hatten urſprünglich gewiß
eben
ſo wenig eine Ahnung davon, daß ſie die Oberfläche einer
Kugel
bewohnen, ſo wenig die Menſchen der Erde urſprüng-
lich
davon eine Ahnung hatten.
Zudem werden ſie auch nicht
die
leiſeſte Ahnung davon haben, daß dieſe ihre Kugel wirklich
von
einem Ring umgeben iſt, denn was uns als Ring er-
ſcheint
, erſcheint ihnen dort ganz anders.
Die Leute, die am Äquator wohnen, ſehen nämlich nur
die
innere, unbeleuchtete Kante des Ringes als einen ſchwarzen
breiten
Streifen in der Mitte ihres Himmelsgewölbes, und da
ſie
gewiß glauben, daß die Himmelskugel einer Stütze bedarf,
ſo
ſahen ſie unzweifelhaft dieſen ſchwarzen, breiten Streifen
als
das Bogengewölbe an, das den Himmel trägt.
Freilich
müßten
ſie ſchließen, daß die Sonne, die ihnen leuchtet, ihnen
noch
entfernter ſein müſſe, als dieſer ſchwarze Bogen, denn im
Herbſt
und Frühling ihres Jahres wird ihnen die Sonne un-
ſichtbar
, weil ſie gerade hinter dem Ring ſteht, der ſeinen
Schatten
auf den Äquator der Saturnkugel wirft.
Allein es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Menſchen dort
eher
auf die falſche Idee geraten, es ſei irgendwo ein Loch in
dieſer
Bogenwölbung, durch welches die Sonne hindurchkriechen
muß
, wenn ſie von der einen Seite des Himmels zur andern
kommen
will, als daß ſie die richtige Vorſtellung davon haben,
die
uns jetzt ſo geläufig iſt.
Vielleicht veranſtalten ſie feierliche
Faſt-
und Bet-Tage zur Zeit, wo die Sonne nach Norden oder
Süden
ausweicht und lange, vom Ring unſichtbar gemacht,
die
geängſtigten Weſen dort in tiefſter Finſternis läßt.
Viel-
leicht
kreuzigen und verbrennen ſie dann all’ diejenigen, welche
etwa
die Wahrheit ahnen und es leugnen, daß der Streifen,
der
die Himmelskugel in zwei Hälften teilt, die feſte Bogen-
ſtütze
des Weltalls iſt.
765141
Beſſer daran ſind ſchon diejenigen, welche auf beiden
Seiten
des Äquators leben.
Für ihr Auge teilt der Ring
nicht
mehr den Himmel in zwei Hälften, ſondern er wölbt ſich
als
Bogen, der nicht unähnlich einem Regenbogen den Himmel
ſeitwärts
umſpannt.
Die Bewohner der mittleren Zonen zu
beiden
Seiten des Äquators ſehen nicht nur die innere, finſtere
Kante
des Ringes, ſondern können auch ſchon die Seitenfläche
des
Ringes ſehen.
Ja, diejenigen, die dort in dem Breiten-
grad
wohnen, wo bei uns Griechenland liegt, ſehen die breite
Kante
am vorteilhafteſten, denn ſie nehmen ſie als ein
Himmelsthor
wahr, deſſen Gemäuer ſo dick iſt, wie bei uns
dreißig
nebeneinander ſtehende Monde erſcheinen würden und
auf
dem ſie in den Sommernächten den Schatten ihres
Planeten
Saturn erblicken können (Fig.
31). Wenn bei ihnen
Sommer
iſt, ſo befindet ſich für ſie die Sonne diesſeits des
Himmelsthors
, und das dauert mehr als vierzehn volle
Erdenjahre
, während welcher Zeit das Licht der Sonne die
Seitenwand
des Ringes ſtets beleuchtet.
Tritt aber bei ihnen
der
Winter ein, ſo begiebt ſich die Sonne für ſie jenſeits des
Himmelsthors
.
Mit Eintritt des Herbſtes wird das herrliche
Himmelsthor
für ſie finſter.
Sie ſehen es am Tage wie einen
pechſchwarzen
Regenbogen vor ſich.
Endlich kommt die Sonne
ſo
, daß ſie für ihr Auge hinter dem Ringe ſteht, und dann
verurſacht
ihnen der Ring eine furchtbare Sonnenfinſternis, die
faſt
neun Erdenjahre dauert.
Zu beiden Seiten des Äquators giebt es auch Gegenden,
wo
der Ring zwar lang dauernde Finſterniſſe in ihrer Winter-
zeit
veranlaßt, aber in der Mitte des Winters tritt die Sonne
plötzlich
unter das Thorgewölbe und verweilt gar kurze Zeit
daſelbſt
.
Dieſe Gegend wird dadurch mitten im Winter vom
Licht
umfloſſen, aber bald ſchwindet dies wieder, und der
Ring
veranlaßt eine neue Sonnenfinſternis, die erſt ſchwindet,
wenn
der Frühling naht, um den langen Sommer einzuleiten.
766142
Wie aber mag wohl der Ring denen erſcheinen, die auf
Saturn
in jener Weltgegend wohnen, wo auf Erden Berlin liegt?
64[Figure 64]Fig. 31.
Wenn ſich die Berliner auf Erden mit der Hoffnung
ſchmeicheln
, daß die Berliner auf Saturn in dieſer
767143 ſehr begünſtigt ſind, ſo irren ſie ſich. In dieſem Breitengrad
ſieht
man vom Ring nichts mehr als eine Art Wand, mit
welcher
am ſüdlichen Horizont der Himmel mit Brettern ver-
nagelt
erſcheint;
in den Gegenden, die noch weiter hin zum
Pol
liegen, verſchwindet auch dieſes und ſie haben dort nur
Gelegenheit
, ſich an Fabeln und Sagen zu erfreuen, die aus
jenen
Gegenden ſtammen, wo man glaubt, Himmelsthore oder
die
ſtützenden Bogen des Himmelsgewölbes mit leibhaftigen
Augen
zu ſehen.
Sollten aber auf dem Ring ſelbſt nicht Weſen vernünftiger
Art
wohuen?
Das iſt wohl möglich, und wir werden ſehen,
wie
es ihuen dort ergeht.
XXX. Die etwaigen Bewohner des Saturn-
Ringes.
Wenn die Natur haushälteriſch umgeht und allenthalben,
wo
ein Leben möglich iſt, auch Leben hegt und pflegt, ſo iſt
nicht
nur ein Leben, ſondern auch ein Leben vernunftbegabter
Weſen
auf dem Ring des Saturn möglich, und darum mag es
unſerer
Phantaſie geſtattet ſein, dieſen Ring einmal mit menſchen-
ähnlichen
Weſen zu bevölkern.
Und in der That, auf der ſchmalen, äußern Kante des
Ringes
ging’s ſchon ganz gut an.
Dieſe Kante, obgleich ſie
uns
in den ſchärfſten Fernröhren feiner als ein Härchen er-
ſcheint
und man meinen ſollte, es müßten die Menſchen dort
nur
wie Seiltänzer mit Hilfe einer Balancierſtange herum-
ſpazieren
können, iſt dennoch 30 Meilen dick;
und das iſt ein
Raum
, auf dem ein Dutzend deutſcher Staaten nebeneinander
Platz
haben.
Da nun der Umfang des Ringes an 120
768144 Meilen beträgt, ſo würde die geſamte Menſchheit der Erde,
auf
die Kante des Saturn-Ringes verſetzt, noch keineswegs
wegen
Mangel an Raum Auswanderungen zu veranſtalten
nötig
haben.
Das aber muß man ſagen, wenn es einmal gilt, dort zu
leben
, ſo lebt es ſich auf dieſer äußeren, ſchmalen Kante ſchon
am
beſten.
Da der Ring in zehn Stunden ſich um Saturn
ſchwingt
, ſo hat man auf ihm eine Abwechſelung von Tag und
Nacht
, von denen jeder fünf Stunden lang iſt.
Für die Be-
wohner
dieſer ſchmalen Kante iſt ein weſentlicher Unterſchied
zwiſchen
Sommer und Winter nicht vorhanden;
denn es lebt
ſich
auf dieſem Ring ganz ſo wie auf dem Äquator eines
ordentlichen
, kugelrunden Planeten, wo der Wechſel der Jahres-
zeiten
höchſtens im Wechſel der Regenzeiten bemerkbar wird.

Aber
in anderer und zwar in geiſtiger Beziehung möchte dies
ein
keineswegs günſtig gelegener Wohnſitz ſein, denn ſchwerlich
giebt
es im Sonnenſyſtem irgend ein Plätzchen, wo es ſchwie-
riger
wird, ſich die Welt richtig vorzuſtellen, als auf der äußeren
Kante
des Saturn-Ringes.
Wir, die wir den Ring ſo deutlich ſehen, und auch ſeine
Umdrehung
um die in ſeinem Mittelpunkt liegende Saturn-
kugel
erkennen, wir würden mit unſerer Erkenntnis leicht
genug
all’ die ſonderbaren Erſcheinungen der dortigen Natur
herausfinden
.
Die Weſen aber, die dort wohnen, können auf
dem
Bereich ihres Wohnſitzes keine Ahnung davon haben, daß
ſie
auf der ſchmalen Kante eines Ringes leben.
Sie können
es
auch nicht vermuten, daß ſich ihr ganzer Wohnſitz in zehn
Stunden
um einen Planeten dreht, ſondern der Meinung ſein,
daß
ſie ſtill ſtehen und das ganze Weltall ſich um ſie herum-
drehe
.
Daß fünftauſend Meilen unter ihren Füßen ein Planet
Saturn
vorhanden iſt, davon werden ſie naturgemäß keine
Ahnung
haben, denn wenn ſie auch bis zum Rand der Kante
gehen
und dort wirklich ein Stück Halbkugel in
769145 Belcuchtung erblicken, ſo werden ſie dies ſonderbare Ding zu
ihren
Füßen weit eher für einen zerbrochenen Mond als für
einen
Hauptplaneten halten, zumal acht Monde, die ſich um
Saturn
und ſeinen Ring bewegen, die Vorſtellung, daß ſie von
Monden
umgeben ſind, ſehr begünſtigen.
Zu dem kommt noch,
daß
ſie dieſe Halbkugel während 14 Jahren, wo ſie in Winter-
Nacht
und in der Schatten-Nacht des Ringes vergraben iſt,
gar
nicht ſehen, und in den Sommer- und Lichtzeiten dieſer
Halbkugel
dieſelbe nur eigentlich morgens und abends als
eine
Art zerbrochenen Halbmond erblicken, der über den Rand
der
Kante geſehen, ſtets genau unter den Füßen des Beobach-
ters
ſchwebt.
Welche Märchen und Sagen, ja welch’ heilig geſprochene,
althergebrachte
Mythen mögen wohl dort herrſchen über die
acht
freien Monde, die im Weltraum ſcheinbar um den Wohn-
ſitz
dieſer Weſen herumſchweben und über das zerbrochene
Stück
halbe Mondſcheibe, das ſcheinbar angefeſſelt iſt zu den
Füßen
dieſer Weſen! Wie ſollen ſie zu dem Sedanken kommen,
daß
ſie eigentlich nur auf einem Ring wohnen, der mondartig
um
dieſes zerbrochene, halbe Ding zu ihren Füßen ſchwebt,
welches
ein wirklicher, richtiger, mächtiger Planet iſt! Sie,
die
ſich und ihren Wohnſitz ſicherlich als den Mittelpunkt des
Weltalls
anſehen, werden gewiß jeden verdammen oder ver-
ſpotten
, der das Ding zu ihren Füßen zum Hauptweſen
machen
will und gegen alle hergebrachten Anſchauungen
ihren
feſten Wohnſitz zu einem untergeordneten Stückchen
Welt
herabſetzt.
Wollten wir auch annehmen, daß die vernunftbegabten
Weſen
dort einen tauſendmal ſchärfern Verſtand haben als wir
Erdbewohner
, ſo dürfen wir doch nicht viel von ihrer Einſicht
hoffen
;
denn einerſeits ſind die Umſtände wirklich ſo verwirrend,
daß
es tauſendmal ſchwerer iſt, von dort aus die Wahrheit zu
erſpähen
, als bei uns, andererſeits ſind wenigſtens bei uns
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
770146
Erdbewohnern die Vorurteile der Verſtändigen weit ſchwerer
zu
bekämpfen, als die ſchlichten Irrtümer des Unverſtandes.

Wir
haben ja das Beiſpiel in der Menſchengeſchichte vor uns,
daß
wilde, ungebildete Völker ſich leichter belehren ließen über
die
Umdrehung der Erde, als das gebildete Europa, das gerade
vom
falſchen Scharfſinn des ptolemäiſchen Weltſyſtems hart-
näckig
verblendet war!
Wie aber, wenn die Bewohner der Kante des Ringes
reiſeluſtig
genug ſind, um ſich über den Rand des Ringes
hinauszuwagen
und eine Reiſe nach der Breite des Ringes
und
abwärts dem Saturn zu anzutreten?
Sollten ſie da
nicht
der Wahrheit etwas näher kommen?
Wir vermuten, daß ſie die Reiſe bleiben laſſen, und zwar
aus
mehrfachen, ſehr verſchiedenen Urſachen, die ſie von dieſer
Luſt
, wie wir ſehen werden, befreien.
XXXI. Das Schickſal des Saturn-Ringes.
Einem Bewohner des Saturn-Ringes, dem es einfiele, die
ſchmale
Kante des Ringes, ſeinen bisherigen Wohnſitz zu ver-
laſſen
und um die Ecke zu biegen, damit er auf der breiten
Seite
des Ringes einen Spaziergang machen könne, dem würde
ſo
Manches paſſieren, was ihm die Luſt zu ſeinem Unter-
nehmen
verleidet.
Vor Allem iſt um die Ecke ein ganz anderes Wetter.
Während auf der ſchmalen Kante des Ringes ein fortwährender
Sommer
herrſcht, wo ſtets fünf Stunden Tag und fünf
Stunden
Nacht mit einander abwechſeln, herrſcht auf jeder
breiten
Seite des Ringes eigentlich ein ewiger Winter;
und
zwar
ein Winter, in welchem bei jedem Umlauf des
771147 Saturn um die Sonne nur ein einziger Tag und eine einzige
Nacht
vorhanden iſt, aber ein Tag, der 14 {1/2} Jahr dauert,
und
eine Nacht von eben ſolcher Länge.
Wie mag es nun
wohl
einem Weſen, das an einen Tages- und Nachtwechſel im
Laufe
von zehn Stunden gewöhnt iſt, vorkommen, wenn es
beim
Umbiegen um die Ecke ſeines Wohnſitzes ohne weiteres
in
eine ganz neue Welt tritt, wo es mehr als vierzehn Jahre
auf
eine Abwechſelung derart warten muß?
Wie anders muß
nicht
die ganze Natur eingerichtet ſein bei ſolchem Abſtand der
Witterungsverhältniſſe
, und wie wenig Einladendes muß es
haben
, auch nur um die Ecke zu blicken, die einen ſolchen
Unterſchied
aller Verhältniſſe hervorbringt!
Würde nun noch der Ring des Saturn eine ſolche Lage
zur
Sonne haben, daß die breite Seite des Ringes einmal den
vollen
Sonnenſchein genießen könnte, ſo wäre es noch denkbar,
daß
ein vierzehnjähriger Sonnenſchein den Boden ſo durch-
wärmte
, daß die Wärme für die eben ſo lange Nacht einiger-
maßen
aushielte.
Der Ring hat aber eine ſolche Lage, daß
die
Sonne der breiten Seite des Ringes ſtets nur ſo ſchräg
die
Strahlen zuſenden kann, wie etwa bei uns in den kälteſten
Weltgegenden
.
Zudem iſt dort das Sonnenlicht an 100 mal
ſchwächer
an wärmender Kraft als auf der Erde.
Das Klima
muß
alſo ſelbſt an einem Tage, der durch vierzehn volle Jahre
anhält
, ein undenklich kaltes ſein.
Welche Kälte aber eine vier-
zehnjährige
, ununterbrochene Nachtzeit verurſacht, das iſt etwas,
was
wir nicht aufzufaſſen vermögen.
Aber es handelt ſich bei ſolchem Spaziergang um die Ecke
um
noch ganz etwas anderes, als um das Wetter, und das iſt
etwas
, was einem etwaigen Forſchungs-Reiſenden auf dem
Saturn
einfach ein unüberwindliches Hindernis entgegenſetzt.
Der Ring nämlich dreht ſich mit ſolcher Schnelligkeit um
den
Saturn, daß in jedem Punkte des Ringes die Schwung-
kraft
und die Anziehungskraft durch Saturn gleich iſt.
772148 die Weſen, die auf dem Ringe leben, hat alſo die Saturn-
kugel
in der Mitte des Ringes ſo gut wie gar keine An-
ziehungskraft
.
Nun bleibt zwar noch die Maſſe des Ringes
ſelber
, die gar nicht gering iſt, übrig, und die Maſſe bewirkt
auf
jedem Punkte der ſchmalen Kante eine Anziehung, die ſo
ſtark
iſt, wie ſie wäre, wenn die geſamte Maſſe des Ringes
im
Mittelpunkt desſelben vereinigt wäre.
Es läßt ſich hier-
nach
, mit Hilfe mancher Vorausſetzungen, die wir hier nicht weiter
erörtern
können, vorausſehen, daß wirklich dieſe Anziehung des
Ringes
ſtark genug iſt, um trotz des Umſchwunges eine An-
ziehungskraft
auf die Gegenſtände auszuüben.
Aber wenn
dies
auch auf der Kante des Ringes ſo der Fall iſt, daß
Weſen
auf dem Boden unter ihren Füßen ſich erhalten können,
ſo
iſt unzweifelhaft, daß es auf der breiten Seite des Ringes
nicht
der Fall ſein kann.
Denkt man ſich die Anziehungskraft
der
geſamten Maſſe des Ringes vereinigt im Mittelpunkt der-
ſelben
, ſo wird es den Leuten, die auf der Kante des Ringes
herumwandeln
, ſo gut ergehen, wie den Menſchen, die auf dem
flachen
Dach eines Hauſes ſpazieren;
aber ebenſowenig als
ſich
ſolche Menſchen an den Rand wagen dürfen, um an den
Wänden
des Hauſes auf und ab zu ſpazieren, ebenſowenig
dürfte
es für die Weſen auf der ſchmalen Kante des
Saturnringes
geraten ſein, ihren Spaziergang auf die breite
Seite
des Ringes, alſo gewiſſermaßen auf die Wand desſelben
auszudehnen
, wenn ſie nicht ſofort viele Tauſende von Meilen
tief
mit furchtbarer Schnelligkeit auf den Saturn herunter-
ſtürzen
wollen.
Ja, die Geſchichte hat noch einen ganz andern Haken, der
nicht
nur dem Leben auf dem Ring, ſondern der ſichern Exiſtenz
des
ganzen Ringes gefährlich iſt.
Die Beobachtungen haben gezeigt, daß eigentlich der Ring
nicht
aus einem einzigen, vollen Reifen beſteht, ſondern daß es
eine
ganze Anzahl von Ringen giebt, von denen der eine
773149 kleiner iſt als der andere. Wir wiſſen mit Sicherheit, daß
dasjenige
, was man auf den erſten Blick für einen einzigen
Ring
anſieht, ein Syſtem einzelner ineinander liegender
Ringe
iſt, die alle weit von einander abſtehen.
Mindeſtens
hat
man ſchon ſicher innere und äußere Ringe unterſchieden,
die
leere Zwiſchenräume zwiſchen ſich haben, welche man
auf
300 Meilen ſchätzt.
Iſt dem ſo, ſo bewirken die
Ringe
aufeinander eine Anziehung und demnach muß auch
ihr
Umſchwung ſehr verſchieden von einander und überhaupt
höchſt
verwickelt ſein.
Ja, es iſt nicht unwahrſcheinlich,
daß
ſie beiſammen eine mittlere Umſchwungsgeſchwindigkeit
haben
, welche für den kleinſten Ring zu langſam und für
den
größten zu ſchnell iſt, und findet etwas Derartiges ſtatt,
ſo
iſt es nicht nur überhaupt gewagt, auf dem Ring zu
leben
, ſondern es muß mit der Zeit dahin kommen, daß der
Ring
ſelber zu Schanden geht und ſich in einen Kranz von
einzelnen
Monden umwandelt, die in ganz wunderbarer Weiſe
um
den Hauptplaneten Saturn einen Rundlauf machen und ſich
zugleich
zu kleinen Mondſyſtemen ausbilden.
In der That hat man Beobachtungen gemacht, die auf
eine
Auflöſung des Ringes hindeuten und die ſchöne Ausſicht
gewähren
, daß einmal unſere Ur-Ur-Enkel eines ſchönen Tages
oder
einer ſchönen Nacht das voraus berechnete Schauſpiel ge-
nießen
werden, den Ring des Saturn berſten und die Ent-
ſtehung
von einer ganzen Maſſe von Monden mit eigenen
Augen
anzuſehen.
XXXII. Uranus.
Eine bedeutende Strecke weiter hinaus und in einer Ent-
fernung
, die faſt noch einmal ſo groß iſt wie die Saturns
774150 der Sonne, bewegt ſich der Planet Uranus: ein Planet, den
man
vor hundertundfünfundzwanzig Jahren noch nicht kannte,
und
deſſen Entdeckung nicht wenig diejenigen in Verlegenheit
ſetzte
, welche die Weisheit und die Einſicht der alten Zeiten als
unübertrefflich
geprieſen hatten.
Nach den hergebrachten Anſchauungen ſtand vor etwas
mehr
als hundert Jahren noch der Glaube feſt, daß Saturn
der
letzte und entfernteſte Planet des Sonnenſyſtems ſei;
mit
der
Entdeckung des Uranus wurde auch dieſer überlieferte
Glaube
erſchüttert und die Menſchheit in wohlthätiger Weiſe
darauf
hingeführt, daß ſie die Erkenntnis der Natur-Wahrheiten
nicht
in der Vergangenheit und bei den alten griechiſchen
Schriftſtellern
zu ſuchen, ſondern durch eigne Forſchungen und
Beobachtungen
zu finden und von dem Fortſchritt der Menſchheit
in
der Zukunft zu hoffen hat.
Uranus iſt ein Planet, der zwanzigmal entfernter iſt von
der
Sonne als die Erde.
Das Sonnenlicht iſt demnach dort
an
vierhundertmal ſchwächer als bei uns.
Die Sonnenkugel
erſcheint
dort nur ſo groß wie bei uns Venus und verbreitet
ſelbſt
am hellſten Tage dort nur eine Dämmerung, wie die
unſerer
Mondnächte iſt.
Da mit der Entfernung von der Sonne
auch
die Wärme des Sonnenlichtes in gleicher Weiſe wie die
Leuchtkraft
abnimmt, ſo bewirkt das Sonnenlicht auf Uranus
eine
vierhundertmal ſchwächere Erwärmung, und dies allein
genügt
, um es jedem irdiſchen Weſen, das zu ſeiner Exiſtenz
des
Sonnenlichts und der Sonnenwärme bedarf, das Beſtehen
auf
Uranus vollkommen unmöglich zu machen.
Der Durchmeſſer der Uranus-Kugel beträgt 7900 Meilen,
und
da die Maſſe dieſer ganzen Kugel etwa 15 mal ſchwerer
iſt
als die der Erde, ſo läßt ſich die Anziehungskraft, die
Uranus
auf die Gegenſtände an ſeiner Oberfläche ausübt,
ziemlich
genau angeben, und man findet, daß dieſelbe nicht
ſehr
verſchieden von der auf der Erde iſt.
775151
Dahingegen iſt es bisher noch nicht gelungen, die Um-
drehungszeit
des Uranus zu ermitteln, da man ſelbſt mit den
ſchärfſten
Fernröhren nicht vermocht hat, Flecken auf dem Uranus
zu
entdecken, durch deren Wiederkehr man imſtande iſt zu
ſagen
, wie lang Tag und Nacht auf dieſem Planeten ſind, und
wie
Winter und Sommer daſelbſt verteilt ſein mögen.
Nur durch einen Umſtand eigener Art iſt man veranlaßt
anzunehmen
, daß bei dieſem Planeten etwas ſtattfindet, was
bei
anderen Planeten nicht der Fall iſt.
Bei den anderen
Planeten
findet man nämlich, daß die Monde ziemlich in der
Richtung
des Äquators des Planeten ihren Umlauf haben,
und
daß auch der Umlauf der Monde in einem Kreiſe geſchieht,
der
nur wenig in ſeiner Lage abweicht von dem Kreis, den
der
Planet ſelber um die Sonne beſchreibt.
Beim Uranus
hat
Herſchel 6 Monde entdeckt, die in ziemlich regelmäßig
weiten
Abſtänden um ihn herum ihren Lauf haben.
Vier
dieſer
Monde ſind mit Sicherheit beobachtet worden.
Zwei dieſer
Monde
aber bewegen ſich in Kreiſen um Uranus, deren Ebenen
faſt
ſenkrecht auf der Bahn ſtehen, die Uranus ſelber um die Sonne
macht
.
Wenn man ſich den Lauf des Uranus um die Sonne
vorſtellt
und zugleich das Auge auf den Lauf der Monde
richtet
, die Uranus auf dieſer Reiſe begleiten, ſo bilden die
Monde
in ihrem Lauf nicht Sprunglinien auf der Bahn des
Planeten
, ſondern gehen in einer Art Schraubengang um ihn,
und
laufen pfropfenzieherartig durch den Raum, wenn ſie den
Uranus
in ſeinem einfachen Kreislauf begleiten.
Dieſe Erſcheinung iſt ſo eigentümlich, daß ſie wie eine
Ausnahme
von der Regel im Sonnenſyſtem daſteht;
und wenn
man
geleitet hiervon annehmen ſoll, daß ſich auch Uranus in
gleicher
Richtung um die Axe dreht, wie dieſer ſonderbare Lauf
ſeiner
Monde iſt, ſo hat man auch Tage und Nächte auf dieſem
Planeten
, die alle unſere Begriffe vom Zeitenwechſel weit
überſteigen
.
776152
Uranus nämlich vollendet ſeinen Kreislauf erſt in 84
Jahren
um die Sonne;
geſchieht nun ſeine Umdrehung in
derſelben
Richtung, wie der Lauf ſeiner Monde iſt, ſo giebt
es
dort Tage und Nächte, die abwechſelnd an den Polen je 42
volle
Jahre dauern und nach dem Äquator zu zwar abnehmen,
aber
doch bis auf eine ſehr ſchmale Strecke noch immer eine
Länge
von zwei vollen Jahren haben.
In ſolchem Falle muß
auch
die Wärme des Sonnenlichts, oder der Sommer daſelbſt
an
den Polen am ſtärkſten ſein, um ſodann bei einer Nacht
von
42 Jahren von einer Kälte abgelöſt zu werden, die alle
unſere
Begriffe überſteigt.
Sollte die Beobachtung einer wirklichen Umdrehung der
Uranus-Kugel
dieſes ſonderbare Verhältnis beſtätigen, ſo wird
man
Urſache haben, ſehr beſcheiden zu ſein mit Vorausſetzungen
über
die Abſichten und die Zwecke der Natur in ihren Erſchei-
nungen
;
denn man würde dann von der gewohnten Abſicht
ganz
und gar ablaſſen müſſen, daß die Planeten ſich um die
Axe
drehen, damit alle Seiten ihrer Oberfläche das Sonnen-
licht
empfangen, da dieſer Zweck ganz entſchieden bei Uranus
nicht
zutreffen würde, und man im Gegenteil ſagen müßte, die
Natur
habe ſich bei dieſer Umdrehung in ihrem Zweck ſo
verrechnet
, daß ſie nicht unpraktiſcher hätte ſein können, als
ſie
iſt.
Die Bekanntſchaft mit Uranus iſt für die Wiſſenſchaft
noch
zu jung, um mit Sicherheit mehr über ihn zu wiſſen,
als
wir angegeben haben.
Wir müſſen uns aber jetzt zu der
neueſten
und jüngſten Bekanntſchaft eines Bürgers im Sonnen-
ſyſtem
wenden, einer Bekanntſchaft, die erſt 50 Jahre alt iſt.
777153
XXXIII. Neptun.
Über die Entdeckung des Neptun haben wir ſchon oben
eingehend
geſprochen.
Das Licht der Sonne iſt auf dieſem letzten Planeten, der
von
derſelben 30 mal entfernter iſt als die Erde, um 900 mal
ſchwächer
als bei uns.
Das heißt, die Bewohner des Neptun
müßten
900 Sonnen am Himmel haben, wenn ſie ihren Tag
ſo
hell haben wollten wie wir.
Da ſie aber auch nur eine
Sonne
haben wie wir und ihr Tageslicht von derſelben wie
wir
empfangen, ſo müſſen ſie ſich wegen ihrer großen Ent-
fernung
von der Sonne mit einem Tage begnügen, der außer-
ordentlich
ſchwach beleuchtet iſt.
Die Sonnenkugel erſcheint ihnen dort ſo klein wie uns
etwa
der Planet Jupiter in ſeiner Erd-Nähe;
und es iſt wohl
möglich
, daß die Bewohner Neptuns am Tage imſtande ſind,
die
hellſten unter den Fixſternen zu ſehen;
ebenſo wie wir ſie
bei
hellem Mondſchein erblicken.
Daß indeſſen ein 900 mal ſchwächeres Sonnenlicht dennoch
immer
noch eine Beleuchtung gewährt, davon können wir uns
durch
eine direkte und eine indirekte Thatſache überzeugen.
Die
direkte
Thatſache iſt die, daß wir auf Erden den Planeten
Neptun
ſehen können.
Wäre er nicht von der Sonne merklich
erleuchtet
, ſo würden die allerſchärfſten Fernröhre nicht hin-
reichen
, um ihn uns ſichtbar zu machen.
Das Sonnenlicht iſt
auf
Neptun noch ſtark genug, um im Zurückſtrahlen merkbar
in
unſer Auge zu gelangen.
Wir haben aber auch einen in-
direkten
Beweis, daß der kleinſte Punkt des Sonnenkörpers
ſehr
bedeutende Leuchtkraft beſitzt, und zwar erfahren wir dies
nach
totalen Sonnenfinſterniſſen.
Wenn nämlich unſer Mond
ſich
derart vor der Sonne befindet, daß ſie vollſtändig ver-
deckt
iſt, ſo wird es mit dem Entſchwinden des letzten,
778154 Randes der Sonne plötzlich finſter, und man erblickt für einen
Moment
die Sterne des Himmels, als ob es Nacht wäre.
Im
ſelben
Augenblick aber, wo der Mond weiter gehend in ſeiner
Bahn
auch nur das allerkleinſte Sonnenpünktchen an ſeinem
Rande
ſehen läßt, ſtrömt ſchon eine ſehr beträchtliche Maſſe
des
Sonnenlichts zur Erde und erleuchtet dieſelbe derart, daß
die
Sterne verſchwinden und man freudig den wiederkehrenden
Tag
begrüßt.
Wie groß Neptun iſt, wie es mit ſeinen Monden ſteht,
von
denen man ſchon einen geſehen hat, welche Zeit er zu ſeiner
Umdrehung
um ſeine Axe braucht, wie Sommer und Winter
auf
ihm beſchaffen ſein mögen, wie ſchwer die Dinge auf
ſeiner
Oberfläche ſind, das alles iſt bis jetzt noch nicht ſicher
feſtgeſtellt
und wird wahrſcheinlich noch lange Zeit unbekannt
bleiben
, wenn es nicht gelingt, ganz unermeßlich ſcharfe Fern-
röhre
herzuſtellen, die aus einer ſo weiten Ferne noch ſichere
Beobachtungen
zulaſſen.
Wir wiſſen vom Neptun ſicher nur
den
Ort, wo er ſich befindet, die Maſſe, die er im ganzen hat,
die
Entfernung von der Sonne und kennen infolgedeſſen ſeine
Umlaufszeit
um dieſelbe, alſo das Jahr auf Neptun, das gleich
iſt
165 Erd-Jahren.
Nach ſeiner Maſſe, die 15 mal größer
als
die der Erde iſt, und ſeinem Umfang würde ſeine Dichtig-
keit
ungefähr ebenſo groß ſein, als die ſeines Nachbarplaneten
Uranus
;
doch ſind alle dieſe Angaben noch ſehr unſicher.
So wenig wir aber von den Verhältniſſen des Planeten
Neptun
wiſſen, ſo vielverſprechend iſt ſeine Beobachtung.
Wir haben es bereits erwähnt, daß der Lauf des Neptun
es
einzig und allein ſein wird, der uns darüber wird belehren
können
, ob noch in weiterer Entfernung von der Sonne ein
Planet
exiſtiert, oder nicht.
Wird Neptun ſeinen Umlauf
regelmäßig
abhalten, wie ihn die Aſtronomen berechnen, ſo
wird
man ſchließen dürfen, daß kein unbekannter, ferner Planet
exiſtiert
, der auf ſeinen Lauf von Einfluß iſt.
Wird ſich
779155 Gegenteil ergeben, ſo wird die Wiſſenſchaft mit vollſter
Sicherheit
Ort, Maſſe, Entfernung und Umlaufszeit jenes
entfernten
Störers herausrechnen, ſelbſt wenn auch vorerſt
nicht
die mindeſte Hoffnung vorhanden iſt, den unbekannten
Planeten
durch unſere Fernröhre ſehen zu können.
In-
deſſen
dürfte dieſer Gewinn der Wiſſenſchaft nicht gar ſo bald
eintreffen
.
Bei einer Umlaufszeit von 165 Jahren würden
vorausſichtlich
mindeſtens hundert Jahre vergehen, bevor man
dieſer
Bereicherung der Himmelskunde ſich wird rühmen können,
und
bis dahin werden ſich auch unſere Leſer ſchon gedulden
müſſen
.
Ganz anders aber iſt der Schluß, den man berechtigt iſt,
über
die Exiſtenz etwaiger noch nicht entdeckter Planeten inner-
halb
des bekannten Raumes des Sonnenſyſtems zu ziehen.
In der Gegend, wo an 400 kleine Planeten exiſtieren, wird
man
gewiß noch recht viel Herumläufer dieſer Art entdecken;

daß
jedoch zwiſchen den anderen Planeten kein unentdeckter
exiſtiert
, das lehrt die Entdeckung des Neptun ſehr überzeugend.

Wäre
außer in dem Raum zwiſchen Mars und Jupiter noch
ſonſt
wo im Sonnenſyſtem innerhalb der Neptunsbahn ein
Planet
vorhanden, ſo würde er, ſelbſt wenn er unſichtbar ſein
ſollte
, längſt ausgeſpürt ſein durch die Störungen, die er auf
die
benachbarten Planeten ausübt.
Nur zwiſchen Sonne
und
Merkur könnte möglicherweiſe noch ein Planet vorhanden
ſein
, den wir der Sonnen-Nähe wegen noch nicht entdeckt
haben
.
Die Störungen im Lauf des Merkur haben Leverrier
zu
der Behauptung geführt, daß wirklich ein ſolcher Planet
exiſtiert
, der auch ſogar ſchon einen Namen erhalten hat:
Vulkan.
Indeſſen
iſt ſeine Exiſtenz doch noch nicht erwieſen.
780156
XXXIV. Die Stellung der Kometen im
Sonnenſyſtem.
Es iſt nach dem in den vorigen Artikeln Mitgeteilten
ausgemacht
, daß wir uns vorläufig mit der Kenntnis von acht
großen
Planeten begnügen und unſere Hoffnungen auf neue
Entdeckungen
, auf die Zahl der kleinen Planeten richten müſſen,
die
ganz unzweifelhaft in ſehr großer Zahl in der Gegend
zwiſchen
Mars und Jupiter exiſtieren.
Stellt man ſich nun vor, wie dieſe acht großen und der
ganze
Schwarm kleiner Planeten faſt in einer und derſelben
Ebene
die Sonne umkreiſen, ſo wird es klar, daß man das
ganze
Sonnenſyſtem, ſo weit es die Sonne und die Planeten
betrifft
, in eine runde Schachtel einpacken kann, welche nur eine
Million
Meilen hoch und an 1500 Millionen Meilen breit iſt.
Die Geſtalt einer ſolchen Schachtel iſt eben ungefähr die einer
äußerſt
flachen und ſehr weiten, runden Schnupftabaks-Doſe, in
deren
Mitte die Sonne liegt, und um welche die Planeten in
Kreiſen
herumwandeln.
Da nun auch die Sonne ſich um ihre Axe
dreht
, und zwar in derſelben Richtung, wie der Lauf der Pla-
neten
iſt.
ſo iſt es ganz richtig, wenn man ſagt, daß die Pla-
neten
in der Richtung und in der Ebene des Sonnen-Äquators
kreiſen
und nur ſehr wenig nach der Richtung der Pole der
Sonne
abweichen.
Sollte aber der Raum oberhalb der beiden Pole der Sonne
wirklich
leer ſein?
Iſt es wahrſcheinlich, daß die Sonne, die auf
600
Millionen Meilen Entfernung noch ſoviel Anziehungskraft
hat
, um einen Planeten wie Neptun im Kreiſe herumzuführen,
nur
dieſe Kraft in der Richtung ihres Äquators und nicht nach
jeder
Richtung beſitzt?
Auf dieſe Frage lehrt die Naturwiſſenſchaft ſowohl wie
die
Beobachtung, daß die Anziehungskraft der Sonne in
781157 That nach jeder Richtung hin gleich iſt. Die Anziehungskräfte
ändern
ſich nur mit der Entfernung, nicht aber je nach den
Gegenden
, wo ſich der angezogene Gegenſtand befindet.
Wenn
wir
nun gewahren, daß die Planeten faſt nur in der Richtung
des
Äquators der Sonne exiſtieren und ihren Rundlauf inne-
halten
, ſo hat dies entweder einen mechaniſchen oder einen in
der
Entſtehungsgeſchichte der Planeten liegenden Grund.
Taß
jedoch
die Sonne dennoch nach allen Richtungen hin gleich an-
ziehend
wirkt, das beweiſen die Kometen, die man in Wahrheit
als
die eigentlichen Bewohner des Weltraumes betrachten muß,
und
die in jeder beliebigen Richtung von allen Seiten und
aus
den weiteſten Fernen her in außerordentlich großer Anzahl
um
die Sonne laufen.
Man macht ſich von den Kometen und auch infolgedeſſen
von
der Bevölkerung des Weltraums und ſpeziell des Sonnen-
ſyſtems
gemeinhin eine ganz falſche Vorſtellung.
Unter Kometen verſteht man ſolche Himmelskörper, die zu-
weilen
als große und öfter als kleine, lichte, nebelhafte Maſſen
am
nächtlichen Himmel ſichtbar werden.
Der Aberglaube ungebildeter Völker hat ſonſt Erſcheinungen
ſolcher
Art als Vorbedeutungen menſchlicher Schickſale ange-
ſehen
;
erſt ſeit den Zeiten der Aufklärung der Geiſter durch die
Naturwiſſenſchaft
, ſeit den Zeiten, wo der mittelalterliche Glaube
geſunken
und Bildung und Forſchung unter den Menſchen ihr
Reich
eingenommen, erſt nachdem ein Kopernicus das Sonnen-
ſyſtem
, wie es in Wahrheit iſt, erklärte, ein Kepler neue Ge-
ſetze
der Bewegungen der Himmelskörper entdeckte, ein Newton
das
Geſetz der Anziehungskraft der Maſſen feſtſtellte und be-
wies
, erſt da gelang es auch, die Erſcheinung der Kometen in
die
Reihe der Natur-Erſcheinungen aufzunehmen und die
Geſetze
ihres Kommens und Verſchwindens genauer zu be-
ſtimmen
.
Ein engliſcher Naturforſcher Namens Halley
782158 war es, der vor zweihundert Jahren fand, daß ein in ſeiner Zeit
ſichtbarer
Komet ein Himmelskörper ſei, der durch die Anziehung
der
Sonne genötigt iſt, um dieſelbe einen Umlauf zu machen.
Er berechnete die Bahn dieſes Kometen und zeigte, daß dieſelbe
ſo
beſchaffen ſei, daß der Komet in einem ſehr länglichen Kreis
um
die Sonne gehe, und zwar derart, daß er der Sonne ein-
mal
ſehr nahe komme und ſich dann wieder von ihr entferne,
um
ſich wiederum der Sonne vom entfernteſten Punkte aus
bis
auf die beſtimmte Grenze zu nähern.
Wenn man eine
Linie
von ſieben Centimeter Länge zieht, und durch deren
65[Figure 65]Fig. 32.Parabel Ellipse Sonne Ellipse Parabel Mitte kreuzartig
einen
Querſtich
macht
von
2
{1/2} Centimeter
Länge
und dann
die
Enden dieſes
Kreuzes
durch
eine
krumme
Linie
umſchließt,
ſo
wird man
einen
ſehr läng-
lichen
Kreis herausbekommen, der etwa die Geſtalt eines
Weizenkornes
hat.
Dieſe Geſtalt hat ungefähr die Bahn
des
von Halley berechneten Kometen.
Aber man ſtelle ſich
nicht
vor, daß ſich die Sonne in der Mitte der Linien,
im
Punkt des Kreuzes befinde, ſondern man mache einen
Punkt
auf der langen Linie, der von der äußerſten Spitze
etwa
ein viertel Centimeter entfernt iſt, und man wird hier
ungefähr
die Stelle haben, die die Sonne innerhalb der Bahn
dieſes
Kometen einnimmt, Fig.
32 zeigt uns, welche Stellung
die
Sonne zu der langgeſtreckten Ellipſenbahn ſolcher Kometen
mit
noch längerer Umlaufszeit einnehmen kann:
die Ellipſe,
in
denen dieſe Kometen ſich bewegen, nähert ſich ſchon
783159 der Parabel, bei welcher eine Wiederkehr überhaupt nicht mehr
möglich
iſt.
Wenn wir nun hinzufügen, daß der Komet nur ſichtbar
iſt
, wenn er der Erde und der Sonne nahe genug iſt, daß er
aber
ganz und gar dem menſchlichen Auge verſchwindet, wenn
er
ſich entfernt, ſo wird es jedem klar werden, daß Halley keine
unbedeutende
Schwierigkeit hatte, um herauszubringen, daß der
Komet
eine Umlaufszeit von einigen ſiebzig Jahren hat.
XXXV. Die berechneten und unberechneten
Kometen.
Wenn man ſich einen ungefähr richtigen Begriff von der
Schwierigkeit
machen will, die die Berechnung der Bahn eines
Kometen
darbietet, ſo kann man ſich dies mit Hilfe eincr
Zeichnung
ſehr leicht klar machen.
Man ziehe einen beliebigen
Kreis
um einen Punkt, und ſtelle ſich vor, daß dieſer Punkt
die
Sonne und der Kreis die Bahn der Erde ſei.
Nun
zeichne
man ſich einen äußerſt länglichen Kreis ebenfalls hin,
der
die Bahn eines Kometen vorſtellen ſoll, und zwar derart,
daß
der eine ſchmalſte Bogen des länglichen Kreiſes der Sonne
noch
einmal ſo nahe als die Bahn der Erde, während der
andere
ſchmale Bogen dreißig bis vierzigmal weiter entfernt
iſt
von der Sonne als die Erdbahn.
Wenn wir zu dieſer
Figur
uns denken, daß ſelbſt im günſtigſten Falle der Komet
nur
dann von der Erde aus geſehen werden kann, wenn er
ihr
und der Sonne nahe iſt, wenn wir hinzufügen, daß es
ſelbſt
dann, wenn der Komet ſchon in ſeiner Sonnen-Nähe gut
geſehen
worden, auch mit dem ſchärfſten Fernrohr
784160 iſt, ihn bei ſeinem Rückgang weit hinaus zu beobachten, und
er
ſchon unſichtbar wird, wenn er etwa 30 bis 40 Millionen
Meilen
von der Sonne entfernt iſt, ſo wird es jedem klar
werden
, daß ein großer Unterſchied zwiſchen der Berechnung
der
Bahn eines Planeten iſt, der, wenn er einmal entdeckt, faſt
auf
ſeiner ganzen Bahn geſehen werden kann, und einem Ko-
meten
, von deſſen Bahn man nur ein kleines, oft nur ſehr
kleines
Stück zu beobachten vermag.
Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß bisher eigent-
lich
nur wenige Kometen als wirklich genau beobachtet und
berechnet
angeſehen werden können.
Der eine iſt der Halleyſche
Komet
, der zuletzt im Jahre 1835 erſchienen iſt.
Der zweite
iſt
ein Komet, der nach dem deutſchen Aſtronomen Olbers
(1758—1840) benannt wird, welcher ebenſo wie der Halleyſche
eine
Umlaufszeit von einigen ſiebzig Jahren hat.
Dieſer Komet
kommt
der Sonne faſt ſo nahe als die Erde, iſt aber in ſeiner
Sonnenferne
einige dreißigmal weiter von der Sonne entfernt
als
dieſe.
Seine Bahn iſt aber ſo geneigt zu der Erdbahn,
und
ſein Lauf iſt ſo gerichtet, daß er der Erde niemals nahe
kommt
und deshalb nur immer ſehr ſchwach geſehen wird.
Da er aber außerdem klein iſt, ſo darf es nicht Wunder
nehmen
, daß man ihn nicht vor dem Jahre 1815 zu beobachten
Gelegenheit
hatte.
Von zwei anderen berechneten Kometen,
dem
Enckeſchen und Bielaſchen, haben wir bereits früher ge-
ſprochen
.
Der Enckeſche Komet kommt in der Sonnen-Nähe
der
Sonne bis auf 6 Millionen Meilen nahe, während er in
der
Sonnen-Ferne faſt an 80 Millionen Meilen von ihr ab-
ſteht
.
Da ſeine Bahn wenig geneigt iſt zu den Bahnen der
Planeten
, ſo kann man ſagen, daß er im Bereich der Planeten-
Bahnen
ſeinen Umlauf hat.
Er vollendet ſeinen Umlauf in
drei
Jahren und 109 Tagen und zeigt die Eigentümlichkeit,
daß
ſeine Umlaufszeit bisher immer kürzer geworden iſt und
die
Wahrſcheinlichkeit gewährt, daß er dereinſt ſeinen
785161 finden wird, indem er der Sonne immer näher kommt und
endlich
einmal in dieſe hineinſtürzen wird.
Der Bielaſche Komet, den wir ſchon früher eingehend
behandelten
, gehört zu den merkwürdigſten Himmelskörpern,
deren
Geſchichte der Entſtehung und des Vergehens ſich faſt
vor
unſeren Augen enthüllt hat.
Er hatte eine Umlaufszeit
von
6 Jahren und 220 Tagen.
Die Lage ſeiner Bahn wich
von
der der Planeten ſehr wenig ab;
in ſeiner Sonnen-Nähe
war
er von dieſer faſt ſo weit entfernt wie die Erde, während
er
in der Sonnen-Ferne mehr als ſechsmal weiter von ihr ab-
ſtand
.
An ihm hat ſich bei ſeiner Wiederkehr im Jahre 1845
die
Merkwürdigkeit gezeigt, daß er ſich, wie wir bereits er-
wähnt
haben, in zwei Kometen teilte, die, ohne ſich an-
zuziehen
, nebeneinander den Raum durchſchreiten.
Von ihm
vermutete
man bereits vor einigen Jahrzehnten, daß er viel-
leicht
in der Zukunft einmal ein noch merkwürdigeres Schau-
ſpiel
darbieten würde.
Nach aſtronomiſcher Berechnung war
es
möglich, daß er bei weſentlicher Änderung ſeiner Bahn
durch
die Störung der Planeten einmal mit dem Enckeſchen
Kometen
zuſammentrifft, ſo daß beide Kometen, wenn ſie ſich
anziehen
, ſich zu einem einzigen vereinigen könnten.
Inzwiſchen
hat
ſich jedoch der Bielaſche Komet vollkommen aufgelöſt.
Über
die
Urſache iſt man nicht vollkommen klar.
Man hat nur
nachweiſen
können, daß er im Lauf der letzten Jahre dem
Planeten
Venus ſo nahe kam, daß der Zuſammenhang ſeiner
lockeren
Maſſe ganz zerſtört wurde und von ihm nur Reſte
übrig
geblieben ſein mögen.
Obwohl verhältnismäßig nur wenige Kometen, von denen
wir
noch ſprechen werden, in ihrem Lauf ſicher berechnet ſind,
iſt
doch das Erſcheinen von Kometen an ſich nichts Seltenes,
und
die kurze Zeit, in welcher ſie ſichtbar ſind, wird aufs
fleißigſte
benutzt, um den kleinen, ſichtbaren Teil der Bahn
in
der Sonnen-Nähe zu beobachten und zu berechnen, damit
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
786162
man dann eine Vergleichung anſtellen kann mit den Verzeichniſſen
der
früher erſchienenen Kometen, um es herauszufinden, ob der
neu
erſchienene einer derjenigen iſt, die bereits früher geſehen
wurden
.
Bedenkt man, daß die Hälfte der Zahl der Kometen ſtets
ungeſehen
bleibt, wenn ſie auf der Seite ſtehen, wo ſich die
Sonne
befindet, alſo nur am Tage geſehen werden könnten,
was
ja ſelten möglich iſt;
bedenkt man ferner, daß man an 20 Ko-
meten
kennt, welche innerhalb der Merkurs-Bahn ihre Sonnen-
Nähe
haben, daß man 70 Kometen beobachtet hat, die inner-
halb
der Venus-Bahn in die Sonnen-Nähe kommen, ſo ergiebt
die
Rechnung, daß es Millionen von Kometen giebt, die ihre
Sonnen-Nähe
innerhalb der Neptuns-Bahn haben müſſen, daß
alſo
die Kometen die eigentliche Bevölkerung des Himmels-
raumes
ausmachen, obgleich ihr Erſcheinen für uns ſo ſelten iſt.
XXXVI. Die ſonderbare Beſchaffenheit der
Kometen.
Bedenkt man, welch’ unendlich große Anzahl von Kometen
aller
Wahrſcheinlichkeit nach exiſtiert, ſo leuchtet es ein, daß es
eine
leere Einbildung iſt, wenn man die geringe Zahl der
Planeten
als die weſentlichen Körper des Sonnenſyſtems be-
trachtet
, und daß es noch thörichter iſt, wenn man die Exiſtenz
des
einen Planeten, auf dem die Menſchheit ihren Wohnſitz
hat
, für ſo wichtig in naturwiſſenſchaftlicher Beziehung hält,
um
alles andere in der Welt nach dem Maßſtab der hier bei
uns
herrſchenden Verhältniſſe zu ſchätzen.
Unſere bisherige Betrachtung hat uns ſchon gelehrt, daß
es
falſch iſt, wenn man die Verhältniſſe und Zuſtände auf
787163 anderen Planeten ſich nur als Abbild der bei uns vorhandenen
denkt
.
Gleichwohl läßt ſich nicht leugnen, daß alle Planeten
einige
gemeinſame Eigenſchaften beſitzen, durch welche man ſie
alle
als eine beſondere Gattung von Himmelskörpern bezeichnen
kann
.
Dieſe gemeinſamen Eigenſchaften ſind teilweiſe phyſi-
kaliſcher
, teilweiſe mathematiſcher, teilweiſe mechaniſcher Natur.
Phyſikaliſch ſteht es feſt, daß mindeſtens Venus, noch ſicherer
als
Mars, Jupiter und Saturn von einer Lufthülle umgeben
ſind
.
Vom Mars iſt es außer allem Zweifel, daß an ſeinen
Polen
ein Winter mit Eis und Schnee herrſcht, der dem
unſern
an den Polen ähnlich iſt.
Dies ſetzt voraus, daß Feſt-
land
und Waſſermaſſen auf dem Rund dieſes Planeten
exiſtieren
, was auch ganz unzweifelhaft durch die unwandel-
baren
Flecke wird, die man auf der Kugel dieſes Planeten er-
blickt
.
Die Dichtigkeit der Planetenmaſſen weicht zwar weſent-
lich
ab von der der Erde;
allein man iſt wenigſtens imſtande,
dieſe
Verhältniſſe in zwei Gruppen zu bringen.
Die vier der
Sonne
nahen Planeten, Merkur, Venus, Erde und Mars,
haben
eine beinahe gleiche Dichtigkeit, die etwa fünfmal ſo
groß
iſt wie die des Waſſers, während die übrigen größeren
Planeten
nur die Dichtigkeit unſerer verſchiedenen Holzarten
beſitzen
.
Was die mathematiſchen Verhältniſſe betrifft, ſo gleichen
ſich
die Planeten in ſehr hohem Grade.
Alle ſind Kugeln,
wahrſcheinlich
beſitzen ſie alle ohne Ausnahme eine Umdrehung
um
eine Axe, die nicht zu ſehr abweicht von der Axe ihrer
Bahn
, in welcher ſie ſich um die Sonne bewegen.
Endlich zeigt ſich die mechaniſche Übereinſtimmung darin,
daß
ſie faſt alle in Bahnen um die Sonne laufen, die ſich
nicht
beträchtlich von wirklichen Kreiſen unterſcheiden, daß alle
dieſe
Kreiſe wenig von der Ebene des Sonnen-Äquators ab-
weichen
und die Umläufe alle nach einer Richtung von Weſt
nach
Oſt geſchehen.
788164
Wenn wir nun trotz dieſer Übereinſtimmung in der Pla-
netenwelt
dennoch ſo außerordentliche Verſchiedenheiten in den
einzelnen
Verhältniſſen derſelben finden, daß wir keinen ſichern
Schluß
von dem Daſein auf Erden auf das Daſein, das Leben
und
Weben auf anderen Planeten ziehen dürfen, ſo iſt es klar,
daß
man in Bezug auf die Kometen nicht den geringſten An-
halt
beſitzt, um ſich hierüber Vorſtellungen irgend welcher Art
zu
machen.
Die Kometen ſind wirklich Himmelskörper ganz anderer Art
wie
die Planeten.
Weder in ihrer Beſchaffenheit noch in ihrer
Maſſe
, noch in ihrer Dichtigkeit, noch in ihrer Form, noch in
ihrem
Lauf ſind ſie irgendwie den Planeten gleich oder auch
nur
ähnlich;
ja ſie zeigen ſo weſentliche Verſchiedenheiten unter-
einander
, daß man ſie ſelber nicht einmal recht in Gruppen zu
bringen
vermag.
Dem bloßen Auge ſchon erſcheinen die Kometen wie eine
Art
leuchtender Nebelſtreif, der an einem Punkte einen etwas
helleren
Kern hat;
durch nähere Unterſuchung findet man aber,
daß
die Kometenmaſſe weder luftartig iſt, noch aus einer
Flüſſigkeit
, und noch weniger aus feſten Teilen gebaut iſt.
Man kann nämlich durch die Kometen hindurch die feinſten
Sterne
des Himmels ſehen (Fig.
33); man hat bisher weder
eine
Trübung noch eine Schwächung des Sternenlichtes beob-
achtet
, das durch die Kometenmaſſe hindurch zu uns gelangt.

Wäre
dieſe Maſſe luftartig, ſo würde zwar die Durchſichtigkeit
in
ſehr hohem Grade möglich ſein;
aber dann müßte ſich eine
Brechung
der Lichtſtrahlen zeigen, wie dies bei allen durch-
ſichtigen
Dingen der Fall iſt, und auch bei Luftarten ſtattfindet.
Aus gleichem Grunde kann die Kometenmaſſe nicht als
Flüſſigkeit
angeſehen werden, und noch weniger als eis- oder
glasartiger
, feſter Körper, an denen die Lichtbrechung nur noch
ſtärker
ſein würde.
Da wir nun auf Erden kein Ding kennen,
das
weder feſt noch flüſſig noch luftartig iſt, ſo iſt ſchon
789165 erſte Frage nach der Beſchaffenheit der Kometenmaſſe für uns
vollkommen
unbeantwortlich.
Es bleibt ſchließlich nur die eine Annahme möglich, ſich
die
Kometen gar nicht als eine einzige Maſſe, ſondern als eine
Anhäufung
außerordentlich kleiner Teile vorzuſtellen, die ſich
gegenſeitig
anziehen, ohne daß ſie ſo nahe aneinander kommen,
um
ſich wirklich zu berühren.
Ihre Anziehung bewirkt dann
nur
, daß ſie gemeinſchaftlich ihre Neiſe um die Sonne machen;
66[Figure 66]Fig. 33. nur dort, wo der lichtere Kern zu ſehen iſt, haben wir uns
eine
größere Anhäufung der einzelnen Teilchen zu denken, die
zwar
keine dichte, einzige Maſſe, aber doch eine dichtere Lage
der
einzelnen Teilchen bilden.
Denkt man ſich die dichteſte
Lagerung
dieſer Teilchen noch derart, daß ſie nicht nahe genug
ſtehen
, um dem durchgehenden Licht ein Hindernis darzubieten,
ſo
würde man ſich’s erklären können, wie ſelbſt der Kern der
Kometen
keine Ablenkung oder Schwächung des Lichtes der
Sterne
veranlaßt.
790166
Wir wollen nun die Erſcheinungen der Kometen etwas
näher
in Betracht ziehen, und zwar dadurch, daß wir eine
Reihe
der ausgezeichnetſten Kometen unſern Leſern vorführen,
die
ſeit etwa zweihundert Jahren beobachtet worden ſind, alſo
ſeit
den Zeiten, wo Bildung und wiſſenſchaftliches Leben ſichere
Nachrichten
auf uns kommen ließen.
Denn der Aberglaube
früherer
Zeiten, die man jetzt als die Zeit des heiligſten
Glaubens
preiſt, hat die tollſten und fabelhafteſten Dinge in
den
Kometen-Erſcheinungen geſehen und berichtet, ſo daß man
nicht
imſtande iſt, all dieſe Nachrichten von Lügen und Über-
treibungen
zu ſäubern.
XXXVII. Der Komet vom Jahre 1680.
Der bedeutendſte Komet, über welchen ſichere Nachrichten
auf
uns gekommen ſind, erſchien im Jahre 1680.
Er war von
ungeheurer
Größe und ſah wie ein feuriger Streifen aus, der
ſich
durch den halben Himmel hin erſtreckte.
Er ſtand ſo, daß
man
in Europa ſeinen Schweif früher ſah als ſeinen Kopf.
An einzelnen Orten der Erde mußte man abends ſechs volle
Stunden
warten, um ihn vollſtändig untergehen zu ſehen.
An
ſeinem
Kopf bemerkte man den hellen Kern, der jedoch das
Licht
der Sterne, die hinter ihm waren, ungeändert durch-
leuchten
ließ.
Die Säume und das Ende ſeines Schweifes
waren
nicht ſcharf begrenzt.
Der Schweif ſelber war der
Sonne
abgewendet, während der ganze Komet ſich faſt in
gerader
Linie zur Sonne hin zu bewegen ſchien.
Da er von den beſten Aſtronomen der damaligen Zeit
beobachtet
wurde und namentlich deutſche und holländiſche
Naturforſcher
pünktlich genug ſeinen Lauf notiert haben,
791167 fand der ſchon mehrfach genannte Encke hinreichendes Material
vor
, um den Lauf dieſes merkwürdigen Kometen zu berechnen.
Eine berühmte Preisſchrift dieſes Aſtronomen wies über-
zeugend
nach, daß dieſer Komet in einer Bahn wandert,
welche
ſo lang geſtreckt iſt, daß er in ſeiner Sonnen-Nähe nur
um
etwa 30 000 Meilen von der Oberfläche der Sonne ab-
ſteht
, während er in der Sonnen-Ferne über 17 000 Millionen
Meilen
von der Sonne entfernt iſt.
Um ſeinen Umlauf zu
vollenden
, braucht er 8814 Jahre;
er wird alſo erſt wieder
nach
mehr als neunhalbtauſend Jahren ſichtbar werden, und
wird
bei ſeinem Wiedererſcheinen wahrſcheinlich ein Menſchen-
geſchlecht
vorfinden, das auf die Zeit, in welcher wir leben,
wie
auf eine Zeit der Unwiſſenheit und des dunkelſten Alter-
tums
blicken wird.
Aller Wahrſcheinlichkeit nach aber wird
der
Name des Mannes, der ſein Erſcheinen vorher verkündet
hat
, auch dann noch geehrt werden, wenn auch nur mit Rückſicht
auf
die Zeit, in welcher er gelebt und gewirkt hat.
Dieſer Komet lehrt uns, daß die Anziehung der Sonne
in
ſo weite Räume hinaus wirkt;
denn nur dieſe Anziehung
iſt
es, welche ſeinen merkwürdigen Lauf verurſacht, und die
andern
Fixſterne ſind ſo entfernt von uns, daß vorausſichtlich
ſelbſt
nach achttauſend Jahren keiner ihm ſo nahe kommen
wird
, daß er ſehr weſentlich ſeine Bahn ändert.
Vielleicht fällt einigen unſerer Leſer die Frage ein, wie es
wohl
möglich ſei, daß ein Komet, der von 17 000 Millionen
Meilen
Entfernung zur Sonne herangezogen wird, noch im-
ſtaude
iſt, wenn er bis auf 30 000 Meilen ihr nahe gekommen
iſt
, ſich wieder von ihr zu entfernen?
Dieſe Frage, die über-
haupt
auf die Bewegungen aller Himmelskörper angewendet
werden
kann, die ſich nicht in vollkommenen Kreiſen um die
Sonne
bewegen, iſt wiſſenſchaftlich vollſtändig gelöſt, und wir
wollen
die Beantwortung derſelben hier bei dieſer Gelegenheit
beiläufig
in möglichſter Kürze geben.
Die Antwort iſt folgende:
792168
Die Sonne, wenn ſie den Kometen zu ſich heranzieht, der
urſprünglich
nicht in ganz gerader Richtung zu ihr läuft, kann
ſeinen
Lauf niemals in eine gerade Linie umwandeln.
Die
Anziehungskraft
beſchleunigt nun zwar den Lauf des Kometen,
jemehr
er ſich der Sonne nähert;
aber gerade dieſe Beſchleu-
nigung
bewirkt, daß er an der Sonne in einer ſehr krummen
Linie
vorüberläuft.
Weil er nun einmal in ſehr heftigem Lauf
iſt
, ſo eilt er wieder von der Sonnen-Nähe fort;
und weil die
Sonne
ihn fortwährend dabei zurückzieht, wird auch wirklich ſein
Lauf
immer langſamer und langſamer, bis er nach vielen Jahren
endlich
ſo langſam wird, daß er genötigt iſt, der Sonnen-
anziehung
nachzugeben, und in einer ganz gleich ſtark ge-
krümmten
Linie umzubiegen, und von ſeiner Sonnen-Ferne ab
in
einem immer ſchneller werdenden Lauf wieder zur Sonnen-
Nähe
zu eilen.
Alle Himmelskörper, deren Rundlauf ſehr in die Länge
gezogen
iſt, oder wie man ſich wiſſenſchaftlich ausdrückt,
deren
Ellipſe eine große Excentrizität hat gehen in der
That
von der Sonnen-Nähe zur Sonnen-Ferne immer lang-
ſamer
und langſamer, bis ſie in der größten Entfernung außer-
ordentlich
langſam gehen, dafür aber wandern ſie ihren Rück-
weg
in ganz gleichem Maße immer ſchneller, bis ſie in der
Sonnen-Nähe
ihren ſchnellſten Lauf haben, der es wie ge-
ſagt
bewirkt, daß ſie an der Sonne vorbeikommen und ſich
von
ihr wieder entfernen können.
Am Kometen vom Jahre 1680 iſt dieſer Unterſchied des
Laufes
ungeheuer groß.
In der Sonnen-Nähe läuft er in
jeder
Sekunde an 53 Meilen, das heißt dreizehnmal ſchneller
als
die Erde in ihrem Rundlauf.
In der Sonnen-Ferne da-
gegen
geht er in einer Sekunde nur etwa 3 Meter weit, und
das
iſt 9600 mal langſamer als die Erde, und nur noch ein-
mal
ſo ſchnell als ein raſcher Fußgänger.
Erwägt man dieſe Umſtände, ſo wird es klar, daß
793169 nicht die geringſte Ähnlichkeit zwiſchen einem ſolchen Kometen
und
irgend einem Planeten auffinden kann.
Welche Veränderungen gehen in einem ſolchen Himmels-
körper
vor, wenn er den Raum bald mit einer ſolchen Heftig-
keit
, bald mit ſolcher Langſamkeit durcheilt?
Welche bei einer
Sonnen-Nähe
, wo er 25 000 Mal mehr Licht und Wärme von
der
Sonne erhält als wir und bei einer Sonnen-Ferne, wo er
an
700 000 Mal ſchwächer erwärmt und beleuchtet wird von
der
Sonne?
Iſt die Ausdehnung ſeines Schweifes, der an
10
Millionen Meilen lang war, nur eine Folge des ſch@ellen
Laufes
und der ſtarken Erleuchtung und Erwärmung, und zieht
er
ſich in der Sonnen-Ferne wieder in Kugelform zuſammen?
oder iſt es anders?
Wir wiſſen dies nicht zu beantworten. Wir wiſſen nur,
daß
er, nachdem er am 17.
Dezember 1680 in der Sonnen-
Nähe
war, wo er nach unſern Begriffen längſt hätte verbrannt
ſein
müſſen, unverſehrt, ja unverändert wieder erſchien und bis
zum
18.
März 1681 ſichtbar blieb, von welcher Zeit ab er in
die
fernen Räume verſchwand, um in ſehr fernen, fernen Zeiten
wieder
einmal vor den Augen einer wahrſcheinlich ſehr ver-
änderten
Menſchheit zu erſcheinen!
XXXVIII. Kometen aus den Jahren 1729 bis
1759.
Im Jahre 1729 erſchien ein Komet, der mit bloßem Auge
nicht
ſichtbar war und auch im Fernrohr in ſeiner Erſcheinung
nichts
Beſonderes zeigte, der aber dadurch merkwürdig iſt, daß
er
in außerordentlich weiter Entfernung von der Erde noch
geſehen
wurde.
Spätere, genauere Rechnungen haben
794170 daß er noch geſehen wurde, als er bereis 90 Millionen Meilen
von
der Erde entfernt war.
Da dies bei keinem ſonſtigen,
ſelbſt
dem größten aller Kometen nicht der Fall war, ſo muß
man
annehmen, daß der Komet von 1729 alle geſehenen an
Größe
übertroffen habe.
Aber auch von der Sonne bleibt
dieſer
Komet ſelbſt im Moment der Sonnen-Nähe bei weitem
entfernter
als alle anderen Kometen.
Er blieb von der Sonne
an
84 Millionen Meilen fern, ſo daß er in ſeiner Sonnen-
Nähe
noch weiter von dieſer abſteht als die kleinen Kometen
in
ihrer Sonnen-Ferne.
Eine Wiederkehr dieſes Planeten
konnte
nicht durch Rechnung nachgewieſen werden, gleichwohl
iſt
der Ort am Himmel durch Rechnung bezeichnet worden,
wo
er, falls er wiederkehrt, ſichtbar ſein wird.
Sollte er ein-
mal
nach vielen Jahrtauſenden wieder erſcheinen, ſo wird die
Nachwelt
, die ihn ſehen wird, reichhaltigen Stoff haben, um
ſeine
Bahn in ganz ungeheuren Weiten beſſer zu ermitteln.
Im Jahre 1744 erſchien ein Komet, der für die Berech-
nung
keine günſtigen Ausſichten zuließ, der aber in ſeiner Er-
ſcheinung
viel Auffallendes hatte, das über die Beſchaffenheit
der
Kometen lehrreich iſt.
Er war ſo prachtvoll und glänzend,
daß
er ſelbſt am Tage geſehen werden konnte, wenn man das
Auge
vor den Strahlen der Sonne ſchützte.
An ſeinem
glänzenden
Kern bemerkten mehrere Beobachter eine Drehung.
Ein deutſcher Aſtronom, Heinſius, der ein vortreffliches
Fernrohr
beſaß, fand bei ſeinen ſorgfältigen Beobachtungen
dieſes
Kometen, daß er nach der Richtung zur Sonne hin
Strahlen
ausſandte, die ſich fächerartig auseinander breiteten,
während
ſonſt der Schweif des Kometen immer abgewandt
von
der Sonne zu ſein pflegt (Fig.
34). Bei ſeiner größeren
Nähe
zur Sonne ſtrömten Lichtbüſchel wie ein Federbuſch aus
dem
Kometen hervor, und dieſe wuchſen an und legten ſich
derart
um, daß ſie nach und nach den Schweif des Kometen
bildeten
.
Merkwürdig iſt hierbei, daß ſchon Heinſius von
795171 Art hin und herſchwingender, zur Sonne gewandter Lichtbüſchel
ſpricht
, von einem Pendeln derſelben, das erſt von Beſſel
wieder
geſehen, und ſehr genau in ſeinen Beobachtungen über
den
Halleyſchen Kometen beſchrieben worden iſt, als dieſer im
Jahre
1835 wiederkehrte.
Dieſer, der Halley’ſche Komet, machte auch das Jahr 1759
67[Figure 67]Fig. 34.4h 17h 5h 16h 6h 15h 7h 14h 8h 13h 9h 12h Sonne 10h 11h P zu einem für die
Aſtronomie
wichti-
gen
.
Wie wir bereits
erzählt
haben, hatte
Halley
einen Kometen
des
Jahres 1682 als
einen
Himmelskörper
erkannt
, der von der
Sonne
in einem Um-
lauf
von einigen
ſiebzig
Jahren herum-
geführt
wird.
Er be-
rechnete
deſſen Lauf
und
verkündete kühn,
daß
derſelbe Komet
im
Jahre 1759 wie-
der
erſcheinen werde,
eine
Vorherverkündi-
gung
, die zwar von
den
Aſtronomen als vollkommen berechtigt angeſehen, die aber
von
Tauſenden als ein kühnes Märchen betrachtet wurde.
Wäre nur der Lauf des Kometen allein hierbei in Rechnung
zu
ziehen geweſen, ſo würde ihm die Vorherſagung ſicherer
und
leichter geworden ſein;
allein der Komet wird in ſeinem
Lauf
auch noch von den Planeten angezogen und ſo in
ſeiner
Bahn abgelenkt.
Man nennt dieſe Ablenkung eine
Störung” der Bahn, und die Berechnung dieſer
796172 gehört zu den verwickeltſten und ſchwierigſten in der Aronomie.
Zudem waren zu Halley’s Zeiten die Planeten Uranus und
Neptun
noch nicht entdeckt, weshalb die Berechnung natürlich
noch
unſicherer hat ausfallen müſſen.
Gleichwohl hatte Halley
ſchon
vorhergeſagt, daß der nach ihm benannte Komet bei
ſeiner
nächſten Erſcheinung ſich um ein Jahr verſpäten werde,
wegen
der Störungen, die Jupiter und Saturn auf ihn aus-
üben
.
Als das Jahr 1759 kam, war Halley bereits nicht
mehr
unter den Lebenden;
er war in dem Alter von
68
Jahren am 14.
Januar 1724 geſtorben aber die Über-
lebenden
gingen mit nicht geringem Eifer an die Arbeit des
Nachrechnens
und des Aufſuchens des Kometen, denn jeder
wollte
der erſte ſein, um der Welt die große Wahrheit, die
Halley
gelehrt hatte, als unzweifelhaft zu verkünden.
Nicht die
engliſchen
Gelehrten allein, ſondern die aller gebildeten Völker
waren
in der größten Spannung hierüber.
Der franzöſiſche
Aſtronom
und Mathematiker Clairaut (1713—1765) rechnete
ein
volles Jahr mit der Aſtronomin Madame Lepaute ſo eifrig,
daß
ſie ſich kaum Zeit gönnten zu einem einfachen Mittags-
mahl
.
Aus dieſer Rechnung folgte, daß der Komet im Jahr
1759
am 13.
April in ſeine Sonnen-Nähe kommen werde, doch
fügte
Clairaut hinzu, daß ſeine Rechnung nur obenhin gelten
könne
, weil er erſtens die Maſſen der Planeten nicht mit
nöthiger
Genauigkeit kenne und auch nicht wiſſe, ob nicht noch
unbekannte Planeten hinter Saturn vorhanden ſeien,
die
ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnten.
Er
verkündete
demnach, daß er bis auf einen Monat früher oder
ſpäter
in ſeiner Rechnung unſicher ſei.
Da man mehrere Monate vor dem Moment der Sonnen-
Nähe
des Kometen ihn ſehen zu können hoffen durfte, ſo machte
alles
, was nur eines Fernrohrs habhaft werden konnte, Jagd am
Himmel
.
Und wer war es, der zuerſt den mit ſo großer
Spannung
erwarteten Gaſt entdeckte?
Es war ein
797173 habender und in der Aſtronomie nicht unerfahrener Bauer,
namens
Palitzſch, in einem Dörfchen bei Dresden, der ein
gutes
Fernrohr beſaß und der den Kometen am Weihnachts-
abend
, am 25.
Dezember 1758, als einen neblichen Stern
wirklich
entdeckte.
Hätte es damals elektriſche Telegraphen
nach
jetziger Einrichtung gegeben, ſo wäre dieſe Entdeckung
noch
in derſelben Nacht auf allen Sternwarten Europas be-
kannt
geweſen, und alle Fernröhre hätten den Gaſt begrüßt.
Allein von etwas Derartigem hatte man damals keine Ahnung,
ja
, als vier Wochen ſpäter der franzöſiſche Aſtronom Meſſier
den
Kometen auffand, wußte er nichts davon, daß derſelbe
bereits
lange der Gegenſtand der Beobachtung auf der Dresdner
Sternwarte
war.
So hat denn das Jahr 1759 eine Berühmtheit als das
Jahr
der Bewahrheitung einer großen Entdeckung erlangt.
Der Komet kam am 13. März in ſeine Sonnen-Nähe und gab
zu
vielen Beobachtungen Stoff, die wir in der Hauptſache beim
Jahre
1835 mitteilen, wo derſelbe Komet verkündetermaßen
wieder
erſchien.
XXXIX. Kometen aus den Jahren 1769
und 1770.
Ende des Jahres 1769 erſchien ein großer Komet, der
in
ſeinem Äußern viel darbot, was beſondere Erwähnung
verdient
.
Er zeigte einen prachtvollen Schweif, der namentlich
in
heißen Ländern, wo die Luft klar und rein iſt, in außer-
ordentlicher
Länge geſehen wurde.
Mehrere vorzügliche Be-
obachter
behaupten, daß der Schweif bei günſtiger Luft über den
halben
Himmel ſichtbar war.
Andere machen die
798174 daß ſie wahrgenommen, wie der Schweif zuweilen kleiner war,
aber
wie er durch einen Schuß oder eine Lichtſtrömung ſich
augenblicklich
zu ungeheurer Länge ausdehnte.
Obwohl es nun
feſtſteht
, daß in den Kometen Dinge vorgehen, die wir nicht
mit
gewöhnlichen Erſcheinungen unſerer Erde vergleichen können,
und
es alſo möglich iſt, daß wirklich die Schweife der Kometen
ſich
mit augenblicklicher Schnelligkeit verlängern und verkürzen,
ſo
iſt es doch wahrſcheinlich, daß jene Beobachtungen auf
Täuſchungen
beruhen und die ungeheueren Verkürzungen und
Verlängerungen
des Schweifes des Kometen vom Jahre 1769
nur
ſcheinbar waren und von plötzlichen Aufheiterungen und
Trübungen
der Luft herrührten, die unſere Erde umgiebt.
Sicherer als dieſe Beobachtungen iſt die Wahrnehmung
verbürgt
, daß der Schweif nicht gerade und von der Sonne
abgewandt
war, wie dies bei den meiſten Kometen der Fall
iſt
, ſondern gekrümmt oder richtiger geſchlängelt war, und zwar
ſo
, daß der Schweif faſt die Form eines lateiniſchen S bildete.
Wenn ſich in demſelben jenes Aufflammen und Verlängern
zeigte
, das wir bereits erwähnt haben, ſo ſah der Schweif
wie
eine ſchlängelnde Flamme aus, die von Luftſtrömungen
mehrfach
gebogen wird.
Der Weg, den der Komet am Himmelsraum machte, iſt
genau
notiert worden, und achtzehn Aſtronomen gingen an die
Arbeit
, die wahre Bahn desſelben zu berechnen.
Mit Sicher-
heit
hat dieſelbe nicht feſtgeſtellt werden können, doch giebt
man
der Berechnung Beſſels den Vorzug, laut welcher der
Komet
eine Umlaufszeit von 2090 Jahren hat.
Ein Jahr darauf, alſo 1770, wurde ein Komet geſehen,
der
äußerlich nicht bedeutend war, aber in ſeinem Lauf ein
Rätſel
darbot, das den Aſtronomen nicht wenig den Kopf
warm
machte.
Die Löſung dieſes Rätſels gelang aber voll-
kommen
und brachte einen ſo merkwürdigen Auſſchluß über
Dinge
, die in ungeſehenen Fernen des Himmels vorgehen,
799175 man Urſache hat, ſtolz auf die Wiſſenſchaft zu ſein, die der-
gleichen
zu entdecken vermag.
Der Komet war nämlich in ſeinem Lauf ſehr genau be-
obachtet
worden, und nach ſorgfältigen Berechnungen ergab es
ſich
, daß er die unerwartet kurze Umlaufszeit von fünf Jahren
und
ſieben Monaten habe.
Allein dies Reſultat war höchſt
rätſelhaft
.
Iſt es möglich, daß ein ſo deutlich erſcheinender
Komet
, der alle fünf Jahre in die Sonnen-Nähe kommt, nicht
früher
geſehen worden ſein ſollte?
Noch rätſelhafter jedoch
war
es, daß er nunmehr wiederum unſichtbar wurde und
weder
im Jahre 1776 noch ſpäter im Jahre 1781 zur berech-
neten
Zeit eintraf.
Es blieb nichts übrig, als ſowohl die
Beobachtungen
wie die Berechnungen nochmals vorzunehmen,
zu
korrigieren und zu revidieren;
allein es führte zu nichts.
Die Bahn blieb dieſelbe, die Nechnungen ſtimmten überein,
und
doch mußte irgendwo ein Fehler vorhanden ſein, oder
man
mußte annehmen, daß man einen nicht nur neugeborenen
Kometen
geſehen, der ſeinen erſten Umlauf machte, ſondern
auch
ſeinen Tod erlebt habe, denn er kam nicht und kam nicht
wieder
.
Sollte er wirklich neu entſtanden ſein, um ein einziges
Mal
ſeine Reiſe um die Sonne zu machen und ſich dann
wieder
in Wohlgefallen aufzulöſen?
Wer weiß, welche Theorien ſpekulierende Köpfe hierüber
au
s Tageslicht gebracht haben würden, wenn nicht die ſehr
praktiſch
rechnenden Aſtronomen dies Rätſel durch eine höchſt
intereſſante
Löſung vollſtändig erklärt hätten.
Die Aſtronomen, die nicht wußten, wo dieſer Komet ge-
blieben
ſein konnte, fingen an rückwärts zu rechnen, um zu
ſehen
, wo er denn vor ſeinem Erſcheinen hergekommen ſein
möge
, und da fand ſich denn Folgendes:
Urſprünglich hatte dieſer Komet eine ganz andere Bahn
als
die, welche er im Jahre 1770 zeigte;
allein als er auf
dem
Wege zur Sonnen-Nähe war, ging er im Jahre
800176 ſehr nahe am Planeten Jupiter vorbei, und die Anziehung
Jupiters
änderte ſeine Bahn derartig, daß er eine ganz neue
bekam
und wirklich in dieſer den beobachteten Umlauf von fünf
Jahren
und ſieben Monaten erhielt.
In dieſer ganz neuen
Bahn
verblieb er auch und machte noch einmal ſeinen Rund-
lauf
.
Er kam hierbei in der That im März 1776 wieder in
die
Sonnen-Nähe und wurde nur nicht geſehen, weil die Erde
gerade
damals an 40 Millionen Meilen von ihm entfernt war
und
außerdem die Sonne zwiſchen der Erde und dem Kometen
ſtand
.
Von ſeiner Sonnen-Nähe ging er auch wieder zurück
in
ſeine Sonnen-Ferne und traf hier nach neuen fünf Jahren
und
ſieben Monaten, alſo nach mehr als elf Jahren nahe an
der
Stelle ein, wo ihm Jupiter einen ſolchen Streich geſpielt
hatte
.
Nun aber beträgt die Umlaufszeit Jupiters auch elf
Jahre
und zehn Monate;
während der Komet ſeit der ver-
hängnisvollen
Begegnung zweimal um die Sonne gelaufen
war
, hatte alſo Jupiter nahezu einmal ſeinen Umlauf vollendet
und
ſonderbares Schickſal! die beiden Himmelskörper,
die
ſich ſchon einmal begrüßt hatten, kamen als gute Bekannte
wieder
zuſammen.
Am 23. Auguſt 1779 befand ſich der un-
glückliche
Komet in ſo großer Nähe Jupiters, daß er vierund-
zwanzigmal
ſtärker von dieſem angezogen wurde als von der
Sonne
.
Der Komet ging zwiſchen Jupiter und ſeinen vier
Monden
durch, und dieſe Anziehung lenkte ihn nun wiederum
von
der neuen Bahn ab und gab ihm einen ſo merkwürdigen
Laufpaß
durch den Himmelsraum, daß er ſtets der Erde fern
bleiben
und niemals wenigſtens nicht mit den jetzigen
Fernröhren
von der Menſchheit wiedergeſehen werden wird.
Er
trägt
daher in der Aſtronomie den Namen desverlorenen
Kometen”
.
Dies iſt das merkwürdigſte Beiſpiel der Störung der
Bahn
eines Kometen, in welcher zugleich das ſchöne Zeugnis
des
Scharfſinnes der Wiſſenſchaft und die wichtige Lehre
801177 daß Kometen durchaus keine Störung im Lauf der Planeten
verurſachen
;
denn Jupiter und ſeine Monde haben auch nicht
die
leiſeſte Spur einer Veränderung durch dieſes zweimalige
Begegnen
davongetragen.
XL. Kometen aus den Jahren 1807 bis 1811.
Im laufenden Jahrhundert ſind mehrere größere und
viele
kleinere Kometen erſchienen, und es liegen die Beobach-
tungen
und Berechnungen derſelben außerordentlich zahlreich
vor
;
denn nicht nur wurde mit Beginn dieſes Jahrhunderts
die
Beobachtung viel ſchärfer und genauer, ſondern auch die
Art
zu rechnen, wurde durch große Mathematiker immer mehr
erleichtert
.
Zu den beſonders für unſern Zweck erwähnenswerten ge-
hört
der Komet vom Jahre 1807, der an Glanz zu den
ſeltenſten
dieſer Himmelskörper gezählt werden muß.
Der
Kern
dieſes Kometen war lebhaft leuchtend und ſcharf begrenzt.
Er war von einer mattern Lichthülle umgeben, und von dieſer
lief
ein Doppelſchweif aus, der ſich in zwei Äſte teilte,
zwiſchen
welchen ein dunkler Zwiſchenraum frei blieb.
Dabei
war
einer der Äſte ſtark umgebogen, und zwar ſo, als wollte
das
eine Ende des Zweiges wieder nach vorwärts eilen.
Eine
gute
Erklärung ſolcher Erſcheinungen iſt bis jetzt noch nicht
gegeben
worden;
aber es ſcheint ſich immer mehr und mehr
das
Material zu einer treffenden Erklärung anzuſammeln, und
wir
dürfen die Vermutung ausſprechen, daß es nicht mehr
lange
Zeit währen wird, bis eine ſolche gefunden iſt.
Der Lauf des Kometen von 1807 wurde von Beſſel be-
rechnet
, hiernach hat er einen Umlauf von fünfzehn- bis ſieb-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
802178
zehnhundert Jahren, je nachdem die Störungen der Planeten
ſeinen
Lauf beſchleunigen oder verlangſamen, was von der
Stellung
abhängt, in welcher ſich die Planeten gerade zu der
Zeit
befinden, wo der Komet ihr Bereich durchwandert.
Im Jahre 1811 erſchien ein Komet, der ſich durch ſein
Licht
, wie durch ſeinen überaus großen Schweif auszeichnete,
der
aber dadurch am wichtigſten iſt, daß er am längſten von
allen
Kometen, die bisher erſchienen ſind, beobachtet werden
konnte
.
Er wurde zuerſt am 26. März 1811 und zum letzten
Mal
am 17.
Auguſt 1812 geſehen, ſo daß zwiſchen ſeinem Er-
ſcheinen
und Verſchwinden 511 Tage liegen, während oft Ko-
meten
nur wenig Tage ſichtbar bleiben.
Als er entdeckt wurde, war er auf dem Wege zu ſeiner
Sonnen-Nähe
, alſo zur Sonne.
Natürlich wurde er, als er
ſich
dieſer näherte, im Glanze des Sonnenlichts unſichtbar;
allein Beſſel ſprach die Vermutung aus, daß man ihn trotz
ſeiner
nun eintretenden Entfernung nach dieſer Unterbrechung
noch
werde ſehen können, und wirklich fand dies ſtatt, ſo daß
man
ihn durch das Fernrohr weit hinaus auf ſeiner Reiſe zu
begleiten
vermochte.
Da außerordentlich reichhaltige und genaue
Meſſungen
vorlagen, war der höchſt verdienſtvolle Aſtronom
Argelander imſtande, ſeine Bahn zu berechnen, und er fand,
daß
der Komet in 3069 Jahren einmal um die Sonne läuft,
ſo
daß er im Jahre 4880 wiederum ſichtbar ſein würde.

Allein
die Störungen der Planeten werden ſeinen Lauf um
177
Jahre beſchleunigen, ſo daß er ſchon im Jahre 4703 wieder
erſcheinen
wird.
Dieſe Rechnung iſt nur um einige vierzig Jahre unſicher
und
bedarf jetzt, nach Entdeckung des Neptun, noch einer Durch-
ſicht
, um auch deſſen Einfluß genau angeben zu können.
Der Komet von 1811 entfernt ſich ſo weit von der Sonne,
daß
er im Jahre 3346 an 8700 Millionen Meilen von ihr
abſtehen
wird, um ſich dann wieder auf die Rückreiſe zu
803179 geben. Wir haben es bereits beim Kometen vom Jahre 1680
erwähnt
, daß dieſer, der noch einmal ſo weit ab von der Sonne
ſeine
fernſte Station hat, einmal bei ſeiner Wiederkehr nach
8000
Jahren die Menſchheit belehren wird über die Störungen,
welche
die Fixſterne auf ſeinen Lauf ausgeübt haben.
Wem
dieſe
Zeit zu lange währt, der kann ſich durch den Kometen
von
1811 beruhigen, denn dieſer wird in ſeiner Sonnen-Ferne
einem
ſehr bedeutenden Fixſtern, dem hellen Stern, der in der
Mitte
des Sommers zwiſchen 10 und 11 Uhr abends faſt
über
unſerm Scheitel glänzt, dem Stern erſter GrößeWega”
im
Sternbild der Leyer näher kommen als irgend ſonſt ein
bekannter
Himmelskörper, und wenn der Komet dann im Jahre
4700
wieder erſcheint, wird er vielleicht der beſſer unterrich-
teten
Menſchheit die Frage, welchen Einfluß die Fixſterne
auf
den Lauf der Kometen ausüben, um einen großen Poſttag
ſchneller
beantworten als der Komet von 1680, auf den man
8000
Jahre warten muß.
Wir ſagen, daß der Komet von 1811 dem SternWega”
näher
kommen wird, als ein anderer bekannter Himmelskörper,
und
das iſt auch richtig;
allein einen allzunahen Beſuch darf
man
ſich hierunter doch nicht vorſtellen.
Denn wenn auch der
Komet
im Jahre 3646 in ſeiner Sonnen-Ferne auf der geraden
Linie
zwiſchen Sonne und Wega zu ſtehen käme, ſo bleibt ſein
Weg
zu Wega doch immer noch 1800 mal weiter als der zur
Sonne
, weshalbWega” auf den Kometen nur aus ſehr un-
ſchädlicher
Ferne wird von Einfluß ſein können, ohne ihn etwa
unſerer
Sonne abſpenſtig zu machen.
Alſo ſchon nach 3000 Jahren wird die Menſchheit, wenn
ſie
auch in der Wiſſenſchaft nicht fortſchreitet, bloß mit unſeren
Kenntniſſen
ausgerüſtet, Gelegenheit haben, etwas Näheres über
die
Fixſterne zu erfahren.
Allein wird ſie dieſer Hilfsmittel
bedürfen
?
Wir glauben’s nicht; denn die Menſchheit ſchreitet
geiſtig
fort und wird ſicherlich dereinſt lächeln über die
804180 fügigen Mittel, deren wir uns noch bedienen müſſen, um hinter
Geheimniſſe
der Natur zu kommen.
XLI. Was im Halley’ſchen Kometen im Jahre
1835 vorging.
Der im Jahre 1835 wiederkehrende, von Halley be-
rechnete
Komet (vgl.
S. 160) wurde ſchon durch Fernrohre am
5
.
Auguſt, als er von der Sonne noch ſehr weit ab ſtand, ge-
ſehen
;
aber ſo ſchwach, daß der eintretende Mondſchein ihn
bis
zum 22.
Auguſt wieder unſichtbar machte. Während er
von
nun ab durch den Monat September genauer geſehen
werden
konnte, nahm man doch noch keine weſentliche Ver-
änderung
an ihm wahr, vielmehr erklärte Beſſel, daß er bis
zum
1.
Oktober den Kometen nur als einen immer heller
werdenden
Nebel ſah, der an einer Stelle kernartig ver-
dichtet
erſchien.
Erſt den 2. Oktober”, fährt Beſſel fort, “kann man als
den
Anfang einer neuen Periode im Anſehen des Kometen
bezeichnen
, denn von dieſem Tage an entwickelte er eine Reihen-
folge
von Erſcheinungen, welche zu den lehrreichſten gehören,
die
ſich über die Beſchaffenheit der Weltkörper dargeboten
haben
.
Der erſte Anblick des Kometen an dieſem Tage war
überraſchend
;
ſein Mittelpunkt wurde ſo hell glänzend, als ob
er
einen Stern ſechster Größe in ſich hätte.
Doch ſchien es
nur
ſo in ſchwächeren Fernrohren betrachtet;
wenn man eine
hundertmalige
Vergrößerung anwandte, ſo ſah man die Ver-
mehrung
der Helligkeit;
erkannte aber zugleich, daß die Be-
ſchaffenheit
des Kernes ſich keineswegs ſonſt verändert
805181 oder irgendwie ſich zu einer feſten, planetenartigen Maſſe aus-
gebildet
.
Nach dieſen Verſicherungen Beſſel’s, die für die
ganze
Dauer des Kometen gelten, hat man ſtets unter Kern
nur
eine dichtere und hellere Partie des Kometen zu verſtehen
und
muß jeden Gedanken an eine feſte Maſſe in Kometen völlig
aufgeben
.
Die zunehmende Helligkeit”, fährt nun Beſſel fort,
war nicht das einzig Bemerkenswerte, das der Komet zu
zeigen
anfing, ſondern er begann an dieſem Tage eine Aus-
ſtrömung
von Lichtmaterie zu zeigen, die auffallender war.
Die Ausſtrömung ging fächerartig vom Kern aus und war
an
dieſem Tage ſo ziemlich zur Sonne hin gerichtet” Beſſel
hat
dieſe Ausſtrömung gemeſſen und ſie durch Zeichnungen
deutlich
gemacht.
Man bemerkt an dieſen, daß die ganze Er-
ſcheinung
des Ausſtrömens innerhalb der Nebelhülle ſtattfand,
die
den Kometen-Kern umgab, und wird ſich ein nahe richtiges
Bild
davon machen, wenn man ſich den Kern des Kometen in
einer
Hülle von vierzigmal ſtärkerem Halbmeſſer als den Kern
denkt
, die Ausſtrömung aber vom Kern ausgehend ſich vor-
ſtellt
, und zwar ſo, daß ſie nicht viel über die Mitte des Nebels
emporragt
.
War nun die rätſelhafte Ausſtrömung am 2. Oktober faſt
genau
zur Sonne hin gerichtet, ſo ergab die nächſte ſternen-
helle
Nacht am 8.
Oktober, die zur Beobachtung günſtig war,
daß
in der Ausſtrömung inzwiſchen eine Veränderung vor ſich
gegangen
war.
Sie ſah nicht mehr breit und fächerartig aus,
ſondern
hatte mehr die Geſtalt einer Rakete, die lang und
ſchmal
auffliegende Flammenſtröme ausſendet.
Die Zeichnung,
die
Beſſel hiervon giebt, ſieht ſich an, als ob innerhalb eines
kugelartigen
Nebels ein Kometen-Kern liegt, der einen Schweif
von
immer ſchwächer werdenden Flammen faſt bis zum Rand
des
Nebels ſendet.
Aber auch hier iſt es nicht das Anſehen,
das
ſo merkwürdig iſt, ſondern der Umſtand, daß dieſe
806182 ſtrömung, die am 2. Oktober zur Sonne hin gerichtet war,
jetzt
ſich links abgeneigt hat, als wollte ſie ſich von der Rich-
tung
zur Sonne entfernen.
Erſt die Nacht vom 12. Oktober gab dem Beobachter
Gelegenheit
, die merkwürdige Erſcheinung deutlicher zu ſehen,
denn
dieſe Nacht war klar und geſtattete, den Kometen von
Sonnenuntergang
bis zum Sonnenaufgang zu betrachten und
zu
meſſen.
Nebelhülle und Kern ſchienen wieder unverändert;
allein die Ausſtrömung war noch entſchiedener geworden und
nahm
ſich wie ein auf ſeiner Spitze ſtehender Lichtkegel aus.
Das
Merkwürdigſte
war aber, daß die Richtung der Ausſtrömung
in
dieſer einen Nacht ſich fortſchreitend, und zwar nach links
von
der Sonne abwendete, und wie die Meſſung ergab, nahm
dieſes
Abwenden von der Sonne in der einen Nacht ſo zu,
daß
die Neigung der Ausſtrömung um 3 Uhr morgens drei-
mal
größer war, als am Anfang der Nacht.
Wiſſenſchaftlich
bezeichnet
man dies deutlicher durch die Angabe Beſſels, daß
die
Ausſtrömungs-Richtung mit der Richtung zur Sonne im
Anfang
der Nacht einen Winkel von 19 Grad bildete, des
Morgens
aber dieſer Winkel bis auf 55 Grad angewachſen war.
Am darauf folgenden Abend zeigte ſich eine unerwartete
Erſcheinung
.
Die Ausſtrömung war verſchwunden, und ſtatt
ihrer
ſah man eine große Maſſe ausgeſtrömter Lichtmaterie
links
vom Kern des Kometen.
Beſſel fand hierin die An-
deutung
, daß die Ausſtrömung nunmehr, wo ſie ſich von der
Sonne
abgewendet, ihre Kraft verloren habe.
Da dieſe Nacht
bald
wolkig wurde, konnte die Beobachtung nicht fortgeſetzt
werden
.
Am 14. Oktober heiterte ſich das Wetter eine Viertelſtunde
lang
auf.
Die Ausſtrömung war wieder da, und ſogar
prachtvoller
noch als am 12ten, Aber ſie hatte wieder die
Richtung
verändert.
Sie hatte ſich vom 8. zum 12. nach links
gewendet
;
jetzt am 14. war ſie zurückgekehrt, alſo rechts
807183 gangen, und befand ſich wieder ziemlich in gerader Richtung
zur
Sonne.
Nach Beſſels Meſſung betrug die Ausſtrömung
in
ihrer Höhe nahe an 800 Meilen.
In der darauf folgenden Nacht konnte der Komet wiederum
geſehen
werden.
Er zeigte nunmehr die Erſcheinung, die Beſſel
erwartet
hatte;
die Ausſtrömung war weiter nach rechts ge-
gangen
und hatte ſich wieder nach dieſer Seite hin beträchtlich
von
der Sonne abgewendet;
aber ſie ſchien auch hier wieder
ihre
Kraft zu verlieren, ſo daß Beſſel den Schluß zog, daß
die
Ausſtrömung von der Sonne begünſtigt werde, daß aber
in
der Kometenmaſſe einePolarität” ſtattfinde, die es veran-
laßt
, daß die Ausſtrömung wie eine Magnetnadel oder wie ein
Pendel
hin und herſchwingt.
Weitere Beobachtungen haben dies beſtätigt; aber im Ver-
lauf
der ganzen Erſcheinung des Kometen zeigte dieſes Aus-
ſtrömen
die merkwürdigſten Veränderungen.
Die ausgeſtrömte
Lichtmaterie
fing an weit und langgedehut zu werden und
ſpringbrunnenartig
nach beiden Seiten überzufließen, bald bildete
ſich
aus ihr der Schweif, der wie ein wallender Federbuſch
hinter
dem Kometen herzog, und die Erſcheinung desſelben auch
ſür
die Nicht-Aſtronomen auffallend genug machte.
Daß in den Kometen etwas Beſonderes hierbei vorgehen
muß
, was man mit der Einwirkung des Lichtes oder der
Wärme
allein nicht erklären kann, das ſteht feſt.
Was iſt es
aber
?
Die Wiſſenſchaft weiß hierauf noch keine genügende Ant-
wort
zu geben.
XLII. Die Kometen von 1843 und 1858.
Zu der Zahl der Kometen, die von glücklichen Entdeckern
aufgefunden
worden, kamen aber auch einige vor, die
808184 bloßem Auge ſichtbar waren, und ſolch einer war der erſte
Komet
vom Jahre 1843, der am 28.
Februar am hellen Tage
an
vielen Orten gleichzeitig entdeckt wurde.
In Italien beob-
achtete
man ihn am Mittag und fand, daß der Komet ſo nahe
an
der Sonne ſtand, daß nur etwa drei Sonnenkugeln in dem
ſcheinbaren
Zwiſchenraum Platz hätten.
In Mexiko ſah man
ihn
um 11 Uhr mittags nahe bei der Sonne mit einem nach
Süden
hin gerichteten Schweif.
Ein Gleiches war an ein-
zelnen
anderen Orten der Fall, die ſüdlich liegen, während
bei
uns im Norden der Komet erſt ſpäter im März ſichtbar
ward
, als er ſich bereits von der Sonne entfernt und an Glanz
verloren
hatte;
und es war auch von ihm nur der beträchtliche
Schweif
nach Sonnenuntergang ſichtbar, während ſein Kopf
ſchon
untergegangen war.
Zu Anfang April verſchwand er
vollſtändig
, und konnte ſelbſt durch Fernrohre nicht mehr ge-
ſehen
werden.
Der außerordentliche Glanz dieſes Kometen, der ihn am
hellen
, lichten Mittag neben der Sonne ſichtbar machte, die
Nähe
zur Sonne, die ungeheure Geſchwindigkeit ſeines Laufes,
die
kurze Zeit ſeiner Erſcheinung, die Größe ſeines Schweifes
und
ſein faſt plötzliches, ſpurloſes Verſchwinden, all das hat
die
Aſtronomen nicht wenig beſchäftigt, ohne jedoch zu einem
ſichern
Reſultat zu führen.
Es ſteht nur ſoviel feſt, daß der
Komet
in ſeiner Sonnen-Nähe der Sonnen-Oberfläche noch
näher
gekommen ſein muß, als der berühmte Komet von 1680.
Ja, nach einigen Berechnungen mußte der Komet faſt an die
Sonnenoberfläche
angeſtreift haben;
aber jedenfalls ging er
mit
ſo raſender Geſchwindigkeit in dieſer gefährlichen Nachbar-
ſchaft
, daß die Anziehung der Sonne ihn nicht feſthalten konnte;

nach
ungefährer Schätzung muß er im Moment der Sonnen-
Nähe
in einer einzigen Sekunde an 150 Meilen gelaufen ſein.
Über die Bahn dieſes Kometen iſt jedoch die Unſicherheit
ſo
groß, und die Unſicherheit rührt daher, daß das
809185 kleine Stück dieſer jedenfalls ſehr in die Länge gezogenen Bahn,
welches
man zu beobachten Gelegenheit hatte, viel zu gering-
fügig
iſt, um feſte Berechnungen darauf zu gründen.
In
allen
ſolchen Fällen weiß die Wiſſenſchaft ſich dadurch Rat zu
ſchaffen
, daß ſie der beſſer unterrichteten Zukunft vorarbeitet,
und
mit möglichſter Genauigkeit die Erſcheinungen regiſtriert,
damit
man in ſpätern Zeiten, wenn ſolch ein Burſche wieder-
kommt
, ihn ſofort an ſeinem Signalement erkenne und mit
größerer
Sicherheit wiſſe, wo er ſich zeither im Weltraum
herumgetrieben
.
Es ſind zu dieſem Zweck Liſten angelegt, die
man
Kometenverzeichniſſe nennt, wo das Signalement und die
Perſonal-Beſchreibung
nebſt beſonderen Kennzeichen und Be-
merkungen
mit mehr als polizeilicher Genauigkeit angegeben
ſind
, und die bewaffneten Augen der beobachtenden Aſtronomen
wie
die feine Spürkunſt ihrer rechnenden Gehülfen werden
unterſtützt
von ſolchen gut geführten Verzeichniſſen aller vaga-
bondierenden
Kometen, deren man habhaft wird ſchon einmal
ihre
guten Dienſte leiſten.
Schließlich wollen wir noch unſere Leſer an den großen
Kometen
von 1858 erinnern, der nach ſeinem Entdecker der
Donatiſche
Komet heißt.
Er war im November beſonders
prachtvoll
und wurde in Chili noch am 1.
März 1859 ge-
ſehen
.
Nach den bis jetzt angeſtellten Berechnungen hat er eine
Umlaufszeit
von 6143 Jahren und war nicht der von den
Aſtronomen
Hind und Bome angekündigte, welcher im Jahre
1556
als großer Komet ſichtbar geweſen.
XLIII. Die Kometen von 1880 und 1882.
Unter den vielen in neuerer Zeit beobachteten Kometen
ſind
diejenigen von 1880 und 1882 hervorzuheben, die
810186 auf der ſüdlichen Himmelskugel erſchienen und zu den großen
Kometen
gehören.
Der erſtere tauchte zuerſt am 31. Januar
oder
1.
Februar auf und hat ein beſonderes Intereſſe, weil
ſeine
äußere Erſcheinung ſowohl als auch ſeine Bahn die größte
Ähnlichkeit
mit der des Kometen von 1843 zeigt, ſo daß manche
Aſtronomen
beide für identiſch halten.
Danach müßte die Um-
laufszeit
desſelben entweder viel zu hoch angegeben nämlich
533
Jahre oder aus irgend welchen Urſachen ſehr bedeutend,
auf
37 Jahre, verkürzt worden ſein.
Auch der Komet von 1882, der zuerſt anfangs September
und
gegen Ende des Monats auch auf der nördlichen Halb-
kugel
geſehen wurde und eine äußerſt glänzende Erſcheinung
darbot
, zeigte in ſeiner Bahn große Ähnlichkeit mit der der
eben
genannten, wogegen die äußere Erſcheinung eine beträcht-
liche
Verſchiedenheit aufwies.
So entſchwanden die Kometen
von
1843 und 1880 bald nach ihrem Periheldurchgange unſeren
Blicken
, während der Komet von 1882 noch im Februar des
Jahres
1883 mit bloßem Auge wahrgenommen werden konnte.
Seine Bahnlage hätte eine noch längere Beobachtung mit freiem
Auge
ermöglicht, wenn nicht ſeine, im Gegenſatz zu den beiden
früheren
Kometen, deren Licht raſch abnahm, allmählich ab-
nehmende
Lichtſtärke ſchließlich zu gering geweſen wäre.
Dieſer Komet iſt ferner für unſere Kenntnis von der
chemiſchen
Zuſammenſetzung dieſer Weltkörper äußerſt merk-
würdig
.
Während er nämlich anfangs das gewöhnliche, aus
Banden
beſtehende Kometenſpektrum, das mit dem der Kohlen-
waſſerſtoffe
identiſch iſt, zeigte, änderte ſich dasſelbe mit der
Annäherung
an das Perihel (Sonnennähe) vollſtändig, indem
es
faſt völlig verſchwand und dafür helle Natriumlinien auf-
traten
.
Nach dem Periheldurchgange verſchwanden letztere all-
mählich
, und das gewöhnliche Bandenſpektrum trat wieder hervor
und
blieb ſchließlich allein übrig.
Dieſer Wechſel des Spektrums
iſt
auch deshalb von hohem Intereſſe, weil er zu dem
811187 führt, daß die Lichterſcheinungen der Kometen wenigſtens zum
Teil
elektriſchen Urſprungs ſind.
Denn dieſelben Erſcheinungen
nimmt
man bei den elektriſchen Entladungen in Geißler’ſchen
Röhren
, die Gaſe und Metalle zugleich enthalten, wahr.
Bei
geringer
Entladungsſtärke zeigen dieſe Röhren nur das Gas-
ſpektrum
, bei ſtärkerer werden die Metalle zum Verdampfen
gebracht
, und es überwiegt das Spektrum derſelben.
XLIV. Sternſchnuppen und Meteore.
Zu den auffallendſten Erſcheinungen, welche den Beſchauer
des
nächtlichen Himmels feſſeln, gehören unſtreitig die ſoge-
nannten
Sternſchnuppen.
Die Häufigkeit des Phänomens,
ſowie
das immer wieder überraſchende Schauſpiel, als breche
plötzlich
ein Stern aus der Schar der übrigen hervor und
ſchieße
mit großer Geſchwindigkeit am Firmamente dahin, um
nach
wenigen Augenblicken wieder zu verſchwinden, haben von
jeher
die Aufmerkſamkeit auf dieſe Erſcheinung gelenkt.
Es
darf
uns daher nicht befremden, daß wir dieſes ſchöne Phä-
nomen
bereits in den älteſten Dichtungen und Sagen erwähnt
finden
.
So wird beiſpielsweiſe ſchon in der Iliade (IV. 74)
die
Schnelligkeit, mit welcher die Götter aus ihren himmliſchen
Höhen
auf die Erde niederſteigen, mit der einer Sternſchnuppe
verglichen
.
Ebenſo vereinigt nicht minder poetiſch als ſchön
der
nordiſche Mythus das Geſchick des Menſchen mit den fal-
lenden
Sternen.
Werpeja, die Spinnerin, beginnt den Schick-
ſalsfaden
des neugeborenen Kindes am Himmel zu ſpinnen,
und
jeder Faden endet in einen Stern.
Naht nun der Tod
des
Menſchen, ſo reißt ſein Faden, und erbleichend fällt ſein
Stern
zur Erde nieder.
812188
Die ſcheinbare Größe oder, richliger geſagt, die Helligkeit
der
Sternſchnuppen iſt ſehr verſchieden.
Von den kleinſten,
mit
freiem Auge eben noch ſichtbaren findet man durch jede
Größenabſtufung
heller werdende, bis ſie nicht nur Jupiter
und
Venus, die ſchönſten Geſtirne des Firmamentes, an Glanz
überſtrahlen
, ſondern ſogar bisweilen eine Leuchtkraft ent-
wickeln
, vor der die Sterne erbleichen.
Doch pflegt man nur
die
kleineren Erſcheinungen dieſer ArtSternſchnuppen” oder
Meteore” zu nennen und nach Sterngrößen von der 6.
bis
zur
1.
zu ordnen, während man die helleren Sternſchnuppen,
von
Jupiter- oder Venusgröße augefangen, mit dem Namen
Feuerkugeln” oderBoliden” auszeichnet.
Übrigens ſind die
mit
freiem Auge eben noch ſichtbaren Sternſchnuppen keines-
wegs
die kleinſten, die es giebt.
Man bemerkt im Ferurohre
häufig
auch ſolche, welche in der Helligkeit eines Sternes
9
.
bis 10. Größe oder auch eines noch kleineren das Geſichts-
feld
durchfliegen.
Die Bahn der Sternſchnuppen ſtellt ſich in der Regel als
Stück
eines größten Kreiſes dar, was darauf hinweiſt, daß
das
von uns geſehene Bahnſtück von einer geraden Linie nicht
merklich
abweicht.
Indeſſen beſitzen die Bahnen öfters ziem-
lich
auffällige, zuweilen ſogar ſtarke Krümmungen;
ebenſo
kommen
hin und wieder auch wellen- oder ſchlangenartige Be-
wegungen
vor.
Alle dieſe und ähnliche Erſcheinungen ſind
leicht
erklärlich, wenn man bedenkt, daß ſich die Sternſchnuppen
in
unſerer Atmoſphäre, alſo in einem widerſtehenden Mittel
bewegen
, und wenn man die an und für ſich ſehr wahrſchein-
liche
Annahme macht, daß ſie nicht immer genau ſphäriſche
Körper
ſeien;
denn dann müſſen ſie bei ihrer Bewegung in
unſerem
Luftkreiſe unter Umſtänden alle jene ſonderbaren Kurven
beſchreiben
, welche uns beim Bumerang, den Projektilen gezo-
gener
Geſchütze u.
ſ. w. auffallen.
Die Dauer der Sichtbarkeit der Sternſchnuppen iſt
813189 eine ſehr geringe, indem ſie meiſtens bloß Bruchteile einer
Sekunde
beträgt und 3 bis 4 Sekunden nur ganz ausnahms-
weiſe
erreicht oder gar überſteigt.
Indeſſen iſt mit dem Ver-
ſchwinden
der eigentlichen Sternſchnuppe oder Feuerkugel das
Phänomen
häufig noch nicht abgeſchloſſen;
es laſſen nämlich
die
helleren Gebilde dieſer Art nicht ſelten eine feurige Spur
in
Geſtalt eines Schweifes zurück, der im allgemeinen wohl
bereits
wenige Sekunden nach den Meteoren verſchwindet, hin
und
wieder aber auch 1 bis 2 Minuten, ja ſogar Viertel- bis
halbe
Stunden lang ſichtbar bleibt.
Ein auffallendes Beiſpiel
dieſer
Art bot die Feuerkugel vom 17.
Juni 1873 dar. Sie
leuchtete
um 8 Uhr 44 Minuten Wiener Zeit in Ungarn ſüd-
lich
von Raab 160 Kilometer über der Erdoberfläche auf,
durchflog
, über Niederöſterreich, Mähren und Böhmen hinweg-
ziehend
, eine Strecke von 460 Kilometer innerhalb 4 bis 5
Sekunden
und erloſch in der Gegend von Zittau und Herrnhut
in
einer Höhe von 33 Kilometern.
Der blendend weiße, zickzack-
förmige
Schweif dieſes keineswegs überaus großen Meteores
es hatte nur etwas über Venusgröße blieb aber in
ſeinen
unteren Partien bis 9 {1/4} Uhr dem freien Auge ſichtbar.
Die Schweife der Sternſchnuppen zeigen zuweilen höchſt
intereſſante
Phänomene.
An Farbe gleichen ſie in der Regel,
aber
nicht immer dem Meteore, dem ſie ihre Entſtehung ver-
danken
.
Ihre Formen ſind höchſt mannigfach, die Ränder
meiſt
ſcharf begreuzt, und der Eindruck, den ſie hervorrufen,
manchmal
derart, als ob ſie hohle Cylinder bildeten, die nach
innen
da, wo die Feuerkugel durchgegangen iſt, von leuchtender
Materie
leer ſind.
Die Helligkeit der Schweife nimmt ge-
wöhnlich
bis zu ihrem Verſchwinden allmählich ab;
aber es
kommt
auch vor, daß einzelne ihrer Partien zeitweilig wieder
heller
aufleuchten.
Bleiben dieſelben längere Zeit ſichtbar, ſo
krümmen
ſie ſich und führen zuweilen noch andere, mit über-
raſchenden
Formänderungen verbundene Bewegungen aus,
814190 denen die ganze Maſſe nicht ſelten zerreißt und dann vereinzelte
lichte
Flecke bildet, die eine große Ähnlichkeit mit einem der
helleren
Nebelflecke beſitzen.
Dieſen rätſelhaften, bisher wenig
beachteten
Bildungen hat namentlich der Direktor der Athener
Sternwarte
, J.
F. Schmidt, eine beſondere Aufmerkſamkeit
zugewendet
und auch mehrfach mit Glück verſucht, ſie, nachdem
ſie
dem freien Auge bereits entſchwunden waren, noch mit
einem
lichtſtarken Fernrohre von großem Geſichtsfelde (Ko-
metenſucher
oder Opernglas) weiter zu verfolgen.
Seinen Er-
fahrungen
zufolge kann man annehmen, daß ein Schweif,
welcher
dem freien Auge etwa 5 bis 10 Sekunden ſichtbar
bleibt
, in einem Kometenſucher 2 bis 3 Minuten lang geſehen
werden
kann.
Von den Meteoren erſter Größe und den noch helleren
hinterläßt
in unſern Gegenden etwa die Hälfte, von denen
zweiter
aber nur noch ein Sechſtel und von den kleineren ein
noch
geringerer Bruchteil Schweife.
Dies ſcheint darauf hin-
zudeuten
, daß die meiſten, wenn nicht alle Feuermeteore
Schweife
nach ſich ziehen, die uns aber wegen ihrer Licht-
ſchwäche
häufig entgehen.
Dieſer Schluß wird auch dadurch
geſtützt
, daß Humboldt in der durchſichtigen Atmoſphäre der
Tropengegenden
die Meteore häufiger von langen, glänzenden
Lichtbahnen
begleitet ſah, als dies bei uns der Fall iſt.
Die Farbe der Sternſchnuppen iſt in überwiegend großer
Zahl
weiß oder gelb, ſeltener gelbrot;
aber bei den helleren
Sternſchnuppen
und beſonders den Boliden zeigen ſich auch
mitunter
andere Färbungen, und ſo namentlich intenſiv grüne.
Nach mehrjährigen Aufzeichnungen von I. F. Schmidt kommen
nämlich
auf je 100 Meteore im Durchſchnitt 62 weiße, 15 gelbe,
6
gelbrote, 3 grüne und 14 nebelige.
Die letztgenannte Kate-
gorie
von Sternſchnuppen hat J.
F. Schmidt zuerſt beob-
achtet
;
es ſind lichtſchwache Phänomene, deren Helligkeit die
von
Sternen dritter Größe kaum je erreicht, die aber einen
815191 deutenden Durchmeſſer und ſtets ein aſchfarbiges, nebelhaftes
Anſehen
beſitzen, ſodaß ſie oft einer kleinen, ſchnell hinflie-
genden
Nebelwolke gleichen.
Dieſe Sternſchnuppen dürften den Übergang bilden zu jenen
merkwürdigen
Mittelgliedern zwiſchen Kometen und Meteoren,
auf
die erſt ſeit neuerer Zeit Schiaparelli die Aufmerkſam-
keit
gelenkt hat.
Es ſind dies nebelartige Körper oft von ſehr
bedeutender
Ausdehnung, welche iunerhalb mehrerer Minuten
mit
größerer oder geringerer Geſchwindigkeit am Firmamente
hinziehen
und dann allmählich wieder bis zum Unſichtbar-
werden
abblaſſen.
Schiaparelli hat mehrere ähnliche Er-
ſcheinungen
aus den Jahren 1252, 1348, 1672 A.
zuſammen-
geſtellt
;
allein es ſind auch aus der neueren Zeit mehrfache
Fälle
dieſer Art bekannt.
Die intereſſanteſten derartigen Phä-
nomene
waren aber wohl das, welches Jahn am 3.
Juli 1845
beobachtet
hat und das, welches am 17.
November 1882 über
Holland
und England hinwegzog.
XLV. Aërolithenfälle.
Während ihres Laufes ändern die Sternſchnuppen meiſten-
teils
ihre Helligkeit nicht und verſchwinden wieder ebenſo
plötzlich
, wie ſie erſchienen waren.
Nur größere Meteore, ins-
beſondere
die Feuerkugeln erſten Ranges, verlöſchen manchmal
unter
Funkenſprühen oder zerplatzen auch, worauf man dann
zuweilen
einzelne matter leuchtende Stücke der Erde zufallen
ſieht
und einige Minuten nachher ein mehr oder minder ſtarkes,
ja
ſogar betäubendes Getöſe vernimmt.
Solchedetonierende”
Meteore
ſind es auch, welche gelegentlich zu den ſo merkwür-
digen
Aërolithen- oder Steinfällen Veranlaſſung geben.
816192
Die Schallerſcheinungen, welche einen Aërolithenfall be-
gleiten
, werden gewöhnlich folgendermaßen beſchrieben.
Man
hört
zuerſt einige heftige, ſcharfe Schläge, welche dem Donner
von
Kanonen ähneln.
Zwiſchen ihnen und nachher wird ein
ſchwächeres
Getöſe vernommen, das bald Trommelwirbeln, bald
einem
Pelotonfeuer, bald dem Raſſeln eines ſchwer beladenen
Wagens
verglichen wird.
Die Dauer desſelben iſt ſehr ver-
ſchieden
und kann auf mehrere Minuten anſteigen;
ja bei
einigen
Steinfällen wird ſogar von ſtundenlanger Dauer ge-
redet
, während man häufig auch bloß einen einzigen Knall
hörte
.
Nach den Detonationen vernimmt man in der Luft ein
Sauſen
und Ziſchen, während deſſen die Steine auf die Erde
herabfallen
.
Die heftigſten Detonationen rühren vom Zerplatzen des
Meteores
und dem Eindringen der Luft in das ſo entſtehende
Vakuum
her;
das ſchwächere Rollen hingegen wird durch das
Zuſammenſchlagen
der Luft in den vom Meteore verlaſſenen
Raum
bewirkt.
Weil aber das Meteor raſcher forteilt als der
Schall
, kommt derſelbe (wie beim Donner) von den entfernteren
Teilen
der Bahn erſt nach und nach zu uns, was die lange
Dauer
des Getöſes verurſacht.
Übrigens muß die Stärke der
Hauptdetonationen
zuweilen wahrhaft grauſenerregend ſein.
So z. B. hörte man bei dem Steinfalle zu l’Aigle (26. April
1803
) die Detonationen auf einem Umkreiſe, deſſen Radius
150
km betrug;
in l’Aigle ſelbſt, dem Orte, über dem beiläufig
die
Exploſion erfolgte, erzitterte der Boden wie bei einem Erd-
beben
, und Kamine, ja Häuſer ſtürzten ein.
Die vom Himmel herabgefallenen Maſſen teilt man nach
dem
Gehalte derſelben an gediegenem Eiſen in Meteorſteine
und
Meteoreiſen ein.
Den erſteren liegt faſt immer als Total-
ſorm
eine ungleichſeitige vierkantige Pyramide zu Grunde, deren
Spitze
abgeſtumpft iſt.
Die Grundfläche, welche bei der Be-
wegung
im Raume vorangeht, iſt meiſt gleichmäßig
817193 und mit einer glasartig glänzenden, papierdünnen, dunkelbraunen
bis
pechſchwarzen Rinde umgeben, auf deren Oberfläche ſich
netzartige
, ſtrahlenförmig von einem Punkte ausgehende, erhabene
Adern
zeigen.
An den Seitenflächen und insbeſondere an jener
Fläche
, welche der Grundfläche gegenüberliegt, iſt die Rinde
bloß
mattglänzend, oft auch ſammetartig.
Die Rinde iſt eben die geſchmolzene Oberfläche des Meteor-
ſteines
, wie zuerſt v.
Schreibers und Scheerer durch Schmelzen
von
Stannernſteinen nachwieſen.
Doch muß das Schmelzen, wie bereits Prouſt vermutet hatte, ſo raſch vorgenommen werden,
daß
das Innere dabei nicht beträchtlich erhitzt wird, weil ſonſt
die
ganze Maſſe zu einem dunkelbraunen Glaſe zuſammenfließt.
Daß das erſtere in der Natur auch wirklich eintritt, beurkundete
der
intereſſante Steinfall vom 27.
Dezember 1857 bei Quenggouk
(Oſtindien), indem unmittelbar nach dem Falle die Bruchſtücke
im
Innern ſo kalt waren, daß ſie die Finger des Gefühles be-
raubten
.
In mineralogiſcher und chemiſcher Beziehung ſind die
Steine
verſchiedener Lokalitäten, namentlich in Bezug auf
Gehalt
an Eiſen, ſehr von einander verſchieden.
Es ſei daher
nur
erwähnt, daß in ihnen ein neuer, auf der Erde nicht
vorkommender
Grundſtoff noch nicht aufgefunden wurde, daß
die
vorherrſchenden Beſtandteile binäre Verbindungen des
Sauerſtoffes
, nämlich Kieſelerde und Talgerde, ſodann Eiſen
bilden
, und zwar letzteres ſowohl im reguliniſchen Zuſtande
als
auch in ſeinen verſchiedeneu Oxydationsſtufen, und daß
das
metalliſche Eiſen merkwürdigerweiſe ſtets vom Nickel be-
gleitet
iſt.
Intereſſant iſt es auch, daß man in neuerer
Zeit
einige Meteorſteine mit großem Kohlengehalte gefunden
hat
, und daß in dieſen eine organiſche Subſtanz vorkommen
1
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI. 13
11 Steine vom großen Meteorſteinregen von Stannern in Mähren
(22. Mai 1808).
818194
@oll, die indes noch nicht genauer erforſcht werden konnte.
Derartige Meteorſteine, wie der vom Kap (gefallen am
13
.
Oktober 1838) und der von Debreczin (gefallen am
15
.
April 1857) unterſcheiden ſich auch ſchon durch ihre dunkle
Farbe
von den übrigen.
Weit ſeltener als Meteorfälle ereignen ſich Meteoreiſenfälle.
Doch hat man in der neueren Zeit ſehr merkwürdige Binde-
glieder
zwiſchen Stein- und Eiſenmeteoriten aufgefunden, nämlich
eiſenreiche
Meteorſteine mit großen Konkretionen von metalliſchem
Eiſen
und Meteoreiſen, in denen große Maſſen von Stein-
ſubſtanz
eingewachſen ſind.
Die Eiſenmeteoriten ſind meiſt derb und von kryſtalliniſchem
Gefüge
, ſelten äſtig oder zellig.
Im letzteren Falle ſind die
Hohlräume
mit deutlich kryſtalliſiertem Olivin (Meteorolivin)
ausgefüllt
.
Die derben Eiſenmeteoriten (ſo wie bei den zelligen
das
Eiſengerüſte) beſtehen faſt ausſchließlich aus Eiſen und
Nickel
, indem dieſe beiden Stoffe nicht ſelten bis 98% der
ganzen
Maſſe betragen, wobei das letztgenaunte Metall mit
einem
Teile des Eiſens zu Nickeleiſen verbunden iſt, welche
beiden
Beſtandteile ſich bei der Bildung des Meteoreiſens in
regelmäßig
alternierenden Lamellen ablagerten.
Da nun Eiſen
und
Nickeleiſen ſich verſchieden gegen chemiſche Agentien ver-
halten
, wird, wenn man ſolche auf eine polierte Meteoreiſen-
platte
einwirken läßt, deren regelmäßige Struktur in eigentüm-
lichen
Figuren ſichtbar, die man ihrem Entdecker zu Ehren
Widmannſtättenſche
genannt hat (Fig.
35). Durch dieſe Figuren
und
den Gehalt an Nickel unterſcheidet ſich das Meteoreiſen
von
jedem anderen telluriſchen, gediegenen Eiſen.
Man nimmt
daher
auch keinen Anſtand, Eiſenmaſſen, die ſich auf-verſchie-
denen
Punkten der Erde vorfinden, als Meteoreiſen zu be-
trachten
, wenn ſie in die geologiſche Formation jener Gegenden
nicht
paſſen und ſich mindeſtens durch eine der beiden erwähnten
charakteriſtiſchen
Eigentümlichkeiten auszeichnen, auch wenn
819195 deren Niederfallen nicht beobachtet hat. Solche Maſſen ſind
mitunter
ſehr bedeutend, wie die von Tucuman (Argent.
Republik,
aufgefunden
1783) von mehr als 1500 Kilogramm Gewicht,
die
von Bemdego (Braſilien, bekaunt ſeit 1784) von etwa
8700
Kilogramm Gewicht u.
ſ. w.
68[Figure 68]Fig. 35.Widmannſtättenſche Figuren.
Die Zahl der jährlich herabgefallenen Aërolithen iſt keines-
wegs
ſo klein, als man nach der Seltenheit des Phänomenes
an
einem beſtimmten Orte zu ſchließen geneigt ſein dürfte.
Als
Durchſchnitt
der letzten Jahre kann man nämlich annehmen,
daß
jährlich drei Meteoritenfälle beobachtet werden.
Bedenkt
man
nun, daß der größte Teil der Erde von Waſſer bedeckt
iſt
, daß wir nur aus kultivierten Ländern Nachrichten
820196 derartigen Begebenheiten erhalten, und daß ſelbſt in dieſen ein
großer
Teil der Fälle unbeobachtet bleibt oder die Meteor-
maſſen
in unzugänglichen Gegenden niederſtürzen, wo ſie nicht
aufgefunden
werden können, ſo wird man es wohl nicht über-
trieben
finden, auf der ganzen Erde jährlich einige hundert
Steinfälle
anzunehmen.
Bei einem Aërolithenfalle iſt die Zahl der herabſtürzenden
Stücke
ſehr verſchieden, oft ſehr gering (1—2), oft aber auch
ſehr
groß, wie bei Stannern und l’Aigle;
am erſteren Orte
ſchätzte
man ſie auf 150—200, am letzteren ſogar auf 2000 bis
3000
.
Bei ſolchen größeren Steinfällen, die man auch als
Steinregen
bezeichnet, ſind die Steine gewöhnlich über einen
elliptiſchen
Raum zerſtreut, deſſen längere Achſe in der Richtung
der
Bewegung des Meteors liegt, zum Zeichen, daß die
Steine
erſt nach und nach während ſeines Fortſchreitens
herabfallen
.
Dabei machte man außerdem die intereſſaute
Bemerkung
, daß die kleineren Steine zuerſt, die größeren
zuletzt
herabkommen, was beſonders ſchön der Steinregen vom
1
.
Mai 1860 zu New Concord (Ohio) zeigte. Dieſelben
Beobachtungen
hat man auch am 30.
Januar 1868 beim
Steinregen
zu Pultusk (Polen) gemacht und dabei noch
wahrgenommen
, daß die herabgefallenen Steine nirgends die
gefrorene
Erdſchicht durchſchlugen oder irgendwie tiefer in
dieſelbe
eindrangen.
Dies beweiſt unzweifelhaft, daß das
Meteor
bereits in den höheren Schichten unſerer Atmoſphäre
ſeine
kosmiſche Geſchwindigkeit eingebüßt hatte, und daß die
einzelnen
Teile desſelben ſchließlich bloß mit jener Geſchwindig-
keit
auf die Erde herabkamen, welche ſie nach den Geſetzen der
Schwere
beim Herabfallen erlaugten.
Der Erſte, der auf dieſes
eigentümliche
Verhältnis aufmerkſam machte, war Haidinger,
der
es bereits aus den Nachrichten über den Meteoritenfall
zu
Hraſchina (26.
Mai 1751) erkannte und hierauf bei einer
Reihe
von Aërolithenfällen unter anderem eben darin
821197 fand, daß die gefallenen Maſſen äußerſt ſelten tief in den
Boden
einſchlugen.
Seinen Argumenten könnte man noch bei-
fügen
, daß die Meteormaſſen beim Niederfallen weit öfter in
Stücke
ſpringen müßten, als dies in der That der Fall iſt,
wenn
ſie mit einer planetariſchen Geſchwindigkeit auf der Erde
ankämen
.
Haidinger verlegt den Ort, an dem die kosmiſche
Geſchwindigkeit
vernichtet iſt, an den Ort der Hauptdetonation,
nennt
dieſen demgemäß Hemmungspunkt und läßt von da an
die
einzelnen Stücke, einfach den Fallgeſetzen folgend, ſenkrecht
auf
die Erde herabfallen;
eine Annahme, die ſich beim Stein-
regen
von Pultusk vollſtändig beſtätigt hat.
In neuerer Zeit
hat
Schiaparelli auch den theoretiſchen Grund dieſes Ver-
haltens
aufgedeckt, indem er nachwies, daß ein Meteor bereits
in
den höchſten, noch ungemein dünnen Schichten unſerer
Atmoſphäre
den größten Geſchwindigkeitsverluſt erleidet, und
daß
ſchon in verhältnismäßig ſehr bedeutenden Höhen ſeine
kosmiſche
Geſchwindigkeit ſo gut wie völlig vernichtet wird.
Zu demſelben Reſultate gelangte gleichzeitig mit Schiaparelli
auch
Profeſſor Dr.
Edmund Weiß, Direktor der Sternwarte
in
Wien;
der letztere machte aber überdies noch darauf auf-
merkſam
, daß unter dieſen Umſtänden bei den ſchnelleren
Meteoren
der Geſchwindigkeitsverluſt viel raſcher eintritt und
auch
bereits in größeren Höhen erfolgt als bei den lang-
ſameren
.
Da nun die lebendige Kraft der Bewegung nicht
vernichtet
wird, ſondern ſich der Hauptſache nach in Licht und
Wärme
umſetzt, wird es nicht nur begreiflich, warum die
Lichterſcheinungen
der Feuerkugeln und Sternſchnuppen über-
haupt
ſchon in den höchſten Regionen unſerer Atmoſphäre ſich
abſpielen
, ſondern es findet darin auch die früher rätſelhafte
Erſcheinung
ihre einfache Erklärung, daß nach den Höhen-
berechnungen
von Sternſchnuppen die hell leuchtenden Meteore
in
der Regel nicht die der Erde näheren, ſondern gerade die
entfernteren
ſind.
822198
Bci den Detonationen findet manchmal ſicher ein wirkliches Zerſpringen der Meteormaſſe ſtatt, wie unwiderlegbar daraus
hervorgeht
, daß beim Steinfalle von Quenggouk zwei Stücke,
die
etwa 1500 Meter von einander entfernt aufgefunden wurden,
vollſtändig
zuſammenpaßten und an der Bruchfläche nur geringe
Spuren
von Überrindung zeigten.
Dasſelbe fand auch beim
Steinfalle
vom 12.
Mai 1861 zu Butſura (Oſtindien) ſtatt,
wo
ſogar drei Stücke, die in gegenſeitigen Entfernungen von
3
bis 4 Kilometer lagen, vollkommen aneinander paßten.
Man
würde
indes ſehr irren, wollte man daraus folgern, daß alle bei
einem
größeren Steinregen herabfallenden Stücke bloß Bruch-
ſtücke
eines einzigen, in unſere Atmoſphäre eingedrungenen
Körpers
ſeien;
man muß im Gegenteile aus der Form der
Steine
und dem Charakter der Überrindung ſchließen, daß in
ſolchen
Fällen bereits ein ganzer Schwarm Meteoriten in
unſeren
Luftkreis eintritt.
Dieſen Schluß beſtätigte auch eine
Beobachtung
von Dir.
J. F. Schmidt zu Athen, welche einzig
in
ihrer Art daſteht.
Sie gelaug am 19. Oktober 1863 an
einer
Feuerkugel erſten Ranges, welche ſich durch einen un-
gewöhnlich
langſamen Flug und eine ebenſo außergewöhulich
lange
Dauer von 21s auszeichnete, ſodaß Schmidt Zeit gewann,
einen
Kometenſucher auf ſie zu richten und ſie ſo durch volle
14
s zu verfolgen.
Teleſkopiſch betrachtet, beſtand ſie aus zwei
ſtrahlend
grünen Stücken von tropfenförmiger Geſtalt, die
ſcharfbegrenzte
, feuerrote und ganz gerade, unter ſich parallele
Schweiflinien
hinter ſich herzogen, deren Abſtand 7′ betrug.
Das größte Stück des Meteors ging ſüdlich voran; etliche
1
11 Die Heftigkeit der Detonation iſt zuweilen eine ganz koloſſale:
ſo
war der Knall des berühmt gewordenen Meteors, welches am 10. Februar
1896
grade über Madrid in ungefähr 30 Kilometer Höhe explodierte,
ein
derartiger, daß die ganze Stadt zuſammenlief und in äußerſten
Schrecken
verſetzt wurde, da man anfangs gar nicht wußte, was vorging.
823199 Bogenminuten weiter zurück folgte nördlich das kleinere. Dann
aber
zog dahinter her ein Schwarm grünſtrahlender Fragmente,
ſehr
verſchiedener Größe, deren jedes eine rote Feuerlinie mit
ſich
führte.
Alle dieſe Linien waren gerade und unter ſich
parallel
.
Das ſmaragdgrüne Licht der Kerne verlief durch
Hochgelb
in das Feuerrot der Schweife.
Den Durchmeſſer
des
größten Kernes ſchätzt Schmidt nach Abzug der Irradiation
auf
25″ bis 30″ und iſt geneigt, dieſe Angabe eher noch für
zu
groß als für zu klein anzuſehen.
Dieſe intereſſante Beobachtung bringt auch Licht in eine
andere
Frage, welche ſchon zu vielfachen Kontroverſen geführt
hat
.
Mit freiem Auge geſehen, erreichen ſcheinbar die Feuer-
meteore
erſten Ranges zuweilen den Durchmeſſer des Mondes,
und
auch J.
F. Schmidt ſchätzte den Durchmeſſer des eben be-
ſprochenen
Meteores noch lange, ehe es ſeinen Hauptglanz ent-
faltet
hatte, mit freiem Auge auf mindeſtens 10′ bis 15′.
Mit
Zugrundelegung
ſolcher Dimenſionen und der Entfernungen,
wo
ſie ſich ermitteln ließen, erhielt man für den wahren
Durchmeſſer
rieſige Zahlen, mitunter von mehreren tauſend
Metern
.
Vergleicht man hingegen damit die herabgefallenen
Maſſen
, ſo ſtehen dieſe in gar keinem Verhältnis zur ſchein-
baren
Größe des Meteores.
Die Beobachtung von Schmidt
löſt
nun dieſen Widerſpruch auf eine ſehr einfache Weiſe,
indem
ſie zeigt, daß man beim Schätzen der Größe eines
Meteores
mit freiem Auge einen doppelten Irrtum begeht,
daß
man nämlich nicht nur die einzelnen, durch weite Zwiſchen-
räume
getrennten Meteorpartikel als ein großes, ſolides Ganze
auffaßt
, ſondern daß überdies alle Dimenſionen durch die
Irradiation
noch vielfach vergrößert erſcheinen.
Die Nachrichten über Aërolithenfälle reichen bis in das
graue
Altertum zurück, wo derlei Begebenheiten mit den reli-
giöſen
Anſchauungen der älteſten Kulturvölker leicht in Zu-
ſammenhang
gebracht werden konnten.
Uralt war im
824200 die Verehrung des Feuers und die Perſonifikation dieſer ge-
waltigen
Naturkraft in den Geſtirnen, welche man für Feuer-
maſſen
hielt, die von mächtigen Geiſtern beſeelt ſeien.
Da
man
aber von der Entfernung und Größe der Geſtirne keine
Ahnung
hatte, bot auch die Idee, ſie könnten vom Gewölbe
des
Himmels auf die Erde herabſtürzen, nichts Ungereimtes,
und
man nahm deshalb auch keinen Anſtand, Feuerkugeln für
herabfallende
Sterne, und die den Erdboden glühend heiß
erreichenden
Steine, die man manchmal am Orte des Niederfallens
fand
, für die herabgefallenen Sterne ſelbſt zu halten, die auch
in
ihrem jetzigen Zuſtande nicht minder beſeelt ſeien als in dem
früheren
.
Man nannte ſie deshalb auch Bätylen, d. h. beſeelte
Steine
, und verehrte die größeren, die man von mächtigeren
Geiſtern
als die kleineren belebt glaubte, als Heiligtümer in
Tempeln
.
Die bekannteſten Steine dieſer Art ſind das Ancile
der
Römer, das zur Zeit des Numa Pompilius vom Himmel
herabgefallen
ſein ſoll und von dem die ſibylliniſchen Bücher
verkündeten
, daß ſein Verluſt der Vorbote des Unterganges
von
Rom ſein werde;
ferner der ſchwarze Stein in der Kaaba
zu
Mekka u.
ſ. w.
In Kleinaſien und Griechenland verwechſelte man die das
Herabfallen
von Steinen begleitenden Licht- und Schallerſchei-
nungen
mit wirklichem Blitz und Donner und glaubte, die
Götter
ſchicken bei Gewittern ihre Symbole in Geſtalt ſolcher
Steine
den Menſchen zur Verehrung auf die Erde herab,
weshalb
man ſie auch als Keraunia oder Brontia, d.
h. Donner-
ſteine
bezeichuete und nach jedem Blitzſchlage ſolche aufſuchte.
Übrigens iſt im Volke der Glaube anDonnerſteine” auch heute
noch
nicht ganz erloſchen.
In Arabien wurden aus Meteoreiſen Degenklingen ver-
fertigt
, welche man, wegen der wunderbaren Eigenſchaften, die
ſie
auszeichnen ſollten, ſehr hoch ſchätzte.
Man ſchrieb ihnen
unter
anderem die Macht zu, dem Beſitzer
825201 und Sieg über ſeine Gegner zu verleihen. In Zentralaſien
erhielt
ſich die Sitte, Meteoreiſen entweder rein oder mit
telluriſchem
gemiſcht zu Waffen auszuſchmieden, noch bis zum
Beginn
der neueren Zeit.
So ließ ſich der Mongolenkaiſer
Dſchehangir
aus einem am 17.
April 1621 bei Lahore in In-
dien
gefallenen Meteoreiſen zwei Säbel, einen Dolch und ein
Meſſer
verfertigen.
In unſeren Tagen fand der Polarfahrer
I
.
Roß unter den Eskimos der Baffinsbai Meſſer und Äxte
aus
Meteoreiſen in Verwendung.
Allein nicht nur im Morgenlande, auch im Abendlande
wurde
bereits im Altertume das Herabfallen von Steinen als
eine
feſtſtehende Thatſache anerkannt, von der die Hiſtorio-
graphen
zahlreiche Beiſpiele erwähnen.
Doch hier verlor ſich
die
freundliche Auffaſſung, mit der man im Oriente dieſe
Naturerſcheinung
umgeben hatte, ſehr raſch;
der Schrecken, den
ein
ſo ungewöhnliches Phänomen hervorrufen mußte, trat bald
ſo
ſehr in den Vordergrund, daß man es nicht mehr als ein
Zeichen
des Wohlwollens, ſondern vielmehr als eines des Zornes
der
Gottheit anſah.
So erwähnten ſchon Livius, noch mehr
aber
Tacitus unter den Vorzeichen für Unglück faſt ſtets eines
Steinregens
, und die darauf folgende Zeit der Völkerwanderung
war
nicht geeignet, die düſtere Anſchauung, die ſich einmal
feſtgeſetzt
hatte, zu entwurzeln.
Als dann am Ende des Mittel-
alters
die Osmanen anfingen, furchtbar zu werden, benützte
man
Niederfälle von Steinen, die Chriſtenheit zum Kampfe
gegen
ihren Erbfeind zu entflammen.
Dies geſchah z. B. , als
am
7.
November 1492 gegen Mittag bei Enſisheim im Ober-
elſaß
ein ungefähr 150 Kilogramm ſchwerer Stein niederfiel,
von
dem durch die Fürſorge Kaiſer Maximilians I.
noch jetzt
Bruchſtücke
erhalten ſind, die älteſten, die wir überhaupt von
einem
hiſtoriſch beglaubigten Steinfalle beſitzen.
Trotz ſo vieler Nachrichten befeſtigte ſich aber merkwürdiger-
weiſe
unter den Phyſikern im Laufe des vorigen
826202 immer mehr die Meinung, alle derartigen Berichte ſeien weiter
nichts
als die Ausgeburt einer krankhaften Phantaſie, und es
könne
ihnen unmöglich wahres zu Grunde liegen, weil das
Herabfallen
von Steinen aus der Luft anerkannten Natur-
geſetzen
widerſtreite.
Wohl mögen die E@tſtellungen und Über-
treibungen
in den meiſten Berichten von Augenzeugen, die,
durch
den ausgeſtandenen Schrecken verwirrt und betäubt, alles
mögliche
geſehen haben wollten, den erſten Grund zum Leugnen
dieſes
Phänomens gegeben haben;
allein man legte dabei doch
eine
Verblendung und einen Eigendünkel an den Tag, die
geradezu
unbegreiflich ſind, indem man der vorgefaßten Meinung
zuliebe
alle, ſelbſt die beglaubigtſten Zeugniſſe, ohne ſie auch
nur
einer Prüfung zu würdigen, geradezu für Lügenberichte
oder
Sinnestäuſchungen erklärte, wie dies beiſpielsweiſe mit
der
Urkunde der Fall war, welche das biſchöfliche Konſiſtorium
zu
Agram über den Fall zweier Meteoreiſenmaſſen zu Hraſchina
am
26.
Mai 1751 um 6 Uhr abends aufnehmen ließ: nebenbei
geſagt
, die erſte urkundliche Beglaubigung eines Aërolithen-
falles
.
Ja ſelbſt noch im Jahre 1790 fand man es ſehr er-
heiternd
, daß man über eine ſolche Abſurdität ein authentiſches
Protokoll
erhalten könne, als die Municipalität von Juillac
in
der Gascogne eine mit der Unterſchrift von mehr als 300
Augenzeugen
verſehene Urkunde über den Steinfall, der ſich
dort
am 24.
Juli abends nach 9 Uhr ereignet hatte, der
Pariſer
Akademie einſendete, und konnte Bertholon nicht umhin,
eine
Gemeinde zu bemitleiden, die einen ſo thörichteu Maire
beſitze
, daß er ſolche Märchen glaube.
Unter dieſen Umſtänden iſt das Verdienſt Chladni’s nicht
gering
anzuſchlagen, der im Jahre 1794 bei Gelegenheit der
Auffindung
einer großen Maſſe gediegenen Eiſens bei Kras-
nojarsk
in Sibirien durch Pallas, welche die Koſaken für ein
vom
Himmel herabgefallenes Heiligtum hielten, den Mut hatte,
in
einer eigenen Schrift:
Über den Urſprung der von
827203 entdeckten Eiſenmaſſe und einige damit in Verbindung ſtehende
Naturerſcheinungen”
für das wirkliche Vorkommen von Aëro-
lithenfällen
einzutreten.
In dieſer für die Fortentwickelung
unſerer
Kenntniſſe der Feuermeteore epochemachenden Abhand-
lung
ſtellte er nicht nur den Satz auf, daß Steinfälle ſich in
der
.
That ſchon öfter ereignet haben, ſondern weiſt auch nach,
daß
die auf die Erde herabgefallenen Maſſen nur kosmiſch ſein
könnten
, d.
h. Ankömmlinge aus dem Weltraume, welche vorher
der
Erde und deren Atmoſphäre fremd waren.
Den letzteren
Satz
erweiterte er in ſeinen ſpäteren Schriften noch dahin, daß
dieſe
Maſſen Haufen von Urmaterie geweſen ſein dürften, die
vor
ihrer Ankunft noch keinem größeren Weltkörper zugehört
hatten
und von kometenartiger Beſchaffenheit zu ſein ſcheinen.
Als nun noch im Jahre 1794 am 16. Juni ein Steinfall zu
Siena
, im folgenden Jahre einer am 13.
Dezember bei Wold-
cottage
(Yorkjhire) ſich ereignete, traten die Deutſchen und
Engländer
ſchnell nacheinander auf die Seite von Chladni.

In
Frankreich und der Schweiz hingegen dauerte der Unglaube
noch
lange fort, bis der Bericht von Biot über den Steinfall
zu
l’Aigle (26.
April 1803) allgemeiner bekannt wurde, zu deſſen
Unterſuchung
er von der Akademie zu Paris, allerdings erſt
nach
zweimonatlichem Zögern, an den Ort ſelbſt geſchickt wurde.

Der
beſtunterſuchte Steinfall aus älterer Zeit iſt aber jener,
welcher
ſich einige Jahre ſpäter (1808 den 22.
Mai) bei Stan-
nern
in Mähren ereignete, weil gleich auf die erſte Kunde
dieſes
Vorfalles der damalige Vorſteher des k.
k. Mineralien-
kabinetts
v.
Schreibers mit ſeinem Freunde v. Widmannſtätten
dorthin
geſendet wurden, den Thatbeſtand zu ermitteln und alle
Umſtände
des Phänomens aufs ſorgſamſte zu erforſchen.
828204
XLVI. Höhe und Maſſe der Meteore.
Die erſten Höhenbeſtimmungen von Feuermeteoren rühren
zwar
ſchon von Montanari und dem bekannten Paſtor Dörffel
her
.
Der erſtere fand für die Anfangshöhe einer in Bologna
am
31.
März 1676 geſehenen Feuerkugel 40 italieniſche Meilen
und
ſchloß aus dieſer großen Höhe auf ihren kosmiſchen Ur-
ſprung
.
Der letztere berechnete die Höhe der Feuerkugel, welche
am
12.
Auguſt 1683 (alt. St.) über Deutſchland hinwegzog,
zu
39 Meilen, läßt ſich aber auf keine Hypotheſe über den
Urſprung
des Meteores ein, ſondern ſchreibt nur:
Ob und
wie
es nun mit Generation eines ſolchen angezündeten Körpers
in
einer Höhe von etlich und 30 bis 40 Meilen über der Erde,
weit
über der ordentlichen Lufft-Revier, natürlich zugehe, über-
laſſe
ich den Herren Physicis.
Doch beachtete man dieſe und
einige
ſpätere vereinzelte Höhenbeſtimmungen von Meteoren
nicht
weiter, und man konnte, ehe Brandes und Benzenberg
während
ihrer Studienjahre in Göttingen den Verſuch machten,
die
Höhe des Aufleuchtens und Verſchwindens der Sternſchnuppen
ſyſtematiſch
zu meſſen, über die durchſchnittliche Höhe dieſer
Gebilde
weiter nichts ſagen, als daß ſie ſehr bedeutend ſein
müſſe
, weil die Sternſchnuppen Beobachtern auf hohen Bergen,
namentlich
Sauſſure auf dem Mont Blanc und Humboldt auf
dem
Chimborazo noch ebenſo ferne ſchienen wie im Thale.
Um
nun
die Entfernung zu beſtimmen, ſtellten ſich 1798 Brandes und
Benzenberg zunächſt an zwei, etwa 8 Kilometer von einander
entfernten
Orten auf und notierten an beiden Standpunkten die
geſehenen
Sternſchnuppen mit Angabe der Zeit, wann, und des
Ortes
am Himmel, wo ſie erſchienen und verſchwunden waren,
ferner
ihrer Größe und anderer Eigentümlichkeiten.
Beim
nächſten
Zuſammentreffen verglichen ſie dann die Zeiten, in
denen
jeder von ihnen Sternſchnuppen geſehen, und
829205 daraus jene Beobachtungen zuſammen, welche durch ihre Gleich-
zeitigkeit
und die Ähnlichkeit der anderen notierten Umſtände
als
ein und demſelben Meteore angehörend ſich auswieſen.
Sodann gab die Verſchiedenheit des Ortes am Himmel, an
dem
die Sternſchnuppe von beiden Orten aus geſehen worden
war
, die Parallaxe und ſomit die Entfernung.
Brandes und Benzenberg hatten eine ſo kurze Standlinie
gewählt
, weil ſie die Sternſchnuppen für eine Art Wetterleuchten
hielten
, das in einer Entfernung von etwa 10 bis 15 Kilometer
vom
Erdboden vor ſich gehe.
Indes belehrten ſie gleich die
erſten
Beobachtungen, daß dieſe Anſicht eine Täuſchung geweſen
ſei
, indem die Sternſchnuppen meiſt in Höhen von mehr als
70
Kilometer, ja ſogar in ſolchen von mehr als 150 Kilometer
erſchienen
und verſchwanden.
Zur ſicheren Ermittelung von ſo
großen
Höhen war jedoch die gewählte Standlinie zu kurz, da
gerade
bei dieſer Art von Beobachtungen die unvermeidlichen
Beobachtungsfehler
ſehr bedeutend ſind und daher bei kleinen
Parallaxen
ſo ſchädlich auf das Reſultat einwirken, daß ſie ihm
alles
Vertrauen rauben.
Sie gingen daher bei ihren ferneren
Beobachtungen
auf immer längere Standlinien über und fanden
jetzt
nicht nur die enorme Höhe des Aufleuchtens und Ver-
ſchwindens
der Meteore beſtätigt, ſondern folgerten überdies
aus
ihren Beobachtungen, daß es auch ziemlich viele Stern-
ſchnuppen
gebe, welche ſich von der Erdoberfläche entfernen.
Das letztere Reſultat iſt aber geradezu unerklärlich, wenn man
annimmt
, daß die Sternſchnuppen von außen in die Atmoſphäre
eindringen
, zu welcher Annahme man unter anderem durch das
Vorkommen
periodiſcher Meteorſtröme gedrängt wird.
So
1
11Damit iſt natürlich ein wirkliches, nicht bloß optiſches Auſſteigen
gemeint
, welches letztere auch bei herabfallenden Sternſchnuppen eintreten
kann
und auch häufig genug eintritt, wenn ſie dem Beobachter ſich nähern,
wobei
ſie ſcheinbar ſogar bis zu ſeinem Zenithe auſſteigen können.
830206 ſtanden die Sachen, als Beſſel im Jahre 1839 den Gegen-
ſtand
in die Hand nahm und durch Anwendung ſchärferer
Berechnungsmethoden
und genauere Unterſuchung des Ein-
fluſſes
der Beobachtungsfehler auf das Reſultat nachwies,
daß
allerdings die großen Entfernungen, in welche Brandes
und
Benzenberg das Erſcheinen der Meteore verſetzten, un-
beſtreitbar
, daß ihre Beobachtungen jedoch nicht genau genug
ſeien
, um das Vorkommen aufſteigender Meteore über jeden
Zweifel
zu erheben.
Damit war allerdings ſchon viel ge-
wonnen
, allein der Nachweis noch nicht erbracht, daß es
keine
aufſteigende Sternſchnuppen gebe.
Denn auch nach
Beſſels
Vorſchriften berechnet, kamen in jeder größeren Beob-
achtungsreihe
vielfach aufſteigende Bahnen vor, bei denen frei-
lich
das Aufſteigen in der Regel ſo mäßig war, daß man es
durch
Annahme zuläſſiger Beobachtungsfehler in ein Fallen
verwandeln
konnte;
es fehlte indes noch der Nachweis, daß
überall
derartige Beobachtungsfehler auch wirklich begangen
worden
ſeien.
Dieſe Ergänzung lieferte erſt im Jahre 1868
Weiß, indem er zeigte, daß bei allen bisher als aufſteigend
gefundenen
Bahnen in der That gröbere Verſehen vorgefallen
waren
, und im folgenden Jahre an einer größeren Zahl von
ihm
veranlaßter korreſpondierender Beobachtungen beſtätigt
fand
, daß man nie zu aufſteigenden Bahnen geführt wird,
wenn
man bloß verläßliche Beobachtungen zu Grunde legt
und
dieſelben nach der von ihm angegebenen Methode berechnet.
Aus einer von H. A. Newton ausgeführten Zuſammen-
ſtellung
aller verläßlichen Höhenbeſtimmungen von Stern-
ſchnuppen
aus den Jahren 1798—1863 (etwa 260 an der Zahl)
folgt
für die Höhe des Aufleuchtens der Meteore im Mittel 118
und
für die Höhe des Erlöſchens 82 Kilometer.
Doch ſind dieſe
Zahlen
ſelbſtverſtändlich ſehr großen Schwankungen unterworfen,
weil
hierbei außer der Größe und Geſtalt der Meteore auch
ihre
chemiſche Beſchaffenheit, ferner die Geſchwindigkeit
831207 Richtung ihres Eindringens in die Atmoſphäre u. ſ. w. eine
bedeutende
Rolle ſpielen.
Man gelangt aber zu minder von
einander
abweichenden Reſultaten, wenn man die berechneten
Höhen
nach Meteorſchauern ſondert, in denen alle Meteore die-
ſelbe
Geſchwindigkeit und wohl auch eine ähnliche chemiſche
Konſtitution
haben.
Dies hat Weiß für die Meteore des
Laurentiusſtromes
gethan und dabei gefunden, daß für dieſe die mittlere Höhe des Erſcheinens und Verſchwindens in
117
und 87 Kilometer liegt und keine Sternſchnuppe dieſes
Stromes
in einer größeren Höhe als 180 Kilometer aufleuchtet,
während
H.
A. Newton aus zahlreichen amerikaniſchen Beob-
achtungen
vom Jahre 1863 für die periodiſchen Meteore des
13
.
November die Höhe des Aufflammens und Verlöſchens
zu
155 und 98 Kilometer beſtimmte.
A. Herſchel hat auch den Verſuch gemacht, die Maſſe der
Sternſchnuppen
aus dem Lichte zu ermitteln, das ſie entwickeln,
und
zwar auf folgende ſinnreiche Weiſe.
Kennt man von einer
Sternſchnuppe
die Entfernung und den ſcheinbaren Glanz, ſo
kann
man die Intenſität ihres Lichtes mit der einer gewiſſen
Quantität
von leuchtendem Gas numeriſch vergleichen.
Nimmt
man
nun ferner an, daß bei Gas wie bei Sternſchnuppen das
entwickelte
Licht ſich wie die Menge der erzeugten Wärme ver-
hält
, ſo kann man leicht die durch Verbrennung des Meteors
hervorgebrachte
Wärme berechnen, deren mechaniſches Äquiva-
lent
die in der Sternſchnuppe verbrauchte lebendige Kraft
darſtellt
.
Iſt nun noch die Geſchwindigkeit des Meteors be-
kannt
, ſo wird man daraus auf deſſen Maſſe ſchließen können.
A. Herſchel hat dieſe Rechnung für einige Sternſchnuppen
ausgeführt
, die gleichzeitig an verſchiedenen Punkten Englands
1
11UnterLaurentiusſtrom” verſteht man den großen Sternſchnuppen-
ſchwarm
, welchen die Erde alljährlich am 10. Auguſt, dem Tage des heiligen
Laurentius
, durchſchneidet.
832208 in den Nächten vom 9. und 10. Auguſt 1863 beobachtet wur-
den
.
Die Reſultate waren die folgenden:
11
Glanz
wie # Zahl der \\ beob. Met. ## Mittleres \\ Gewicht
Venus
. . . . . . . # 2 # 1953 # Gramm
Jupiter
. . . . . . . # 2 # 2996 # "
Sirius
. . . . . . . # 7 # 358 # "
Wega
. . . . . . . # 1 # 29 # "
Atair
. . . . . . . # 3 # 10 # "
Marfik
(a Perſeus) . . . # 4 # 6 # "
Cor
Caroli (a Jagdhunde) # 1 # 6 # "
Da der größte Teil der Sternſchnuppen unter dem Glanze
der
hier angeführten größeren Geſtirne ſteht, wird das Gewicht
der
kleinen Meteore nur Bruchteile von Grammen betragen.
In der That fand A. Herſchel bei 5 Meteoren des 12. November
1865
das mittlere Gewicht nur 0,36 Gramm.
XLVII. Was wir heimbringen.
Wir haben heitern Sinnes den Ausflug in das Weltall
begonnen
;
aber der ernſte Inhalt deſſen, was wir auf dieſer
Reiſe
in uns aufgenommen, hat uns unwillkürlich zum Ernſte
geſtimmt
.
Sollen wir jetzt, wo wir den Ausflug beenden,
unſerm
Gefühl Folge leiſten, ſo müſſen wir geſtehen, daß wir
in
ſehr gemiſchter Stimmung von dieſem Thema ſcheiden.
Soll es uns heiter und leicht über all die ſchweren Gedanken
und
Rätſel emporheben, daß der Menſch durch die Wiſſenſchaft
vermocht
hat, bis in ſo ungeahnte Fernen hinein den forſchenden
Blick
zu richten?
oder ſollen wir uns von dem Gedanken
niederdrücken
laſſen, daß der Menſch ſo geringfügig, die
833209 ſeines Daſeins ſo winzig, und all ſeine Werke ſo vergänglich
ſind
gegenüber den Größen, gegenüber den Fernen, gegenüber
den
Ewigkeiten, gegenüber den Unvergänglichkeiten, die ihm
aus
dem Himmelsraum entgegenleuchten?
Wer vermag das
Richtige
hier zu treffen!?
Bald erhebt uns das ſtolze Bewußt-
ſein
, daß wir den wiſſenden und ſchauenden Weſen der Erde
angehören
, die den Himmeln ihre Geheimniſſe abgelauſcht
haben
;
bald wieder erwacht der Wiſſensdurſt in uns, der un-
befriedigt
mit allem Geſundenen und Erforſchten uns zuruft,
daß
wir erſt an der unterſten Stufe der Naturerkenntnis ſtehen,
und
Geſchlechter auf Geſchlechter zu Jahrtauſenden noch dahin
gehen
werden, ehe ſich eines wird rühmen dürfen, den Schleier
der
Ewigkeit gelüftet zu haben.
In ſolch gemiſchten Gefühlen bleibt uns nichts anderes
übrig
, als mit heiterm Ernſt von den Wundern des Weltalls
zu
ſcheiden, mit jenem heitern Ernſt, der fern bleibt vom hoch-
mütigen
Stolz, wie von niederdrückender Demut, und der
uns
tröſtet und beſänftigt durch den Zuruf, daß wir die Auf-
gabe
unſeres Daſeins erfüllen in der ernſten Pflege des Geiſtes,
und
, wenn wir dies Tagewerk vollbracht, heiter von dem Werk
und
dem Daſein ſcheiden dürfen im Bewußtſein, für die kommen-
den
und weiter forſchenden Geſchlechter nach uns gelebt zu haben.
Und dieſen Zuruf wollen wir als Ausbeute heimbringen
von
der Reiſe ins ferne Weltall;
denn das Sonnenſyſtem,
das
wir eigentlich bis an die Grenzen des gegenwärtigen
Wiſſens
durchſtreift haben, es lehrt uns in ſeiner ungeheuren
Größe
ebenfalls dieſe ernſte Beſcheidenheit, wenn wir es mit
dem
Weltall ſelbſt vergleichen, aus welchem die Fixſterne ihr
Licht
zu uns ſenden.
Wir haben geſehen, wie winzig ein Menſch iſt gegen eine
einzige
Kubik-Meile.
Wir haben geſehen, wie winzig eine
Kubik-Meile
iſt gegen den einen Planeten, die Erde.
Wir
haben
geſehen, wie winzig die Erde iſt gegen die Sonnenkugel.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
834210
Wir haben geſehen, wie die Sonnenkugel zu einem leuchtenden
Pünktchen
verſchwindet, wenn man ſich in die Ferne verſetzt,
bis
wohin der Komet vom Jahre 1680 ſich verliert.
Wir
haben
geſehen, wie wiederum dieſe ungeheure Bahn verſchwindet
im
Vergleich mit dem ganzen Gebiet, in welchem die Sonnen-
Anziehung
nach allen Seiten hin herrſcht.
Wenn wir aber nun deshalb kleinmütig werden ſollen
gegenüber
der Größe des ganzen Sonnenſyſtems, ſo lehrt uns
ein
Blick in die Welt der Fixſterne, daß auch dieſe Größe
nichtig
und verſchwindend iſt und zu einem Punkt zuſammen-
ſchrumpft
, wenn ſich der Geiſt auch nur erhebt zum nächſten
Fixſtern
, zum nächſten Nachbar unſerer Sonne.
Und deshalb wollen wir ſcheidend nicht zurück, ſondern
vorwärts
blicken, und mit heiterm Ernſt auf jene erhabene Er-
weiterung
der Wiſſenſchaft hinweiſen, die erſt in der aller-
neueſten
Zeit begonnen hat, auf die Erweiterung der Aſtronomie,
die
in den letzten Jahrzehnten über das Gebiet des Sonnen-
ſyſtems
hinausgeſchritten und den Forſcherblick auf das Gebiet
der
Fixſterne gerichtet hat.
Wir kehren ſpäter zu dieſem allerneueſten Zweig der Aſtro-
nomie
zurück;
für jetzt wollen wir nur Einiges von den Re-
ſultaten
dieſer Wiſſenſchaft vorführen, damit wir ſo recht inne
werden
, wie das ganze Sonnenſyſtem im Weltall nur einem
Sonnenſtäubchen
, neben den Erdball gehalten, gleicht.
Der unſterbliche Beſſel war es, der ſich die Aufgabe ſtellte,
unter
den Millionen und Millionen von Fixſternen denjenigen
aufzuſuchen
, der aller Wahrſcheinlichkeit nach der nächſte der
Sonne
iſt.
Er fand, daß dies nicht einer der hell leuchtenden
Sterne
erſter Größe iſt, die am nächtlichen Himmel leuchten,
ſondern
ein kleiner, unſcheinbarer Stern im Sternbild des
Schwans
, deſſen beſcheidener nächſter Nachbarſchaft wir uns
rühmen
dürfen.
Und wie weit entfernt iſt dieſer nächſte
Nachbar
?
Er iſt ſo weit entfernt, daß das Licht,
835211 40 000 Meilen in jeder Sekunde dahinfliegt, volle neun Jahre
und
drei Monate braucht, um von der Sonne bis zu ihm zu
gelangen
.
Wollte man eine Kanonenkugel nach dem Stern
hin
abſchießen, die in jeder Sekunde eine Meile fliegt, ſo
würde
die Kugel über 360 000 Jahre fliegen müſſen, um hin-
zugelangen
.
Spätere Meſſungen der Aſtronomen Henderſon und
Maclear am Kap der guten Hoffnung ergaben, daß ein anderer
in
Europa unſichtbarer Fixſtern erſter Größe im Sternbild des
Centauren
dem Sonnen-Syſtem noch näher ſtehe.
Er iſt ſo
weit
entfernt, daß ſein Lichtſchon” in drei Jahren und ſechs
Monaten
zu uns kommt, iſt demnach faſt nur ein Drittel ſo
weit
als der von Beſſel berechnete Stern im Schwan.
Von dem ſchönen Stern Wega im Sternbild der Leyer
haben
wir ſchon einmal geſprochen;
auch ſeine Entfernung iſt
gemeſſen
;
der Aſtronom Struve fand ſie derart, daß das Licht
fünfzehn
Jahre und acht Monate braucht, um zu uns zu ge-
langen
.
Der Aſtronom Rümker in Hamburg hat einen andern
glänzenden
Stern, Arctur im Sternbild des Bootes, unterſucht
und
deſſen Entfernung auf fünfundzwanzig Jahre ſieben
Monate
Lichtzeit geſchätzt.
Endlich hat Peters in Pulkowa
den
Polarſtern gemeſſen und deſſen Entfernung ſo gefunden,
daß
das Licht dreißig Jahre und acht Monate Zeit braucht,
um
zu uns zu gelangen.
Tiefer noch hinaus in den Weltraum dringen die For-
ſchungen
Argelanders und Mädlers über die großen Sternen-
Ringe
, die als die Milchſtraße am Himmelsdom bekannt ſind.
Nach einer höchſt geiſtvollen Abhandlung Mädlers iſt die
Milchſtraße
ſo groß, daß das Licht von einem Ende zum andern
erſt
in 7768 Jahren dringt.
Die Sonne, die auch ein Stern
iſt
, der zur Milchſtraße gehört, ſteht nicht in der Mitte des
Syſtems
, ſondern etwas ſeitwärts, und zwar ſo, daß das Licht
der
einen nähern Seite in 3371, das Licht der
836212 Seite erſt in 4408 Jahren zu uns dringt. Wundervoller noch
ſind
die Entdeckungen im Gebiete der Doppelſterne, d.
h. ſolcher,
welche
mit bloßem Auge wie ein einziger Stern ausſehen, die
aber
mit Fernröhren unterſucht ſich als zwei Sterne zeigen,
die
um einander kreiſen.
Über all’ dies aber gehen die
wundervollen
Unterſuchungen engliſcher Aſtronomen über die
Nebelflecke
, von denen ſich ſehr viele als einzelne Gruppen von
Fixſternen
erweiſen, die Millionen und millionenfach bei ein-
ander
zu ſtehen ſcheinen und ſo entfernt ſind, daß ſie alle bei-
ſammen
nur als ein helles, ſchimmerndes Fleckchen am dunkeln
Himmel
erſcheinen.
Und wenn im jetzigen Augenblick, wo wir von ſolchen
Fernen
ſprechen, ein vernunftbegabtes Weſen auf einem jener
Sterne
oder deſſen uns ganz unſichtbaren Planeten das Auge
hierher
richtet, ſo ſieht es die ganze, ungeheure Milchſtraße
auch
nur als einen ſehr kleinen Nebelflecken;
in dieſem kleinen
Nebelflecken
iſt ein ſicherlich nicht mehr ſichtbares, winziges
Pünktchen
unſere Sonne, die einer der kleinſten unter den
Fixſternen
, unter zahlloſen anderen Sonnenkörpern iſt, und
wenn
jenes Weſen dort geiſtbegabt iſt, ſinnt es vielleicht darüber
nach
, ob nicht auch hier Weſen ſind, die fühlen und ſinnen;
und in Wiſſensdrang und Forſcher-Sehnſucht kommt ein Gruß
herüber
aus der weiten, weiten Ferne, und begegnet dem
Gedankengruß
, den auch wir aus ahnungsvollem Herzen hin-
über
ſenden!
Soll uns dies ſtolz, ſoll uns dies demütig machen? Soll
dies
Schwermut, ſoll es in uns Hochmut wecken?
Wahrlich
nicht
! Aber einen heiter ernſten Sinn darf es in uns anregen,
einen
heiter ernſten Sinn für alles, was den Geiſt bereichert,
einen
heiter ernſten Sinn, den ſo wünſchen wir’s von
Herzen
auch unſere Leſer heimbringen mögen von unſerer
flüchtigen
Weltreiſe!
837
Über die Grötze der Erdbahn.
I. Der Zollſtock der Aſtronomie.
Im Reiche der Natur, im Reiche der ewigen Geſetzlichkeit
und
der unabwendbaren Ordnung, walten nicht Wunder und
nicht
Willkür;
darum ergiebt auch der Einblick in die Menſchen-
geſchichte
, daß die Geiſtes-Freiheit erſt dann ganze Völker er-
leuchtet
und ſie entfeſſelt aus den Schlingen des Vorurteils
und
den Banden der Knechtſchaft, wenn ſie bis zur Kenntnis
der
Natur und ihrer Geſetze heranreifen, und im Fortſchritt
ihres
Wiſſens die Bürgſchaft für den Fortſchritt ihrer Ent-
wickelung
finden.
Wenn wir uns daher der Betrachtung der Natur und
ihrer
Geſetze, dem Gebiete des realen Wiſſens und den Ergeb-
niſſen
ihrer fortſchreitenden Erfortſchung zuwenden, werden wir
der
Aufgabe nicht abtrünnig, am Aufbau der Freiheit zu ar-
beiten
.
Es herrſcht eine erhabenere Solidarität im Reiche der
Wahrheiten
, als die Feinde es ahnen.
Es iſt die Wahrheit
eine
Kette, die Glied an Glied hangend, ſtets zum ſelben Ziele
leitet
.
Pflege die Liebe zu ihr nur getroſt auf unverwehrten
Gebieten
, und ſie wird bald deine Leuchte ſein auf Gefilden,
wo
nächtliches Dunkel herrſcht.
So folge uns denn, Du treuer Leſer, auf der Bahn
838214 Fortſchrittes, wo keine der Errungenſchaften mehr der Umkehr
verfällt
.
Wohl wiſſen wir’s, wir leiten Dich fern, ſehr fern
ab
von allem, was Dein Herz bewegt;
aber Du wirſt Dich
immer
und ſtets zur rechten Stunde wieder finden, ſobald Du
nur
unabwendbar die Liebe zur Wahrheit in Dir wach erhältſt.
Je unbeſiegbarer dieſe in Dir Wurzel ſchlägt, je lichter ſie Deinen
Geiſt
macht, deſto inniger wird ſie Dein ſein, wo Du ihrer
anderweitig
bedarfſt.
Wir leiten Dich weit, weit hinaus in die Ferne des Welt-
raumes
, in welchem die Wiſſenſchaft der Himmelskunde dem
Menſchengeiſt
eine freie Bahn geſchaffen.
Wir wollen Dir von
den
Fortſchritten in dieſem Bereiche des Forſchens getreulich
das
Neue berichten.
Wir werden Dir von Ergebniſſen er-
zählen
, welche die Löſung ſchwieriger Berechnungen von den
Wirkungen
der Anziehungskraft herausgefördert.
Wir laden
Dich
ein, uns auf den Flügeln des Lichtſtrahls zu begleiten,
durch
welchen neue Forſcher-Verſuche weite Fernen ſicherer als
je
bisher gemeſſen.
Wir werden Dir auch von der Feinheit
der
Beobachtungen erzählen, welche durch eine eigentümliche
Planeten-Konſtellation
im Sommer des Jahres 1862 be-
günſtigt
, zu zuverläſſigeren Ergebniſſen als zeither geführt
haben
.
Du wirſt, wenn Du uns getreulich folgſt, Erbauung
und
Erholung empfinden in der Wahrnehmung, wie auf dem
Gebiete
in der unverkümmerten Forſchung die Wahrheit zu
harmoniſchen
Reſultaten führt, und wie übereinſtimmend der
geiſtige
Fortſchritt hier iſt, ſelbſt wenn er, wie in unſerm Falle,
von
drei ganz verſchiedenen und von einander völlig unab-
hängigen
Wegen ſeinen Aufgaben entgegenſtrebt.
Und ſomit zur Sache.
Der geſamten Meß-Kunſt unſerer weit in den Weltraum
hinausdrängenden
Himmelskunde liegt als Hauptmaßſtab die
Entfernung
der Erde von der Sonne zu Grunde.
Nur die
Entfernung
des Mondes von der Erde kann direkt in
839215 nügender Sicherheit mit unſeren Inſtrumenten gemeſſen
werden
.
Der Mond iſt der Erde noch ſo nahe, daß der
Raum
auf der Erdoberfläche beträchtlich genug iſt, um zwei
Orte
auszuwählen, wo man in demſelben Augenblick Fernröhre
nach
dem Monde richtet, um aus den verſchiedenen Winkeln,
die
die Fernröhre mit dem Horizonte des Ortes machen, die
Entfernung
des Mondes zu meſſen.
Anders verhält es ſich
indeſſen
mit der Sonne.
Dieſe iſt ſchon ſo weit von der
Erde
, daß der Durchmeſſer der Erdkugel dagegen verſchwindend
klein
erſcheint.
Wollte man zur Zeit der Tag- und Nacht-
gleiche
ein Fernrohr am Südpol der Erde und eines am
Nordpol
der Erde aufſtellen, und beide im ſelben Augenblicke
zur
Sonne richten, ſo würden beide Fernröhre parallel oder
ſenkrecht
auf der Axe der Erde zu ſtehen ſcheinen;
der
Winkel
, um welchen ſie von dieſer Lage abweichen, iſt jeden-
falls
ſo klein, daß er kein ſicheres Reſultat der Meſſung mehr
zuläßt
.
Gleichwohl iſt die Entfernung der Erde von der Sonne
gewiſſermaßen
der Zollſtock, durch den man alle anderen Ent-
fernungen
im Himmelsraum beſtimmt.
Wie man mit einem
ungenauen
Zollſtock keinen Raum ſicher ausmeſſen kann, ſo
vermag
man auch, wenn man die wirkliche Entfernung der
Erde
von der Sonne nicht kennt, keine andere Entfernung, ſei
es
die eines Planeten oder Kometen oder gar eines Fixſternes,
abſolut
anzugeben.
Im Bereiche der Wiſſenſchaft iſt dies eine längſt bekannte
Thatſache
.
Man findet daher in fachwiſſenſchaftlichen Werken
niemals
eine poſitive Angabe der Meilenzahl für irgend welche
Entfernung
eines Himmelskörpers aufgeſtellt, ſondern begnügt
ſich
mit der Feſtſtellung einer Verhältnis-Zahl, das heißt:
man
giebt
an, wie ſich die fragliche Entfernung zu der Entfernung
der
Erde von der Sonne verhält, um wie viel ſie größer oder
kleiner
als dieſe iſt.
840216
Die Entfernung der Sonne von der Erde beträgt etwa
20
Millionen Meilen wie aber hat man das wohl
feſtgeſtellt
?
II. Die Venus-Durchgänge.
Der Verſuch, die Entfernung der Sonne von der Erde
zu
meſſen, wurde bereits im hohen Altertum angeſtellt allein
die
Griechen, die Träger und Pfleger aller exakten Wiſſen-
ſchaften
, erkannten auch ſchon, daß dieſe Entfernung für ihre
wiſſenſchaftlichen
Hilfsmittel unermeßlich ſei, und ſie begnügten
ſich
daher mit Annahmen, die mehr auf Vermutungen als auf
ſicheren
Grundlagen der Forſchungen beruhten.
Erſt mit dem Erwachen der Wiſſenſchaften in Europa
nach
den finſtern Zeiten des glaubensſtarken Mittelalters kam
man
auf Methoden, dieſe Frage gründlicher zu löſen, wozu
freilich
ſehr viel gehörte, was den Griechen nicht zu Gebote
ſtand
.
Vor allem gehört zu der Methode, von der wir nun-
mehr
ſprechen wollen, die Kenntnis von der Thatſache, daß
der
Planet Venus zuweilen in ſeinem Umlauf um die Sonne
ſo
vor der Sonnenſcheibe vorüberwandert, daß wir die Venus-
kugel
als ſchwarzen, runden Flecken den lichten Hintergrund der
Sonne
durchſchreiten ſehen.
Dieſe ſeltene, in einem Jahr-
hundert
höchſtens zweimal vor ſich gehende Himmelserſcheinung,
deren
Beobachtung die Grundlage der Kenntnis der Sonnen-
Entfernung
iſt, war in alten Zeiten, wo man kein Fernrohr
beſaß
, unbekannt.
Ferner gehört zur Anwendung dieſer Methode die Kennt-
nis
eines Geſetzes über das Verhältnis der Umlaufszeiten der
Planeten
zu ihren Entfernungen von der Sonne, welches
841217 erſt von Kepler im Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts ent-
deckt
wurde.
Endlich beruht der Vorzug dieſer Methode auf dem Ge-
brauch
der Uhr als genaues Zeitmaß, welche die Alten eben-
falls
nicht beſaßen.
Nach mehrfachen vergeblichen Bemühungen, die Entfernung
der
Erde von der Sonne mit einiger wiſſenſchaftlichen Sicher-
heit
feſtzuſtellen, erwarb ſich der engliſche Aſtronom Halley
den
Ruhm, die Methode, welche bis auf die neueſte Zeit als
die
einzig ſichere galt, erdacht und in der Forſcherwelt bekannt
gemacht
zu haben.
Die Art, wie er dies that, und der Um-
ſtand
, daß er die Beobachtung einer Himmelserſcheinung zur
Erforſchung
der Wahrheit ſo dringend der Nachwelt anempfahl,
von
der er wußte, daß er ſie nicht erleben werde, ſind ſo ſchlicht
und
anſprechend, daß wir gern einige ſeiner Worte hierüber
unſern
Leſern vorführen.
Halley war der große Aſtronom, der, wie wir ſchon oben
hörten
, die Wahrheit entdeckte, daß die Kometen, die bis zu
ſeiner
Zeit Gegenſtände abergläubiſcher Furcht waren, Himmels-
körper
ſeien, welche in regelmäßigen und berechenbaren Bahnen
um
die Sonne laufen.
Halley war aber eben ſo zuverläſſig
in
den Beobachtungen, wie in den Rechnungen, und gehört
überhaupt
zu den hohen Geiſtern der Bildung und Aufklärung,
die
in glänzender und erfolgreicher Weiſe den Geiſt der
Menſchheit
von vielen Übeln des Aberglaubens und der Vor-
urteile
nicht nur für ihre, ſondern auch für die folgenden
Zeiten
befreiten.
Über die Methode, die Sonnen-Entfernung zu meſſen,
ſagt
er nun in ſeiner Abhandlung Folgendes:
Es giebt viel Dinge in der Welt, die auf den erſten Blick
ſonderbar
, ja unglaublich erſcheinen, und die dennoch wahr und
mit
Hilfe der Mathematik leicht zu beweiſen ſind.
Was ſollte
es
wohl Schwereres geben als die Beſtimmung der
842218 der Sonne von der Erde? Gleichwohl iſt dieſe Beſtimmung
leicht
, ſobald ihr nur die nötigen Beobachtungen vorangehen,
wie
ich ſogleich zeigen werde.
Vor vierzig Jahren (im Jahre 1677) war ich auf der
Inſel
St.
Helena, um daſelbſt die Sterne des ſüdlichen Himmels
zu
beobachten.
Zufällig ereignete ſich in dieſer Zeit ein Durch-
gang
des Planeten Merkur vor der Sonnenſcheibe.
Indem ich
dieſen
mit einem guten Fernrohr beobachtete, bemerkte ich bald,
daß
ſich dieſe Erſcheinungen mit beſonderer Genauigkeit ver-
folgen
laſſen.
Dabei fiel mir ein, daß durch ſolche Beob-
achtungen
wohl die Entfernung des Merkur von der Erde
könnte
gemeſſen werden und daß ſich hiernach auch die Sonnen-
Entfernung
genau durch Berechnung müßte finden laſſen.
Allein bei näherer Erwägung erkannte ich ſofort, daß der
Planet
Merkur der Sonne zu nahe und der Erde zu fern iſt,
um
auf dieſem Wege zu einem ſichern Ziele zu gelangen.
Aber bei Venus fiel mir ein iſt dies Verhältnis
viel
günſtiger.
Denn dieſer Planet kommt der Erde im Mo-
ment
, wo er als ſchwarzer Fleck auf der Sonnenſcheibe ſicht-
bar
iſt, viel näher als Merkur.
Zwei Beobachter auf ver-
ſchiedenen
Punkten der Erde würden in einem und demſelben
Augenblick
dieſen Flecken auf verſchiedenen Stellen der Sonnen-
ſcheibe
erblicken.
Dadurch aber würde ſich ſofort verraten, um
wie
viel uns die Venus näher ſein muß als die Sonne und
bei
genauer Beobachtung würde die Grundlage gegeben ſein,
dieſe
Enfernungen zu berechnen.
Halley weiſt nun nach, daß es hierbei gar nicht einmal
einer
Meſſung bedarf, ſondern nur ein gutes Fernrohr und
eine
gute Uhr nötig ſind, um an verſchiedenen Orten der Erde
die
Dauer des ganzen Durchganges der Venus durch die
Sonnenſcheibe
genau zu notieren.
Dieſe Dauer wird, wie er
richtig
zeigt, ſehr verſchieden ſein, je nachdem man ſich auf
einem
Punkte der Erde befindet, wo man die Erſcheinung
843219 Zenith hat, oder auf einem, wo man ſie im Horizonte ſieht.
Im erſteren Falle iſt man der Venus um einen Halbmeſſer
der
Erdkugel näher, und die Dauer des Durchganges wird
etwas
kürzer ſein, während man im letzteren Falle der Venus
um
den Halbmeſſer der Erdkugel ferner iſt, und demnach den
Durchgang
der Venus etwas langſamer ſehen wird.
Aus dem
Unterſchied
dieſer Dauer aber würde ſich eben die Entfernung
von
Venus ergeben, und hieraus läßt ſich nach dem Keplerſchen
Geſetz
die Entfernung von der Sonne ſehr leicht finden.
Halley berechnete nun den nächſten Durchgang der Venus
und
fand, daß er erſt am 26.
Mai 1761 ſtattfindet. Da er
im
Jahre 1656 geboren war, wußte er ſehr wohl, daß er
dieſe
Erſcheinung nicht mehr erleben werde.
Er ſchließt daher
ſeine
Abhandlung hierüber mit folgenden ſchlichten Worten, die
ein
ſchönes Zeugnis ſeiner Geiſtesgröße wie Seelentiefe ſind:
Ich empfehle daher dieſe Methode auf das dringendſte
allen
Aſtronomen, welche Gelegenheit haben ſollten, dieſe Er-
ſcheinung
zu einer Zeit zu beobachten, wenn ich ſchon ge-
ſtorben
ſein werde.
Mögen ſie dieſes meines Rates ein-
gedenk
ſein, und ſich recht fleißig mit aller ihrer Kraft auf
dieſe
wichtigen Beobachtungen verlegen.
Ich wünſche ihnen
von
Herzen, daß ſie erſtens durch ungünſtiges Wetter des er-
ſehnten
Anblicks nicht beraubt werden, und dann, daß ihnen,
wenn
ſie die wahre Größe der Planeten-Bahnen mit mehr
Genauigkeit
beſtimmt haben, hierdurch unſterblicher Ruhm und
Ehre
erſprieße!
Dieſe weiſen Worte der Wahrheitsliebe und der Geiſtes-
größe
ſind von den Überlebenden in vollem Maße beachtet
worden
, wie wir dies nunmehr zeigen werden.
844220
III. Ergebniſſe der Beobachtungen der Venus-
durchgänge.
Die Geſchichte der Aſtronomie iſt reich an prophetiſchen
Blicken
, welche die wiſſenſchaftlichen Aufgaben der Zukunft
ſamt
ihren Erfolgen lange Zeiten vorher bezeichnen.
Solch
ein
Blick prophetiſcher Natur war auch der Halleys:
ſein Hin-
weis
auf die Arbeit derer, die ihn überleben werden, hat ſich
vollkommen
beſtätigt.
Neunzehn Jahre nach dem Tode des großen Mannes trat
im
Jahre 1761 der Durchgang des Planeten Venus durch die
Sonnenſcheibe
ein, und die Aſtronomen verabſäumten nicht,
die
ihnen geſtellte Aufgabe zu erfüllen.
Allein Halley ſelber
hatte
ſchon darauf hingewieſen, daß acht Jahre darauf, am
3
.
Juni 1769, die Erſcheinung wiederum und zwar unter
Umſtänden
ſtattfände, die der Beobachtung günſtiger ſein
würden
, und ſo wurde denn von den Trägern der Wiſſenſchaft
damaliger
Zeit alle Aufmerkſamkeit auf dieſes Himmels-Ereignis
gerichtet
, von welchem jeder wußte, daß er eine dritte noch-
malige
Wiederholung nicht erleben würde.
Die Bahn, in welcher Venus um die Sonne läuft, und
das
Verhältnis der Zeit dieſes Umlaufs zur Umlaufszeit der
Erde
iſt nämlich ſo beſchaffen, daß die Wiederholung der be-
ſprochenen
Erſcheinung zwei ſehr ungleiche Epochen hat.
Wenn
Venus
einmal zwiſchen Erde und Sonne ſo hindurchgegangen
iſt
, daß ſie uns als ſchwarzer Flecken auf der Sonnenſcheibe
ſichtbar
wird, ſo folgt dieſe Erſcheinung nochmals nach circa
acht
Jahren.
Nach dieſem zweiten Durchgang vergeht aber
mehr
als ein ganzes Jahrhundert, bevor dies Ereignis
wiederum
eintritt.
Die letzten beiden Durchgänge, die
ſehr
eifrig beobachtet wurden, fanden ſtatt am 9.
Dezember
1874
und am 6.
Dezember 1882; den nächſten aber
845221 keiner unſrer Leſer mehr erleben, da er erſt am 8. Juni 2004
ſtattfindet
.
Im Bewußtſein, daß der letzte Termin zur Erforſchung
der
Entfernung der Sonne für das lebende Geſchlecht des
vorigen
Jahrhunderts in das Jahr 1769 falle, wurden denn
auch
die Vorbereitungen zur würdigen Benutzung der Gelegen-
heit
in außerordentlichem Grade getroffen.
Es galt, die an-
gemeſſenen
Orte der Erde aufzuſuchen, wo die Erſcheinung
mit
Ausſicht auf Erfolg wahrgenommen werden konnte.
Es
galt
auch zugleich, viele Beobachter in all jenen Gegenden nach
verſchiedenen
Plätzen zu beordern, damit ihre Beobachtungen
ſich
gegenſeitig zu ergänzen vermochten, und um ſich zu ſichern
gegen
trübe Witterung, die an einem und demſelben Orte ſämt-
liche
Beobachtungen ſtören konnte.
Die Aſtronomen wandten
ſich
daher an ſämtliche Regierungen, um deren Wetteifer zur
Erreichung
eines ſichern Ergebniſſes anzuſpornen, und es
wurden
Expeditionen ſyſtematiſch ausgerüſtet, um auf allen
Punkten
der Erde, die für dieſen Zweck geeignet erſchienen,
die
koſtbaren Stunden ausbeuten zu können.
Während Frankreich ſeine Gelehrten nach Kalifornien, nach
St
.
Domingo und nach Oſtindien ausſandte, beſetzte die Akademie
der
Wiſſenſchaften in London die Poſten in Nordamerika,
Madras
und Otaheiti.
Die Kaiſerin Katharina von Rußland
ließ
Gelehrte und aſtronomiſche Inſtrumente aus Deutſchland
und
der Schweiz kommen und ſtattete und rüſtete damit wiſſen-
ſchaftliche
Expeditionen in die Nordpolgegenden aus.
Überdies
nahmen
auch Gelehrte und Laien in allen Teilen Europas an
dem
Ereignis regen Anteil und beeiferten ſich, ihre Dienſte
der
Wiſſenſchaft anzubieten und darzubringen.
So brachte denn der Durchgang der Venus vom Jahre
1769
ein ſehr reichhaltiges, wiſſenſchaftliches Beobachtungs-
Material
zuſammen, und es galt nunmehr dies zu prufen, zu
ſichten
und aus den zuverläſſigſten derſelben das
846222 zu gewinnen; es galt einer Arbeit, die bei weitem ſchwieriger
war
als die Beobachtung ſelbſt, zu der nichts als ein ruhiges
Auge
, ein gutes Fernrohr, eine richtig gehende Uhr und ein
gewiſſenhaftes
, ſicheres Notieren der Erſcheinung nötig war.
Die Aſtronomen von England, Frankreich und Schweden
verabſäumten
nicht, die Ergebniſſe ihrer Berechnungen bekannt
zu
machen, der Ruhm jedoch, die beſte, umfangreichſte und
ſicherſte
Arbeit hierüber geleiſtet zu haben, gebührte dem ehe-
maligen
Direktor der Berliner Sternwarte, Encke, deren
Reſultate
bis in neuere Zeit Gemeingültigkeit in allen wiſſen-
ſchaftlichen
Werken gewonnen haben.
Nach Durchmuſterung und Prüfung aller brauchbaren
Materialien
ſowohl aus dem Venus-Durchgang des Jahres
1761
wie dem des Jahres 1769 lieferte Encke 1825 ſein
zweibändiges
Werk:
Die Entfernung der Sonne”, welche den
jungen
Forſcher zu einer Autorität in ſeinem Gebiete machte
und
ſeinem gefundenen Reſultat allgemeine Annahme verſchaffte.
Nach dieſem Reſultat iſt die Entfernung der Sonne ſo groß,
daß
zwei Linien, die eine vom Mittelpunkt der Erde und die
andere
von einem der Pole der Erde nach einem Punkt in der
Sonne
hingezogen, dort einen Winkel von nur 8 {1/2} Sekunden
bilden
würden, und das iſt ein ſo kleiner Winkel, daß er in
der
That durch direkte Meſſung nur ſehr unſicher würde be-
ſtimmt
werden können.
Dieſes Reſultat in geographiſchen Meilen
ausgedrückt
, von welchen 15 auf einen Grad des Äquators
der
Erde gehen, ergiebt eine Entfernung der Sonne von
20
Millionen und 680 000 Meilen, wobei noch eine Unſicher-
heit
von circa 90 000 Meilen obwaltet.
So ſind denn bis jetzt die Durchgänge der Venus als
das
Hauptmittel zur Beſtimmung der Sonnen-Entfernung
geltend
geweſen, und ſo mußte es denn auch bei den bisher feſt-
geſtellten
Reſultaten verbleiben, und es ſchien kaum möglich,
mindeſtens
bis zu der Zeit, wo wiederum zwei ſolche
847223 gänge ſtattfanden (1874 und 1882), eine Korrektur dieſe@ Werte
zu
erlangen.
Allein die neueſte Zeit hat trotzdem bewieſen,
daß
die Wiſſenſchaft, die Heil uns! nicht umkehrt, auch
nicht
einmal ſtill ſtehen will, ſondern im Fortſchritt des
Menſchengeiſtes
ſtets ſich ergänzt, auch in dieſem Punkte nach
neueren
Bahnen zur richtigern Würdigung und Ergänzung
erkannter
Wahrheiten ſtrebt.
IV. Die Störungen des Mondlaufs.
Um unſeren Leſern treuen Bericht zu erſtatten von dem
ſtets
regen Fortſchritt des Geiſtes in dem Bereiche der Natur-
wiſſenſchaft
, um ihnen ein erhebendes Beiſpiel ausdauernder
und
konſequenter Forſchungen vorzuführen, die auf dieſem
Gebiete
auch in neueſter Zeit zu Ergebniſſen geführt haben,
auf
welche wir mit dem tröſtlichen Bewußtſein hinblicken dürfen,
daß
Licht und Wahrheit unvertilgbar ſiegreich walten, um all
dies
faßlich und in geordneter Reihenfolge darzuſtellen, müſſen
wir
für einen Augenblick die fernen Himmelsräume der Planeten-
bahnen
verlaſſen, um bei unſerem nächſten Nachbar, dem Monde
vorzuſprechen
, deſſen ſtiller Gang am Himmelszelt ſeinen ver-
trauten
Freunden, den Aſtronomen, viel mehr erzählt als all
die
ahnen, welchevon Wiſſensqualm entladen, in ſeinem Licht
geſund
ſich baden.
Unſer Mond ſpielt im Organismus des Sonnen-Syſtems
eine
Rolle wie der Puls im Organismus des menſchlichen
Körpers
.
Wie der Arzt an der Verlangſamung oder Be-
ſchleunigung
des Pulsſchlages die Hemmungen und Störungen
der
Ordnung erkennt, denen das Herz ausgeſetzt iſt, und den
Reiz
der Nerven ermißt, die als Triebkraft in
848224 wirken, ſo erkennt der Himmelskundige an jeder Verzögerung
und
Beſchleunigung im Lauf des Mondes um die Erde, die
Verſchiedenheiten
in der Einwirkung der Anziehungskraft, die
die
Erde auf den Mond ausübt, oder richtiger die Ver-
ſchiedenheit
der Nähe und der Ferne, in welcher ſich der Mond
zeitweiſe
zur Erde befindet.
Nun aber giebt es viele Urſachen für die zei@weiſe Ver-
ſchiedenheit
des Mondlaufs am Himmelsdome.
Zuerſt iſt die
Mondbahn
ſelber nicht ein Kreis, ſondern eine Ellipſe, in deren
einem
Brennpunkt die Erde ſich befindet.
Der Mond kommt
alſo
in ſeinem Umlauf allmonatlich auf einem Teil ſeiner
Bahn
der Erde näher, als auf dem andern Teile, und in einem
durch
Geſetze längſt feſtgeſtellten Maße bewegt er ſich während
ſeiner
Erdnähe geſchwinder in ſeiner Bahn, als in der Erdferne.
Dieſe Ungleichheit im Mondlaufe tritt jeden Monat ein und
gleicht
ſich denn auch in dem Monat aus.
Es iſt dieſe Ungleich-
heit
wie der Pulsſchlag eines geſunden Menſchen, der auch gegen
Abend
etwas ſchneller und gegen Morgen etwas langſamer geht,
in
vierundzwanzig Stunden aber in ſeinem Durchſchuittsgang
ſich
ausgleicht.
Zu dieſer erſten in der Geſtalt der Mondbahn ſelbſt
liegenden
und periodiſch leicht überſichtlichen Verſchiedenheit des
Mondlaufs
kommen aber noch andere von außen her, welche
die
Erſcheinung ſehr verwickelt machen, ſo daß es der aller-
feinſten
Beobachtung und der allerſchärſſten Berechnung noch
immer
nicht gelingt, den Mondlauf zu jeder Zeit mit der
Genauigkeit
anzugeben, nach welcher die exakte Wiſſenſchaft hin-
ſtrebt
.
Dem Laien freilich iſt die Genauigkeit, mit welcher die
Himmelskunde
die auffallendſten Erſcheinungen auf Jahrhunderte
vorausberechnet
und verkündet, ſchon mehr, als zur Befriedigung
ſeiner
Wißbegierde nötig iſt.
Die Wiſſenſchaft aber, der es
nicht
um ihren Glanz und Ruhm, ſondern um die
849225 der Wahrheit, die Ergründung der Naturgeſetze und die richtige
Erklärung
ihrer regelmäßigen wie abweichenden Erſcheinungen
zu
thun iſt, die Wiſſenſchaft ſpürt mit ganz beſonderem Eifer
jeder
Grenze ihres Wiſſens nach und erblickt in jedem Rätſel,
das
ſich ihr auf dieſem Wege entgegenſtellt, nur einen Sporn
zum
Fortſchritt des Geiſtes, einen neuen Antrieb, der Erkennt-
nis
der Wahrheit näher zu kommen.
Und zu dieſen feinſten,
verwickeltſten
und der direkten Löſung am meiſten widerſtehenden
Rätſeln
gehört eben die Genauigkeit des Mondlaufs, von der
gar
viele Laien meinen, daß ſie längſt vollkommen gelöſt ſei.
Als eine Haupturſache der Störung des Mondlaufs iſt nun
ſchon
ſeit zwei Jahrhunderten die Anziehungskraft der Sonne
bekannt
.
In der Zeit des Neumondes, wo ſich der Mond
zwiſchen
Erde und Sonne befindet, alſo der Sonne um funfzig-
tauſend
Meilen näher iſt als die Erde, übt die Sonne natürlich
auf
den Mond eine ſtärkere Anziehung aus als auf die Erde,
und
dadurch entfernt ſich der Mond etwas von der Erde, und
die
Geſchwindigkeit ſeines Umlaufs wird geringer.
Zur Zeit des
Vollmondes
ſteht die Erde zwiſchen Sonne und Mond und iſt
alſo
der Sonne um funfzigtauſend Meilen näher als der Mond,
da
iſt denn auch die Anziehungskraft der Sonne auf die Erde
ſtärker
als auf den Mond und dadurch wird wiederum die Ent-
fernung
zwiſchen Mond und Erde größer und die Umlaufs-
geſchwindigkeit
des Mondes kleiner.
In der Zeit der erſten
und
des letzten Mondviertels dagegen ſtehen Mond und Erde
gleich
weit entfernt von der Sonne und die Anziehung der
Sonne
bewirkt, daß Mond und Erde ſich einander ein Weniges
nähern
, wodurch wiederum eine Beſchleunigung des Mondlaufs
zu
Wege kommt.
Allein auch dieſe Störung des regelmäßigen Mondlaufs
durch
Anziehung der Sonne wird wiederum durch zwei Um-
ſtände
weſentlich geändert, die den Lauf des Mondes noch ver-
wickelter
machen.
Die Richtung, in welcher der Mond ſich um
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
850226
die Erde bewegt, geht in der Zeit eines Monats bald auf die
Sonne
zu, bald von ihr fort, und es wechſeln daher Be-
ſchleunigung
und Verzögerung dieſes Ganges noch außer der
oben
erwähnten Störung viermal in jedem Monat ab.
Dazu
kommt
aber auch noch der Umſtand, daß die Erde in ihrer
elliptiſchen
Bahn in einem halben Jahre der Sonne näher
iſt
als in dem andern, wodurch all die Wirkungen der Sonne
auf
den Mondlauf in Zeit eines Jahres bald ſtärker, bald
ſchwächer
werden.
Es iſt darnach zur richtigen Beſtimmung
des
Mondlaufes in jeder beliebigen Zeit eine Berechnung von
zunächſt
vier verſchieden wirkenden Verhältniſſen nötig, die,
in
einander wirkend und einander wieder ſtörend, eine ſehr
verwickelte
Aufgabe bilden.
Mit all’ dem, was wir hier flüchtig erwähnt haben, iſt
aber
keineswegs die Summe aller Störungen erſchöpft, die
der
Mond in ſeinem Laufe erleidet, es treten vielmehr noch
andere
viel feinere und verwickeltere Umſtände hinzu, die jede
für
ſich geſondert ihre Einwirkung auf die Bewegung dieſes
Begleiters
der Erde ausüben, und die mit jedem Augenblicke
wiederum
in ihrer Veränderlichkeit die ganze Lage der Rechnung
ändern
.
Die fleißige Beobachtung des Mondlaufs und die genaue
Feſtſtellung
jeder noch ſo geringen Abweichung desſelben von
dem
Reſultat der Berechnungen iſt daher die beſte Kontrolle der
Wiſſenſchaft
.
Dieſe Kontrolle wurde von der Wahrheitsliebe
ihrer
Jünger ſtets aufs treueſte ausgeübt, und infolge der
gewiſſenhaften
Kontrolle erkannte der verdienſtvolle Aſtronom
Hanſen, der ehemalige Direktor der Sternwarte Seeberg bei
Gotha
, zuerſt im Jahre 1854, daß die bisher nach Enckes
Arbeiten
angenommene Entfernung der Sonne von der Erde
zu
groß ſei und einer beträchtlichen Verbeſſerung bedürfe.
Wie richtig die Behauptung Hanſens war und wie wunder-
bar
ſich bald von den verſchiedenſten Seiten her eine
851227 derſelben ergeben hat, das wollen wir in den ferneren Artikeln
unſeren
Leſern darthun.
V. Wie die Erde und der Moud um die Sonne
wandern.
Hanſen legte ſeinen wertvollen Unterſuchungen des Mond-
laufs
hauptſächlich die Beobachtungen zu Grunde, welche in
den
Sternwarten zu Greenwich in England und Dorpat in
Rußland
ſeit Jahrzehnten mit aller Sorgfalt wiſſenſchaft-
licher
Strenge angeſtellt wurden.
Er ging hierbei von dem
theoretiſch
ſichern Geſichtspunkt aus, daß alle Störungen im
Lauf
des Mondes, die von der Sonne bewirkt werden, abhängig
ſind
von dem Verhältnis der Entfernung der Sonne zu der
Entfernung
des Mondes von der Erde.
Auch dem Laien wird
es
wohl leicht begreiflich, daß, wenn die Anziehung der Sonne
eine
Veränderung in dem Gang des Mondes um die Erde
bewirkt
, hierbei die Nähe oder Ferne der Sonne eine Haupt-
rolle
ſpielen müſſe.
Als nun Hanſen die Größe dieſer Störung,
wie
ſie die Beobachtungen ergeben, mit derjenigen verglich,
welche
aus der Theorie folgt, kam er zu dem Reſultat, daß die
Störung
in Wirklichkeit größer ſei, als ſie nach der Theorie
ſein
müßte, und er zog hieraus den Schluß, daß die Sonne nicht
ſo
entfernt ſein könne, als es bisher nach Enckes Berechnungen
der
Venus-Durchgänge angenommen wurde.
Aus Hanſens Rech-
nungen
ergab ſich, daß die Sonne uns faſt um {1/30} näher ſein
müſſe
, als die bisherigen Angaben behaupten.
Dieſes Reſultat der Hanſenſchen Unterſuchungen aus dem
Jahre
1854 wurde von dem engliſchen Aſtronomen Airy im
Jahre
1859 beſtätigt.
852228
Inzwiſchen hatte aber auch ſchon Leverrier in Paris zwei
andere
und von einander ganz verſchiedene Wege zur Feſtſtellung
der
Sonnen-Entfernung mit günſtigem Erfolge eingeſchlagen
und
von dieſen haben wir nunmehr unſeren Leſern Bericht zu
erſtatten
.
Es iſt ſeit den Zeiten, wo Newtons Lehre von der
Anziehungskraft
der Himmelskörper näher entwickelt worden,
bereits
allen Naturforſchern bekannt, daß genau genommen nicht
der
Mond ſich um die Erde bewege und nicht die Erde um
die
Sonne, ſondern daß Erde und Mond ein zuſammengehöriges
Paar
bilden, deren gemeinſchaftlicher Schwerpunkt in einem
Jahre
um die Sonne wandert, während Mond und Erde in
jedem
Monat einen Umlauf um dieſen ihren gemeinſchaftlichen
Schwerpunkt
machen.
Um ſich ein Bild von dieſem Zuſtande zu verſchaffen,
wollen
wir uns denken, daß jemand eine große und eine kleine
Kugel
durch einen langen Faden mit einander verbindet und
beide
Kugeln mit ſtarker Kraft fortſchleudert.
Die kleine Kugel
wird
ſich infolge der ſchleudernden Kraft viel ſchneller fort-
bewegen
wollen als die große, da ſie aber durch den Faden an
die
große Kugel befeſtigt iſt, wird ſie genötigt ſein den lang-
ſamern
Flug ihrer größern Genoſſin mitzumachen, dafür aber
wird
ſie noch eine zweite Bewegung vollführen und ihre größere
Flugkraft
durch einen Umlauf um die große Kugel befriedigen.
Wer ein ſolches Kugelpaar durch die Luft dahinfliegen ſieht,
der
wird auch bemerken, daß beide Kugeln während ihres
Fluges
ſtets von der Erde angezogen werden, auf welche ſie
dann
auch endlich niederfallen.
Man wird alſo eigentlich nicht
ſagen
können, daß die große Kugel ihren Flug mache und von
der
kleinen, die um ſie kreiſt, begleitet werde, ſondern man
wird
mit Recht beider Flug als einen gemeinſamen betrachten
müſſen
.
Bei noch genauerer Beobachtung wird ſich’s aber
853229 daß es mit dem Flug beider Kugeln noch eine andere Be-
wandtnis
habe.
Sind nämlich die beiden Kugeln nicht ſehr
verſchieden
an Größe, oder eigentlich an Schwere, ſo wird
man
ſofort ſehen, daß ſie während ihres Fluges beide um
einander
Kreiſe beſchreiben, oder richtiger, daß ſie beide
einen
Umſchwung um einen Punkt nahe in der Mitte des
Fadens
machen, der ſie verbindet.
Dieſer Punkt iſt eben
der
gemeinſame Schwerpunkt beider Kugeln, denn wenn
man
ſtatt des Fadens eine feſte Stange nimmt und dieſen
Punkt
der Stange wie den Balken einer Wagſchale unter-
ſtützt
, ſo werden ſich beide Kugeln das Gleichgewicht
halten
.
Iſt eine der Kugeln zweimal ſo ſchwer als die
andere
, ſo wird der gemeinſame Schwerpunkt nicht in der
Mitte
des Fadens oder der Stange, ſondern zweimal ſo
weit
ab von der leichteren Kugel liegen als von der
ſchwereren
.
Je leichter die eine Kugel gegen die andere iſt,
deſto
näher wird der gemeinſame Schwerpunkt zu der andern,
der
ſchwereren Kugel, hinrücken.
Und dieſer gemeinſame
Schwerpunkt
wird auch der Drehpunkt ſein, um welchen beide
Kugeln
in ihrem Fluge einen Kreis beſchreiben.
Dieſer ge-
meinſame
Schwerpunkt wird es eben ſein, der infolge der
Schleuderkraft
ſeine regelrechte Bahn durch die Luft macht,
während
beide Kugeln um dieſen Punkt herum noch einen be-
ſonderen
Umlauf machen.
Da nun der gemeinſame Schwerpunkt ſtets der größeren
Kugel
näher liegt als der kleineren, ſo verſteht es ſich von
ſelbſt
, daß die kleinere, oder richtiger leichtere Kugel einen
größeren
Kreis um den Schwerpunkt zu machen hat, als die
andere
.
Ja, es kann, wenn die eine Kugel ſehr groß und
ſchwer
und die andere ſehr klein und leicht iſt, kommen,
daß
der gemeinſame Schwerpunkt gar innerhalb der
großen
Kugel liegt
, ſo daß die große Kugel einen ganz
unmerklichen
Kreis um dieſen Punkt beſchreibt, während
854230 kleinere Kugel, allem Anſcheine nach, um die große herum-
fliegt
.
In Wahrheit aber iſt dies nur ein Schein. Theorie
und
Praxis lehren und beweiſen es unter all’ ſolchen Um-
ſtänden
, daß der gemeinſame Schwerpunkt der eigentliche Punkt
ſei
, der die richtige Bahn inne hält, während der ſchwere
wie
der leichte Körper um dieſen Punkt einen beſonderen Um-
ſchwung
machen.
Ganz dasſelbe, was wir hier von den zwei Kugeln geſagt
haben
, die man in die Luft hineinſchleudert, gilt aber auch von
den
zwei Himmelskörpern, Erde und Mond, die, von gemein-
ſamer
Kraft getrieben, ihren Umlauf um die Sonne machen.
Es iſt in Wirklichkeit nicht die Erde, die um die Sonne ihren
Jahres-Umlauf
macht, und auf dieſem Spaziergang von dem
um
ſie herum rennenden Monde begleitet wird, ſondern Erde
und
Mond machen wie zwei geſchleuderte Kugeln dieſe Reiſe
gemeinſchaftlich
.
Ihre gegenſeitige Anziehungskraft iſt der un-
ſichtbare
Faden, der ſie verbindet.
Auf dieſer Verbindungs-
Linie
iſt es in Wahrheit nur der gemeinſame Schwerpunkt der
Erd-
und der Mondkugel, welcher regelrecht ſeinen Weg um
die
Sonne macht.
Und um dieſen Schwerpunkt der freilich
noch
innerhalb der Erdkugel liegt, weil dieſe viel ſchwerer iſt
als
die Mondkugel, macht ſowohl die Erde wie der Mond
einen
monatlichen Umlauf;
die ſchwerere Erde in ganz unmerk-
licher
Weiſe und der leichtere Mond ſo merklich, als ob er
wirklich
um die Erde ſelber herumginge.
Auf Durchforſchung und Berechnung dieſer Thatſachen,
die
an ſich ſchon längſt allen Naturforſchern bekannt waren,
beruht
nun, wie wir ſehen werden, die erſte Methode, welche
Leverrier
in Paris angewendet hat, um die Sonnen-Entfernung
näher
kennen zu lernen.
855231
VI. Der Schwerpunkt der Erd- und Mondmaſſe.
Geht man auf die vollkommen richtige und von der
Wiſſenſchaft
längſt feſtgeſtellte Vorſtellung ein, daß nicht die
Erde
um die Sonne, und nicht der Mond um die Erde wandert,
ſondern
daß der gemeinſame Schwerpunkt der Erd- und
der
Mondmaſſe es iſt, der die regelrechte Bewegung um die
Soune
macht und Erde und Mond einen allmonatlichen Um-
lauf
um dieſen ihren gemeinſamen Schwerpunkt machen, ſo er-
giebt
ſich eine Reihe von Fragen, deren Beantwortung von der
höchſten
Wichtigkeit iſt.
Erſtens entſteht die Frage: wo denn eigentlich der gemein-
ſame
Schwerpunkt der zwei ſehr ungleichen Kugeln, Erde und
Mond
, liegt?
Zweitens: läßt ſich der monatliche Umlauf der Erde um
dieſen
gemeinſamen Schwerpunkt auch durch Beobachtungen
ſicher
erkennen und meſſen?
Endlich drittens: wenn ſich dieſe Bewegung erkennen und
meſſen
läßt, welch’ andere Rätſel des Himmels vermag man
wohl
durch dieſe Wahrnehmung zu löſen?
Die zwei erſten Fragen waren bereits längſt von der
Wiſſenſchaft
aufgeſtellt und bis auf eine gewiſſe Grenze auch
mit
Genauigkeit beantwortet worden.
Leverrier hat bei ſeiner Arbeit nur nötig gehabt, alle Vor-
arbeiten
der Rechner und Beobachter genau zu revidieren und
die
Reſultate derſelben für ſeinen Zweck nutzbar zu machen.
Die dritte Frage beantwortet Leverrier dahin, daß aus den
Ergebniſſen
der zwei erſten Fragen eben die Sonnen-Entfernung
genauer
als bisher würde beſtimmt werden können.
Wir wollen nun der Reihe nach die drei Fragen verfolgen,
um
deren Geſamt-Reſultat unſern Leſern deutlich zu machen.
Um die Lage des gemeinſamen Schwerpunkts der
856232 Kugeln, Erde und Mond, genau zu beſtimmen, dazu gehört,
daß
man zuvörderſt die Entfernung der beiden Kugeln von
einander
kennt, und zwar die Entfernung ihrer Mittelpunkte.
Dieſe Kenntnis iſt in hinreichendem Maße bereits von der
Wiſſenſchaft
durch direkte Meſſungen gegeben.
Nunmehr muß
man
aber auch die Maſſe, das Gewicht beider Kugeln kennen,
oder
was dasſelbe iſt:
ihre Anziehungskräfte. Hierin bietet
die
Kenntnis der Erdmaſſe, oder deren Anziehungskraft keine
Schwierigkeit
dar;
denn dieſe iſt durch Meſſung von Pendel-
ſchwingungen
in außerordentlich zahlreichen und genauen Ver-
ſuchen
hinreichend ſicher feſtgeſtellt.
Dahingegen iſt die Be-
ſtimmung
der Mond-Maſſe oder die Anziehungskraft des
Mondes
nicht ſo leicht zu ermitteln, und man muß hier ſchon
zu
anderweitigen Erſcheinungen ſeine Zuflucht nehmen, die ſehr
verwickelter
Natur ſind.
Indeſſen hat die Wiſſenſchaft hierin ſchon reiche Vor-
arbeiten
geliefert, die ein befriedigendes Reſultat ergeben, wenn-
gleich
eine Verbeſſerung derſelben noch immer wird erſtrebt
werden
müſſen.
Um dieſe Vorarbeiten im allgemeinen zu
erwähnen
, wollen wir unſere Leſer nur daran erinnern, daß
Ebbe
und Flut eine Folge der Anziehung des Mondes iſt.
Aus der Höhe der Fluten hat ſchon Laplace im vorigen Jahr-
hundert
die Stärke der Anziehungskraft des Mondes zu be-
ſtimmen
geſucht, und auf demſelben Wege hat man bis in die
neueſte
Zeit dieſe Kraft fortdauernd der Beobachtung und der
Berechnung
unterzogen.
Es giebt aber noch einige andere Er-
ſcheinungen
, die gleichfalls von der Anziehungskraft des
Mondes
herrühren und zur Meſſung dieſer Kraft große
Dienſte
leiſten.
Um eine dieſer Erſcheinungen hier vorzu-
führen
, wollen wir nur andeuten, daß unſere Erde bekanntlich
nicht
eine vollkommene Kugel iſt, ſondern eine Abplattung an
beiden
Polen und eine Anſchwellung am Äquator hat.
Denken wir uns nun eine vollkommene Kugel aus
857233 Erde herausgeſchnitten, ſo bliebe noch ein ſtarker, breiter Ring
aus
dem Äquator der Erde übrig.
Es haben nun die Aſtro-
nomen
durch Rechnung nachgewieſen, daß der Mond, der in
ſeinem
Lauf bald nördlich, bald ſüdlich von dem Äquator der
Erde
ſteht, noch eine beſondere Anziehung auf den erwähnten
Äquator-Ring
ausübt und dadurch der Erdaxe eine kleine
Schwankung
erteilt, die in je neunzehn Jahren ihren Lauf
vollendet
.
Dieſe kleine Schwankung iſt durch Meſſungen am
Fixſternhimmel
beſtätigt und genau beſtimmt.
Dadurch iſt ſie
gleichfalls
ein Maßſtab, um die Mond-Maſſe oder deſſen
Anziehungskraft
näher kennen zu lernen.
Aus all’ ſolchen
ſehr
ſubtilen, aber mit außerordentlichem Scharfſinn benutzten
Erſcheinungen
iſt die Wiſſenſchaft auf weitem Umwege zur
Kenntnis
der Mond-Maſſe gelangt, und ſomit war ſie auch
imſtande
, die erſte unſerer Fragen dahin zu löſen, daß der
gemeinſame
Schwerpunkt der Erd- und der Mond-Kugel nur
etwa
560 Meilen vom Mittelpunkt der Erde entfernt iſt, das
heißt
:
dieſer Schwerpunkt liegt noch circa 290 Meilen unter
der
Oberfläche der Erde.
Da nun dieſer Schwerpunkt es eigentlich iſt, der alljährlich
den
regelmäßigen Umlauf um die Sonne macht, und Erde
und
Mond dabei allmonatlich um dieſen ihren gemeinſamen
Schwerpunkt
einen Kreis beſchreiben, ſo haben wir uns den
wahren
Weg der Erde um die Sonne ſo vorzuſtellen, daß der
Mittelpunkt
der Erde, der in einem Monat mehr als 10 Millionen
Meilen
dahin fliegt, einmal 560 Meilen über und einmal
560
Meilen unter dieſer Bahn ſich befindet, und alſo im
Jahre
circa zwölf ſolch kleine Schwankungen und Abweichungen
von
ſeiner Bahn macht, die freilich ſo geringfügig ſind, daß
ſie
für die gewöhnliche Beobachtung ganz unmerklich ſein
müſſen
.
Gleichwohl hat die genaue Meßkunde unſerer Zeit bewieſen,
daß
auch dieſe ſehr geringfügige Abweichung, oder
858234 der kleine, allmonatliche Umlauf der Erde um jenen gemein-
ſamen
Schwerpunkt eine Größe iſt, die der Beobachtung nicht
entgeht
, und ſomit iſt denn auch die zweite der obigen Fragen
erledigt
.
Bekanntlich erſcheinen uns alle Bewegungen der Erde ſo,
als
ob die Erde feſtſtände und die Himmelskörper ſich um
dieſelbe
bewegten.
Gilt dies nun von der jährlichen Bewegung
der
Erde um die Sonne ſo gut wie von der täglichen Um-
drehung
der Erde um ihre Axe, ſo iſt es leicht einzuſehen, daß
auch
der allmonatliche Umſchwung der Erde um den gemein-
ſamen
Schwerpunkt eine Scheinbewegung der Sonne hervor-
bringen
, daß alſo die Sonne zwölfmal im Jahre ein wenig
von
ihrer Bahn abzuweichen ſcheinen müſſe.
Hierin wäre
denn
ein merkbares Zeichen vorhanden, die Exiſtenz jener
Erdbewegung
feſtzuſtellen.
Dies iſt nun wirklich der Fall. Dieſe Scheinbewegung
der
Sonne, hervorgerufen durch die wirkliche, allmonatliche Be-
wegung
der Erde um den erwähuten Schwerpunkt, iſt durch
Beobachtungen
nachgewieſen.
Hiermit aber war, wie wir nun-
mehr
zeigen werden, auch der Weg geebnet genug, um Leverrier
zum
Ziele ſeiner Unterſuchungen zu führen.
VII. Die Störungen der Planeten-Bahnen.
Die kleine Umlaufsbewegung, welche die Erde allmonatlich
um
den erwähnten gemeinſamen Schwerpunkt macht, ſpiegelt
ſich
wirklich am Himmel in einer kleinen Schwankung der
Sonne
in ihrer ſcheinbaren Bahn wieder.
Wenn man den Weg der Sonne mit der Genauigkeit ver-
folgt
, welche unſere gegenwärtigen Meß-Inſtrumente
859235 ſo bemerkt man, daß zur Zeit des erſten und zur Zeit des
letzten
Mond-Viertels die Sonnenkugel am Himmel eine ge-
ringe
Abweichung von der geraden Bahn der Ekliptik hat.
Dieſe Abweichung liegt ſtets nach der Seite hin, wo ſich zur
Zeit
der Mond befindet, und es iſt nicht dem geringſten
Zweifel
unterworfen, daß dies nur eine ſcheinbare Bewegung
der
Sonne und ein Gegenbild der wirklichen Bewegung
der
Erde
iſt, die dieſe in ihrem Umlauf um den gemein-
ſamen
Schwerpunkt macht.
Da es Leverrier darauf ankam, dieſe ſcheinbare Ab-
weichung
genau zu beſtimmen, ſo unterzog er die Meſſungen,
welche
in Greenwich, Königsberg und Paris am Stand der
Sonne
durch viele Jahre angeſtellt worden, einer genauen
Unterſuchung
, und es ergab ſich, daß dieſe Abweichung, in ſehr
naher
Übereinſtimmung all der Beobachtungen, einen Winkel
von
6 {1/2} Sekunden beträgt, oder um unſern Leſern ein an-
ſchaulicheres
Maß von der Kleinheit der Abweichung zu geben
daß die Sonne in ihrer größten Abweichung nur ein ſo
kleines
Stückchen aus der Bahn geht, wie der dreihundertſte
Teil
ihres ſcheinbaren Durchmeſſers beträgt.
Es läßt ſich nunmehr mit Leichtigkeit erkennen, wie
Leverrier
nach dieſer genauen Feſtſtellung die wahre Ent-
fernung
der Sonne zu berechnen imſtande war.
Wenn es
nämlich
ſicher iſt, wie weit der gemeinſame Schwerpunkt der
Erd-
und Mondkugel vom Mittelpunkt der Erde abſteht, ſo
bildet
dieſer Abſtand den Halbmeſſer des Kreiſes, den die Erde
allmonatlich
beſchreibt.
Nehmen wir nun dieſen Abſtand in
runder
Zahl auf circa 560 Meilen an, ſo muß die Sonne ſo
entfernt
ſein, daß die 560 Meilen von der Sonne aus geſehen,
nur
unter einem Winkel von 6 {1/2} Sekunden erſcheinen.
Hier-
aus
ergiebt denn eine ſehr einfache Berechnung die Entfernung
der
Sonne in Meilen, und ſo gelangte Leverrier zu einem
Reſultat
, welches mit dem von Hanſen gefundenen ſehr
860236 übereinſtimmt, daß nämlich die Sonnen-Entfernung um
ein
Dreißigſtel geringer ſei, als man bisher an-
genommen
.
Leverrier wurde aber auch noch von einer zweiten ander-
weitigen
und von der erſten völlig unabhängigen Forſchung zu
ganz
demſelben Reſultat geführt.
Es iſt nämlich eine durch die Wiſſenſchaft längſt anerkannte
und
durch Beobachtung wie durch die Theorie ſicher feſtgeſtellte
Thatſache
, daß jeder Planet des Sonnenſyſtems den regel-
mäßigen
Lauf aller anderen Planeten um die Sonne beein-
flußt
und bald fördernd, bald hindernd auf dieſen Lauf ein-
wirkt
.
Nicht ein einziger aller Planeten geht ſo regelrecht
in
ſeiner Bahn um die Sonne, wie er gehen würde, wenn er
alleiniger
Bewohner des Sonnenſyſtems wäre.
Es wirkt viel-
mehr
die Auziehungskraft jedes einzelnen auf alle übrigen
Planeten
, wie alle anderen auch auf ſeinen Lauf wirken, je im
Verhältnis
der Maſſe und der augenblicklichen Entfernung jedes
einzelnen
Himmelskörpers.
In der Natur ſelbſt gehören dieſe
höchſt
verwickelten und durch einander wirkenden Anziehungen
aller
auf alle freilich zur Ordnung im Sonnen-Syſteme.
Eine viel höhere Rechnungsgabe, als wir Menſchenkinder ſie
beſitzen
oder mindeſtens zur Zeit ſie zu faſſen imſtande ſind,
wird
ganz ſicher aus der Anarchie all der unüberſehbaren
Einwirkungen
die Ordnung herausfinden.
Da wir aber dies
nicht
vermögen, helfen wir uns damit durch, daß wir zunächſt
jede
Planetenbahn ſo berechnen, wie ſie wäre, wenn der Planet
allein
um die Sonne ginge, und betrachten und berechnen jede
Einwirkung
, die ein Nachbar-Planet auf dieſen Lauf ausübt,
als
eine Störung der Bahn.
Viele ſolche Störungs-Rechnungen ſind nun ſchon im
vorigen
Jahrhundert mit dem Aufwand des feinſten Scharf-
ſinns
durchgeführt.
So hat z. B. der große Laplace die
Störungen
, welche die zwei an Maſſe ſtärkſten
861237 Jupiter und Saturn, gegenſeitig auf ihren beiderſeitigen Um-
lauf
bewirken, in einer von allen ſeinen Zeitgenoſſen und allen
ſeinen
Nachfolgern bewunderten Weiſe berechnet.
Leverrier
ſelbſt
hat, wie wir ſchon wiſſen, im Jahre 1846 ſeinen
Namen
unſterblich gemacht durch eine Störungs-Rechnung,
durch
welche er die Exiſtenz, die Entfernung, die Maſſe und
ſogar
den Ort des Planeten Neptun nachwies.
Störungs-
Rechnungen
ſind daher auch noch heutigen Tages der Schlüſſel
zur
Löſung verſchiedener Himmels-Rätſel.
Sie ſind eine Stufe
auf
der großen Himmelsleiter des Geiſtes, auf welcher die
unſterbliche
Wiſſenſchaft zu den Geheimniſſen des Weltalls
emporſteigt
.
Eine ſolche Störungs-Rechnung ſtellte nun Leverrier an,
um
auszukundſchaften, welche Einwirkung unſere Erde auf den
Lauf
ihrer Nachbar-Planeten Venus und Mars ausübt;
und
da
fand ſich das auffallende Reſultat, daß die Erde eine
größere Einwirkung ausübt, alſo eine ſtärkere Anziehungskraft
beſitzt
, als man bis jetzt angenommen hatte.
Das Auffallende dieſes Reſultats liegt aber darin, daß
die
Anziehungskraft der Erde durch die genaueſten Pendel-
Verſuche
feſtgeſtellt und eine irrige Annahme hierin nicht ob-
walten
kann.
Es ſchien hier ein Widerſpruch zwiſchen den
irdiſchen
und den himmliſchen Meſſungen der Anziehungskraft
der
Erde obzuwalten, welcher der Wiſſenſchaft ein neues Rätſel
darbot
.
Allein wie all ſolche Rätſel fand auch dieſes in der
wahrheitsgetreuen
Forſchung der Naturwiſſenſchaft nicht bloß
ſeine
Ausgleichung und Löſung, ſondern zeigte eine neue
Harmonie
des Geiſtes, als man nur erſt den richtigen Leit-
faden
hierzu ergriff.
Die Anziehungskraft der Erde erwies ſich in den Himmels-
räumen
nur deshalb ſo groß, weil man dieſe Anziehungskraft
der
Erde ſtets gemeſſen nach der Anziehungskraft der Sonne.
Die Anziehungskraft der Sonne aber iſt abhängig von
862238 Sonnen-Entfernung. Iſt dieſe Entfernung in Wahrheit ge-
ringer
, als man ſie bisher angenommen, ſo folgt daraus, daß
man
bisher auch die Maſſe der Sonne für zu groß annahm.
Dies erkannte nun Leverrier ſofort. Als er daher infolge-
deſſen
die Sonnen-Entfernung um {1/30} der bisherigen Annahme
verminderte
, klärte ſich das Rätſel auf, und es trat eine neue
Harmonie
an die Stelle des Widerſpruches zwiſchen dem
Schwung
des Pendels und den Einwirkungen der Erdmaſſe
auf
die Bahnen von Mars und Venus.
So war die Lage der Dinge im Herbſte des Jahres 1862,
als
der Himmel ſelber zu Gunſten ſeiner treuen Forſcher durch
eine
Gelegenheit zum Erkunden der Wahrheit intervenirte und
gleichzeitig
ein vielverdienter Jünger der ewigen Wahrheit auf
den
Fittigen des Lichtes eine neue Geiſtes-Eroberung in Bezug
auf
die Erkenntnis der Sonnenferne machte.
VIII. Beobachtungen des Planeten Mars im
Jahre 1862.
Im Herbſt des Jahres 1862 wurde der Sternenhimmel
bei
hereinbrechendem Abend durch den rötlichen Lichtglanz des
Planeten
Mars verſchönt.
Den Planeten Mars in ſolcher
Stellung
zu ſehen, in welcher er bei Sonnenuntergang im
Oſten
aufgeht und durch die ganze Nacht am Himmel leuchtet, um
im
Weſten unterzugehen, wenn die Sonne morgens im Oſten
emporſteigt
, iſt keineswegs ein ſeltenes Schauſpiel, da es ſich
in
780 Tagen ſtets wiederholt;
der Planet ſelbſt indeſſen er-
ſcheint
in ſolcher Stellung ſo verſchieden an Glanz und Größe,
daß
es mit ihm doch eine beſondere Bewandtuis haben muß.
863239 Jedenfalls bemerkte damals jeder aufmerkſame Laie, daß er
dieſen
Planeten noch nicht ſo groß und leuchtend geſehen habe,
und
jeder Sternkundige würde die Verſicherung haben hinzu-
fügen
können, daß dies ſeinen guten Grund habe.
Die Bahn des Mars nämlich weicht mehr als die irgend
eines
andern großen Planeten von der Form eines Kreiſes ab.
Sie bildet eine verhältnismäßig ſehr längliche Ellipſe. Mars
kommt
daher der Sonne auf einen Teil ſeiner Bahn bis auf
6
Millionen Meilen näher als auf der andern.
Es ſchwankt
deſſen
Enfernung zur Sonne von 34 {1/2} bis auf 28 {1/2} Millionen
Meilen
.
Da nun die Erde in ihrer Bahn in je 780 Tagen
zwiſchen
Sonne und Mars zu ſtehen kommt, ſo hängt auch die
Entfernung
zwiſchen Erde und Mars in dieſer Stellung ſehr
von
Umſtänden ab.
Befindet ſich Mars in ſolcher Zeit in
ſeiner
Sonnenferne und die Erde in ihrer Sonnennähe, ſo
beträgt
die Strecke zwiſchen Erde und Mars an 15 Millionen
Meilen
;
iſt jedoch das Entgegengeſetzte der Fall, ſteht die
Erde
zwiſchen Mars und Sonne in der Zeit, wo die Erde der
Sonne
am entfernteſten und Mars der Sonne am nächſten iſt,
ſo
vermindert ſich die Strecke zwiſchen Mars und Erde auf
die
Hälfte, ſo daß wir dem Planeten bis auf 7 Millionen
Meilen
nahe kommen.
Dieſer ſeltene Fall war nun nahezu im Herbſte des Jahres
1862
eingetreten;
es iſt daher natürlich, daß man den Planeten
glänzender
und größer als ſonſt am Himmel leuchten ſah.
Was aber für den Laien ein bloßes intereſſantes Schau-
ſpiel
, das ward für die Wiſſenſchaft eine längſt erſehnte Ge-
legenheit
zur Durchforſchung einer Wahrheit.
Nach den von Kepler entdeckten und durch Newton be-
wieſenen
Geſetzen des Himmels beſteht ein ſo ſicheres Verhält-
nis
zwiſchen den Umlaufszeiten und den Entfernungen aller
Planeten
zur Sonne, daß man die Sonnen-Entfernung ſofort
berechuen
kann, ſobald man nur imſtande iſt, die direkte
864240 fernung irgend eines Planeten von der Erde durch Beobachtung
zu
ermitteln.
Zu Gunſten dieſer Ermittelung hat nun die
Aſtronomie
ſchon längſt ihr Augenmerk auf Mars gerichtet und
namentlich
in den Zeiten, wo er der Erde am nächſten ſteht.
Schon im Jahre 1671 wurde ſolch ein Moment zur Meſſung
der
Entfernung benutzt, deren Reſultat freilich wegen der Un-
vollkommenheit
der damaligen Meß-Inſtrumente ſehr wenig
genügen
konnte.
Unſere gegenwärtigen, ſehr verbeſſerten Meß-
Apparate
ließen ein ſichereres Ergebnis vorausſehen, und
darum
wurde die günſtige Gelegenheit im Herbſte 1862 von
allen
vorzüglichen Sternwarten der Welt eifrig benutzt, um
die
Mars-Entfernung und durch dieſe die richtige Sonnen-
Entfernung
genauer kennen zu lernen.
Die Sternwarten von Berlin, Pulkowa (bei Petersburg),
Greenwich
, Leyden, Helſingfors, Williamstown (in Auſtralien),
Kapſtadt
, Madras und St.
Jago verabſäumten nicht, ihre
Beobachtungen
anzuſtellen.
Die Ergebniſſe ſtimmen ſehr merk-
würdig
überein, und auch aus ihnen folgt mit großer Zuver-
ſicht
, daß der Planet Mars uns näher geſtanden, als man aus
den
bisherigen Annahmen berechnet hatte, oder was ganz
dasſelbe
iſt, daß die Sonne nicht ſo entfernt von uns iſt, als
aus
den Beobachtungen der letzten Venus-Durchgänge ge-
ſchloſſen
wurde.
Bis ſo weit hat die Himmelskunde neuerer Zeit, von ſehr
verſchiedenen
Seiten ausgehend, die wiſſenſchaftlichen Reſultate
früherer
Jahrzehnte verbeſſert.
Es hat die Himmelskunde ſich
in
dieſen intereſſanten Fällen ſelber korrigiert, wie das ſtets in
einer
ſo wahrheitsgetreuen Wiſſenſchaft der Fall iſt, die ſich
ſorgſam
vor Selbſttäuſchungen bewahrt, weil ſie nie andere
durch
vorgeſpiegelte Allwiſſenheit zu täuſchen oder mit dem
Glanz
ihrer Ergebniſſe zu blenden die Abſicht hat.
Da
trat
denn auch noch ein ganz anderer Zeuge der Wahrheit
anf
, der durch ein merkwürdiges irdiſches Experiment
865241 Himmels-Forſchern neue Wege zu jetzt noch unüberſehbaren
Zielen
eröffnet hat.
Dies neue Zeugnis der Wahrheit beſteht in einer von
Foucault (1819—1868) in Paris durch Experimente feſtgeſtellten
Geſchwindigkeit
des Lichts, worüber wir in dem nächſten Abſchnitt
das
Nähere berichten werden.
Durch dieſe Experimente, die den
unendlichen
Wert haben, daß ſie unausgeſetzt wiederholt und
ohne
Schwierigkeit in ihren Reſultaten korrigiert und bis zur
vollendetſten
Sicherheit der Ergebniſſe gebracht werden können
iſt die Sonnen-Entfernung in ganz anderer Weiſe meßbar
geworden
, als man bisher meinte, und auch aus dieſen, auf
der
Erde anzuſtellenden Meſſungen hat ſich dasſelbe Reſultat
ergeben
, daß bis auf die neuere Zeit die ſämtlichen Entfernungen
im
Sonnen-Syſtem um {1/30} zu groß angenommen worden ſind.
IX. Die Geſchwindigkeit des Lichts.
Um die Bedeutung der von Foucault gewonnenen Reſultate
über
die Geſchwindigkeit des Lichtes unſern Leſern vorführen
zu
können, müſſen wir auf den geſchichtlichen Verlauf zurück-
blicken
, den die Erforſchung auf dieſem Gebiete überhaupt durch-
gemacht
hat.
Wir werden dadurch imſtande ſein, die Über-
zeugung
zu gewähren, daß ein Experiment, in einem gewöhn-
lichen
Zimmer angeſtellt, und die Meſſung einiger feinen Linien
auf
einem kleinen Glas-Streifen mittelſt eines Mikroſkops wirklich
ausreichend
iſt, die Frage zu entſcheiden, wie viel Millionen
Meilen
die Erde von der Sonne entfernt iſt.
Bereits vor mehr als dritthalbhundert Jahren hegten
denkende
Menſchen die richtige Vermutung, daß das Licht der
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
866242
Himmelskörper wohl eine Zeit brauchen werde, um durch die
Fernen
des Weltraumes zu dringen.
Die Akademie zu Florenz
ſetzte
daher einen Preis aus für die Löſung der Frage;
allein
die
Löſung ſchien ſich der menſchlichen Erkenntnis ganz entziehen
zu
wollen.
Wie ſollte man es auch anſtellen, Geſchwindigkeiten,
das
heißt Raum-Veränderungen in Zeitteilen zu meſſen, wo
vorausſichtlich
ganz unbegreiflich große Räume in unglaublich
kleinen
Zeiten durchſchritten werden?
Da hat denn ein däniſcher Naturforſcher, Olav Römer,
zu
Paris im Jahre 1675 die intereſſante Entdeckung gemacht,
daß
der Himmel ſelber ſo gnädig ſei, die Preisaufgabe durch
ein
ſehr häufiges Experiment zu löſen, und wir keines Verſuches,
ſondern
nur des Verſtändniſſes der Erſcheinungen bedürfen,
um
die Löſung zu begreifen.
Olav Römer ſtellte nämlich mit Caſſini (1625—1712) auf
der
Sternwarte zu Paris Beobachtungen an.
In damaliger Zeit
war
die größte Aufmerkſamkeit auf den Planeten Jupiter gerichtet,
deſſen
vier Monde ſofort nach Entdeckung und Gebrauch des
Fernrohrs
das Staunen aller Welt hervorriefen.
Nun hatte
Galilei
, der Entdecker dieſer Monde, bereits im Jahre 1610
bemerkt
, daß jeder dieſer Monde, wenn er zwiſchen Sonne und
Jupiter
ſteht, einen Schatten auf Jupiter werfe, und eben ſo
jeder
dieſer Monde verfinſtert und unſichtbar werde, ſobald er
in
ſeinem Umlauf um Jupiter in deſſen Schatten gerät.
Dieſe Finſterniſſe genau kennen zu lernen und die Zeit
ihres
Eintritts voraus zu berechnen, war in mehr als einer
Hinſicht
von der größten Wichtigkeit;
wie denn auch gegenwärtig
noch
jeder Seefahrer in den Verfinſterungen der Jupiter-Monde
ein
vorzügliches Mittel beſitzt, ſich auf bahnloſem Meere zurecht
zu
finden.
Es galt alſo, zur Zeit als Olav Römer ſeine Be-
obachtungen
anſtellte, genau die Zeit nach Minute und Sekunde
vorauszuberechnen
, wo ſolch eine Finſternis eintritt.
Die Rechnung an ſich bot keine großen Schwierigkeiten
867243 da man die Umlaufszeiten der vier Monde ſehr leicht beſtimmen
kann
und es nur nötig iſt, den Stand der Sonne und der Erde
in
Betracht zu ziehen, um die Lage des Schattens mit Sicher-
heit
anzugeben.
Allein zur Verwunderung Römers wollten
ſeine
Rechnungen nicht immer mit den Beobachtungen ſtimmen.
Es traten dieſe Finſterniſſe zuweilen bis auf 8 Minuten 13
Sekunden
zu früh, bald bis um dieſelbe Zeit zu ſpät ein.
Als
aber
Römer die Umſtände, wo dieſe Unregelmäßigkeiten ſich
zeigten
, näher in Betracht zog, kam er nicht bloß auf die
wahre
Urſache dieſer Abweichung, ſondern auch auf die
Entdeckung
, daß in derſelben die Löſung einer für unlösbar ge-
haltenen
Frage liege.
Die Erde kommt nämlich in ihrem Umlauf um die Sonne
zu
gewiſſen Zeiten ſo zu ſtehen, daß ſie ſich zwiſchen Sonne
und
Jupiter befindet;
hier iſt ſie dem Jupiter am nächſten.
Sechs Monate darauf hat ſie aber ihren halben Umlauf gemacht,
und
ſteht jetzt, da Jupiter ſich in dieſer Zeit nur ein kleines
Stück
in ſeiner Bahn bewegt auf der andern Seite der
Sonne
;
hier alſo iſt ſie dem Planeten Jupiter faſt um den
ganzen
Durchmeſſer der Erdbahn entfernter, als vor einem
halben
Jahre.
Die Verfinſterungen der Jupiter-Monde ſo
ſchloß
nun Olav Römer ſehr richtig ſind ein Schauſpiel,
das
wir auf Erden einmal in der Nähe und einmal aus der
Entfernung
zu beobachten die Ehre haben.
Wenn nun das
Licht
eine Zeit braucht, um ſich durch den Weltraum fortzu-
pflanzen
, ſo iſt es wohl klar, daß wir das Schauſpiel am
Jupiter
früher müſſen zu ſehen bekommen, wenn wir ihm
nahe
, und ſpäter zur Zeit, wo wir ihm um den ganzen
Durchmeſſer
der Erdbahn entfernter ſind.
Hiernach alſo fand
er
es ganz erklärlich, weshalb dieſe Himmelserſcheinungen,
die
an ſich ſehr regelmäßig vor ſich gehen, ſich ſcheinbar
verfrühen
und verſpäten, wenn wir dem Ort der Erſcheinung
näher
oder entfernter ſind.
868244
Dieſe Erklärung Römers beſtätigte ſich vollkommen durch
die
weiteren Beobachtungen.
Es wächſt wirklich die ſcheinbare
Verſpätung
ganz regelmäßig mit der Entfernung der Erde vom
Jupiter
, und es tritt ſcheinbar eine ſtets wachſende Verfrühung
der
Erſcheinungen ein, je mehr die Erde ſich dem Jupiter wieder
nähert
.
Der Eintritt ſämtlicher Verfinſterungs-Erſcheinungen
im
Jupiter-Gebiet ward hierdurch auch vollkommen berechenbar,
ſobald
man nur die Nähe der Erde zu Jupiter mit in Betracht
zog
.
Es war damit aber noch eine zweite Frage gelöſt, die
ſich
Römer eigentlich nicht geſtellt hatte.
Es erwies ſich nämlich,
daß
die erwähnte Verfrühungs- und Verſpätungszeit beiſammen,
die
16 Minuten 26 Sekunden betrug, eben die Zeit iſt, die das
Licht
braucht, um die Strecke zu durchlaufen zwiſchen dem
Punkte
der Erdbahn, wo die Erde dem Jupiter nahe iſt, bis zu
dem
Punkte, wo ſie ihm am entfernteſten iſt.
Dieſe Strecke iſt
aber
der Durchmeſſer der Erdbahn.
Man wußte alſo, daß die
Geſchwindigkeit
des Lichtes ſo groß iſt, daß es den Durchmeſſer
der
Erdbahn in Zeit von 16 Minuten 26 Sekunden durchläuft.
Die von Römer einmal gefundene Wahrheit iſt eine
Errungenſchaft
aller Zeiten geworden.
Sie legte, wie jede
wahrhafte
Geiſtes-Eroberung, die weder auf Dichtung noch auf
Täuſchung
beruht, den Grund zu weiteren Eroberungen, von
welchen
wir eine, die funfzig Jahre nach Römer gemachte Ent-
deckung
der Aberration, hier noch werden vorführen müſſen.
Für jetzt wollen wir dieſen Abſchnitt nur mit der Bemerkung
ſchließen
, daß die früher allgemein angenommene Geſchwindigkeit
des
Lichtes in einer Sekunde, die auf 41,900 Meilen angegeben
wird
, auf Römers Entdeckung beruht, und zwar unter der Vor-
ausſetzung
, daß der Durchmeſſer der Erdbahn, alſo die doppelte
Entfernung
der Sonne, 41 Millionen Meilen beträgt.
Es
folgt
hieraus auch, daß, wenn die Sonnen-Entfernung nicht ſo
groß
iſt, dann auch die Geſchwindigkeit des Lichtes in einer
Sekunde
geringer ſein müſſe, und hieraus ſchon werden
869245 Leſer erkennen, daß, wenn es gelingt, die Geſchwindigkeit des
Lichtes
ohne Hilfe der Aſtronomie zu finden, man darin ein
ſicheres
Mittel beſitzt, die wahre Sonnen-Entfernung und über-
haupt
die ſämtlichen Entfernungen innerhalb des Sonnenſyſtems
kennen
zu lernen.
X. Bradley’s Entdeckung.
Olav Römer’s Entdeckung hatte, wie bereits erwähnt,
noch
eine zweite Entdeckung zur Folge, die wir gleichfalls
unſern
Leſern vorführen müſſen.
Fünfzig Jahre nach der Entdeckung der Geſchwindigkeit des
Lichtes
ſtellte nämlich der engliſche Aſtronom Bradley (1692 bis
1762
) den Verſuch an, ob es ihm wohl gelingen würde, die jähr-
liche
Bewegung der Erde um die Sonne an irgend einem Stern
des
Fixſternhimmels bemerklich nachzuweiſen.
Er ging hierbei
von
dem vollkommen richtigen Grundſatz aus, daß, wenn die
kleine
Scheinbewegung, die ein Fixſtern in der entgegengeſetzten
Richtung
zur wirklichen Bewegung der Erde alljährlich machen
muß
, mit unſern Inſtrumenten merklich und meßbar wäre,
wir
auch imſtande ſein würden, die Entfernung des Fixſterns
von
uns zu berechnen.
Das was Bradley ſuchte, die Meßbarkeit der Entfernung
eines
Fixſternes, fand er nicht.
In der That iſt die Ent-
fernung
ſelbſt des uns wahrſcheinlich nächſten Fixſternes im
Sternbild
des Centauren noch ſo groß, daß ſie mit Bradley’s
Inſtrumenten
nicht meßbar werden konute.
Aber wie ſo oft
auf
dem Wege zu einem wichtigen Ziele ward auch in dieſem
Falle
von Bradley ſtatt der vergeblich geſuchten Wahrheit un-
vermutet
eine andere, nicht minder wichtige gefunden.
870246
Dieſe neue von Bradley im Jahre 1725 gefundene Wahr-
heit
lautet dahin, daß unſer Auge und eben ſo jedes unſerer
Fernrohre
die Fixſterne nicht an ihrer wahren Stelle ſehen
läßt
, ſondern ſtets ein wenig nach vorwärts geſchoben zeigt
in
der Richtung, wohin ſich gerade unſere Erde um die
Sonne
bewegt.
Die Richtigkeit dieſes merkwürdigen Lehrſatzes läßt ſich
leicht
einſehen, wenn man ſich des folgenden Beiſpiels bedient.
Denken wir uns, daß jemand ſeitwärts an der Eiſenbahn
ſtehend
, ein Piſtol abſchießt auf einen an ihm ſchnell vorüber-
fahrenden
Eiſenbahnwagen und nehmen wir an, daß die Kugel
durch
beide Wände des Wagens fliegt, ſo werden die zwei
Löcher
, welche die Kugel in den Wänden gemacht hat, den
Weg
bezeichnen, den ſie in ihrem Lauf genommen.
Unterſucht
man
nun dieſen Weg, ſo wird man finden, daß wenn auch die
Kugel
ganz ſenkrecht auf den Wagen abgeſchoſſen wurde, doch
die
zwei Löcher keineswegs ſenkrecht zu den Wänden liegen,
ſondern
daß das Loch in der erſten Wand, wo die Kugel in
den
Wagen hineindrang, mehr nach vorn liegt, als das in der
zweiten
Wand, wo ſie wieder aus dem Wagen hinausflog.
Der Grund dieſer Erſcheinung läßt ſich auch leicht er-
kennen
, wenn man bedenkt, daß die Kugel, wenn fie auch mit
großer
Geſchwindigkeit durch den Wagen flog, doch immer eine
gewiſſe
Zeit gebraucht hat, um von der einen Wand des
Wagens
zur andern zu fliegen;
während dieſer Zeit aber iſt
der
Wagen ein kleines Stückchen vorwärts gefahren, ohne daß
die
Kugel an dieſer Fahrt teilgenommen;
ſo konnte alſo ganz
natürlich
die zweite Wand des Wagens nicht ſo weit vorne
treffen
als die erfte.
Machen wir uns nun die Vorſtellung, daß jemand, der
im
Wagen ſitzt, unterſuchen will, in welcher Richtung der
Schuß
gekommen, ſo wird er aus den beiden Löchern in der
Wänden
ſchließen, daß der Schuß in ſchiefer Richtung auf
871247 Bahnzug abgefeuert worden ſein müſſe, und zwar von einer
Stelle
aus, die vor dem Zuge gelegen.
Nur derjenige, der
die
Geſchwindigkeit des fahrenden Zuges und die Geſchwindig-
keit
der Kugel mit in Rechnung bringt, wird die wahre
Schußlinie
von der ſcheinbaren zu unterſcheiden wiſſen
und
die Richtung genau angeben können, von wo aus
das
Piſtol auf den fahrenden Zug abgefeuert wurde.
Dieſe
Richtung
wird ſtets hinter derjenigen liegen, auf welche eine
gerade
Linie durch die beiden Löcher des Wagens hindeutet,
und
das heißt nichts anderes, als daß ein Menſch, der bloß
nach
der Lage der zwei Löcher des Wagens urteilt, ohne die
Geſchwindigkeiten
der Kugel und des Wagens in Betracht zu
ziehen
, dem Augenſchein nach die Richtung der Kugel ſtets ein
Stück
nach vorwärts herausfinden wird, wohin der Zug ſich
bewegt
.
In einem ganz gleichen Falle aber befinden wir Erd-
bewohner
uns, wenn wir von unſerm Wohnſitz aus, der mit
uns
eine jährliche Spazierfahrt um die Sonne macht, unſer
Auge
zu den Fixſternen erheben, die unbekümmert um uns ihre
Lichtſtrahlen
auf uns herabſenden.
Der Lichtſtrahl fliegt zwar
außerordentlich
geſchwind, aber die Geſchwindigkeit der Erde
in
ihrer Bahn um die Sonne iſt doch dagegen nicht ganz
geringfügig
.
Das Licht durchfliegt in einer Sekunde freilich
mehr
als 40 000 Meilen, wohingegen die Erde in ihrer Bahn
nur
4 Meilen in derſelben Zeit zurücklegt, das Licht iſt alſo
an
zehntauſend mal flinker als unſere Erde, aber trotz der
großen
Überlegenheit des Lichts iſt doch der Lauf der Erde
in
dieſer Beziehung nicht ganz unbemerkbar.
Denken wir uns
den
Lichtſtrahl eines Fixſterns wie eine Kugel ſenkrecht auf
den
Lauf der Erde abgeſchoſſen, ſo wird er uns dadurch ſicht-
bar
, daß er die Vorderwand des Auges, die glashelle Horn-
haut
paſſiert und zur Hinterwand dringt, wo ſich die Nerven-
tapete
ausbreitet.
Der Raum zwiſchen dieſen zwei
872248 unſeres Auges iſt freilich ſehr klein, nicht einmal ein Zoll
groß
, und die Zeit, mit welcher der Lichtſtrahl dieſen Raum
durchfliegt
, füllt noch nicht den zwölftauſendmillionſten Teil
einer
einzigen Sekunde aus, und dennoch hat in dieſer unfaßbar
kleinen
Zeit unſer Auge nicht ſtill geſtanden, ſondern iſt mit
der
Erde ungefähr den dreizehntauſendſten Teil einer Linie
ſeitwärts
fortgegangen.
Der Lichtſtrahl trifft alſo die Hinter-
wand
des Auges unter einem andern Winkel als die Vorder-
wand
, und da wir die Sterne ſtets in der Richtung ſehen, in
welcher
ihre Strahlen unſer Auge durchlaufen, vermögen wir
eben
ſo wenig ohne Berechnung der zwei Geſchwindigkeiten
die
wahre Stelle eines Fixſternes anzugeben, ſo wenig
jemand
imſtande iſt, die Richtung der abgeſchoſſenen Kugel
auf
den fahrenden Wagen zu beſtimmen, wenn er nicht die
Geſchwindigkeit
der Kugel und die des Wagens mit in Betracht
zieht
.
Was von unſerm Auge gilt, gilt auch von dem Fernrohr,
das
wir auf einen Stern richten.
In der kleinen Zeit, die das
Licht
braucht, um durch das Fernrohr zu gehen, rückt die Erde
ſamt
dem Fernrohr ein Stückchen weiter in der Bahn.
Will
man
alſo einen Fixſtern ſehen, ſo muß man das Fernrohr um
einen
kleinen Winkel verſchieben, deſſen Maß abhängt von dem
Verhältnis
der beiden Geſchwindigkeiten, der Licht- und der
Erdgeſchwindigkeit
zu einander.
Dieſe Thatſache und auch das
Maß
des Winkels hat nun ſchon der große Entdecker Bradley
genau
angegeben, ſo daß jeder Aſtronom noch heutigen Tages
hierauf
acht geben muß, ſobald er irgend eine Himmels-
erſcheinung
genau feſtſtellen will.
873249
XI. Die Geſchwindigkeit des Lichts und die
Größe der Erdbahn.
Wir haben im vorhergehenden Abſchnitt dargethan, wie
die
Entdeckung Bradley’s von der Abweichung oder der
Aberration
des Lichtes auf den zwei Thatſachen, auf der
Geſchwindigkeit
des Lichtes durch den Weltraum und der
Geſchwindigkeit
der Erde in ihrem Umlauf um die Sonne
beruht
.
Wir müſſen aber nunmehr daran erinnern, daß die
Kenntnis
beider Geſchwindigkeiten doch wiederum nur in einer
und
derſelben Vorausſetzung wurzelt, in der Vorausſetzung
nämlich
, daß wir die Entfernung der Erde von der Sonne
genau
kennen.
Die Geſchwindigkeit des Lichtes durch den Weltraum hat
Olav
Römer, wie wir bereits gezeigt haben, nur aus den
Verfrühungen
und Verſpätungen geſchloſſen, in welchen uns
die
Verfinſterungen der Jupiter-Monde ſichtbar werden, je
nachdem
die Erde dem Jupiter ſich nähert oder von ihm ent-
fernt
.
Aus dem geſamten Unterſchied dieſer Zeit, der 16 Minuten
26
Sekunden ausmacht, folgerte er ſehr richtig, daß das Licht
ſo
viel Zeit brauche, den Unterſchied in den Entfernungen zu
durchlaufen
, und da dieſer Unterſchied den ganzen Durchmeſſer
der
Erdbahn, oder die doppelte Entfernung der Erde von der
Sonne
beträgt, war er vollkommen berechtigt zu dem Schluß,
daß
das Licht ſo geſchwind durch den Weltraum gehe, daß es
die
Entfernung zwiſchen Erde und Sonne in 8 Minuten
13
Sekunden durchlaufe.
Wie groß aber dieſe Entfernung ſei? wieviel Meilen das
Licht
wirklich in jeder Sekunde durchlaufe?
konnte Olav Römer
nicht
wiſſen und hat hierüber auch keine Zahl angegeben.
Eben ſo wenig aber wie Römer’s Entdeckung konnte Bradley’s
Entdeckung
hierüber einen Aufſchluß bieten.
Bradley’s
874250 ſinn fand richtig heraus, daß die Geſchwindigkeit des Lichtes
in
Verbindung mit der Geſchwindigkeit der Erde in ihrer
Bahn
eine beſtimmte Abweichung des Lichtſtrahls ſowohl in
unſeren
Augen, wie im Fernrohr zu Wege bringe, Er war
auch
imſtande, das Maß dieſer Abweichung genau und
richtig
anzugeben, weil er das Verhältnis beider Geſchwin-
digkeiten
zu einander kannte.
Aber den abſoluten Wert
dieſer
Geſchwindigkeiten, das heißt die Zahl der Meilen
für
eine Sekunde
, vermochte auch er weder für das Licht
noch
für die Erde zu beſtimmen, da zu beiden Angaben
die
Kenntnis der Sonnen-Entfernung nötig iſt:
zur Licht-
geſchwindigkeit
, weil Römer’s Entdeckung nur lehrte, wie
ſchnell
das Licht den Durchmeſſer der Erdbahn durchläuft,
gleichviel
wie groß man denſelben annimmt, und zur Erd-
geſchwindigkeit
, weil ſich der Umfang ihrer Bahn eben ſo
wenig
in Meilen beſtimmen läßt, wenn man über die Meilen-
zahl
ihrer Entfernung von der Sonne im Ungewiſſen iſt,
ſo
wenig ſich der Umfang eines Kreiſes angeben läßt, deſſen
Halbmeſſer
unbekannt iſt.
Bradley’s große Entdeckung hat daher freilich die Ent-
deckung
Römer’s aufs glänzendſte beſtätigt.
Ja, Bradley hat
den
Raum der Römerſchen Entdeckung bis in die Unendlichkeit
hinaus
erweitert.
Was Römer zeigte, betraf nur das Licht
Jupiters
und ſeiner Monde, oder richtiger:
das Sonnenlicht,
welches
Jupiter ſamt ſeinen Monden zurückſtrahlt, während
Bradley
den Beweis führte, daß das Licht ſämtlicher Fixſterne,
wie
groß auch ihre unendliche Menge iſt, und von wie unermeßlich
fernen
Räumen es zu uns gelangt, wie verſchieden es auch an
Glanz
und an Farbe iſt, gleichviel ob es herrührt aus der
Milchſtraßen-Region
, der unſer ganzes Sonnenſyſtem als ver-
ſchwindendes
Pünktchen angehört, oder aus Nebelflecken ſtammt,
die
als ferne Milchſtraßen unſerm Auge erſcheinen, mit Einem
Worte
:
Bradley zeigte, wie dasſelbe Geſchwindigkeitsgeſetz
875251 Lichtes für alle Lichter des Himmels, aller Entfernungen, aller
Zonen
, ja ſogar auch aller Zeiten gilt, denn unter den ent-
fernten
Fixſternen des Himmels ſind auch ſolche, deren Licht viele
Jahrtauſende
braucht, um zu uns zu gelangen.
Bradley’s
Entdeckung
hat alſo das Gebiet der Wahrheit und der Er-
kenntnis
weit über Räume und Zeiten hinausgetragen, zu
welchen
ſich unſere Gedanken nur erheben können, wenn ſie
ſich
zur Unendlichkeit des Weltalls emporſchwingen.
Allein
die
Frage, die uns ſpeziell intereſſiert, die Frage nach der
abſoluten, nach Zeit und Raum beſtimmten Geſchwindigkeit
des
Lichtes, und ebenſo nach der abſoluten, in gleicher Weiſe
zu
beſtimmenden Geſchwindigkeit der Erde in ihrer Bahn,
konnte
auch Bradley’s Entdeckung nicht löſen, da zur Kenntnis
beider
abſoluten Geſchwindigkeiten die Kenntnis der abſoluten
in
Meilen auszudrückenden Entfernung der Erde von der
Sonne
gehörte, eine Kenntnis, die zu Bradley’s Zeiten noch
nicht
zu erreichen war.
Ja, das Streben, die abſolute Geſchwindigkeit des Lichts
kennen
zu lernen, mußte zu den Zeiten Römer’s und
Bradley’s noch ein viel größeres als vorher geworden ſein;
denn mit der Beantwortung dieſer Frage wäre ja auch eine
andere
Frage, die nach der Entfernung der Erde von der
Sonne
gelöſt, um welche ſich nachweisbar beide genannten
Forſcher
ſehr eifrig bemüht haben.
Wenn man aber ſchon vor den Zeiten Römer’s an dem
Gedanken
verzweifelte, die Geſchwindigkeit des Lichtes durch
ein
irdiſches Experiment kennen zu lernen, mußte man nach
der
Entdeckung Römer’s ſolchen Gedanken gewiß als einen
Wahn
aufgeben.
Man wußte durch Römer’s Entdeckung, daß
das
Licht in 8 Minuten 13 Sekunden von der Sonne bis zu
uns
kommt, man wußte aber auch ſchon durch Meſſungen, die
der
Freund Römer’s, der ältere Caſſini in Paris angeſtellt
hatte
, daß die Sonne ganz gewiß mehr als achtzehn
876252 Meilen von uns entfernt ſein müſſe. Hieraus war man alſo
ſchon
damals imſtande zu ſchließen, daß das Licht in einer
einzigen
Sekunde jedenfalls mehr als dreißigtauſend Meilen
dahin
fliegt.
Wie ſollte man ſolchen Flug auf unſerer Erde
meſſen
, die in ihrem ganzen Umfang nur 5400 Meilen beträgt,
einen
Raum, den das Licht in einer einzigen Sekunde achtmal
durcheilt
?
In der That finden wir keine Spur in der Geſchichte der
Wiſſenſchaft
, daß ſich der Menſchengeiſt bis auf unſere Zeit
daran
gewagt hätte, ſolche Geſchwindigkeiten auf Erden meſſen
zu
wollen.
Erſt als die merkwürdige Zwillingsſchweſter des
Lichtes
, als die Elektrizität vor dem Geiſte der Menſchen ſich
zu
enthüllen begann und kühner Forſchertrieb und treue
Wahrheitsliebe
auf die Vermutung kam, daß auch in dieſer
jetzt
ſo dienſtbar gewordenen Botin des Menſchengeiſtes eine
Schnelligkeit
waltet, die der des Lichtes, der Botin des Himmels,
wohl
gar den Preis ablaufen könnte;
erſt da geriet man nach
kühnen
Verſuchen über die Geſchwindigkeit der Elektrizität auf
Experimente
, die zur Meſſung der Geſchwindigkeit des Lichtes
führten
, und zwar zu Experimenten, welche, wie wir nunmehr
zeigen
werden, den Raum eines Zimmers hinreichend machen,
Geſchwindigkeiten
zu meſſen, für welche man bis dahin nur
Weltenräume
ausreichend erachtet hatte.
XII. Wie man größte Räume durch kleinſte
Zeitteilchen meſſen kann.
Der Plan, Geſchwindigkeiten, wie die des Lichts, durch
irdiſche
Experimente meſſen zu wollen, wurde in der That erſt
wieder
aufgenommen, nachdem einer der ſcharfſinnigſten
877253 lehrten Englands, der Naturforſcher Wheatſtone, einen genialen
Apparat
erſonnen hatte, die Geſchwindigkeit des elektriſchen
Stromes
zu meſſen.
Der elektriſche Strom hatte ſich nämlich aus Verſuchen,
die
man in England bereits in den Jahren 1745—1750 an-
geſtellt
hatte, als unmeßbar ſchnell ergeben.
Man machte die
Erfahrung
, daß, wenn man einen elektriſchen Funken in einem
Metalldraht
fortleitete, er am andern Ende des Drahtes, wie
lang
dieſer auch gewählt wurde, ſtets augenblicklich zum Vor-
ſchein
kam, und hieraus ſchloß man, daß der elektriſche Strom
eine
viel zu große Geſchwindigkeit habe, um mit unſeren
Apparaten
gemeſſen werden zu können.
Sollte ein Verſuch
derart
gelingen, ſo mußte ein Apparat erſonnen werden, der
Unterſchiede
der kleinſten Zeitteilchen einer Sekunde merkbar
machte
, und dergleichen ſchien zu den Unmöglichkeiten zu
gehören
.
Da trat denn Wheatſtone im Jahre 1825 zunächſt mit einem
Verſuche
auf, der den Beweis lieferte, wie im Bereich der Natur-
wiſſenſchaften
die ſogenannten Unmöglichkeiten ſich oft gar leicht
löſen
laſſen, ſobald ſie nur nicht dem Gebiet der Unwahrheiten
angehören
.
Er ſtellte einen höchſt einfachen Apparat her, der es
vorerſt
zweifellos machte, daß ſelbſt der millionſte Teil einer
einzigen
Sekunde für uns einen merkbaren, ja ſogar meßbaren
Zeitabſchnitt
ausmacht.
Wheatſtone’s Apparat beſtand aus einem kleinen Spiegel
von
der Größe eines Thalers, der mit großer Geſchwindigkeit
um
eine aufrecht ſtehende Axe gedreht wurde.
Brachte man in
einem
finſtern Zimmer das Auge an den Spiegel und beſah
durch
denſelben die Flamme eines brennenden Lichtes, ſo erſchien
ſie
natürlich, ſobald der Spiegel gedreht wurde, als langer
Lichtſtreifen
, wie ja bekanntlich im drehenden Spiegel jedes
Bild
, das man in demſelben ſieht, einen Rundlauf zu machen
ſcheint
.
Nun aber ließ Wheatſtone an die Stelle des
878254 lichtes einen elektriſchen Funken treten und ſagte ſich ganz richtig,
wenn
dieſer Funke auch nur eine ganz kleine Weile leuchtet,
ſo
wird während dieſer Zeit mein Spiegel eine kleine Drehung
machen
, und ich muß alſo auch den Funken wie einen kleinen
Lichtſtreifen
zu ſehen bekommen.
Der angeſtellte Verſuch er-
gab
aber, daß dies nicht der Fall war.
Wie ſchnell auch der
Spiegel
gedreht wurde, jeder elektriſche Funke wurde nur
als
Funke und nie als Lichtſtreifen geſehen.
Hieraus ſchloß
Wheatſtone
mit vollſter Gewißheit, daß ein elektriſcher Funke,
der
namentlich, wenn er hell und ſtark iſt, auf unſer Auge oft
ſo
wirkt, daß wir ihn nach vielen Sekunden noch zu ſehen
glauben
, dennoch nur äußerſt kurze Zeit exiſtiert, eine gar ſo
kurze
Zeit, daß die Drehung des Spiegels während derſelben
völlig
unmerklich wird.
Dieſer Apparat, der faſt wie ein Kinderſpiel einfach iſt,
hat
den geiſtvollen Erfinder auf Schlüſſe von der weitgreifendſten
Bedeutung
geführt.
Vor Allem wurde die Geſchwindigkeit
der
Umdrehung des Spiegels geregelt und gemeſſen, und nach
den
Geſetzen der Optik berechnet, wie kurz die Zeitdauer eines
elektriſchen
Funkens mindeſtens ſein muß, wenn er bei einer
gegebenen
Umdrehungs-Geſchwindigkeit des Spiegels immer
noch
als Funke und nicht als Streifen erſcheint.
Das Reſultat
war
freilich ein negatives.
Auch bei der allergrößten Ge-
ſchwindigkeit
, mit der der Spiegel gedreht wurde, erſchien der
Funke
ſtets als Funke, und nicht als Streifen, und dies gab
den
Beweis, daß die Zeitdauer eines elektriſchen Funkens für
unſere
Wahrnehmung faſt Null iſt.
Als in ſpäteren, mit ver-
beſſerten
Apparaten angeſtellten Verſuchen Wheatſtone’s die
Geſchwindigkeit
des Spiegels ſich noch mehr ſteigerte, erſchien
der
Funke zwar etwas verlängert, dieſe Verlängerung war aber
ſo
gering, daß er auch hieraus die wirkliche Dauer des elektriſchen
Funken
nicht beſtimmen konnte.
Aber dieſe negativen Reſultate
hatten
den unendlich wichtigen, poſitiven Wert, daß man
879255 mehr die Grenze der Meßbarkeit kleiner Zeitteilchen kennen
lernte
, denn die Theorie ergab, daß, wenn ein Funke auch nur
eine
Dauer hat, die den millionſten Teil einer einzigen Sekunde
ausmacht
, dies durch den Drehſpiegel nicht nur merkbar, ſondern
auch
meßbar werden müſſe.
Dies war der erſte derartige Verſuch Wheatſtone’s, der
die
Möglichkeit einer unglaublich erſcheinenden Zeitmeſſung be-
weiſt
.
Wheatſtone ging aber noch weiter und führte auf dieſem
Wege
eine Meſſungs-Methode ein, die, auf die Geſchwindigkeit
des
Lichtes angewendet, von der weitgreifendſten Bedeutung
wurde
.
Um dieſe Erweiterung in Wheatſtone’s Apparat deutlich
zu
machen, wollen wir uns vorſtellen, daß wir nicht einen,
ſondern
zwei elektriſche Funken in einem Zimmer erzeugen, und
die
Einrichtung ſo treffen, daß beide Funken in gerader ſenk-
rechter
Linie unter einander zu ſtehen kommen, ſo daß ſie beide
wie
der nebenſtehende Doppelpunkt (:)
erſcheinen. Betrachten wir
ſolch
zwei zugleich erzeugte Funken mit bloßem Auge, ſo haben
wir
nicht den geringſten Maßſtab des Urteils darüber, ob ſie
auch
wirklich gleichzeitig entſtanden ſind, oder ob der eine um
ein
kleines Zeitteilchen früher da iſt als der andere.
Nehmen
wir
aber zum Drehſpiegel unſere Zuflucht, und blicken wir unter
geeigneten
Vorrichtungen durch dieſen auf die zwei Funken,
ſo
werden wir eines ganz anderen Urteils fähig.
Entſtehen
nämlich
wirklich die zwei Funken gleichzeitig, ſo werden wir
ſie
im Drehſpiegel ebenfalls grade einen über dem andern
ſtehend
erblicken.
Kommt aber einer der Funken etwas
ſpäter
als der andere, ſo macht der Spiegel in der Zwiſchen-
zeit
eine Drehung, und der ſpäter erſcheinende Funke wird
nicht
mehr in gerader, ſenkrechter Linie mit dem früheren,
ſondern
von dieſem ab ſeitwärts geſchoben erſcheinen, ſo
daß
die zwei Funken in folgender Stellung (:)
im Spiegel
geſehen
werden.
880256
Dieſer Verſuch mit zwei Funken oder, genauer noch, mit
drei
Funken wurde von Wheatſtone angeſtellt, um zu ſehen, ob
ſich
ein Funke verſpätet, wenn er einen langen Draht zu durch-
laufen
hat.
Der Drehſpiegel hatte dabei eine ſolche Geſchwindig-
keit
, und die Anſtellung des Verſuchs war ſo genau, daß eine
Verſpätung
eines Funkens von einem millionſten Teil einer
einzigen
Sekunde ſchon eine merkbare und meßbare Verſchiebung
zu
Wege brachte.
Der Verſuch ergab denn auch wirklich, daß
die
Elektrizität eine Zeit braucht, um durch einen längeren Draht
zu
gehen, daß dieſe Zeit es bewirkt, daß der aus dem Draht
austretende
Funke ſich verſpätet gegen den Eintrittsfunken, und
alſo
ſeitwärts verſchoben im Drehſpiegel erſcheint;
und aus der
Größe
dieſer Verſchiebung gewann Wheatſtone das Reſultat,
daß
die Geſchwindigkeit der Elektrizität ſo groß iſt, daß ſie an
60
,000 Meilen in der Sekunde durchläuft, eine Zahl, die in
den
letzten Jahren als zu hoch gegriffen erkannt worden iſt,
da
die Geſchwindigkeit der Elektrizität derjenigen des Lichts
gleich
iſt.
Die Vorarbeiten in der Meſſung unendlich großer Räume
durch
unendlich kleine Zeit-Abſchnitte gingen den neueſten
Forſchungen
des Lichtes voran, die wir jetzt vorführen wollen.
XIII. Fizeau’s Meſſungen der Geſchwindigkeit
des Lichtes.
Nachdem Wheatſtone’s Verſuch die Möglichkeit dargethan
hatte
, unbegreiflich kleine Zeit-Abſchnitte zur Meſſung unbe-
greiflich
großer Geſchwindigkeiten zu benutzen, ließ ſich’s wohl
vorausſehen
, daß man die Geſchwindigkeit des Lichtes
881257 ebenſo werde durch ein Experiment meßbar machen können,
wie
die Geſchwindigkeit der Elektrizität.
Gleichwohl verging
faſt
ein Menſchenalter, ehe ſich die Naturforſcher auch dieſer
Aufgabe
bemächtigten.
Der Erſte, der einen glücklich erdachten, wenn auch nicht
von
wiſſenſchaftlich wichtigen Erfolgen begleiteten Verſuch zur
Meſſung
der Lichtgeſchwindigkeit anſtellte, war der franzöſiſche
Naturforſcher
Fizeau.
Obwohl dieſer Verſuch gegenwärtig
durch
Foucault’s Arbeiten überflügelt worden iſt, verdient doch
die
Methode von Fizeau volle Anerkennung, weshalb wir es
nicht
verabſäumen wollen, ſie unſeren Leſern vorzuführen.
Fizeaus Apparat beruhte auf folgendem Prinzip. Er be-
ſtand
aus einem Fernrohr, durch welches man auf einen Spiegel
blicken
konnte, der in einer Entfernung von einer Meile auf-
geſtellt
war.
Seitwärts vom Fernrohr war eine hellleuchtende
Lampe
angebracht, welche einen Lichtſtrahl in das Fernrohr
warf
, daſelbſt aber befand ſich ein ſo geneigter Spiegel, daß er
den
Lichtſtrahl auffing und denſelben nach dem entfernten
Spiegel
reflektierte, von wo ab er wieder zurückgeſtrahlt wurde
und
ins Fernrohr zurückkam.
Blickte man nun durch das
Fernrohr
, ſo ſah man das Licht der danebenſtehenden Lampe,
aber
nicht direkt, ſondern auf einem Umweg.
Der Lichtſtrahl
mußte
nämlich erſt ſeitwärts ins Fernrohr eindringen, ſo-
dann
mußte er den Weg von dem Fernrohr durch die ganze
Meile
hin machen, wo der Spiegel aufgeſtellt war, von
hier
aus wurde er ins Fernrohr hinein zurückgeſtrahlt, er
mußte
alſo noch eine Meile Wegs zurücklegen und konnte
nun
erſt von dem Auge geſehen werden, das man an das
Fernrohr
anlegte.
Nun aber brachte Fizeau an ſeinem Fernrohr noch folgende
Vorrichtung
an.
Er ließ in dasſelbe den Rand eines gezahnten
Rades
hineinragen, das an die Stelle, wo der Lichtſtrahl vom
Fernrohr
zum entfernten Spiegel und vom Spiegel zurück zum
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
882258
Fernrohr wandert, bald einen Zahn, bald eine Lücke treten
ließ
, wenn es gedreht wurde.
Stellte man einen Zahn des
Zahnrades
an dieſen Punkt, ſo konnte kein Licht zum entfernten
Spiegel
dringen und natürlich auch keins zurückſtrahlen.
Stellte
man
eine Lücke des Zahnrades an dieſen Punkt, ſo hatte der
Lichtſtrahl
die freie Paſſage hin und zurück, und wurde von
dem
Auge in dem Fernrohr geſehen.
Wenn aber das Zahnrad gedreht wurde und abwechſelnd
bald
Zahn bald Lücke an dem Punkte ſtand, den der Lichtſtrahl
ſowohl
auf dem Hin-, wie auf dem Rückwege zu durchlaufen
hatte
, ſo ſtellte ſich Folgendes heraus.
Wenn das Rad lang-
ſam
gedreht wurde, ging der Lichtſtrahl durch eine Lücke hin
und
kam flugs ſo ſchnell wieder zurück, daß er noch durch
dieſelbe
Lücke geſehen werden konnte.
Beim langſamen Drehen
hatte
das ſchnelle Licht vollauf Zeit zur Hin- und Rückfahrt,
ehe
noch ein Zahn des Zahnrades auf die Lücke folgte, um
dem
Licht den Heimweg abzuſchneiden.
Begann man jedoch
das
Rad ſchnell und ſchneller zu drehen, ſo kam es dahin, daß
der
Lichtſtrahl zwar durch jede Lücke hin zum Spiegel wan-
derte
, aber wenn er zurückkam, fand er ſeinen Weg durch
einen
Zahn verſperrt, ſo daß das Licht nicht bis zum Auge
des
Beobachters gelangen konnte.
Man ſah alſo in dieſem
Falle
gar kein Licht, weil jeder Lichtſtrahl, der durch eine
Lücke
ſeine Hinreiſe machte, bei ſeiner Heimkehr auf einen
Zahn
fiel.
Trieb man aber die Schnelligkeit des Rades noch
weiter
, ſo gelangte man wieder an eine Grenze, wo das Auge
des
Beobachters das Licht ſehen konnte, denn der Lichtſtrahl,
der
durch eine Lücke des Zahnrades hinging, fand, ſobald das
Rad
ſchnell genug gedreht wurde, bei ſeiner Rückkehr eine
Nachbarlücke
, durch die es hindurch konnte.
In ſolchem Falle
konnte
natürlich Fizeau mit Beſtimmtheit ſagen:
der Lichtſtrahl
braucht
genau ſo viel Zeit, um die Meile hin- und zurückzu-
laufen
, wie das drehende Rad braucht, um eine Lücke an
883259 Stelle der Nachbarlücke treten zu laſſen. Fizeau brauchte da-
her
nur die Geſchwindigkeit der Drehung des Zahnrades zu
meſſen
, ſodann die Zeitteilchen zu beſtimmen, in welchen bei
beſtimmter
Geſchwindigkeit die Zahnlücken auf einander folgen,
um
angeben zu können, wie geſchwind jeder Lichtſtrahl die
zwei
Meilen durchwandert.
Wie ſich’s von ſelbſt verſteht, waren an Fizeau’s Apparat
auch
all die Vorrichtungen angebracht, die nötig ſind, um die
Umdrehung
des Rades, wie das Folgen der Zähne und Lücken
aufeinander
genau zu beſtimmen.
Man konnte durch dieſe
Vorrichtungen
auch die Geſchwindigkeit der Rad-Umdrehung
ſo
regulieren, daß, während der Lichtſtrahl ſeinen Lauf hin
und
zurück durch die zwei Meilen machte, mehrere Zähne oder
Lücken
den Durchgangspunkt paſſierten und beliebig dem Licht-
ſtrahl
die Rückkehr verſperrten oder frei ließen.
Aus wieder-
holten
Verſuchen ergab ſich denn, daß das Licht eine Zeit von
circa
dem ein und zwanzigtauſendſten Teil einer Sekunde ge-
braucht
habe, um die Strecke von zwei Meilen zu durchlaufen
oder
genauer, daß das Licht in {1/18144} Sekunden durch 17266
Meter
ging, was ſo ungefähr mit der Lichtgeſchwindigkeit über-
einſtimmte
, welche man bis dahin auf aſtronomiſchem Wege
beſtimmt
hatte.
Das Sinnreiche in dem Verſuche von Fizeau hat, als er
damit
auftrat, mit Recht volle Anerkennung gefunden.
Obwohl
dieſe
Verſuche jetzt ſehr überflügelt ſind, läßt ſich wohl voraus-
ſehen
, daß einmal Verbeſſerungen an Fizeau’s Apparat auch
wiſſenſchaftlich
ſtrengere Reſultate würden ergeben können.
Der
Hauptſache
nach aber konnte der Verſuch wegen vieler Umſtände
nicht
auf jene Genauigkeit Anſpruch machen, um durch ihn
aſtronomiſche
Angaben zu verbeſſern.
Eine Entfernung von
einer
Meile iſt für feine Meſſungen eine zu unſichere Größe;
Zähne und Lücken eines Rades mögen wohl bei noch ſo
feiner
Arbeit ſtets Unſicherheiten in Beobachtung von
884260 ſtrahlen darbieten; hauptſächlich aber iſt die Empfindlichkeit
eines
ſolchen Apparates ſehr gering im Vergleich mit der
eines
Drehſpiegels, wie ihn Wheatſtone zur Meſſung der
Elektrizitäts-Geſchwindigkeit
angewendet hatte.
Wir werden
daher
ſehen, wie Foucault, der dieſen Weg Wheatſtone’s
wieder
aufnahm, zu glücklicheren und wichtigeren Reſultaten
als
ſeine Vorgänger in der Meſſung der Lichtgeſchwindigkeit
gelangen
konnte.
XIV. Genauere Beſtimmung der Licht-
Geſchwindigkeit.
Die Erfindung Wheatſtone’s, ſich eines drehenden Spiegels
zur
Meſſung großer Geſchwindigkeit in ſehr kleinen Zeiten zu
bedienen
, wurde unſeres Wiſſens ſchon einmal um das Jahr
1840
von Arago in Paris auf das Licht angewendet, um zu
ermitteln
, ob ſich ein Lichtſtrahl verſpäte, wenn er durch Waſſer
geleitet
wird, im Vergleich mit einem Lichtſtrahl, der durch
die
Luft ſeinen Weg nimmt.
Der Aragoſche Verſuch ſcheint
indeſſen
auf Schwierigkeiten geſtoßen zu ſein, die ſein Ergebnis
unſicher
machten, weshalb denn auch jetzt des Verſuches, der
anfangs
viel verſprechend zu ſein ſchien, keine weitere Erwäh-
nung
geſchieht.
Der Naturforſcher Foucault in Paris hatte
indeſſen
in ſpäterer Zeit die Erfindung Wheatſtone’s wieder
aufgenommen
und durch verbeſſerte Einrichtungen eine Meſſung
der
Lichtgeſchwindigkeit bewerkſtelligt, welche an Feinheit kaum
etwas
zu wünſchen übrig läßt.
Um unſeren Leſern eine Vorſtellung von dieſen Meſſungen
zu
geben, wollen wir zunächſt bemerken, daß der ganze Ap-
parat
Foncault’s im Raume eines gewöhnlichen Zimmers
885261 geſtellt iſt, alſo der weiten Strecken, wie der Verſuch von
Fizeau
, nicht bedarf;
auch ſind die Meſſungen Foucault’s
mittelſt
eines Mikroſkops ausgeführt, das große Feinheiten
der
Meſſungen zuläßt.
Der Apparat ſelbſt beſitzt folgende
Einrichtung
.
Vor einem Mikroſkop, an das der Beobachter ſein Auge
bringen
kann, befindet ſich ein kleiner, von Sonnenſtrahlen be-
leuchteter
Glasſpiegel mit Silberbelegung, in welchem äußerſt
feine
, ſenkrechte Striche gezogen ſind, die {1/10} Millimeter, alſo
etwa
in der Breite eines feinen Menſchenhaares von einander
abſtehen
.
Beim Blick durch das Mikroſkop ſieht man dieſe
Striche
, die von einem der vorzüglichſten Mechaniker in Paris
mit
großer Genauigkeit gezeichnet ſind, ſehr deutlich und
vermag
ihre Lage mit großer Schärfe zu meſſen.
Wir nennen
dieſe
Spiegelplatte mit den feinen Strichen:
das Seh-
Zeichen
.
Drei Fuß ab von dieſem Seh-Zeichen befindet ſich ein
kleiner
, aufrecht ſtehender Spiegel, welcher durch ein Triebwerk
von
großer Gleichmäßigkeit um eine ſenkrechte Axe gedreht
werden
kann.
Für den Augenblick wollen wir annehmen, daß
der
Spiegel, den wir fortan Drehſpiegel nennen wollen,
nicht
gedreht wird und ſich in einer Stellung befindet, wo er
das
Licht des Seh-Zeichens wiederſpiegelt und auf einen ihm
gegenüberſtehenden
Hohlſpiegel wirft, der in etwa zwölf Fuß
Entfernung
aufgeſtellt iſt.
Von dieſem Hohlſpiegel aus hat
das
Licht aber noch weitere Wanderungen durch vier andere
Hohlſpiegel
zu machen, die in gleich weiter Entfernung von
12
Fuß einander gegenüberſtehen und ſo eingerichtet ſind, daß
ſie
das Licht der Reihe nach, von einem zum andern ſpiegeln,
bis
es an den fünften Hohlſpiegel kommt.
Dieſer iſt ſo ſenk-
recht
zum Lichtſtrahl geſtellt, daß er das Licht genau in der-
ſelben
Linie zurückwirft, wie er es empfangen, und ſomit einen
Rücklauf
des Lichtes durch die ganze Reihe der
886262 veranlaßt, durch welche es wieder heimkehrend auf die Fläche
des
Drehſpiegels gelangt.
Denken wir uns den Drehſpiegel
noch
immer ruhend, ſo wird das rückkehrende Bild des Seh-
Zeichens
genau mit dem Seh-Zeichen zuſammenfallen und
durch
das Mikroſkop betrachtet nur einfach und in der ur-
ſprünglichen
Lage erſcheinen.
Sobald jedoch der Drehſpiegel
in
Umdrehung verſetzt wird, findet das Licht des Seh-Zeichens,
wenn
es aus den Hohlſpiegeln wieder heimkehrt, den Dreh-
ſpiegel
nicht mehr an derſelben Stelle als auf der Hinreiſe.
Der Drehſpiegel hat in der geringen Zeit, die das Licht zur
Durchwanderung
der Strecke zwiſchen allen Spiegeln hin und
zurück
gebraucht, eine kleine Wendung gemacht und wirft den
heimkehrenden
Strahl nicht mehr in derſelben Linie zurück, wie
er
ihn empfing.
Es fallen demnach die Bilder des Seh-Zeichens
nicht
mehr auf einander, ſondern das heimkehrende Bild iſt
wegen
der Drehung des Spiegels ein wenig verſchoben.
In-
dem
man nun dieſe Verſchiebung genau durch das Mikroſkop
mißt
, vermag man bei genauer Kenntnis der Geſchwindigkeit,
mit
der der Drehſpiegel gedreht wurde, die Zeit zu berechnen,
die
das Licht gebraucht hat, um die Wanderung hin und zurück
durch
die ganze Strecke zu machen, die zwiſchen all den
Spiegeln
liegt.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Genauigkeit all der
nötigen
Meſſungen abhängig iſt von der Feinheit ſämtlicher
Teile
des Apparates und der Schärfe, die ſie für die Beobach-
tung
gewähren.
Da nun die Leiſtungen des Apparates ſehr
zuverläſſig
waren, konnte das Reſultat im Vergleich mit dem
von
Fizeau ein genaueres ſein.
Die Rechnung ergab nach ſehr
fleißig
wiederholten Meſſungen, daß das Licht in einer Sekunde
rund
298 000 Kilometer oder 40 367 geographiſche Meilen
durchläuft
.
So hat denn ein Experiment, angeſtellt im Raume eines
Zimmers
, durch eine Meſſung von haarfeinen Strichen,
887263 eine Frage entſchieden, die Erſcheinungen betrifft, welche im
weiten
Himmelsraum ſpielen, und Fernen in ſich begreift, zu
welchen
ſich nur der Geiſt der Wiſſenſchaft erhebt, die kühn
über
Zeiten und Räume ihre Bahnen verfolgt.
Das Merk-
würdigſte
aber iſt hierbei die Übereinſtimmung, die ſich auch
hieraus
ergiebt, daß man bis jetzt die Sonnen-Entfernung zu
groß
angenommen und darum bisher die Geſchwindigkeit des
Lichtes
zu hoch berechnet hat.
Die Geſchwindigkeit des Lichtes,
wie
ſie Foucault durch ſeine Verſuche feſtgeſtellt, entſpricht
ganz
und gar den Reſultaten all der bereits angeführten, neuen
aſtronomiſchen
Forſchungen, nach welchen die früher ange-
nommene
Entfernung der Sonne von der Erde um {1/30} ver-
mindert
werden muß.
XV. Schlußbetrachtung.
Die Übereiuſtimmung, welche ſich in den neueſten Ergeb-
niſſen
der Naturforſcher über die Sonnen-Entfernung zeigt,
gewährt
eine Bürgſchaft für die Sicherheit des Reſultats, wie
ſie
in ſolchem Grade ſelten auf wiſſenſchaftlichem Gebiete zu
erreichen
iſt.
Es liegt aber auch in dieſer Übereinſtimmung
ein
Zeugnis für die Wahrhaftigkeit des Strebens der Natur-
wiſſenſchaft
, wie es in ſo glänzender Weiſe in keinem andern
Zweige
der menſchlichen Forſchung nachzuweiſen iſt.
Die Sicherheit des Reſultats betreffend brauchen wir nur
darauf
hinzuweiſen, wie es äußerſt ſelten in der Wiſſenſchaft
vorkommt
, daß irgend eine Frage auf fünf verſchiedenen
Wegen
, die zu einander in keiner Beziehung ſtehen, gelöſt
werden
kann.
Man hält in der Regel ſchon jedes wiſſenſchaft-
liche
Reſultat für ſehr zuverläſſig, wenn zwei
888264 Methoden ein übereinſtimmendes Ergebnis liefern, wodurch die
möglichen
Fehler und Irrtümer der einen Methode durch die
andere
korrigiert würden.
Fünf unabhängig von einander
unternommene
Unterſuchungen, die zu einem und demſelben
Reſultate
führen, gewähren ſchon eine Zuverſicht, die jeden
Zweifel
niederſchlägt.
Mehr aber noch als dieſe Zuverſicht des wiſſenſchaftlichen
Reſultates
iſt die Wahrheitstreue erfreulich, welche in all
ſolchen
Fällen zum Ruhme der Naturwiſſenſchaft an das
Licht
tritt.
Vergleichen wir nämlich dieſe Wiſſenſchaft, wie ſie ſich
auf
dem Boden der thatſächlichen Wirkſamkeit hält, mit irgend
einer
anderen, die auf ſpekulativen Grundſätzen beruht, ſo
nehmen
wir wahr, daß im Reiche der Naturwiſſenſchaft der
Fortſchritt
in der immer wachſenden Genauigkeit beſteht, mit
welcher
die Erſcheinungen beobachtet werden, und mit der man
Schlüſſe
zu ziehen imſtande iſt, die der Wahrheit immer näher
und
näher kommen.
Hier iſt eine neue Methode der Unter-
ſuchung
nicht eine Verwerfung, ſondern eine Verbeſſerung
der
älteren.
Betreten auf dem Gebiete der Naturwiſſenſchaft
verſchiedene
Forſcher verſchiedenartige Bahnen zu einem Ziele,
ſo
wird jeder von ihnen nur dann ſein gefundenes Reſultat
für
ſicher halten, wenn es nicht in Widerſpruch, ſondern in
Übereinſtimmung
ſteht mit den gefundenen Reſultaten der
anderen
.
In den ſogenannten ſpekulativen Wiſſenſchaften iſt
gerade
das Gegenteil der Fall.
Ein jeder Forſcher philoſo-
phiert
nicht nur in eigener Weiſe fort, ſoudern ſieht den Wert
ſeiner
Philoſophie darin, daß ſie durchaus anders ſei, als die
ſeines
Vorgängers.
Er beginnt die ganze Wiſſenſchaft immer
noch
einmal von vorne und baut ſein Syſtem ſtets nur auf,
damit
dieſes, wie die Erfahrung lehrt, von ſeinem Nachfolger
nicht
fortgebaut, ſondern umgeſtoßen und auf Grund neuer
ſpekulativer
Ideen ganz neu wieder aufgerichtet werde.
889265
Der ſiegreiche Gang der Naturwiſſenſchaft beruht denn
auch
in der That in dieſem ſtetigen Fortbau der Wahrheit, in
dem
, was in Wirklichkeit eine volle Geſchichte des Fortſchrittes
bereits
aufzuweiſen hat.
Was beiſpielsweiſe zur Erforſchung
der
Sonnen-Entfernung Tycho vermutet, was Caſſini erſtrebt,
was
Halley gehofft, was Encke berechnet, was Hanſen ver-
beſſert
, was Leverrier korrigiert, was neuere Meſſungen der
Mars-Entfernung
ergeben und Foucault’s Experimente lehren,
all’
das ſind immer fort und fort ſtete Näherungen zur Wahr-
heit
.
Jeder Schritt im Tempel des wahren Wiſſens entſcheidet
Fragen
, ohne einen Streit zu entzünden, und betreten verſchie-
dene
Jünger verſchiedene Pforten, ſo wird es als höchſter
Triumph
der Wiſſenſchaft und als Zeugnis ihres wahrhaften
Strebens
betrachtet, wenn ſie zuſammentreffend zum gemein-
ſamen
Ergebnis gelangen.
Dieſe herrliche Harmonie, die wir als beſte Bürgſchaft der
Wahrheit
und edelſtes Zeugnis des fortſchreitenden Wiſſens
zu
betrachten haben, legt uns aber auch ganz beſonders die
Pflicht
auf, die höchſte Achtung und treueſte Verehrung der-
jenigen
Wiſſenſchaft und all ihren Trägern und Jüngern zu
zollen
, die die Grundbaſis all unſerer Natur-Erkenntnis, ja
die
all unſeres realen Wiſſens bildet.
Die Aſtronomie, die
Kenntnis
des unendlichen Weltbaues, die Einſicht in die
Fernen
, zu denen der Menſchenblick nur mit Scheu ſich empor-
richtet
, die Erklärung der Erſcheinungen, von denen der Geiſt
der
Menſchen durch Jahrtauſende in demutsvoller Unwiſſenheit
zagend
ſtand, die Lehren der Bewegungen, deren Rätſel zu
enthüllen
einſt Vermeſſenheit erſchien, die Beſtimmung von
Kräften
und Wirkungen, von Fernen und Geſchwindigkeiten,
zu
welchen ſich ſonſt die menſchliche Phantaſie nicht empor
gewagt
;
die Aſtronomie iſt die Urquelle des wahren
Fortſchrittes
ſchon von allen Zeiten her, und ſie iſt gegen-
wärtig
auch der Beleg und der Prüfſtein der meiſten
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XVI.
890266
Wahrheiten, die wir auf dem Gebiete des realen Wiſſens
erringen
.
Wir haben in unſerem Thema mehrfach der Störungs-
Rechnungen
gedacht, durch welche ſowohl Hanſen wie Le-
verrier
auf die erwähnten Reſultate über die Sonnen-Ent-
fernung
geführt worden ſind.
Wir haben hier in unſerer
Schlußbetrachtung
die Pflicht es auszuſprechen, daß keine dieſer
Rechnungen
möglich geweſen wäre und ebenſo keine in irgend
einem
Punkte hätte eine Entſcheidung gewähren können, wenn
den
rechnenden Aſtronomen nicht als Belege und Prüfſteine
ihrer
kühnen Kombinationen die fleißigſten Beobachtungen zu
Gebote
geſtanden hätten, welche auf den Sternwarten durch
lange
Jahrzehnte ganz objektiv und ohne jede vorgefaßte
Meinung
angeſtellt und mit Sorgſamkeit notiert werden.
Dieſe unzähligen Beobachtungen und Meſſungen, die an ſich
nur
Thatſachen feſtſtellen, ohne zunächſt Folgerungen daraus
zu
ziehen, bilden die feſte Grundlage, auf die allein der ſpäter
auftretende
, rechnende Denker ſich zu ſtützen vermag, wenn er
von
neuen Ideen erfaßt nach neuen Aufſchlüſſen und Ent-
deckungen
ſtrebt.
Die unausgeſetzten Meſſungen auf den euro-
päiſchen
Sternwarten im Verein mit den Meſſungen aller
beſſeren
Obſervatorien fremder Weltteile ſind Regiſtrierungen
thatſächlicher
Erſcheinungen, die den Leitfaden geiſtiger For-
ſchungen
abgeben für oft erſt ſehr ſpät ans Licht tretende
Folgerungen
und Erkenntniſſe.
Es iſt ein Ineinanderwirken
und
eine Gemeinſamkeit der Leiſtungen, deren Frucht erſt die
kommenden
Zeiten genießen, wenn nach der Feſtſtellung der
Wirklichkeit
der Erſcheinungen die Geiſter auftreten, welche
die
Geſetze derſelben zu entwickeln, die Rätſel zu löſen ver-
ſtehen
.
Die Aſtronomie iſt eine der unbezwinglichſten Fortſchritts-
Wiſſenſchaften
von Alters her.
Sie iſt es, die den Schein
zerſtört
, die das Vorurteil am gründlichſten vernichtet, die
891267 Menſchengeiſt am kühnſten von den Schranken des Wahns
und
des Aberglaubens frei macht und die zu allen Zeiten
Troſt
, Erholung und Erhebung bietet, wenn man in düſtern,
geiſtbedrückenden
Verhältniſſen und herzbekümmernden Zu-
ſtänden
bei ihr Zuflucht ſucht!
Möge, wie in ihrem Bereiche, auch auf jedem geiſtigen
Gebiete
des menſchlichen Fortſchrittes die Zeit ungetrübter
Wahrheiten
bald nahen!
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
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