Bernstein, Aaron, Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 6/11, 1897

Bibliographic information

Author: Bernstein, Aaron
Title: Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 6/11
Year: 1897
Number of Pages: 713
Series Volume: 6/11
Number of Volumes: 21

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Copyright: Max Planck Institute for the History of Science (unless stated otherwise)
License: CC-BY-SA (unless stated otherwise)
Table of contents
1. Page: 0
2. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Hotonié und R. Hennig. Sechster Ceil. Page: 5
3. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 5
4. Inhaltsverzeichnis. Page: 7
5. I. Wichtigkeit der Chemie fürs Leben. Page: 9
6. II. Sauerſtoff mit Kohle und mit Schwefel. Page: 11
7. III. Sauerſtoff und Phosphor. — Sauerſtoff und Eiſen. Page: 13
8. IV. Wie gewinnt man Sauerſtoff? Page: 16
9. V. Was iſt eine ſogenannte chemiſche Verbindung? Page: 19
10. VI. Die Verbrennung. Page: 22
11. VII. Die Lehre der Chemie über das Verbrennen. Page: 24
12. VIII. Chemie allenthalben. Page: 27
13. IX. Die Wanderung des Sauerſtoffes durch unſeren Körper. Page: 30
14. X. Atmen und Einheizen. Page: 33
15. XI. Die chemiſche Wärme. Page: 35
16. XII. Die Chemie in aller Welt Händen. Page: 37
17. XIII. Verſuche mit einem Zündhölzchen. Page: 40
18. XIV. Ein chemiſches Geſetz. Page: 42
19. XV. Einiges vom Waſſerſtoff. Page: 45
20. XVI. Anleitung zu einem Verſuch. Page: 47
21. XVII. Von der Zerlegung des Waſſers auf elektriſchem Wege. Page: 51
22. XVIII. Etwas vom Stickſtoff. Page: 52
23. XIX. Die chemiſche Trägheit des Stickſtoffes und deren wohlthätige Folgen. Page: 55
24. XX. Merkwürdige Verbindungen des Stickſtoffs. Page: 58
25. XXI. Was iſt Kohlenſtoff? Page: 62
26. XXII. Kohle und Diamant. Page: 66
27. XXIII. Sonderbare Eigenſchaften des Kohlenſtoffs. Page: 68
28. XXIV. Einige Verſuche mit Kohlenſäure. Page: 71
29. XXV. Kleine Verſuche und große Folgerungen. Page: 73
30. XXVI. Ein wenig organiſche Chemie. Page: 78
31. XXVII. Die wichtigen Aufgaben der organiſchen Chemie. Page: 81
32. Naturwiſſenſchaftliche Volkshiicher von A. Bernſtein. Fünſte, reich illuſtrierte Aufſage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Siebenter Teil. Page: 85
33. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 85
34. Inhaltsverzeichnis. Page: 87
35. I. Naturwiſſenſchaft, Weltgeſchichte und ſoziale Frage. Page: 89
36. II. Die landwirtſchaftliche Chemie, der Keim, die Frucht und einige Verſuche. Page: 94
37. III. Die chemiſche Werkſtatt der Pflanze. Page: 98
38. IV. Die Nahrung der Pflanze. Page: 101
39. V. Die Speiſung der Pflanze durch die Wurzel. Page: 105
40. VI. Womit und wie man die Pflanzen füttern muß. Page: 107
41. VII. Die Düngung des Feldes. Page: 109
42. VIII. Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung des Düngers. Page: 112
43. IX. Die Entdeckung neuer Stoffe. Page: 114
44. X. Die freiwilligen Veränderungen der Pflanzen- ſtoffe. Page: 118
45. XI. Die Bereitung von Mehl und Stärke aus einer Kartoffel. Page: 120
46. XII. Die Verwandlung der Kartoffel in Zucker. Page: 123
47. XIII. Die Dienſte der Schwefelſäure oder des Malzes. Page: 125
48. XIV. Kann man nicht aus Holz Zucker machen? Page: 127
49. XV. Die Verwandlnng des Zuckers durch Gährung. Page: 131
50. XVI. Was die Gährung für Veränderung hervorbringt. Page: 134
51. XVII. Die Bildung von Met, Rum, Wein und Bier. Page: 137
52. XVIII. Die Fabrikation des Bieres in ſeinen verſchiedenen Sorten. — Die Bildung des Äthers aus Alkohol. Page: 140
53. XIX. Die Verwandlung des Alkohols in Eſſig. Page: 142
54. XX. Die ſchnellere Verwandlung des Alkohols in Eſſig. Page: 145
55. XXI. Die Bedeutung der Chemie als Wiſſenſchaft. Page: 148
56. XXII. Die höchſte Aufgabe der Tierchemie. Page: 150
57. Über Bäder und deren Wirkung. I. Was das Waſſer alles kann. Page: 154
58. II. Wir leben in einem Luftbade. Page: 156
59. III. Wie Waſſer ein ander Ding iſt. Page: 159
60. IV. In was für Haut wir ſtecken. Page: 161
61. V. Die Verdunſtung durch die Haut. Page: 164
62. VI. Einteilung der Bäder. Page: 167
63. VII. Das Reinigungsbad. Page: 170
64. VIII. Die Empfindlichkeit und die Geſundheit. Page: 173
65. IX. Die Ginwirkung des Waſſer-Druckes. Page: 176
66. X. Die Haut als durchdringliche Wand. Page: 178
67. XI. Die Anregung der Haut-Thätigkeit. Page: 181
68. XII. Die lebendige Gegenwirkung. Page: 184
69. XIII. Die warmen Bäder. Page: 187
70. XIV. Die Gegenwirkung im kalten Bade. Page: 190
71. XV. Schlußbetrachtungen. Page: 193
72. XVI. Anhang: Die Kneipp-Kur. Page: 196
73. Naturwiſſenſchaftliche Volksbiicher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Achter Ceil. Page: 201
74. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 201
75. Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 202
76. Inhaltsverzeichnis. Page: 203
77. Etwas vom Alter der Grde. I. Das Leben der ſogenannten “toten Natur.” Page: 205
78. II. Wie entſtehen die Berge und die Meere? Page: 209
79. III. Die Wirkung entgegengeſetzter Kräfte auf die Erde. Page: 211
80. IV. Wie ſieht es im Innern der Erde aus? Page: 215
81. V. Die harte Erdſchale. Page: 218
82. VI. Die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der Erde. Page: 221
83. VII. Geſteine, die ſich unter dem Waſſer gebildet haben. Page: 224
84. VIII. Unterſchied der Geſteinarten. Page: 227
85. IX. Unterſchied in Bezug auf das Vorkommen der Geſteine. Page: 231
86. X. Die gegenwärtige Umbildung der Erde. Page: 233
87. XI. Das norddeutſche Flachland. Page: 241
88. XII. Die Braunkohle und ihre Entſtehung. Page: 244
89. XIII. Der Bernſtein. Page: 249
90. XIV. Die Eiszeit. Page: 261
91. XV. Wie alt iſt der gegenwärtige Zuſtand der Erde? Page: 277
92. XVI. Wie lange Zeit brauchte die Erdrinde, um zu erkalten? Page: 280
93. XVII. Haben wir noch eine Umwälzung der Erde zu erwarten? Page: 282
94. XVIII. Iſt eine einſtmalige Rückbildung der Erde denkbar? Page: 285
95. XIX. Veränderungen, die man an den Kometen beobachtet. Page: 288
96. XX. Das Entſtehen und Vergehen der Fixſterne. Page: 295
97. XXI. Nebelflecke. Page: 298
98. Von der Umdrehung der Grde. I. Die Uhr. Page: 304
99. II. Das Pendel. Page: 308
100. III. Die Taſchenuhren. Page: 314
101. IV. Rotiert die Erde gleichmäßig? Page: 318
102. V. Der Umlauf des Mondes. Page: 321
103. VI. Scheinbare Beſchleunigung des Mondes. Page: 324
104. VII. Wie der Mond unſere Tage länger macht. Page: 327
105. Von der Geſchwindigkeit des Lichtes. I. Vom Licht. Page: 332
106. II. Der Poſtenlauf des Lichtes. Page: 334
107. III. Was uns der Planet Jupiter angeht. Page: 337
108. IV. Wie die Geſchwindigkeit des Lichtes gemeſſen wurde. Page: 339
109. V. Die weiteren Beſtätigungen. Page: 342
110. VI. Die Entdeckung Bradleys. Page: 344
111. VII. Wie Bradley die Ab-Irrung des Lichtes entdeckte. Page: 347
112. VIII. Ein Blick in die Unendlichkeit. Page: 350
113. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. @otonié und R. Hennig. Neunter Teil. Page: 353
114. Berſin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 353
115. Inhaltsverzeichnis. Page: 355
116. Von der Entwickelung des tieriſchen Lebens. I. Vom Ei und vom Leben. Page: 357
117. II. Von dem Studium der Entwickelung des Lebens. Page: 360
118. III. Die Brütung des Eies. Page: 364
119. IV. Was ſteckt eigentlich im Ei? Page: 367
120. V. Beſehen wir uns das Ei. Page: 370
121. VI. Wie die Rechnung genau ſtimmt. Page: 374
122. VII. Wie ein Ei zur Welt kommt. Page: 377
123. VIII. Das Ei in der Bildungsanſtalt. Page: 381
124. IX. Was man ſieht und was man nicht ſieht. Page: 384
125. X. Nach der Brütung von ſechs und von zwölf Stunden. Page: 391
126. XI. Inwiefern das Hühnchen durch die Art ſeiner Entwickelung auf ſeine Ur-Vorfahren weiſt. Page: 394
127. XII. Wir ſehen etwas vom Hühnchen. Page: 397
128. XIII. Das Hühnchen iſt einen Tag alt. Page: 400
129. XIV. Ein Blick in die Hühnerfabrik. Page: 403
130. XV. Wie Einem Hören, Sehen und Denken vergehen kann. Page: 407
131. XVI. Ein Weſen von Kopf und Herz. Page: 410
132. XVII. Das lebendige Drei-Blatt. Page: 413
133. XVIII. Wie viel das Hühnchen am dritten Tage zu thun hat. Page: 416
134. XIX. Drei neue Lebenstage. Page: 419
135. XX. Wie das Hühnchen anfängt, Tauſchgeſchäfte zu machen. Page: 423
136. XXI. Das Kommiſſionsgeſchäft für ungeborene Weſen. Page: 426
137. XXII. Das Hühnchen wird ſeinen Eltern immer ähnlicher. Page: 429
138. XXIII. Bis zum Auskriechen. Page: 432
139. XXIV. Wie das Hühnchen ſich reiſefertig für das Leben macht. Page: 435
140. XXV. Gin gedankenſchwerer Abſchied vom Hühnchen. Page: 438
141. Dom Hypnotismus. I. Einleitende Bemerkungen. Page: 442
142. II. Das Weſen der Suggeſtion. Page: 443
143. III. Von den “Wachſuggeſtionen”. Page: 445
144. IV. Eine Hinrichtung durch Suggeſtion. Page: 448
145. V. Die Suggeſtionen im gewöhnlichen Schlaf. Page: 449
146. VI. Das Nachtwandeln. Page: 451
147. VII. Die Herbeiführung des hypnotiſchen Schlafes. Page: 453
148. VIII. Die Erſcheinungen während des leichteren hypnotiſchen Schlafes. Page: 456
149. IX. Die Erſcheinungen während des hypnotiſchen Tiefſchlafes. Page: 458
150. X. Die ſogenannte Poſthypnoſe. Page: 465
151. XI. Vom verbrecheriſchen Mißbrauch des Hypnotismus. Page: 469
152. XII. Iſt die Hypnoſe nicht ſchädlich? Page: 473
153. XIII. Der Nutzen des Hypnotismus. Page: 476
154. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich iſſuſtrierte Aufſage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Zehnter Teil. Page: 481
155. Berſin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 481
156. Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 482
157. Inhaltsverzeichnis. Page: 483
158. Dom Leben der Pflanzen, der Ciere und der Menſchen. I. I. Das Leben in ſeinen verſchiedenen Arten. Page: 485
159. II. Die ſogenannte “tote” und “lebende” Natur. Page: 488
160. III. Tod und Leben. Page: 491
161. IV. Die Stufenreihen des Lebens. Page: 494
162. V. Die einfachſten Pflanzen. Page: 497
163. VI. Die Einzelzelle. Page: 500
164. VII. Wachstum und Verbreitung der Einzelzelle. Page: 503
165. VIII. Wie die Pflanzen wachſen. Page: 506
166. IX. Lebensthätigkeit der Pflanze. Page: 508
167. X. Die Verwandlung unbelebter Stoffe in belebte durch die Pflanze. Page: 510
168. XI. Von dem Rätſel des Lebens. Page: 513
169. XII. Die eigne Art des Wachstums der Pflanze. Page: 515
170. XIII. Die Bildung des Baumes. Page: 518
171. XIV. Genaueres über den inneren Bau der Pflanzen. Page: 520
172. XV. Mittel zur Erreichung der Feſtigkeit bei den Pflanzen. Page: 522
173. XVI. Die Zellen des Skelettgewebes. Page: 524
174. XVII. Die Bedeutung der Steinkörper im Frucht- fleiſche der Birnen. Page: 525
175. XVIII. Die Eigenſchaften der Skelettzellen. Page: 530
176. XIX. Anordnung des Skelettgewebes im Pflanzen- körper. Page: 532
177. XX. Allſeitig biegungsfeſte Organe. Page: 535
178. XXI. Bau der auf Zug in Anſpruch genommenen Organe. Page: 541
179. XXII. Das Leben eines Baumes. Page: 543
180. XXIII. Das Wunder der Blüte. Page: 546
181. XXIV. Ein ſich klärendes Rätſel. Page: 549
182. XXV. Das Rätſel des Lebens und das Rätſel des Todes. Page: 550
183. XXVI. Vom Leben des Tieres. Page: 552
184. XXVII. Der Übergang von den Pflanzen zur Tierwelt. Page: 555
185. XXVIII. Die Entwickelung der Tierwelt. Page: 558
186. XXIX. Die Selbſtzeugung. Page: 561
187. XXX. Zur Geſchichte des Tierlebens auf der Erde. Page: 565
188. XXXI. Empfindungen und Bewegungen der Tiere. Page: 568
189. XXXII. Der Wohuſitz der Empfindung im Tiere. Page: 571
190. XXXIII. Wo man die Schmerzen hat. Page: 574
191. XXXIV. Weitere Verſuche über die Empfindungen. Page: 577
192. XXXV. Das Pflanzenleben der Tiere. Page: 580
193. XXXVI. Das ſympathiſche Nervenſyſtem. Page: 583
194. XXXVII. Von der Innen- und Außenwelt. Page: 586
195. XXXVIII. Das Tier und die Außenwelt. Page: 589
196. XXXIX. Wie die Eindrücke der Außenwelt den Weg zum Gehirn finden. Page: 592
197. XL. Von den übrigen Sinnesnerven. Page: 595
198. XLI. Die Fähigkeit der Bewegung des Tierleibes. Page: 598
199. XLII. Wie die Muskeln zur Bewegung angereizt werden. Page: 601
200. XLIII. Eine Nervendurchſchneidung. Page: 603
201. XLIV. Eine weitere Folge der Nerven- durchſchneidung. Page: 606
202. XLV. Die Teilung der Nervenarbeit. Page: 607
203. XLVI. Gin Nervengift. Page: 610
204. XLVII. Das Pfeilgift und ſeine Gegenmittel. Page: 613
205. XLVIII. Die Nervenverwachſung. Page: 617
206. XLIX. Die Nervenverheilung. Page: 621
207. L. Ein künſtlicher Nerv. Page: 623
208. LI. Nervenreize. Page: 626
209. LII. Nervenleitung. Page: 631
210. LIII. Fortpflanzung der Nervenleitung. Page: 634
211. LIV. Geſchwindigkeit und Nervenleitung. Page: 638
212. LV. Neueſtes über den Aufbau des Nervenſyſtems. Page: 641
213. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Eifter Teil. Page: 645
214. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 645
215. Inhaltsverzeichnis. Page: 647
216. Vom Leben der Pſlanzen, der Tiere und der Menſchen. II. I. Das Band des Lebens. Page: 649
217. II. Der Zuſammenhang der drei Nervenſyſteme. Page: 651
218. III. Beſehen wir uns einmal ein Gehirn. Page: 653
219. IV. Das Gehirn von der untern Seite. Page: 657
220. V. Ob man im Gehirn etwas von feinem Thätigkeitsvermögen ſehen kann. Page: 661
221. VI. Die Thätigkeit des großen Gehirns. Page: 665
222. VII. Eine Taube ohne Gehirn. Page: 667
223. VIII. Was das kleine Gehirn zu thun hat. Page: 670
224. IX. Von der Schädellehre. Page: 673
225. X. Thätigkeit und Ruhe. Page: 679
226. XI. Der Schlaf. Page: 685
227. XII. Einſchlafen und Aufwachen. Page: 688
228. XIII. Die Träume. Page: 691
229. XIV. Die Träume durch äußerliche Anregungen. Page: 694
230. XV. Denken im Traum. Page: 697
231. XVI. Inſtinkt und Geiſtesleben. Page: 700
232. XVII. Das Menſchenleben — ein Geiſtesleben. Page: 701
233. XVIII. Die Sprache der Menſchen. Page: 705
234. XIX. Die Herrſchaft des Menſchen. Page: 707
235. XX. Der Menſchengeiſt und der Luftkreis. Page: 710
236. XXI. Was im Gehirn während des Denkens vorgeht. Page: 713
237. XXII. Der angeborene Geiſt und die Erfahrung. Page: 716
238. XXIII. Von den Vorſtellungen und deren Ent- wickelung. Page: 719
239. XXIV. Ruheloſigkeit und Ruhe der Gedanken. Page: 722
240. XXV. Gedächtnis- und Erinnerungs-Vermögen. Page: 725
241. XXVI. Wie ſich das Gehirn beſinnt. Page: 728
242. XXVII. Vom Vergeſſen alter und dem Erzeugen neuer Gedanken. Page: 732
243. XXVIII. Wie man im Gehirn etwas überlegt. Page: 735
244. XXIX. Die Energie. Page: 738
245. XXX. Eigentümlichkeiten der Energie. Page: 741
1 1[Figure 1]
2
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3
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4
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5
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Hotonié und R. Hennig.
Sechster Ceil.
2[Figure 2]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
611[Handwritten note 1]
Oas Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
22[Handwritten note 2]
MAX-PLANCK-INSTITUT
FÜR
WISSENSCHAFTS@E@@@ICHTE
Biblioth@k
33[Handwritten note 3]
7
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
I
. # Wichtigkeit der Chemie fürs Leben . . . . . . . # 1
II
. # Sauerſtoff mit Kohle und mit Schwefel . . . . . . # 3
III
. # Sauerſtoff und Phosphor. Sauerſtoff und Eiſen . . # 5
IV
. # Wie gewinnt man Sauerſtoff? . . . . . . . . . # 8
V
. # Was iſt eine ſogenannte chemiſche Verbindung? . . . # 11
VI
. # Die Verbrennung . . . . . . . . . . . . . # 14
VII
. # Die Lehre der Chemie über das Verbrennen . . . . # 16
VIII
. # Chemie allenthalben . . . . . . . . . . . . # 19
IX
. # Die Wanderung des Sauerſtoffes durch unſeren Körper . # 22
X
. # Atmen und Einheizen . . . . . . . . . . . . # 25
XI
. Die chemiſche Wärme . . . . . . . . . . . . # 27
XII
. # Die Chemie in aller Welt Händen . . . . . . . # 29
XIII
. # Verſuche mit einem Zündhölzchen . . . . . . . . # 32
XIV
. # Ein chemiſches Geſetz . . . . . . . . . . . . # 34
XV
. # Einiges vom Waſſerſtoff . . . . . . . . . . . # 37
XVI
. # Anleitung zu einem Verſuch . . . . . . . . . . # 39
XVII
. # Von der Zerlegung des Waſſers auf elektriſchem Wege . # 43
XVIII
. # Etwas vom Stickſtoff . . . . . . . . . . . . # 44
XIX
. # Die chemiſche Trägheit des Stickſtoffes und deren wohl-
# thätige Folgen . . . . . . . . . . . . . # 47
XX
. # Merkwürdige Verbindungen des Stickſtoffs . . . . . # 50
XXI
. # Was iſt Kohlenſtoff? . . . . . . . . . . . . # 54
XXII
. # Kohle und Diamant . . . . . . . . . . . . # 58
XXIII
. # Sonderbare Eigenſchaften des Kohlenſtoffs . . . . . # 60
XXIV
. # Einige Verſuche mit Kohlenſäure . . . . . . . . # 63
XXV
. # Kleine Verſuche und große Folgerungen . . . . . . # 65
XXVI
. # Ein wenig organiſche Chemie . . . . . . . . . # 70
XXVII
. # Die wichtigen Aufgaben der organiſchen Chemie . . . # 73
8
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91
I. Wichtigkeit der Chemie fürs Leben.
Über keinen Zweig der Wiſſenſchaft herrſchen im Volke
ſo
wunderbare und ſonderbare Begriffe wie über die Chemie.
In gebildeten und ungebildeten Kreiſen giebt es Unzählige,
die
ſich vom Sauerſtoff eine Vorſtellung machen, als wäre
das
etwas ſo Saures, daß Einem die Zähne weh thun, wenn
man
es nur anſieht;
als wäre Waſſerſtoff noch zehnmal naſſer
als
Waſſer, und als wäre Stickſtoff ein Ding, daß alle
Menſchen
daran erſticken, wenn es nur in die Stube hinein-
guckt
.
Und doch ſind die Namen Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stick-
ſtoff
ſo geläufig geworden, daß man ſie fortwährend gebrauchen
hört
und man meinen müßte, es könnte kein Menſch auf der
Welt
exiſtieren, der dieſe Dinge nicht in- und auswendig
genau
kennt.
In Wahrheit ſollte es keinen Menſchen geben, der nicht
mindeſtens
Etwas von den einfachſten Elementen der Chemie
weiß
.
Die Chemie iſt in Wirklichkeit zu einer Grundquelle der
Naturwiſſenſchaft
geworden.
Wer ſich in derſelben nicht einiger-
maßen
zurecht finden kann, der wird auf jedem Schritt der
Naturwiſſenſchaft
unzähligen Dunkelheiten begegnen.
Es iſt in
vollem
Sinne des Wortes wahr, daß unſer Atmen, unſer Eſſen,
das
Wachstum der Pflanze, das Leben des Tieres, das Daſein
der
Geſteine und die Bildung des Waſſers, mit einem Worte,
daß
alles in der Welt durchdrungen iſt von einer Reihe fort-
währender
chemiſcher Vorgänge, und daß kein Lichtſtrahl der
A. Bernſtein, Naturw, Volksbücher VI.
102
wirklichen Erkenntnis der Welt möglich iſt, wenn man im Reiche
der
Chemie im Finſtern herumwandelt.
Wir wollen nun den Verſuch machen, in einer Reihe von
Artikeln
ein wenig Chemie den Leſern vorzuführen.
Wir wollen
aber
von vornherein die Schwierigkeiten aufdecken, mit denen
wir
und auch der Leſer hierbei wird zu kämpfen haben.
Die Chemie iſt eigentlich die Wiſſenſchaft von den Grund-
ſtoffen
aller Dinge.
Das heißt: die Chemie lehrt, aus welchen
einfachen
Dingen jedes Ding in der Welt zuſammengeſetzt iſt.
Sie lehrt die Dinge zerlegen in ihre einfachſten Beſtandteile
und
auch wieder, ſo weit es geht, aus den einfachſten Beſtand-
teilen
zuſammenſetzen.
Könnten wir nun vor jeden unſerer
Leſer
hintreten mit irgend einem Ding in der Hand, und wäre
es
auch nur ein wenig gewöhnliches Kochſalz, und könnten ihm
zeigen
:
Sieh her, dieſes Salz, von dem wir täglich ganze
Maſſen
genießen, es beſteht aus zwei ganz kurioſen Grundſtoffen,
von
denen der eine eine giftige Luftart und der andere ein
Metall
, ein wirkliches Metall iſt, könnten wir hierzu vor
ſeinen
Augen zeigen, daß es ſo iſt, indem wir die Zerlegung
auf
chemiſchen Wege vornehmen, bis beide Grundſtoffe entſtehen,
ſo würde dieſer einzige Verſuch allein ſchon hinreichen, einen
ganz
bedeutenden Blick in das Weſen der Chemie darzubieten.

Die
Verſtändigung über alles Übrige würde dadurch ungeheuer
erleichtert
.
Leider aber können wir nicht ſo vor den leibhaftigen Augen
unſerer
Leſer Verſuche machen.
Wir müſſen das, was man
mit
einem Blick ſehen kann, mit vielen, vielen Worten durch
Beſchreibung
deutlich zu machen ſuchen eine Arbeit, die
gerade
in dieſem Fache ſehr ſchwierig iſt und müſſen dabei
uoch
vom Leſer hoffen, daß er ſich gleichfalls einige Mühe
gebe
, und durch beſondere Aufmerkſamkeit dem Verſtändnis ent-
gegenkommen
möge.
Darum aber wollen wir nur um ſo mutiger daran
113 und unſeren Leſern, wenn auch nicht gleich eine Handvoll
Kochſalz
, ſo doch wenigſtens etwas Sauerſtoff vorführen.
II. Sauerſtoff mit Kohle und mit Schwefel.
Sehen wir uns einmal an, was denn eigentlich Sauer-
ſtoff
iſt.
Geſetzt, es brächte jemand einem Unkundigen eine Flaſche
voll
Sauerſtoff, ſo würde dieſer ſicherlich behaupten, es ſei
eine
leere Flaſche.
Er würde die Flaſche ſchütteln und finden,
daß
garnichts darin iſt, denn Sauerſtoff iſt wie Luft durch-
ſichtig
und farblos.
Er würde den Stöpſel aufmachen und
daran
riechen;
aber auch da nichts finden, denn Sauerſtoff iſt
ein
geruchloſes Gas.
Er würde die Zunge hineinſtecken, um
davon
etwas zu ſchmecken;
aber auch da nicht die Spur ent-
decken
, denn Sauerſtoff iſt auch ein geſchmackloſes Gas.
Das
heißt
, es ſchmeckt nicht etwa ſchlecht, ſondern garnicht.
Und doch wird der Unkundige Mund und Augen auf-
ſperren
, wenn er durch eigene Verſuche erſt ſehen wird, was
denn
mit dieſem Sauerſtoff eigentlich los iſt.
Wir wollen uns einmal ein paar Verſuche derart anſehen.
Man nimmt ein Stückchen Holzkohle und ſteckt’s auf einen
Draht
, zündet es an, daß es ein wenig glimmt und ſteckt es
ſo
in die Flaſche mit Sauerſtoff, und ſofort wird man ſehen,
wie
die Kohle mit wundervoll lebhafter Flamme darin zu
brennen
anfängt.
Zieht man’s ſchnell heraus, ſo glimmt’s
wieder
nur, ſteckt man’s wieder hinein, ſo flackert’s wieder leb-
haft
auf, bis die Kohle ganz und gar verzehrt iſt.
Alſo in der Flaſche muß doch etwas anderes ſein als ge-
wöhnliche
Luft!
Wie aber, wenn man viel Kohle zu dieſem Verſuche
nimmt
?
Wird ſie immerfort ſo ſchön verbrennen? Dies
124 nicht der Fall ſein. Es wird nur eine beſtimmte Maſſe von
Holzkohle
in der Flaſche verbrennen, und dann iſt es aus.
Der
Verſuch
kann nicht wiederholt werden, wenn man nicht neuen
Sauerſtoff
in die Flaſche hineinthut;
denn es iſt kein Sauerſtoff
mehr
drinnen.
Wo aber, muß der Unkundige fragen, iſt der Sauerſtoff
geblieben
?
Und wo iſt eigentlich der Teil Kohle geblieben,
der
darin rein aufgebrannt iſt?
Und endlich, was iſt denn
jetzt
in der Flaſche drin?
Hierauf wird ihm der Kundige antworten: Der Sauerſtoff
iſt
nicht verſchwunden, und die Kohle iſt nicht verſchwunden,
ſondern
beides iſt noch immer in der Flaſche, und zwar iſt in
der
Flaſche jetzt eine neue Luftart, die man Kohlenſäure nennt,
weil
eben dieſe Luftart beſteht aus Kohlen- und Sauerſtoff,
die
ſich chemiſch verbunden haben.
Gewiß wird der Unkundige hierüber ſtaunen und über das,
was
man chemiſche Verbindung nennt, eine Aufklärung haben
wollen
;
denn das muß doch ein ganz eigentümlich Ding ſein,
wenn
es eine ſchwarze, rußige Kohle mit der klaren, durch-
ſichtigen
Luftart, wie der Sauerſtoff, ſo durcheinander arbeiten
kann
, daß aus beiden zuſammen eine neue Luft wird, die gar-
nicht
ein bißchen rußig iſt.
Aber ohne Zweifel wird der
Kundige
ſagen:
Halt ein, Freund, mit Fragen, das ſoll Dir
alles
ſchon ſpäter klar werden;
für jetzt wollen wir noch ein
paar
andere Verſuche machen.
Und wir wollen’s auch ſo machen.
Wir nehmen nun eine neue Flaſche voll Sauerſtoff und
ſtecken
ſtatt der Kohle ein paar Schwefelfäden an den Eiſendraht,
zünden
dieſe an und ſtecken ſie brennend in die Flaſche.
Sofort
wird
man ſehen, daß der Schwefel in wundervoller, blauer
Flamme
verbrennt.
Wenn man damit fertig iſt, ſo wird
man
bemerken, daß wieder der Sauerſtoff fort iſt, denn weder
Kohle
noch Schwefel wollen in der Flaſche brennen.
135 vom Schwefel iſt ein Teil weg; dafür aber iſt in dieſer Flaſche
eine
neue Luftart, die ſehr ſtechend riecht, und von der jeder
am
Geruch erkennen wird, daß dies ſo etwas von Schwefelſäure
ſein
muß.
Und wirklich iſt die Luftart etwas Derartiges, es
iſt
ſchweflige Säure, die man, wie wir ſpäter erfahren werden,
in
wirkliche, flüſſige Schwefelſäure verwandeln kann.
Genug,
wir
haben hier wieder einen Fall, wo ſich ein feſter Körper,
Schwefel
, mit einem luftförmigen, Sauerſtoff, chemiſch verbunden
hat
und dadurch iſt eine neue Luftart entſtanden, die nicht wie
Schwefel
riecht und nicht wie Sauerſtoff geruchlos iſt, ſondern
einen
ſtechenden, das Atmen erſchwerenden Geruch hat.
Ja,
wenn
wir verſichern, daß man aus Schwefel und aus Sauer-
ſtoff
wirkliche Schwefelſäure macht und alle Schwefelſäure in
der
Welt nur aus dieſen Dingen gemacht worden iſt, ſo wird
man
geſtehen müſſen, daß es um die Chemie etwas ganz
Wunderliches
iſt, denn ſie kann eine Luftart und einen feſten
Körper
mit einander ſo verbinden, daß daraus eine Flüſſigkeit
entſteht
.
Doch wir können uns jetzt auch bei der Erklärung dieſes
Vorganges
noch nicht aufhalten, ſondern wollen im nächſten
Abſchnitte
noch einen dritten Verſuch mit dem Sauerſtoff an-
ſtellen
.
III. Sauerſtoff und Phosphor. Sauerſtoff
und Eiſen.
Der Verſuch, den wir jetzt mit dem Sauerſtoff anſtellen,
beſteht
darin, daß wir ihn einmal mit Phosphor in Verbindung
bringen
wollen.
Die früher gewöhnlichen Schwefelhölzchen, die man durch
Reibung
zum Brennen bringt, erhalten dieſe Eigenſchaft eben
durch
den Phosphor, in welchen man ihre Spitze eingetaucht hat.
146 Phosphor iſt ſo leicht entzündlich, daß er durch die Wärme,
welche
beim Reiben entſteht, in Brand gerät.
Der brennende
Phosphor
bringt nun den Schwefel in Brand, mit welchem jedes
Zündhölzchen
überzogen iſt, und der Schwefel zündet wiederum
das
Hölzchen ſelber an.
Der Phosphor iſt es, den man leuchten
ſieht
, wenn man im Finſtern mit der warmen Hand über die
Zündhölzchen
fährt.
Man bemerkt ſowohl über dem Zünd-
hölzchen
wie auf der Hand einen leuchtenden Nebel ſchwimmen,
der
eben nichts iſt als der ſehr leicht brennende Phosphor.
Allein an unſeren Zündhölzchen iſt der Phosphor nicht rein,
und
hat außerdem noch einen Lacküberzug, damit die Ent-
zündung
nicht gar zu leicht geſchehe, was viel Unglück ver-
anlaſſen
würde.
Ein reines Stückchen Phosphor iſt weiß und
weich
wie Wachs;
und ein ſolches Stückchen, ungefähr ſo groß
wie
eine Erbſe, wollen wir zu unſerem jetzigen Verſuche ver-
wenden
.
Bringt man ſolch ein Stückchen Phosphor an einen Draht
an
und hält ihn in die Flaſche, die mit Sauerſtoff gefüllt iſt,
ſo
braucht man den Phosphor nur mit einer erwärmten Strick-
nadel
zu berühren, um ihn in Brand zu bringen, und der
Phosphor
brennt in dem Sauerſtoff mit einem herrlich leuch-
tenden
Glanz, der das Auge faſt blendet und den Eindruck
des
Sonnenlichts auf dasſelbe macht.
Hierbei füllt ſich die
Flaſche
mit einem weißen Rauch an, der, wenn man die Flaſche
ruhig
ſtehen läßt, ſich zu Boden legt, und wenn man vorher
etwas
Waſſer in die Flaſche gethan hat, ſich mit dem Waſſer
miſcht
und dieſem einen ſauren Geſchmack giebt.
Auch bei dieſem Verſuch iſt der Sauerſtoff fort und der
Phosphor
fort;
aber ſie ſind nicht verſchwunden, ſondern ſie
haben
ſich chemiſch verbunden und haben einen nebligen Stoff
gebildet
, der, weil er eben aus Sauerſtoff und Phosphor be-
ſteht
, den Namen Phosphorſäure führt.
Man wird nun ſchon einſehen, weshalb das Gas,
157 dem wir eben die Verſuche anſtellen, den Namen Sauerſtoff
hat
, denn in der That iſt es dieſe Luft, die in Verbindung
mit
Kohle, mit Schwefel und mit Phosphor und noch vielen
anderen
Dingen Stoffe erzeugt, die einen ſaueren Geſchmack
haben
, und wir werden ſpäter ſehen, daß es der Sauerſtoff
wirklich
iſt, der auch andere Dinge ſauer macht, wie z.
B. das
Bier
, die Milch, wenn ſie lange offen geſtanden haben.
Wir werden ſogleich den merkwürdigen Sauerſtoff noch
gründlicher
kennen lernen, wollen aber für jetzt noch einen ſehr
intereſſanten
Verſuch mit ihm machen.
Man nehme einen feinen Eiſendraht und drehe ihn ſo
über
einen Bleiſtift, daß der Draht wie ein Pfropfenzieher
ausſieht
.
Nun ziehe man den Bleiſtift heraus und ſtecke
unten
an das Ende dieſes künſtlichen Pfropfenziehers ein
Stückchen
Feuerſchwamm.
Zündet man dieſen Schwamm an
und
ſteckt ihn mit dem Draht hinein in eine Flaſche, die mit
Sauerſtoff
gefüllt iſt, ſo fängt erſt der Schwamm an lebhaft
zu
brennen;
dann aber zündet er auch den Draht ſelbſt an,
und
dieſer fängt an zu glühen und Funken zu ſprühen, als
ob
er ein leichtes Stückchen trockenes Holz wäre.
Ja, der
Draht
verbrennt vollſtändig und fällt in kleinen Kügelchen
auf
den Boden der Flaſche, und dieſe Kügelchen ſind ſo furcht-
bar
heiß, daß ſelbſt, wenn ein wenig Waſſer unten in der
Flaſche
iſt, die Kügelchen im Waſſer nicht erkalten, ſondern ſich
in
den Boden der Flaſche einſenken und in dem Glaſe ein-
ſchmelzen
.
Aus dieſem intereſſanten Verſuch ſieht man, daß nicht
nur
Kohle, Schwefel und Phosphor im Sauerſtoff lebhafter
brennen
als in der gewöhnlichen Luft, ſondern daß auch Eiſen,
welches
in der gewöhnlichen Luft ſofort zu glühen aufhört,
ſowie
man es aus dem Feuer nimmt, im Sauerſtoff fortglüht
und
rein verbrennt, als wäre es ein Streifchen Holz.
Auch bei dieſem Verſuch iſt der Sauerſtoff aus der
168 fort, und ebenſo iſt das Eiſen verbrannt: dafür aber hat man
die
Kügelchen, die herabgefallen ſind;
und woraus beſtehen
dieſe
Kügelchen?
Sie beſtehen wirklich aus Eiſen in chemiſcher
Verbindung
mit Sauerſtoff.
Man kann es beweiſen, daß
dies
ſo iſt.
Wenn man nämlich den Eiſendraht vor dem Ver-
ſuch
ganz genau gewogen hat, und man auch weiß, daß man
etwa
1 Gramm Sauerſtoff in der Flaſche hatte, ſo wird man
finden
, daß der Sauerſtoff ganz verzehrt iſt und die Kügelchen
und
der etwaige Reſt vom Draht jetzt netto 1 Gramm mehr
wiegen
als vor dem Verſuch.
Wir wollen nun vorläufig keine neuen Verſuche vor-
nehmen
, ſondern die Erklärung all’ derſelben unſern Leſern
vorführen
.
IV. Wie gewinnt man Sauerſtoff?
Bevor wir weiter gehen in unſeren Mitteilungen über
den
Sauerſtoff, müſſen wir erſt eine Frage beantworten, die
gewiß
ſchon vielen unſerer Leſer mehrmals auf der Zunge ge-
ſchwebt
hat.
Wir meinen die Frage: Wo bekommt man denn
eine
Flaſche voll Sauerſtoff her?
Den Sauerſtoff findet man überall, aber nirgend in der
Natur
rein, das heißt, unvermiſcht und unverbunden mit
anderen
Stoffen.
Reines Sauerſtoffgas muß man ſich erſt
künſtlich
darſtellen, wenn man es haben will.
Die Luft, die die ganze Erde umgiebt, die Luft, die in
unſeren
Stuben, auf den Straßen, in Wald und Feld und
Garten
iſt, beſteht aus Sauerſtoff, aber dieſer Sauerſtoff iſt
mit
einer zweiten Luftart gemiſcht, die man Stickſtoff nennt.
Sauerſtoff und Stickſtoff beiſammen atmen wir fortwährend
ein
, und zwar beſteht der größte Teil der Luft aus vier Teilen
Stickſtoff
und einem Teil Sauerſtoff, die untereinander
179 ſind und die merkwürdigerweiſe ſich allenthalben in ſolchem
Verhältnis
mengen.
Alexander von Humboldt hat ſchon
vor
ſechzig Jahren Proben angeſtellt und die Luft in den
überfüllteſten
Theatern in Paris, auf den höchſten Spitzen der
Berge
der Erde, und in den höchſten Regionen der Luft, welche
er
mit Luftballons erreichen konnte, unterſucht, und hat das
merkwürdige
Reſultat gefunden, daß allenthalben die Luft
genau
aus derſelben Miſchung beſteht.
Die verdorbene Luft in
Theatern
und überfüllten Räumen rührt nur daher, daß ſich
noch
andere Stoffe der Luft beimiſchen.
Das Verhältnis des
Stickſtoffs
zum Sauerſtoff bleibt aber merkwürdigerweiſe allent-
halben
dasſelbe.
Genug, es fehlt nicht an Sauerſtoff; aber ihn rein zu er-
halten
, das iſt ein Kunſtſtück, das nur der Chemiker kann.
Das Kunſtſtück wäre ſehr leicht, wenn man nur wüßte,
wie
man den Stickſtoff fortbringt.
Jede leere Flaſche iſt be-
kanntlich
nicht leer, ſondern es iſt Luft darin, das heißt:
in
der
Flaſche ſtecken vier Teile Stickſtoff und ein Teil Sauer-
ſtoff
.
Erfände nun ein Menſch ein Ding, das die Eigenſchaft
hätte
, nur Stickſtoff in ſich einzuſaugen und keinen Sauerſtoff,
ſo
brauchte man nur dies Ding in die Flaſche zu werfen,
dieſe
zuzuſtopfen, und nach einer Weile, wenn aller Stickſtoff
aufgeſogen
iſt, wäre in der Flaſche wirklich reiner Sauerſtoff
vorhanden
.
Aber das Ding iſt noch nicht erfunden und wird
vielleicht
nie erfunden werden, obgleich dieſe Erfindung die
größte
der Welt wäre.
Es iſt nämlich eigentümlich, daß alles,
was
wir in der Welt kennen, weit eher den Sauerſtoff an ſich
zieht
, als den Stickſtoff.
Wir haben es geſehen, daß ſich Kohle mit Sauerſtoff
verbindet
und Kohlenſäure bildet, desgleichen wie es Schwefel,
Phosphor
und Eiſen thue.
Es thun dies aber alle Dinge
in
der Welt, die wir kennen.
Unter gewiſſen Umſtänden ver-
binden
ſich alle Stoffe leicht mit Sauerſtoff;
aber bei
1810 ſchwerer mit dem Stickſtoff. Daher kommt es denn, daß man
ſehr
leicht reinen Stickſtoff darſtellen kann, aber nicht ſo leicht
reinen
Sauerſtoff.
Will man nun aber reinen Sauerſtoff haben, ſo muß man
dies
künſtlich anſtellen.
Wir wollen nun einen ſolchen Verſuch anführen.
Es giebt ein rotes Pulver, das den Namen hat: Queck-
ſilber-Oxyd
, und dies beſteht aus Queckſilber und Sauerſtoff,
die
chemiſch verbunden ſind.
Queckſilber hat gewiß ſchon jeder
unſerer
Leſer geſehen;
dieſes flüſſige, ſchwere Metall kann man
in
Salpeterſäure auflöſen und durch weitere chemiſche Be-
handlung
dahin bringen, daß es zu einem roten Pulver wird,
das
, beiläufig geſagt, ſehr giftig iſt, dem aber kein Menſch
anſehen
wird, daß dies Queckſilber geweſen.
Dieſes Queckſilber
hat
nun ebenſo Sauerſtoff in ſich aufgenommen, wie es bei den
Kügelchen
der Fall war, die während des Verbrennens des
Eiſendrahtes
entſtanden ſind.
Und dieſer Sauerſtoff eben
kann
durch Hitze wieder ausgetrieben und durch geeignete Vor-
richtungen
aufgefangen werden.
Wie man das macht, das kann man durch bloße Be-
ſchreibung
nicht gut deutlich zeigen, genug, wenn unſere Leſer
ſich
das eine merken, daß man des Sauerſtoffs nicht rein
habhaft
werden kann, wenn man ihn nicht aus einer chemiſchen
Verbindung
treibt, in welcher er mit einem anderen Stoff ſich
befindet
.
Nun aber iſt es hohe Zeit, ſich klar zu machen: was iſt
denn
das:
eine chemiſche Verbindung? Warum iſt der
Stickſtoff
ſo eigenſinnig, ſich nicht zu verbinden und warum
der
Sauerſtoff ſo gutwillig, allenthalben eine Verbindung ein-
zugehen
?
Wir haben geſehen, daß ſich Kohle verbindet mit Sauer-
ſtoff
, Schwefel verbindet mit Sauerſtoff, daß Phosphor, Eiſen,
Queckſilber
ſich mit Sauerſtoff verbinden, und können noch
1911 ſichern, daß auch Silber, Kupfer, Blei, Zink und noch viel,
viel
andere Dinge die Verbindung mit Sauerſtoff eingehen.
Wie iſt es denn nun, wenn ſich mehrere Dinge dem Sauer-
ſtoff
darbieten, mit denen er ſich verbinden kann, kann man
da
auch ſagen, welche Verbindung er vorziehen wird?
Das ſind Fragen, die uns, verehrter Leſer, ſchon ein
ganzes
Stück tief in die Chemie hineinführen;
und darum
eben
wollen wir daran gehen, dieſe Fragen zu ordnen und
möglichſt
klar zu beantworten.
V. Was iſt eine ſogenannte chemiſche Verbindung?
Wir wollen es vorerſt einmal klar zu machen ſuchen, was
denn
eigentlich eine chemiſche Verbindung iſt;
wir werden da-
durch
in den Stand geſetzt werden, die äußerſt wichtige Ver-
bindung
des Sauerſtoffs mit andern Stoffen unſern Leſern
deutlicher
zu machen.
Vorerſt aber müſſen wir eine Haupt-
frage
der Chemie etwas näher kennen lernen.
Faſt alle Dinge, die man im gewöhnlichen Leben oder
in
der Natur zu Geſichte bekommt, ſind nicht einfache Stoffe,
ſondern
ſie ſind zuſammengeſetzt aus verſchiedenen Stoffen.
Nur einzelne Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer, Eiſen, Blei,
Zink
u.
ſ. w. ſind einfache Stoffe, und kommen im gewöhnlichen
Leben
vor.
Die Chemie hat ſich aber die Aufgabe geſtellt, herauszu-
bringen
, aus wie viel einzelnen Stoffen eigentlich die Welt be-
ſteht
und hat zu dieſem Zweck alles, was nur zu haben iſt,
der
Unterſuchung unterworfen.
Bei dieſer Unterſuchung fand
ſich
denn, daß all die vielen Millionen Dinge, die auf Erden
vorhanden
ſind, nur beſtehen aus verhältnismäßig wenigen ein-
fachen
Stoffen, die, in verſchiedener Weiſe mit einander ver-
bunden
, die verſchiedenſten Dinge in der Welt bilden.
2012
Man nennt dieſe einfachen, unzerlegbaren Stoffe Elemente,
und
man hat bisher 73 derartige Elemente kennen gelernt, von
denen
freilich eine ſehr große Anzahl nur ganz ſelten vorkommt.
Wir haben ſchon das Beiſpiel mit dem Kochſalz angeführt.
Wer in aller Welt würde glauben, daß Kochſalz aus zwei
Elementen
gemacht iſt, von denen das eine ein Metall und
das
andere eine Luftart iſt?
und doch iſt es ſo. Das
Metall
heißt Natrium, und die Luftart heißt Chlor.
Dieſe
beiden
werden, wenn ſie ſich chemiſch verbinden, reines Koch-
ſalz
.
Aber man glaube nun ja nicht etwa, daß aus dem Na-
trium
etwa nichts weiter gemacht werden kann als Kochſalz,
oder
daß das Chlor nur dazu gebraucht wird.
Das Natrium
verbindet
ſich mit vielen andern Stoffen zu ganz andern Dingen,
ſo
z.
B. zu Soda, Glauberſalz, Salpeter u. ſ. w. und das
Chlor
nicht minder.
Und ſo geht es mit allen andern Grund-
ſtoffen
;
ſobald ſie ſich chemiſch mit einem andern Stoff
verbinden
, wird aus ihnen ein ganz ander Ding, das
weder
in Anſehen, noch in Geſchmack, noch im Geruch
den
Grundſtoffen oder einer andern Verbindung der-
ſelben
ähnlich wird
.
Wie aber iſt es eigentlich mit der chemiſchen Verbindung?
Wie wird ſie bewerkſtelligt? und wodurch wird ſie hervor-
gerufen
?
Kann man alle Dinge in der Welt chemiſch mit ein-
ander
verbinden?
Hierauf giebt die Chemie folgende Antwort.
Die Elemente haben die beſondere Eigenſchaft, daß unter
gewiſſen
Umſtänden die kleinſten Teilchen eines Stoffes eine
Anziehung
ausüben auf die kleinſten Teilchen eines andern
Stoffes
, und dadurch verbinden ſich zwei Stoffe durch eine
eigene
Kraft der Anziehung und bilden in ihrer Vereinigung
ein
ganz neues Ding, das den Stoffen oft gar nicht mehr
ähnlich
iſt.
In den gewöhnlichen Lehrbüchern iſt dieſe Neigung
2113 Stoffes, ſich mit einem andern Stoffe zu verbinden, mit dem
Namen
Verwandtſchaft” bezeichnet;
und man ſagt z. B. : der
Sauerſtoff
hat eine Verwandtſchaft zur Kohle und verbindet
ſich
mit ihr chemiſch, um Kohlenſäure zu bilden.
Allein dieſe
Bezeichnung
Verwandtſchaft” führt ſehr leicht irre, denn man
glaubt
, daß die Stoffe, die eine Verwandtſchaft zu einander
haben
, auch unter einander in irgend welcher Weiſe ſich gleich
oder
ähnlich ſein müſſen, wie das eben im gewöhnlichen Leben
bei
Verwandten der Fall iſt.
Die Sache iſt aber gerade
umgekehrt
:
Je verſchiedener und abweichender die Eigenſchaften
zweier
Stoffe von einander ſind, deſto lebhafter findet ihre Ver-
bindung
ſtatt.
Zwei Stoffe, die ihrer Natur, ihren Eigenſchaften nach
ſich
ähnlich ſind, verbinden ſich gar nicht mit einander oder
nur
äußerſt ſchwierig.
Z. B. Eiſen und Silber ſind zwei
Grundſtoffe
, die ihrer Natur nach viel Ähnlichkeit mit einander
haben
;
aber ſie verbinden ſich nicht chemiſch mit einander. Dahin-
gegen
iſt Sauerſtoff ein Ding, das nicht die geringſte Ähnlich-
keit
mit Silber hat und eben ſo wenig mit Eiſen, und doch
verbindet
ſich unter geeigneten Umſtänden Silber mit Sauer-
ſtoff
und bildet ein dunkles Pulver, dem es kein Menſch an-
ſehen
möchte, daß dies das blanke Silber und der lichte, durch-
ſichtige
Sauerſtoff iſt;
und ebenſo verbindet ſich Sauerſtoff
mit
Eiſen und bildet unſern gewöhnlichen Roſt, der alles Eiſen
überzieht
, wenn es der feuchten Luft ausgeſetzt iſt.
Wir wollen uns vorläufig mit dem einen Lehrſatz begnügen,
daß
unter den Elementen eine Verbindungsluſt ſtattfindet, die
aber
immer größer wird, je unähulicher ſich die Stoffe ihrer
Natur
nach ſind.
2214
VI. Die Verbrennung.
Nachdem wir geſehen, daß die chemiſchen Grundſtoffe
einen
eigentümlichen Trieb haben, ſich mit einander zu ver-
binden
, und auch zugleich erfahren haben, daß dieſer Trieb der
Verbindung
immer ſtärker iſt, je weniger die Stoffe ſich ihrer
Natur
nach ähnlich ſind, wollen wir nunmehr daran gehen,
die
Verbindungen des Sauerſtoffs, die Umſtände und die Er-
ſcheinungen
, unter welchen ſie ſtattfinden, etwas näher kennen
zu
lernen.
Man darf ſich nicht vorſtellen, daß zwei Stoffe immer ſich
ſofort
verbinden, wenn man ſie zu einander bringt;
es ſind
vielmehr
Umſtände dabei nötig, durch welche die Verbindung
bewerkſtelligt
, begünſtigt und je nachdem beſchleunigt wird.
Wir haben geſehen, daß ſich Sauerſtoff und Kohle ver-
bunden
und Kohlenſäure gebildet haben.
Dazu iſt aber durch-
aus
nötig, daß man die Kohle anzündet oder richtiger, es findet
die
Verbindung nur bei dem Grade von Erhitzung ſtatt, in
welchem
die Kohle in Glut gerät.
Ebenſo iſt es mit andern
Stoffen
der Fall geweſen, die wir bei den Verſuchen mit dem
Sauerſtoff
erwähnt haben.
Schwefel kann man tagelang im
Sauerſtoff
liegen laſſen, ohne daß er ſich mit dem Sauerſtoff
verbindet
und ſchweflige Säure bildet.
Erſt wenn man ein
kleines
Stückchen davon in Brand ſetzt, erſt dann tritt die Ver-
bindung
ein, und durch die Verbindung entſteht ein ſo hoher
Grad
von Hitze, daß nun auch der noch nicht entzündete
Schwefel
ſich entzündet und die Verbindung immer weiter vor
ſich
ſchreitet.
Es iſt von der äußerſten Wichtigkeit, ſich dies ſo klar wie
möglich
zu machen, denn hierdurch erſt iſt man imſtande, ſich
eine
große Maſſe von Erſcheinungen, die man alltäglich ſieht,
zu
erklären.
Woher mag es wohl kommen, daß ein paar
2315 Kohlen einen ganzen Ofen voll Holz in Brand ſetzen und in
Kohle
verwandeln?
Und was iſt dazu nötig, wenn dies geſchehen
und
die Kohlen nicht ausgehen ſollen?
Es kommt dies daher, daß die paar glühenden Kohlen
dem
Holz, dem ſie nahe liegen, einen hohen Grad von Hitze
verleihen
.
Da aber Holz ſelbſt aus Kohlenſtoff beſteht, ſo be-
wirkt
die Hitze, daß der Kohlenſtoff des Holzes ſich mit dem
Sauerſtoff
der Luft, die im Ofen iſt, verbindet, und hierdurch
gerät
das den Kohlen nahe liegende Teilchen Holz in Brand.
Nötig iſt aber hierzu, daß friſche Luft in den Ofen einſtrömt,
denn
nur ſo lange friſcher Sauerſtoff dem Holz zugeführt wird,
ſo
lange kann die Verbindung fortdauern.
Führt man keinen
Sauerſtoff
zu, ſo geht das Feuer aus, d.
h. die chemiſche Ver-
bindung
des Sauerſtoffs mit dem Kohlenſtoff des Holzes hört
auf
.
Daher weiß es auch ſchon jedes Kind, daß ein Ofen Zug
haben
muß, d.
h. man muß in jedem Ofen die Klappe, die
zum
Schornſtein führt, öffnen, damit die heiße Luft des Ofens,
in
welcher der Sauerſtoff ſchon verbraucht iſt, nach oben ab-
ſtrömen
kann;
an der Ofenthüre aber muß man eine kleine
Klappe
öffnen, damit friſche Luft zuſtrömt, in welcher Sauer-
ſtoff
vorhanden iſt, damit dieſer Sauerſtoff ſich immer weiter
mit
der erhitzten Kohle verbinden kann, d.
h. damit das Feuer
fortbrennt
.
In der That, wenn man keine friſche Luft, alſo keinen
neuen
Sauerſtoff zuläßt, geht das Feuer aus;
denn das Feuer
entſteht
eben nur dadurch, daß eine chemiſche Verbindung
zwiſchen
dem Sauerſtoff und dem Kohlenſtoff des Holzes ſtatt-
findet
.
Und umgekehrt, macht man eine Vorrichtung am Ofen,
durch
welche im Innern des Ofens ſich immer friſcher Sauer-
ſtoff
neu bildet, ſo braucht man keine Zugklappe an der Ofen-
thür
, denn ſo lange Sauerſtoff im Ofen iſt, ſo lange wird auch
das
Holz brennen, oder chemiſch ausgedrückt:
ſo lange
2416 auch die chemiſche Verbindung von Sauerſtoff und Kohlenſtoff
hergeſtellt
.
Darum ſind auch die Öfen die beſten, die einen ſtarken
Zug
haben, d.
h. wo recht viel friſche Luft mit recht ſtarkem
Strom
durch die Klappe der Ofenthür hineinzieht, ſo daß recht
viel
Sauerſtoff aus der Luft durch das heiß gewordene Holz
zieht
und ſich mit dieſem chemiſch verbindet.
Darum puſtet
auch
die Köchin in das Feuer auf dem Herd, damit es beſſer
brenne
, d.
h. ſie treibt mit dem Puſten einen Strom von Luft
ins
Feuer hinein, damit mehr Sauerſtoff an das erhitzte Holz
komme
.
Darum braucht der Feuerarbeiter den Blaſebalg,
damit
die ſchwer brennende Steinkohle recht viel Sauerſtoff be-
komme
zur chemiſchen Verbindung, die eben das Brennen zu
Wege
bringt, und darum brannte auch bei unſerm Verſuch
das
Stückchen Kohle ſo ſchön in der Flaſche von Sauerſtoff,
weil
eben das Verbrennen nur eine Erſcheinung iſt, welche
ſtattfindet
, wenn ſich Sauerſtoff recht ſchnell und energiſch mit
Kohle
oder mit andern Stoffen verbindet.
Man ſieht wohl, daß eigentlich alle Welt Chemie treibt,
ohne
daß ſie es weiß.
VII. Die Lehre der Chemie über das Verbrennen.
Nachdem wir nun geſehen haben, was denn eigentlich
beim
Verbrennen des Holzes vor ſich geht, daß hierbei eben
eine
chemiſche Verbindung des Sauerſtoffs mit dem Kohlenſtoff
des
Holzes ſtattfindet, können wir einen großen Lehrſatz der
Chemie
ausſprechen, den wohl ſchon jedermann oft genug
gehört
, aber viele doch nicht verſtanden haben.
Der Lehrſatz
lautet
:
Verbrennung iſt gar nichts anderes als ein chemiſcher
Prozeß
, und Feuer iſt nur eine Erſcheinung dieſes Prozeſſes.
2517
Bei allen Verbrennungen, die wir vornehmen, wenn wir
ein
Licht, eine Lampe, ein Stück Holz anzünden, thun wir
gar
nichts anderes, als daß wir Licht, Lampe oder Holz in
den
Zuſtand verſetzen, in welchem ſich gewiſſe Stoffe mit dem
Sauerſtoff
der Luft verbinden können.
Ein brennendes Licht verliſcht ſofort, wenn wir ihm den
Sauerſtoff
der Luft entzogen haben.
Stellt man ein Stückchen
Licht
auf den Tiſch und deckt ein leeres Bierglas darüber, ſo
fängt
das Licht bald an dunkler zu brennen und geht endlich
aus
.
Denn das Fortbrennen iſt nur eine Erſcheinung, die
ſtattfindet
während der Verbindung des Brennſtoffs mit dem
Sauerſtoff
der Luft.
Könnte man die Erfindung machen, daß
man
einem großen Teil der Luft den Sauerſtoff entzieht, ſo
wäre
man imſtande, brennende Häuſer augenblicklich zu löſchen
(man brauchte nur dem Brand den Sauerſtoff zu entziehen.
Die Wärme und das Licht des Feuers ſind nur Erſcheinungen
eines
chemiſchen Prozeſſes.
Die Flamme eines gewöhnlichen
Lichtes
kann jedermann ſchon viel Belehrendes bieten.
Dort
wo
die Flamme mit dem Sauerſtoff der Luft in naher Be-
rührung
iſt, in der äußeren Hülle der Flamme, dort iſt ſie
heiß
und hell;
im Innern der Flamme aber, wohin nur wenig
Sauerſtoff
dringt, iſt ſie weder ſo hell noch ſo heiß.
Hält
man
einen dünnen Holzſpan gerade mitten durch die Flamme,
ſo
wird man bemerken, daß dieſer nicht in der Mitte zu brennen
anfängt
, ſondern an beiden Seiten.
Bei einiger Geſchicklichkeit
kann
man den Span zeitig genug wieder herausnehmen, bevor
1
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VI.
11 In England ſind ſolche Feuerlöſchapparate erfunden und in
einigen
Fabriken eingeführt worden. Es wird nämlich zu dieſem Zwecke
die
aus den Schornſteinen entweichende Luft, die keinen Sauerſtoff mehr
enthält
, geſammelt und in großen Mengen in beſonderen Behältern ver-
wahrt
. Bricht nun in der Fabrik Feuer aus, ſo wird dieſe ſauerſtoffloſe
Luft
mit großer Kraft in den brennenden Raum hineingepreßt. Dadurch
wird
die gewöhnliche Luft verdrängt und das Feuer augenblicklich erſtickt.
2618
er zu brennen angefangen und man bemerkt, daß nur die
Ränder
der Flamme das Holz verkohlt haben, während die
Mitte
der Flamme den Span faſt unverſehrt ließ.
Hieraus aber kann man die große Wahrheit lernen, daß,
je
ſchneller und leichter ein brennbarer Stoff ſich mit Sauerſtoff
verbindet
, deſto ſtärker die Wärme iſt, die daraus entſteht.
Jetzt wird es auch jedem klar werden, warum die Stuben-
öfen
ſchlecht heizen, in denen das Holz langſam verbrennt,
obgleich
man in ihnen ſtundenlang Feuer hält, während die
Öfen
gut heizen, in denen das Feuer ſchnell ausgebrannt iſt.
Die Öfen, in denen das Holz langſam verbrennt, haben nicht
Zug
genug, es ſtrömt dem Holze wenig Sauerſtoff zu, und
die
Flamme iſt daher nicht ſo heiß.
In ſolchen Öfen dagegen,
in
denen ein tüchtiger Zug durchgeht, alſo ein Strom Sauer-
ſtoff
ſich immerfort dem Holze darbietet, iſt die Flamme heißer,
ſie
durchwärmt den Ofen weit ſtärker, und da das Feuer
ſchnell
aus iſt und man die Klappe, die zum Schornſtein führt,
auch
bald ſchließen kann, geht wenig Wärme verloren.
Ja, das Zuführen des Sauerſtoffs zur Flamme iſt auch
darum
wichtig, weil dadurch viele Teile verbrennen, die ſonſt
unverbrannt
bleiben.
Schon jede Köchin weiß es, daß das Feuer, wenn es auf
dem
Herd nicht brennen will, außerordentlich ſtark raucht;
bläſt man es an, ſo ſchlägt die Flamme hoch auf und der
Rauch
verſchwindet.
Was aber iſt der Rauch und wo bleibt
er
beim Anblaſen?
Der Rauch iſt faſt nichts als feine Kohle,
die
mit der heißen Luft nach oben ſteigt.
Bläſt man das
Feuer
tüchtig an, ſo giebt man ihm viel Sauerſtoff und ver-
mehrt
ſeine Hitze;
in dieſer Hitze verbindet ſich auch die feine
Kohle
des Rauches mit dem Sauerſtoff und giebt eine herrliche,
heiße
Flamme;
entzieht man ihm den Sauerſtoff, ſo geht der
Rauch
, alſo ein koſtbarer Teil des Holzes, unverbraucht fort
und
ſetzt ſich als Ruß in den Schornſtein.
2719
Bei einer gewöhnlichen Lampe mit einem Cylinder kann
man
einen vortrefflichen Verſuch hierüber anſtellen.
Warum
brennt
die Lampe flackrig, rußig und trübe, wenn man den
Cylinder
abnimmt, und weshalb brennt ſie hell, weiß und
rein
, wenn man den Cylinder wieder aufſetzt?
Aus keinem
anderen
Grunde, als weil der Cylinder, wenn er auf die
brennende
Lampe geſteckt wird, eine vortreffliche Art von
Blaſebalg
iſt.
Der Cylinder iſt oben und unten offen. Oben ſtrömt die
heiße
Luft immerfort aus, und von unten ſtrömt in einemfort
friſche
Luft zu, dadurch erhält die Flamme fortwährend friſchen
Sauerſtoff
, und es entſteht ſo eine bedeutende Hitze;
in dieſer
Hitze
vermag aber auch der Ruß zu brennen, d.
h. er
kann
ſich mit dem zuſtrömenden Sauerſtoff verbinden und des-
halb
iſt die Flamme leuchtend und heiß.
Nimmt man aber
den
Cylinder ab, ſo hört die Strömung der Luft an der Flamme
auf
, und ein großer Teil des brennenden Stoffes geht als
Ruß
verloren.
VIII. Chemie allenthalben.
Wir haben nun geſehen, daß man gar nicht weit umher
zu
ſuchen hat, um auf chemiſche Prozeſſe zu ſtoßen, daß das
Feuer
jeder Köchin auf dem Herd, jedes Feuer, das man im
Ofen
anzündet, nichts iſt als ein Stück Chemie, denn Ver-
brennen
iſt Herſtellung einer chemiſchen Verbindung von Kohlen-
ſtoff
und Sauerſtoff, und das Feuer iſt nur eine Erſcheinung,
die
bei dieſer Verbindung zum Vorſchein kommt.
Wo aber bleibt in ſolchen Fällen das Reſultat der Ver-
bindung
?
Bei unſerem Verſuch, wo wir Kohle in Sauerſtoff ver-
brennen
ließen, entſtand Kohlenſäure als das Reſultat
2820 Verbrennung, und wir ſahen, daß dieſe Kohlenſäure nichts
iſt
, als die Kohle und der Sauerſtoff, die ſich zu einer neuen
Luftart
verbunden haben.
Geſchieht nun beim Verbrennen
des
Holzes auch dergleichen?
Es geſchieht auf jedem Herd und in jedem Ofen ganz
dasſelbe
.
Jeder Herd und jeder Ofen iſt eine chemiſche
Fabrik
, in welcher Kohlenſäure fabriziert wird.
Die reine Kohlenſäure iſt ein farbloſes, faſt geruchloſes
Gas
, in welchem man ebenſowenig leben kann, wie in irgend
einer
anderen Luftart.
Tiere, die man in ein Gefäß voll Kohlen-
ſäure
bringt, erſticken ſehr bald, denn zum Leben iſt das Ein-
atmen
von Sauerſtoff nötig wir werden ſpäter ſehen, warum
dies
ſo iſt ;
da aber in der Kohlenſäure der Sauerſtoff
ſchon
verbunden iſt mit dem Kohlenſtoff, kann er in den
Lungen
des Tieres nicht die Wirkung thun, die zum Leben
nötig
iſt, und das Tier erſtickt ganz ſo, als ob es gar keine
Luft
hätte einatmen können.
In manchen Kellern, wo viel
Getränke
gähren, entwickelt ſich Kohlenſäure und man erſtaunt
oft
, daß Menſchen, wenn ſie aufrecht gehen, ganz wohl bleiben,
während
derjenige, der ſich bückt, um etwas aufzuheben, erſtickt
niederfällt
.
Zuweilen ſtrömt auch die Kohlenſäure aus Spalten
der
Erde hervor und lagert ſich in der Tiefe von Thälern,
welche
man Giftthäler nennt, da denjenigen, der ſie betritt,
der
Tod ereilt.
In der Nähe von Neapel befindet ſich
eine
berühmte Höhle, die man die Hundsgrotte nennt, die
gleichfalls
in ihrem unteren Teile ſtets mit Kohlenſäure gefüllt
iſt
;
in dieſer Grotte können Menſchen ganz gefahrlos umher-
gehen
, während Hunde, deren Kopf dem Boden näher iſt, darin
ſterben
.
Allein noch bei weitem ſchädlicher als reine Kohlenſäure
iſt
die halbfertige Kohlenſäure, die den Namen Kohlen-Oxydgas
hat
.
In der Kohlenſäure iſt immer zweimal ſo viel Sauerſtoff
als
Kohle;
in der halbfertigen Kohlenſäure iſt nur
2921 Sauerſtoff wie Kohlenſtoff enthalten, und dieſe wirkt auf den
Organismus
außerordentlich giftig.
Es rührt dies daher, daß das Kohlenoxyd, welches ja
gewiſſermaßen
einen nur unvollkommen verbrannten Kohlenſtoff
darſtellt
, ſehr leicht geneigt iſt ſich mit anderen chemiſchen
Stoffen
in eine Verbindung einzulaſſen.
Atmet man es nun
ein
, ſo verbindet es ſich mit dem Farbſtoff der roten Blut-
körperchen
;
dieſe werden dadurch zerſetzt, und auf dieſe Weiſe
wird
der Tod des Menſchen bezw.
des Tieres herbeigeführt:
man ſagt mit Recht, daß eineVergiftung” eingetreten ſei.
Es
ſei übrigens bemerkt, daß dieſe Todesart ſicherlich zu den
völlig
ſchmerzloſen, ja man kann beinahe ſagen, zu den ange-
nehmen
gehört.
Kohlenoxyd entwickelt ſich überall, wounvollkommene
Verbrennung”
von Kohle ſtattfindet, beſonders reichlich alſo
in
ſchwelenden Kohlen”.
Wenn in einem Ofen, der keinen
reichlichen
Zug und ſomit Sauerſtoffmangel hat, Feuer ange-
macht
wird, ſo entwickelt ſich in demſelben das Kohlenoxyd;
ſchließt man nun zu früh die Klappe, die zum Schornſtein
führt
, ſo füllt ſich zuerſt der Ofen mit dieſem Gas, ſodann
fängt
es an in die Stube hineinzuſtrömen;
da es ſchwerer iſt
als
die gewöhnliche Luft, nimmt es zunächſt nur die unterſte
Schicht
am Fußboden ein, ſteigt aber bei der Vermehrung
immer
höher.
Dieſes Gas iſt aber beim Atmen ſo gefährlich, daß wenig
Augenblicke
ausreichen, den Tod durch Vergiftung herbeizu-
führen
, und dieſes Unglück geſchieht in gar vielen Fällen und
oft
in einer Weiſe, die vielen unerklärlich iſt.
Es kam bei ſolchen Gelegenheiten ſchon öfter vor, daß die,
welche
auf Stühlen ſaßen oder ſtanden, nicht die mindeſte Übel-
keit
empfunden haben, während Kinder, die auf dem Fußboden
ſpielten
, plötzlich vergiftet umfielen;
was eben daher rührte,
daß
das gefährliche Gas ſich immer erſt am Boden ſammelt.
3022
Es ſei übrigens bemerkt, daß die giftigen Eigenſchaften
des
Leuchtgaſes ebenfalls darauf zurückzuführen ſind, daß das
Kohlenoxyd
einen Teil desſelben ausmacht, während der
charakteriſtiſche
Geruch des Leuchtgaſes durch einen kleinen
Bruchteil
Acetylengehalt verurſacht wird.
Wir führen alle dieſe Fälle an, um erſtens zu zeigen,
daß
eigentlich jeder Ofen eine chemiſche Fabrik iſt, worin
Kohlenſäure
oder Kohlenoxyd erzeugt wird;
wir haben aber
auch
die kleinen Nebenbemerkungen über die Gefahr des Kohlen-
dampfes
hinzugefügt, weil leider zu oft ſchon aus der Unwiſſen-
heit
der Menſchen in dieſer Beziehung Unglück entſtanden und
es
höchſt wichtig iſt, jedermann hierüber zu belehren.
Zu
dieſem
Zwecke fügen wir noch hinzu, daß man in zweifelhaften
Fällen
, wo man vermutet, daß der Ofen zu früh geſchloſſen
worden
iſt, nicht nach der Luft in den oberen Schichten
urteilen
darf, ſondern die Luft unten am Fußboden unterſuchen
muß
, um ſich vor Gefahren zu ſichern.
IX. Die Wanderung des Sauerſtoffes durch unſeren
Körper.
Wir haben nunmehr gezeigt, wie in jedem Ofen, auf
jedem
Herd eigentlich das Kunſtſtück vorgeht, das wir beim
Verbrennen
der Kohle in der Flaſche mit Sauerſtoff geſehen
haben
, und es wird nun jedem Leſer klar werden, daß man
ſich
nur dann einen richtigen Begriff von Dingen machen kann,
die
man alltäglich ſieht, wenn man imſtande iſt, ſich einen
Einblick
in das Weſen der Chemie zu verſchaffen.
Bevor wir nun in unſerem Thema weiter gehen, wollen
wir
nur noch einen der wichtigſten Prozeſſe im Leben erklären,
um
darzuthun, wie nicht allein um uns, ſondern auch in
uns
alles ſofort der Vernichtung anheimfiele, wenn wir
3123 fortwährend einen chemiſchen Prozeß in unſerem Körper unter-
hielten
, der mit dem Verbrennen des Holzes im Ofen die
größte
Ähnlichkeit hat.
So fremdartig und wunderbar es auch dem Unkundigen
im
erſten Augenblick erſcheint, ſo wahr und ſo vollkommen
richtig
iſt es, wenn man behauptet, daß der Menſch mit jedem
Atemzug
ſeinen Körper wie einen Ofen einheizt und mit jedem
Ausatmen
die Klappe dieſes merkwürdigen Ofens öffnet und
das
ſchädliche Gas ausfließen läßt.
Alle Welt weiß, daß man fortwährend einatmen und
ausatmen
muß, und daß das Leben aufhört, ſobald der Atem
ſtockt
;
aber nur wer einen Einblick in die Chemie hat, begreift,
warum
dies ſo iſt.
Zum Leben iſt eine ununterbrochene chemiſche Thätigkeit
unſers
Körpers nötig, und das allererſte Erfordernis iſt, daß
nach
jedem Teil unſeres Körpers Sauerſtoff hinſtrömt, um dort
eine
chemiſche Verbindung eigner Art einzugehen.
Dieſen Sauer-
ſtoff
nehmen wir durch Einatmen der Luft in uns auf.
Bei jedem
Male
, wenn ſich der Bruſtkaſten ausdehnt, füllt ſich die Lunge
wie
eine Art Blaſebalg mit Luft, und da in der Luft immer
ein
fünftel Sauerſtoff vorhanden iſt, ſo bekommen wir Sauer-
ſtoff
in den Körper.
Aber dies würde uns nicht viel helfen,
denn
der Sauerſtoff muß durch den ganzen Körper wandern,
er
muß ebenſo in unſer Auge, wie in unſer Gehirn, in unſere
Muskeln
wie in unſere Knochen, mit einem Worte, nach
jedem
Pünktchen unſeres Körpers hin, und dahin würde er
nicht
gelangen können, wenn nicht das Blut wäre, das von
einer
beſtimmten Abteilung des Herzens nach der Lunge ge-
trieben
wird und hier eine chemiſche Verbindung mit dem
Sauerſtoff
eingeht.
Sobald dies geſchehen iſt, ſtrömt es durch die Thätigkeit
des
Herzens wieder zu einer anderen Abteilung des Herzens
zurück
und vollendet ſo einen kleinen Kreislauf.
Nun
3224 preßt ſich das Herz wieder in einer beſonderen Abteilung
derart
zuſammen, daß das mit Sauerſtoff verbundene Blut in
die
Schlag-Adern ſtrömt und durch dieſe und ihre außerordent-
lichen
Verzweigungen in alle Teile des Körpers getrieben
wird
.
So gelangt das mit Sauerſtoff getränkte Blut nach allen
Punkten
des Körpers hin, und ſomit iſt es geſchehen, daß der
Sauerſtoff
der Luft durch den ganzen Körper verbreitet
worden
iſt.
Nunmehr aber, ſollte man glauben, wäre genug geſchehen,
da
doch jetzt allenthalben Sauerſtoff vorhanden iſt, und wenn
man
ihn nur nicht davon läßt, ſo brauchte man nicht wieder
zu
atmen.
Aber dem iſt nicht ſo. Ganz ſo wie zum Ofen
immer
neuer Sauerſtoff zuſtrömen muß, um den chemiſchen
Prozeß
zu erhalten, weil der alte Sauerſtoff im Verbrennen
ſich
in Kohlenſäure verwandelt, ganz ſo iſt es im Körper der
Fall
.
Der hauptſächliche chemiſche Prozeß im Körper beſteht
eben
auch darin, daß in jedem Punkte unſeres Körpers das
vorgeht
, was im Ofen der Fall iſt.
Allenthalben findet die
chemiſche
Verbindung des Sauerſtoffs mit dem unbrauchbar
gewordenen
Kohlenſtoff des Körpers ſtatt und es entſteht
ganz
wie im Ofen allenthalben im Körper Kohlenſäure, die
hinaus
geſchafft werden muß.
Und dieſes Geſchäft übernimmt
wiederum
das Blut, es ſtrömt auf anderem Wege durch be-
ſondere
Blutgefäße zurück bis zum Herzen, hier wird es wieder
zur
Lunge getrieben, welche beim Ausatmen die Kohlenſäure
aus
dem Körper entfernt.
Dieſer in den Hauptzügen hier angegebene Vorgang des
Einatmens
und Ausatmens iſt alſo dem chemiſchen Prozeß im
Ofen
ſehr ähnlich.
Wie ein Ofen nimmt jedes lebende Tier
Sauerſtoff
ein, wie im Ofen verbindet ſich im Körper der
Sauerſtoff
mit dem Kohlenſtoff zur Kohlenſäure, wie beim Ofen
ſtößt
der Körper die Kohlenſäure wieder aus.
Und in der That, der chemiſche Prozeß des Heizens
3325 des Atmens iſt genau ein und derſelbe. Nicht nur der Vor-
gang
iſt ſich ähnlich, ſondern auch der Zweck.
Ganz ſo wie
man
durch den Ofen die Erwärmung desſelben erzielt, ſo
erzielt
man durch das Atmen die Lebenswärme des Körpers.
Atmen iſt zur Erwärmung des Körpers ganz ſo notwendig,
wie
Zugluft zur Erwärmung des Ofens.
Wir wollen von dieſem merkwürdigen chemiſchen Vorgang
einiges
mitteilen.
X. Atmen und Einheizen.
Wir haben geſagt, daß das Atmen des Menſchen ganz
ſo
die Erwärmung des Körpers, wie das Heizen die Erwärmung
des
Ofens hervorbringt.
Alle Menſchen haben einen ganz beſtimmten Grad von
Körperwärme
, der ſich ganz gleich bleibt, es mag Sommer
oder
Winter, Hitze oder Kälte herrſchen.
Man nennt dieſe
Wärme
Körper-oder Blutwärme, und ſie beträgt im normalen
Zuſtand
circa 37 Grad Celſius.
Dieſe Wärme im Innern des
Körpers
darf ſich weder ſteigern noch darf ſie abnehmen, wenn
nicht
Krankheit oder gar Tod folgen ſoll, ſie muß ſich viel-
mehr
ſtets gleich bleiben, und dies iſt auch beim geſunden
Menſchen
immer der Fall, ſo lange er eſſen und atmen kann.
Alles Fett, das der Menſch genießt, wie alle Stoffe, die
im
Körper ſich in Fett umwandeln, dienen hauptſächlich dazu
dieſen
Grad von Wärme zu erhalten.
Das Fett nämlich beſteht
aus
Kohlenſtoff und den Beſtandteilen des Waſſers.
Der Kohlen-
ſtoff
iſt das Heizmaterial, und die Beſtandteile des Waſſers be-
wirken
unter Umſtänden die Abkühlung durch Schweiß.
Das
Atmen
, wobei man Sauerſtoff in den Körper einführt, veranlaßt
die
Verbindung des Sauerſtoffs und des Kohlenſtoffs zur
Kohlenſäure
, und bei dieſer Verbindung wird Wärme
3426 ganz ſo wie im Ofen bei der Bildung von Kohlenſäure Wärme
frei
wird.
Dieſe Thatſachen erklären auch manche Erſcheinung, die
ſonſt
unerklärlich geweſen iſt.
Woher kommt es, daß wir im
Winter
mehr eſſen und fetteres Eſſen vertragen können als im
Sommer
?
Es kommt daher, daß wir im Winter ſchneller
kalt
werden, und daher ſtärker atmen müſſen, um uns zu er-
wärmen
.
Aber zum ſtärkern Atmen gehört mehr Kohlenſtoff
im
Körper, und darum müſſen wir mehr Fett eſſen, als im
Sommer
.
Deshalb darf man ſich nicht wundern, wenn in den
ewigen
Eisfeldern des Nordens die Menſchen Thran trinken
und
ſogar Talglichte mit gutem Appetit verzehren, während in
heißen
Ländern jede Fleiſchſpeiſe mäßig und fettes Fleiſch nur
mit
Widerſtreben genoſſen wird.
Warum ißt derjenige, der eine ſitzende Lebensart führt,
ſehr
wenig?
Weil er beim Sitzen weniger atmet und darum
auch
nicht viel Kohlenſtoff verbraucht.
Deshalb aber friert er
auch
weit leichter als derjenige, der ſich viel bewegt, alſo auch
kräftiger
atmet und folglich auch mehr eſſen muß.
Atmen
und
Eſſen gehört ſo genau zu einander, um den Körper zu
erwärmen
, wie Zugluft und Brennmaterial zu einander ge-
hören
, um die Erwärmung des Ofens zu unterhalten.
Freilich wird mancher Leſer fragen: wo iſt denn das
Feuer
im Körper vorhanden, das im Ofen nötig iſt, um aus
Sauerſtoff
und Kohlenſtoff die Kohlenſäure zu bilden.
Zur Antwort auf dieſe Frage müſſen wir jedoch daran
erinnern
, daß, wie wir bereits geſagt haben, das Feuer nicht
etwas
Beſondres iſt, das außerhalb des chemiſchen Prozeſſes
exiſtiert
, ſondern faſt alles Feuer, das wir erzeugen und fort-
pflanzen
, iſt nur eine Erſcheinung in dem chemiſchen Prozeſſe,
die
aber nicht unbedingt und unter allen Umſtänden dazu ge-
hört
.
Und hier iſt es, wo wir wiederum fortfahren können
in
der Erklärung deſſen, was man den chemiſchen Prozeß nennt.
3527
Es iſt ein ausgemachter Lehrſatz, daß immer, wenn zwei
Körper
ſich chemiſch verbinden, dieſer Akt unter Veränderungen
der
Wärme vor ſich geht.
Man kann ſich in einzelnen Fällen ſehr leicht überzeugen,
wie
Wärme auch ohne Feuer als Erſcheinung eines Natur-
prozeſſes
entſteht.
Wenn man in ein Glas kaltes Waſſer etwas
kalte
Schwefelſäure gießt, wird das Waſſer ſo heiß davon, daß
oft
das Glas zerſpringt.
Wenn man den Verſuch in einem
irdenen
Topf macht, ſo fühlt ſich der Topf ſo an, als ob heißes
Waſſer
darin wäre.
Und doch war das Waſſer für ſich kalt
und
die Schwefelſäure für ſich ebenfalls kalt.
Die Wärme
entſtand
erſt in dem Augenblick, wo beide Stoffe ſich mit ein-
ander
gemiſcht haben.
Nicht minder iſt es bekannt, wie
kaltes
Waſſer, auf ungelöſchten Kalk gegoſſen, einen ſehr heißen
Kalkbrei
herſtellt.
Dies mag als Beweis dienen, daß ſich
Wärme
auch ohne Feuererſcheinung entwickeln kann, als Er-
ſcheinung
bei einem Naturprozeſſe, und wir wollen nun ſehen,
daß
dies bei faſt allen chemiſchen Prozeſſen der Fall iſt.
XI. Die chemiſche Wärme.
Es iſt höchſt wichtig, zur Kenntnis der chemiſchen Prozeſſe
zu
wiſſen, daß ſie immer mit Wärme-Erſcheinungen verbunden
ſind
;
nur tritt dies in einzelnen Fällen wenig merklich auf,
während
es in andern recht auffallend zur Erſcheinung kommt.
Und zwar geſchieht dies in folgender Weiſe:
Wir wiſſen, daß die chemiſchen Grundſtoffe eine Neigung
haben
, ſich mit einander zu verbinden;
allein dieſe Neigung
iſt
ſehr verſchieden.
Während ſich z. B. Sauerſtoff mit einem
Metall
, das den Namen Kalium führt, ſo leicht und ſchnell
verbindet
, daß man das reine Kalium nur aufbewahren kann in
Steinöl
, worin kein Sauerſtoff vorhanden iſt, verbindet
3628 Sauerſtoff mit Gold im allgemeinen überhaupt nicht, ſo daß
man
Gold in feuchter Luft liegen laſſen kann, ohne daß es
roſtet
, d.
h. ohne daß es eine Verbindung mit dem Sauerſtoff
der
Luft eingeht.
Eiſen oder Zink dagegen verbindet ſich ſchon
bei
weitem leichter mit Sauerſtoff, und ſetzt man eines dieſer
Metalle
der feuchten Luft aus, ſo überzieht es ſich mit einer
Borke
, die auf Eiſen rot erſcheint und Roſt genannt wird,
während
Zink einen weißgrauen Überzug bekommt, den man
Zinkoxyd
nennt.
Man ſagt daher mit Recht: Sauerſtoff und Kalium haben
eine
ſtarke Neigung, ſich mit einander zu verbinden.
Sauer-
ſtoff
mit Eiſen verbindet ſich ſchon weniger energiſch, Sauer-
ſtoff
mit Zink noch weniger und Sauerſtoff mit Gold gar-
nicht
.
Was nun die Wärme betrifft, die bei dieſen Verbindungen
zur
Erſcheinung kommt, ſo kann man Folgendes als Regel
feſtſtellen
:
Sobald ſich zwei Körper ſehr energiſch verbinden,
findet
ein hoher Grad von Wärmeveränderung ſtatt.
Die
Wärme
kann ſich bei dieſem Prozeß ſo ſteigern, daß ein brenn-
barer
Gegenſtand dabei in Flammen ausbricht.
Findet die
Verbindung
weniger energiſch ſtatt, ſo iſt die Wärme ebenfalls
geringer
, und ſie kann in gewiſſen Fällen ſogar unmerklich
werden
.
Wir wollen dies durch einige Beiſpiele zu erläutern ſuchen.
Wenn man ein Stückchen Kalium-Metall in einen Teller
mit
kaltem Waſſer wirft, ſo iſt die Neigung dieſes Metalles,
ſich
mit Sauerſtoff zu verbinden, ſo groß, daß es das
Waſſer
chemiſch zerſetzt.
Waſſer nämlich beſteht, wie wir
ſpäter
noch näher zeigen werden, aus Sauerſtoff und Waſſer-
ſtoffgas
.
Das Kalium, wenn es ins Waſſer kommt, hat nun
eine
ſolche gewaltige Neigung zum Sauerſtoffe, daß es dem
Waſſer
ſeinen Sauerſtoff entzieht, ſo daß der Sauerſtoff, der
früher
im Waſſer war, ſich mit dem Kalium verbindet.
3729 Verbindung iſt aber ſo heftig, daß das Kalium zu glühen an-
fängt
.
Man ſieht auch deshalb ein Kügelchen von Kalium-
Metall
, das ſonſt kalt iſt, in Glut geraten und ziſchend
umher
ſpringen, wenn man es in kaltes Waſſer hineinwirft.
Hierbei zeigt ſich aber noch eine intereſſante Erſcheinung. Da
das
Waſſer ſeinen Sauerſtoff verliert, ſo ſteigt aus dem Waſſer
Waſſerſtoffgas
in die Höhe.
Dies aber iſt ein brennbares Gas,
wird
von der Glut des Kaliumkügelchens angezündet und
fängt
an zu brennen.
Man nimmt hierbei das merkwürdige
Schauſpiel
wahr, daß erſtens ein Metallkügelchen dadurch zu
glühen
anfängt, daß man es in kaltes Waſſer wirft, und zweitens,
daß
ein Beſtandteil des Waſſers hierbei ſelber in volle Flamme
gerät
.
Jeder Leſer wird ſchon daraus erſehen, daß hier die
Wärme
nur ein Erzeugnis des chemiſchen Vorganges iſt, daß
ferner
die Wärme ſich oft ſo ſteigert, daß ſie eine Flamme her-
vorruft
, und jedermann wird es glaublich finden, wenn wir
ſagen
, daß auf chemiſchem Wege Wärme erzeugt wird ſelbſt
ohne
.
Flamme. Es wird daher nun erklärlicher erſcheinen, daß
auch
in unſerm Körper die Leibwärme erzeugt und erhalten
wird
durch den chemiſchen Prozeß, den wir beim Eſſen und
Atmen
durch Kohlenſtoff und Sauerſtoff hervorrufen.
XII. Die Chemie in aller Welt Händen.
Indem wir nun in unſerm Thema weiter gehen wollen,
bitten
wir unſere Leſer, ſich des Verſuchs zu erinnern, den wir
mit
Phosphor und Sauerſtoff angeſtellt haben.
Wir haben bei dieſem Verſuch geſehen, daß ein Stückchen
Phosphor
in einer Flaſche Sauerſtoffgas nur ein wenig erhitzt
zu
werden braucht, um ſofort mit heller Flamme zu ver-
brennen
, und jetzt wiſſen wir, daß dieſe Verbrennung nur
3830 chemiſcher Vorgang iſt, daß das Feuer nur eine Erſcheinung
dieſes
Vorganges bildet, daß eigentlich der wahre Hergang bei
dieſem
Verſuch nur die chemiſche Verbindung von Phosphor
und
Sauerſtoff iſt, welche beiſammen eine Art weißen Nebel
bilden
, den man Phosphorſäure nennt.
In Nachſtehendem wollen wir zeigen, daß viele Millionen
Menſchen
tagtäglich denſelben Verſuch mit dem glücklichſten
Erfolge
anſtellen, freilich ohne daran zu denken, daß auch dies
Chemie
iſt.
Man kauft ſo oft für einen Groſchen tauſend Zündhölzchen,
und
jedes derſelben gerät in hellen Brand, wenn man es an
einer
rauhen Fläche reibt.
Ein ſolches Zündhölzchen aber, das
man
unachtſam benutzt und verächtlich von ſich wirft, iſt
wahrlich
ein Gegenſtand, der zum ernſtlichen Nachdenken
anregt
.
Wie viele Tauſende von Menſchengeſchlechtern haben gelebt,
die
das Erzeugen von Feuer für eine Art Zauber gehalten
haben
! Die weiſen Griechen haben ſo wenig Vorſtellung
davon
gehabt, wie man Feuer erzeugen kann, daß ſie in ihren
religiöſen
Dichtungen die Fabel erfunden haben, daß ein Gott
einen
Funken vom Himmel geſtohlen und ihn den Menſchen
gegeben
habe, damit ſie ein Feuer anzünden könnten.
In der
That
war man im Altertum genötigt, glühende Kohlen auf-
zubewahren
, um jederzeit Feuer anzünden zu können.
In den
Tempeln
der alten Völker brannte man eine ewige Leuchte, zu
deren
Dienſt beſtimmte Prieſter beſtellt waren, damit ſie nie
verlöſche
.
Später erfand man das Feuerzeug, aus Stahl und
Stein
beſtehend, deſſen ſich gewiß auch noch manche unſerer
Leſer
bedient haben.
Mit ſolchem Feuerzeug ſtellt man das
Feuer
dadurch her, daß man gegen die ſcharfe Kante eines be-
ſonders
harten Steines, des Feuerſteins, ein Stück Stahl
ſchlägt
, wodurch Stückchen Stahl ſo plötzlich eine heftige
Reibung
erleiden, daß ſie glühend abſpringen und als
3931 imſtande ſind, Zunder oder Schwamm in Glut zu ver-
ſetzen
.
Seitdem jedoch die Chemie einen großen Aufſchwung
nahm
und man einſah, daß Feuer nur eine Erſcheinung iſt
während
eines chemiſchen Vorganges, erfand man mancherlei
andre
Feuerzeuge, von denen ſich die Reibzündhölzchen als die
bequemſten
und beſten bewährt haben.
Hätte ein Menſch in alten Zeiten ſolch’ ein Bündchen
Reibzündhölzchen
hervorgebracht, er würde vielleicht von den
frommen
Prieſtern als Gottesleugner und Zauberer auf den
Scheiterhaufen
gebracht und vom unwiſſenden Volk als ein
Gott
verehrt worden ſein! Wieviel Stoff bietet uns ſolch’
ein
Hölzchen, um über den geiſtigen Fortſchritt der Menſchheit
nachzudenken
, und wie ſehr lehrt uns ein ſolches die vergeb-
lichen
Beſtrebungen verachten, durch welche man die Menſchen
wieder
in den Zuſtand der Unwiſſenheit und Thorheit alter
Zeiten
hineinzwängen will!
Darum aber wollen wir ſolch’ ein Zündhölzchen näher
kennen
lernen.
Das einfache Zündhölzchen beſteht aus einem Hölzchen
deſſen
Spitze zuerſt in Schwefel und dann in Phosphor ge-
taucht
iſt.
Der Phosphor hat die Eigenſchaft, daß er große
Neigung
hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden;
legt man daher
ein
Stückchen Phosphor, das ungefähr ſo ausſieht, wie weiches,
weißes
Wachs, an die Luft, ſo genügt ſchon die gewöhnliche
Wärme
der Luft, um eine langſame chemiſche Verbindung des
Sauerſtoffs
der Luft mit dem Phosphor herzuſtellen.
Das
Stückchen
Phosphor fängt an zu rauchen und einen weißen
Nebel
von ſich zu geben, der eben nichts iſt, als Phosphor-
ſäure
, wobei der Phosphor endlich ganz verſchwindet.
Im
Dunkeln
ſieht man, daß der Phosphor in dieſem Zuſtande
leuchtet
, und jedermann weiß es auch, daß, wenn man mit der
warmen
Hand im Dunkeln über die Spitze des
4032 fährt, ein ſolch’ leuchtender Nebel von beſonderem Geruch ent-
ſteht
.
Dieſer Nebel iſt Phosphorſäure, eine Verbindung des
Phosphors
mit dem Sauerſtoff der Luft, die durch das Reiben
mit
der warmen Hand begünſtigt wird.
Wir wollen nun noch näher zeigen, daß ein ſolches Hölz-
chen
, wenn es gerieben worden iſt, drei wirklich intereſſante,
chemiſche
Vorgänge zeigt, die wohlbeachtet ſo lehrreich ſind, wie
man
es ſich ſchwerlich denken mag.
XIII. Verſuche mit einem Zündhölzchen.
In der That, unſere Reibzündhölzchen ſtellen beim Ge-
brauch
eine ganze Reihe von chemiſchen Vorgängen dar,
und
bei all’ dieſen ſpielt der Sauerſtoff der Luft die Haupt-
rolle
.
Der chemiſche Vorgang beſteht darin, daß drei ver-
ſchiedene
Stoffe ſich nacheinander mit dem Sauerſtoff der Luft
verbinden
, und daß bei dieſer Gelegenheit drei verſchiedene
Flammen
nach einander entſtehen, die ſtufenweiſe eine immer
größere
Hitze erzeugen.
Der Phosphor wird durch Reibung erwärmt, bis zu dem
Grade
, wo er ſich unter Flammen mit dem Sauerſtoff der
Luft
verbindet, und das iſt die erſte Flamme.
Aber dieſe
Flamme
können wir nicht zum Anzünden gewöhnlicher Gegen-
ſtände
brauchen.
Der Phosphor verbindet ſich bei einem ſo
niedrigen
Grad von Hitze mit dem Sauerſtoff der Luft, daß
wir
langſam und ohne helle Flamme brennenden Phosphor in
der
Hand halten können, ohne uns zu verletzen.
Wenn wir im
Dunkeln
einen Strich mit einem Phosphorhölzchen über die Hand
machen
, ſehen wir einen Streifen Phosphor auf der Hand ab-
brennen
, d.
h. ſich mit dem Sauerſtoff der Luft verbinden, ohne daß
wir
dabei Schmerz empfinden.
Oft ſcheint es in ſolchen
4133 als ob der Phosphor ſchon ausgebrannt wäre; aber es iſt
meiſt
nur mit der oberſten Schicht der Fall, und wenn dieſe
ſich
in Phosphorſäure verwandelt hat, ſo dringt der Sauerſtoff
der
Luft nicht bis zur unteren Schicht, ſo daß die Verbrennung
aufhört
.
Daher aber rührt es auch, daß, wenn man mit dem
Finger
die Stelle, wo der Phosphorſtreifen war, abwiſcht,
dieſer
noch einmal an zu brennen fängt;
denn durch das Ab-
wiſchen
iſt die untere Schicht frei geworden und dieſe verbindet
ſich
nun mit dem Sauerſtoff der Luft und erſcheint wieder als
lichter
Streifen.
Dies iſt die langſame Verbrennung des
Phosphors
.
Aber auch die ſchnelle Verbindung des Phosphors mit
Sauerſtoff
, die durch Reiben erzeugt wird und eine helle
Flamme
bildet, iſt nicht ſtark genug, dauert auch nicht lange
genug
an, um das Holz zu entzünden.
Da aber Schwefel,
wie
wir in dem Verſuche bereits geſehen haben, auch ſtarke
Neigung
hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden, ſo iſt die
ſchwache
Wärme der Phosphorflamme hinreichend, um dem
Schwefel
des Zündhölzchens den Grad von Wärme mit-
zuteilen
, der ſeine Verbindung mit Sauerſtoff begünſtigt.
Es
fängt
alſo jetzt der Schwefel ſein chemiſches Kunſtſtück an,
welches
wir auch entſtehen ſahen, als wir Schwefel in der
Flaſche
mit reinem Sauerſtoff verbrennen ließen.
Der Phos-
phor
iſt alſo nur gebraucht worden, um den Schwefel anzu-
brennen
.
Zwar kann man den Schwefel ebenfalls durch Reiben
entzünden
;
allein dies iſt ſchon ſehr ſchwierig, weil die Reibung
viel
zu lange geſchehen müßte, und man benutzt den Phos-
phor
mit Recht, weil ſein Entzünden ſo ſehr leicht iſt.
Der
Phosphor
alſo thut eine Vorarbeit;
aber auch der Schwefel
iſt
nur ein Vermittler.
Der brennende Phosphor würde dem Kohlenſtoff des
Hölzchens
nicht jenen hohen Grad von Hitze erteilen, die ihn
fähig
macht, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu verbinden.
A. Bernſtein, Naturw. Volfsbücher VI.
4234
Der bloße Phosphor würde abbrennen, und das Hölzchen
würde
nicht entzündet werden.
Da aber die Flamme des
Schwefels
ſchon bei weitem heißer iſt, ſo verrichtet dieſe die
Vermittlung
;
ſie erhitzt den Kohlenſtoff des Holzes in ſo hohem
Grade
, daß, wenn der Schwefel abgebrannt iſt, auch der
Kohlenſtoff
anfängt, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu ver-
binden
, und das Holz ſelber gerät in hellen Brand, das heißt
wiederum
, es verwandelt ſich mit dem Sauerſtoff zuſammen zu
Kohlenſäure
.
Und nun bitten wir unſere Leſer, ſich all’ der Verſuche
zu
erinnern, die wir gleich anfangs mit der Flaſche voll
Sauerſtoff
gemacht haben, wo wir Kohle, Schwefel und Phos-
phor
, jedes einzeln, in einer Flaſche Sauerſtoff verbrennen
ließen
, und zeigten, wie daraus in dem einen Falle Kohlen-
ſäure
, in dem andern ſchweflige Säure und im letztern Falle
Phosphorſäure
entſteht.
Dieſe Verſuche mögen wohl etwas
fremdartig
und gelehrt geklungen haben.
Jetzt aber ſehen
wir
, daß jeder unſerer Leſer tagtäglich ganz dieſelben Verſuche
macht
, daß er mit jedem Zündhölzchen, das er anſteckt, alle
drei
Kunſtſtücke mit einem Male vornimmt, daß er, ohne
daran
zu denken, drei Verbrennungsprozeſſe, die nichts als
chemiſche
Prozeſſe ſind, vor ſich gehen läßt und daß er, ein
chemiſcher
Fabrikant, ohne es zu wiſſen, erſt Phosphorſäure,
dann
ſchweflige Säure und dann Kohlenſäure fabriziert, wenn
er
auch nichts dabei im Sinne hat, als ſich eine Zigarre an-
zuzünden
.
XIV. Ein chemiſches Geſetz.
Wir haben bisher verſucht, unſern Leſern einen näheren
Einblick
in das Weſen des Sauerſtoffs und einige ſeiner Ver-
bindungen
zu geben.
Indem wir nunmehr bald zum
4335 ſtoff übergehen wollen, müſſen wir noch zwei Dinge hier an-
führen
:
das eine iſt ein allgemeines, großes chemiſches Geſetz,
das
man ſich merken muß, und das andere iſt eine Mitteilung
über
eine große Entdeckung.
Das Geſetz, auf das wir hier aufmerkſam machen wollen,
iſt
folgendes:
Wir wiſſen, daß die chemiſchen Elemente eine Neigung
haben
, ſich unter begünſtigenden Umſtänden mit einander
chemiſch
zu verbinden, und wir haben es auch ſchon erwähnt,
daß
die Neigung verſchieden iſt, d.
h. daß ſie bei gewiſſen
Stoffen
ſtärker, bei anderen Stoffen ſchwächer iſt.
So haben
wir
z.
B. geſehen, daß das Metall, welches man Kalium
nennt
, eine ungeheure Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu ver-
binden
, während Eiſen zwar auch dieſe Neigung hat, aber in
weit
geringerem Maße.
In der Chemie iſt es nun ſehr wichtig, zu wiſſen, wie
groß
dieſe Neigung zweier Stoffe zu einander iſt, und zu er-
kennen
, ob und welch’ anderer Stoff eine noch größere Neigung
hat
, ſich mit einem der verbundenen Stoffe zu verbinden;
denn
es
iſt Geſetz in der Chemie, und dies Geſetz wollen wir
unſern
Leſern deutlich machen, daß ein Stoff, der eine
große
Neigung hat, ſich mit einem andern zu verbinden, im-
ſtande
iſt, den andern Stoff herauszureißen aus einer bereits
eingegangenen
Verbindung, ſobald dieſe aus ſchwächerer Neigung
entſtanden
iſt.
Ein Beiſpiel ſoll dies deutlicher machen. Es hat wohl
ſchon
jedermann ein roſtiges Eiſen geſehen.
Der Roſt auf
dem
Eiſen entſtand dadurch, daß der Sauerſtoff der Luft ſich
mit
der Oberfläche des Eiſens verbunden hat.
Das Eiſen iſt
alſo
nicht etwa verſchwunden, ſondern iſt nach wie vor da;
es
iſt
nur ein Teil davon eine Verbindung eingegangen, welche
einen
andern Körper gebildet hat, den Roſt, oder mit dem
wiſſenſchaftlichen
Namen, das Eiſenoxyd.
Geſetzt, es
4436 nun jemand ſolches Eiſenoxyd geſammelt, und es läge ihm
daran
, den Sauerſtoff aus dem Eiſen herauszubringen, damit
er
reines Eiſen habe, ſo kann dies nur dadurch geſchehen, daß
man
zu dem Eiſenoxyd einen Stoff zubringt, der größere
Neigung
zum Sauerſtoff hat als das Eiſen.
Unter ſolchen
Umſtänden
wird der Sauerſtoff aus dem Eiſenoxyd fortgehen
und
ſich mit jenem andern Stoff verbinden;
dadurch wird das
Eiſen
ganz rein von Sauerſtoff werden.
Man wird reines
Eiſen
erhalten.
In der That wird alles Eiſen, das man bekanntlich aus
der
Erde gräbt, nicht als reines, metalliſches Eiſen gefunden,
ſondern
in chemiſcher Verbindung mit Sauerſtoff.
Wer Eiſen-
bergwerke
geſehen hat, wird bemerkt haben, daß es meiſt rote
und
gelbe, wie Stein ausſehende Stücke waren, die man ihm
als
das eigentliche Eiſenerz zeigte.
Da man aber daraus
Eiſen
machen will, ſo muß man den Sauerſtoff austreiben,
und
das kann man nur thun, indem man das Eiſen in den
Hoch-Ofen
bringt, woſelbſt es mit Kohlen gemiſcht wird, die
man
dann anzündet.
Die glühende Kohle aber das wiſſen
wir
ja ſchon hat eine ſtarke Neigung, ſich mit Sauerſtoff
zu
verbinden und eine Luftart, die Kohlenſäure zu bilden.
Gerät nun die Kohle in Glut, ſo iſt ihre Neigung zum
Sauerſtoff
ſtärker, als die des Eiſens;
ſie reißt alſo aus
dem
Eiſenoxyd den Sauerſtoff an ſich und verfliegt als Kohlen-
ſäure
in die Luft, während reines, metalliſches Eiſen zurück-
bleibt
.
Wir ſehen alſo, wenn ein Stoff nur eine recht ſtarke
Neigung
hat zu einem andern Stoffe, ſo kann er ihn unter
günſtigen
Umſtänden auch an ſich ziehen und ſich mit ihm ver-
binden
, ſelbſt wenn er bereits mit einem dritten Stoffe ſich ein-
gelaſſen
hätte.
In ſolchem Falle ſagt man: der eine Stoff
hat
ſeine frühere Verbindung verlaſſen und hat ſich mit dem
ſtärkeren
Stoff verbunden;
im vorliegenden Falle alſo hat
4537 Sauerſtoff das Eiſen verlaſſen und hat ſich zur Kohle begeben,
um
mit dieſer eine Verbindung einzugehen.
In vielen Fällen geſchieht aber noch mehr; es tauſchen
nämlich
unter Umſtänden zwei verſchiedene chemiſche Verbin-
dungen
ihre Stoffe aus, wenn ſie zu einander gebracht werden.
Ein Beiſpiel wird das, was wir meinen, deutlicher machen.
Wir
haben ſchon erwähnt, daß Kochſalz aus zwei Stoffen be-
ſteht
, von denen der eine Natrium und der zweite Chlor heißt;

nun
kann man aber auch durch Auflöſung von Silber in
Salpeterſäure
ſalpeterſaures Silber darſtellen, das ebenfalls
ungefähr
wie Salz ausſieht und allgemein unter dem Namen
Höllenſtein
bekannt iſt.
Löſt man dieſe beiden Salze in zwei
verſchiedenen
Fläſchchen mit Waſſer auf und gießt nun die
Miſchungen
zu einander, ſo entſteht ſolch’ ein Austauſch.
Das
Chlor
verläßt das Natrium und verbindet ſich mit dem Silber,
und
die Salpeterſäure verläßt das Silber und verbindet ſich
mit
dem Natrium, und mau erhält ſtatt des früheren Chlor-
Natrium
und des ſalpeterſauren Silbers zwei neue chemiſche
Körper
, nämlich Chlor-Silber und ſalpeterſaures Natron.
Dieſes Geſetz der Veränderungen und des Austauſches der
chemiſchen
Verbindungen iſt die Grundquelle der meiſten
chemiſchen
Erſcheinungen, weshalb wir ſie nicht unerwähnt
laſſen
durften.
XV. Einiges vom Waſſerſtoff.
Indem wir hoffen vom Sauerſtoff-Gas inſoweit genügend
geſprochen
zu haben, als ein Einblick in die Chemie für An-
fänger
erfordert, wollen wir zum zweiten Grundſtoff ſchreiten
und
vom Waſſerſtoffgas einiges vorführen.
Vor allem wollen wir nur ſagen, woher dieſes Gas ſeinen
Namen
hat.
Das Waſſerſtoffgas wird darum ſo
4638 weil es ein Haupt-Beſtandteil des Waſſers iſt. Alles Waſſer
in
unſeren Brunnen, in unſeren Flüſſen, in Seen und Meeren,
was
wir trinken oder ſonſt gebrauchen, iſt nicht ein einfacher
Stoff
, ſondern beſteht aus zwei Luftarten, die chemiſch mit
einander
verbunden ſind.
Die eine Luftart iſt Waſſerſtoff und
die
andere Sauerſtoff.
So unglaublich dies dem Unkundigen auch klingen mag,
ſo
wahr iſt es dennoch.
Wenn man ſonſt geglaubt hat, daß
Waſſer
ein Urſtoff ſei und ſich ſogar noch vor der Schöpfung
aller
Dinge den Geiſt Gottes auf den Waſſern ſchwebend
dachte
, ſo weiß man jetzt und kann es jedem zeigen, daß
Waſſer
gemacht werden kann aus den zwei Luftarten, und
ebenſo
, daß man die zwei Luftarten herſtellen kann aus
Waſſer
.
Wir wiſſen ja ſchon, daß, wenn man einen Stoff hinzubringt,
der
größere Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden,
der
Sauerſtoff ſeine bisherige Verbindung verläßt und ſich mit
dem
neuen Stoff verbindet.
Dadurch kann man aber auch
den
Waſſerſtoff aus dem Waſſer frei machen.
Da wir bereits
wiſſen
, daß das Kalium-Metall und ebenſo das Natrium
eine ſo außerordentlich ſtarke Neigung hat zum Sauerſtoff,
ſo
braucht man nur ein Stückchen von dieſem Metall in einen
Teller
mit Waſſer zu werfen, um das ſchöne Schauſpiel zu
genießen
, das wir bereits unſeren Leſern vorgeführt haben.
Das Kalium nimmt aus dem Waſſer den Sauerſtoff an
ſich
und zwar ſo heftig, daß das Kalium zu glühen anfängt
und
wie ein leuchtender Funken ziſchend im Teller umherſpringt;
hierbei aber ſteigt die Menge Waſſerſtoffgas, die früher mit
dem
Sauerſtoffgas verbunden war, aus dem Waſſer auf, und
über
dem Teller ſchwebt eine Menge dieſes Gaſes und würde,
weil
es ein ſehr leichtes Gas iſt, aufwärts nach der Stuben-
decke
ſteigen.
Da aber dieſes Gas auch brennbar iſt, ſo reicht
die
Glut des Kaliums hin, um das Gas anzuzünden, und
4739 ſieht bei ſolchem Verſuch gewiſſermaßen, wie man aus dem
Waſſer
Feuer machen kann.
Das Kalium iſt indeſſen immer noch ein teueres Metall,
man
kann aber das Waſſerſtoffgas weit billiger darſtellen.
Wenn man eine Handvoll kleiner Eiſenſtückchen, wie etwa kleine
Nägel
, in ein Glas wirft, das halb mit Waſſer gefüllt iſt, ſo
braucht
man nur ein wenig Schwefelſäure zum Waſſer zuzu-
ſchütten
, und man wird bemerken, wie aus dem Waſſer Bläschen
aufſteigen
, als ob es kochte.
Dieſe Bläschen ſind aber nichts,
als
Waſſerſtoffgas, das frei wird, weil Eiſen im Gemiſch mit
Schwefelſäure
eine ſehr ſtarke Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff
zu
verbinden, und dieſe Neigung ſo ſtark iſt, daß es den Sauer-
ſtoff
aus dem Waſſer entreißt, wodurch der Waſſerſtoff des
Waſſers
frei wird.
Wir wollen nun unſerm Leſer zeigen, wie er ſich mit den
einfachſten
Mitteln dieſen Verſuch ſelbſt vor Augen führen kann.
XVI. Anleitung zu einem Verſuch.
Man kann das Waſſerſtoffgas ſchnell und leicht darſtellen,
wenn
man ſtatt Eiſen kleine Stückchen Zink nimmt, und da
wir
meinen, daß wohl mancher unſerer Leſer eine Ausgabe
von
ein paar Groſchen nicht ſcheuen wird, um einen Verſuch
derart
zu machen, ſo wollen wir möglichſt deutlich die Anleitung
hierzu
geben.
Man nehme eine gewöhnliche, weiße Bierflaſche und ſchütte
eine
Handvoll kleingeſchnittenes Zinkblech hinein, das man bei
jedem
Klempner billig bekommen kann, da das Zink nicht neu
zu
ſein braucht.
Sodann gieße man die Flaſche halbvoll mit
Waſſer
und verſchaffe ſich einen guten, leichtſchließenden
Pfropfen
zu derſelben.
Durch den Pfropfen bohre man mit
einem
Federmeſſer oder mit einem glühenden Eiſen
4840 Löcher, das eine groß genug, um ein längeres, breites Glas-
rohr
durchzuſtecken, das andere, um ein Stückchen dünneres
Glasrohr
einſchieben zu können.
Mit dieſem Pfropfen, in
welchem
die Glasröhren ſtecken, verſchließe man nun die
Flaſche
, und ſchiebe das längere, breitere Rohr ſo tief hinein
in
die Flaſche, daß das untere Ende nahe den Boden berührt,
wo
die Zinkſtückchen liegen, während man das dünne Glas-
röhrchen
nur etwa einen Finger breit in die Flaſche hinein-
ſchiebt
und es oben beliebig hoch aus dem Pfropfen hinaus-
ragen
läßt.
Schafft man ſich hierzu in einer gewöhnlichen
Medizinflaſche
für 10 Pfennig Schwefelſäure an, ſo hat man
Alles
, was man zu dem Verſuche braucht, der für jeden Lern-
begierigen
ſehr lehrreich ſein kann.
Mit einiger Vorſicht kann man aus der Medizinflaſche in
das
längere, weite Glasrohr Schwefelſäure eingießen, die in das
Waſſer
hinabfließt;
und wenn man ungefähr den achten Teil
der
Schwefelſäure hineingethan hat, ſo halte man damit inne,
und
man wird ſofort einen eigenen chemiſchen Prozeß in der
Flaſche
wahrnehmen.
Vor allem wird das Waſſer in der Flaſche warm, ſodann
aber
bemerkt man, wie ſich an den Zinkſtückchen Bläschen an-
ſetzen
, wie dieſe Bläschen ſich vermehren und im Waſſer auf-
ſteigen
, und wie endlich das Waſſer ſich anſieht, als ob es
langſam
kochte, und man vernimmt ein Ziſchen, wie etwa, wenn
man
friſches Selterswaſſer in ein Glas, oder ein wenig Brauſe-
pulver
in Waſſer ſchüttet.
Nach einigen Minuten wird man
bemerken
, daß durch das kleine Glasröhrchen eine Luftart aus-
ſtrömt
, die eigentümlich riecht.
Die Luftart iſt Waſſerſtoffgas,
das
in ganz reinem Zuſtand geruchlos iſt, doch in vorliegen-
dem
Fall von einigen beigemiſchten Gaſen ſeinen Geruch
erhält
.
Was nun in der Flaſche vorgeht, iſt Folgendes:
Zink hat eine große Neigung, ſich mit Sauerſtoff zu
4941 binden; allein dieſe Neigung iſt nicht ſtark genug, um den
Sauerſtoff
dem Waſſer zu entreißen.
Erſt wenn man Schwefel-
ſäure
dazu bringt, tritt eine ſolche Umwandlung des Zinks
ein
, daß ſeine Begierde nach Sauerſtoff ſehr ſtark wird.
Da
nun
im Waſſer Sauerſtoff vorhanden iſt, ſo zieht das Zink
dieſen
Sauerſtoff an ſich und verbindet ſich mit demſelben,
während
der Waſſerſtoff als Gas in einzelnen Bläschen im
Waſſer
aufſteigt und den Luftraum der Flaſche mit Waſſer-
ſtoffgas
ausfüllt.
Dieſes Gas iſt es nun, das aus dem
kleinen
Röhrchen ausſtrömt und immer ſtärker ausſtrömt,
je
ſtärker die Entwicklung des Gaſes in der Flaſche vor
ſich
geht.
Das ausſtrömende Gas iſt brennbar, d. h. dieſe Luftart
brennt
, wenn man ſie anſteckt.
Allein man hüte ſich ja,
dies
ſogleich zu thun, ſondern man warte lieber an zehn
Minuten
und gieße, wenn das Brauſen in der Flaſche nach-
läßt
, wieder eine kleine Portion Schwefelſäure zu, denn durch
allzufrühes
Anzünden des Gaſes kann man leicht ein Unglück
anrichten
.
In der Flaſche nämlich war gewöhnliche Luft.
Dieſe Luft enthält, wie wir bereits wiſſen, Sauerſtoff; das
alſo
, was zuerſt aus der Flaſche ausſtrömt, iſt nicht bloßes
Waſſerſtoffgas
, ſondern ein Gemiſch von Waſſerſtoffgas und
Sauerſtoffgas
;
es iſt dies aber eine gefährliche Miſchung,
denn
wenn man ſie entzündet, flammt ſie mit einem furchtbaren
Knall
auf und zerſprengt die Flaſche derart, daß man ſich
dabei
gefährlich verwunden kann.
Erſt nach einigen Minuten
heftiger
Ausſtrömung iſt dies gefährliche Gas, das man
Knallgas” nennt, fort, und wenn die Strömung unterhalten
wird
, kommt kein Sauerſtoff in die Flaſche hinein;
man kann
daher
nach Verlauf von zehn Minuten ganz gefahrlos einen
brennenden
Fidibus an die Spitze des kleinen Röhrchens halten,
und
man wird ſehen, daß hier eine kleine Flamme erſcheint,
die
ſchwach bläulich leuchtet und fortbrennt, ſo lange die
5042 wicklung des Gaſes in der Flaſche ſtark genug iſt, was auch
der
Fall iſt, wenn man immer etwas friſche Schwefelſäure
zugießt
.
Wenn man nun das Waſſerſtoffgas anzündet, ſo bemerkt
man
, daß es in der Flaſche nicht brennt, ſondern erſt, wenn
es
ausgeſtrömt iſt und mit der Luft in Berührung tritt.
Hieraus kann man entnehmen, daß das Waſſerſtoffgas nur
brennt
, wenn Sauerſtoff zugegen iſt, wie das in der Luft der
Fall
iſt, oder richtiger:
Waſſerſtoffgas verbrennt, indem es ſich
mit
Sauerſtoffgas verbindet.
Was aber wird aus dieſer Verbindung?
Nun, das wollen wir ſogleich ſehen.
Man halte über die kleine Gasflamme ein großes, langes
Weißbierglas
, das man inwendig und auswendig recht trocken
ausgewiſcht
hat, und zwar halte man das Glas umgekehrt, ſo
daß
die Gasflamme inwendig iſt, wie etwa eine Lampen-
flamme
im Cylinder.
Nach einer Weile wird man bemerken,
daß
das Glas inwendig zu beſchlagen anfängt, als hätte man
hineingehaucht
.
Das Glas wird inwendig feucht, ja bei ge-
eigneter
Vorrichtung kann man es ſogar ſo weit bringen, daß
ſich
Tropfen zu ſammeln anfangen und endlich reines Waſſer
an
den Wänden des Glaſes herabfließt.
Wo kommt dieſes Waſſer her?
Es rührt von der Verbindung des ausſtrömenden Waſſer-
ſtoffs
mit dem Sauerſtoff der Luft her.
Wir ſehen alſo, daß
der
ſoeben erſt vom Sauerſtoff getrennte Waſſerſtoff ſofort
wieder
zu Waſſer wird, wenn man ihm Gelegenheit giebt, ſich
mit
Sauerſtoff zu verbinden, das heißt zu verbrennen.
Wir
kommen
alſo zu dem höchſt komiſch klingenden, aber nichts-
deſtoweniger
durchaus richtigen Schluß:
Waſſer iſt nichts
anderes
als verbrannter Waſſerſtoff.
5143
XVII. Von der Zerlegung des Waſſers auf
elektriſchem Wege.
Um nun noch weiter von der Zerſetzung des Waſſers in
ſeine
Grundbeſtandteile zu ſprechen, ſo wollen wir jetzt in
möglichſt
faßlicher Weiſe zeigen, wie man dieſelbe Zerſetzung
des
Waſſers, die wir eben auf rein chemiſche Weiſe erzielt
haben
, auch durch den elektriſchen Strom bewerkſtelligen kann.
Man nehme ein Stück Lampen-Cylinder und verſchließe
das
eine offene Ende mit einem Stückchen Schweinsblaſe, ſo
daß
der Cylinder eine Art Becher bildet, in den man Waſſer
hineingießen
kann.
In dieſen Becher ſtelle man ein Stück
Zinkblech
, woran man ein Stück Kupferdraht angelötet, oder
ſonſt
gehörig befeſtigt hat.
Dieſen künſtlichen Becher mit dem
Stück
Zink darin ſtelle man in ein gewöhnliches Bierglas,
ſetze
aber auch in das Bierglas ein Stück Kupferblech, an
welchem
ebenfalls ein langer Kupferdraht befeſtigt iſt.
Nun gieße man in den künſtlichen Becher und in das
Bierglas
eine Partie Waſſer, ſo daß ſie beide faſt voll ſind.
Wenn das geſchehen iſt, gieße man in den künſtlichen Becher,
worin
das Zinkblech ſteht, ein wenig Schwefelſäure, und in
das
Bierglas, worin das Kupferblech ſteht, werfe man etwas
Kupfervitriol
.
In dieſem ſehr billig herzuſtellenden Apparat beſitzt man
eine
elektriſch-galvaniſche Maſchine.
Mit ſolchen Apparaten
kann
man galvaniſche Verſilberungen, galvaniſche Vergoldungen
bewerkſtelligen
;
ſolche Apparate werden zur elektriſchen Tele-
graphie
benutzt, und zugleich kann man mit dieſen bedeutende
chemiſche
Wirkungen hervorbringen.
Wir haben bereits über
dieſen
Apparat unſeren Leſern weiteren Bericht abgeſtattet;
für jetzt mag es genügen, darzuthun, daß man mittelſt mehrerer
ſolcher
Maſchinen imſtande iſt, Waſſer in ſeine zwei Beſtand-
teile
zu zerlegen.
5244
Wenn man nämlich die Enden der beiden Drähte in eine
Taſſe
mit Waſſer hineinlegt, ohne daß die Drähte ſich berühren,
ſo
bewegt ſich ein elektriſcher Strom durch die Drähte und
das
Waſſer;
und dieſer Strom hat die Eigenſchaft, das Waſſer
in
der Taſſe chemiſch zu zerlegen.
Wenn man den einen Draht,
der
an der Zinkplatte befeſtigt iſt, den negativen Pol und den
Draht
, der an der Kupferplatte befeſtigt iſt, den poſitiven Pol
nennt
, ſo bemerkt man, daß an beiden Drähten, ſobald ſie im
Waſſer
liegen, ſich kleine Luftbläschen anſetzen, und fängt man
dieſe
Luftbläschen in kleinen, geeigneten Apparaten beſonders
auf
, ſo findet es ſich, daß die am poſitiven Pol, alſo am
Kupferende
, reines Sauerſtoffgas, während die am negativen
Pol
, am Zinkende, reines Waſſerſtoffgas ſind.
Es läßt ſich nun denken, daß ein ganzes Syſtem von
ſolchen
Apparaten hinreichen würde, große Maſſen Waſſer zu
zerſetzen
.
Allein auch hier ſind die Koſten viel zu hoch, um dieſen
Weg
praktiſch zu machen.
Denn das Zinkblech, das in der
verdünnten
Schwefelſäure ſteht, geht dabei verloren, indem es,
ganz
wie in der Flaſche, die wir bereits kennen, ſich in das
wertloſe
ſchwefelſaure Zinkoxyd verwandelt.
XVIII. Etwas vom Stickſtoff.
Wir wollen nunmehr einen neuen chemiſchen Stoff kennen
lernen
, der in der Natur, und namentlich in unſeren Nahrungs-
ſtoffen
eine große Rolle ſpielt.
Dieſer neue Stoff heißt: Stickſtoff.
Wie ſieht wohl eine Flaſche voll Stickſtoff aus? Was hat
der
Stickſtoff für Geruch?
was für Farbe?
Der Stickſtoff iſt von Anſehen weder vom Sauerſtoff, noch
vom
Waſſerſtoff zu unterſcheiden.
Der Stickſtoff iſt eine
5345 die ganz wie die gewöhnliche Luft ausſieht, denn die gewöhn-
liche
Luft beſteht eben zum größten Teil aus Stickſtoff.
Eben-
ſowenig
hat der Stickſtoff einen Geruch oder irgend welche
Farbe
, und doch werden wir bald ſehen, daß ſeine chemiſchen
Verbindungen
ſowohl mit dem Sauerſtoff wie mit dem Waſſer-
ſtoff
ganz merkwürdige Flüſſigkeiten herſtellen, die zu den ein-
dringlichſten
und ſchärfſten gehören, die die Chemie hervor-
bringen
kann.
Man kann ſich außerordentlich leicht ein Glas voll Stick-
ſtoff
herſtellen.
Unſere Luft beſteht nämlich aus einem Gemiſch
von
einem Teil Sauerſtoff und vier Teilen Stickſtoff, oder
genauer
:
in hundert Kubikmeter Luft ſind immer 21 Kubik-
meter
Sauerſtoff und 79 Kubikmeter Stickſtoff enthalten.
Man
braucht
daher nur aus einem mit Luft gefüllten Gefäß den
Sauerſtoff
fortzunehmen, ſo bleibt in demſelben nur der Stick-
ſtoff
übrig, wenn auch durch andere Beſtandteile der Luft wie
Kohlenſäure
, Ammoniak, Argon u.
ſ. w. ein wenigver-
unreinigt
.
Wenn man daher auf einem flachen Teller mit Waſſer
einen
breiten Pfropfen ſchwimmen läßt und auf dieſen ein
Stück
Schwamm hinlegt, das mit Spiritus getränkt iſt, ſo
braucht
man nur den Schwamm anzuzünden und ein Bierglas
umgekehrt
über den Pfropfen in den Teller hineinzuſtellen,
um
ſofort ein Schauſpiel eigner Art zu haben.
Die Luft, die im Glaſe war, beſtand aus einem Teil
Sauerſtoff
und vier Teilen Stickſtoff.
Der Spiritus aber, der
im
innern Raum des Glaſes eine kurze Zeit brennt, verbindet
ſich
dabei mit dem einen Teil Sauerſtoff, der im Glaſe iſt,
ſo
daß nur die vier Teile Stickſtoff in demſelben übrig bleiben.
Da aber nun ein Fünftel der Luft im Glaſe verzehrt iſt, ſo
wird
man bald bemerken, daß das Waſſer im Glaſe zu ſteigen
anfängt
und gerade ein Fünftel vom Raum des Glaſes ſich
mit
Waſſer füllt.
Sobald dies geſchehen iſt, erliſcht die
5446 des Schwammes, ſelbſt wenn noch unverbrannter Spiritus
daran
iſt, und zeigt uns, daß in der übrig geblieben Luft des
Glaſes
eine Verbrennung nicht mehr möglich iſt.
Bringt man durch irgend welche Vorrichtung ein Tier in
den
Raum dieſes Glaſes, ſo erſtickt es in demſelben ebenſo
ſchnell
, als wenn im Glaſe gar keine Luft wäre.
Die Luft,
die
jetzt im Glaſe iſt, iſt alſo nicht zur Atmung brauchbar,
und
weil die Tiere in ſolcher des Sauerſtoffs beraubten Luft
natürlich
erſticken, nannte man dieſe Luftart Stickſtoff.
Vergleichen wir nun einmal die drei Luftarten oder die
chemiſchen
Stoffe, die wir jetzt kennen gelernt haben, mit ein-
ander
, ſo finden wir folgendes:
Der Sauerſtoff an ſich iſt keine brennbare Luft; aber er
bedingt
die Verbrennung, d.
h. es verbrennen die Körper
nur
, wenn ſie ſich mit Sauerſtoff verbinden.
Das Waſſer-
ſtoffgas
befördert die Verbrennung nicht, und ein brennender
Körper
, der in ein Gefäß mit Waſſerſtoffgas gebracht wird,
erliſcht
;
aber das Waſſerſtoffgas ſelber iſt brennbar und brennt,
wenn
es in der Luft angezündet wird.
Der Stickſtoff dagegen
iſt
weder brennbar, noch brennen die Körper fort in einem
Gefäße
mit Stickſtoff.
Man kann ſich den Stickſtoff auch auf anderem Wege
bereiten
.
Wenn man in eine Flaſche ein wenig Waſſer gießt,
ſodann
eine Stange Phosphor an einem Pfropfen befeſtigt
und
mit dieſem Pfropfen die Flaſche ſo zuſtöpſelt, daß die
Stange
Phosphor in die Flaſche hinabhängt, ſo braucht man
dieſe
Flaſche nur an vierunzwanzig Stunden ſtehen zu laſſen,
um
in derſelben reines Stickſtoffgas zu haben.
Die Erklärung
dieſer
Erſcheinung iſt folgende:
In der Flaſche befand ſich
gewöhnliche
Luft, d.
h. eine Miſchung von vier Teilen Stick-
ſtoff
und einem Teil Sauerſtoffgas.
Der Phosphor aber hat
eine
große Neigung, ſich chemiſch mit Sauerſtoff zu verbinden;
dies geſchieht, wenn der Phosphor nicht erhitzt wird,
5547 langſam, ſo daß etwa erſt in vierundzwanzig Stunden aller
vorrätige
Sauerſtoff ſich mit Phosphor verbunden hat.
Hieraus
entſteht
in der Flaſche zwar ein neuer Stoff, die Phosphor-
ſäure
;
aber dieſe Phosphorſäure, die wie ein weißer, matt
leuchtender
Nebel ausſieht, verbindet ſich mit dem Waſſer, das
auf
dem Boden der Flaſche iſt, und in der Flaſche ſelber bleibt
nur
reiner Stickſtoff übrig.
Der Stickſtoff iſt in der Natur außerordentlich ſtark ver-
breitet
, da ja ſchon vier Fünftel der Luft aus Stickſtoff
beſtehen
;
aber auch in den Pflanzen und Tieren bildet dieſer
Stoff
das Hauptnahrungsmittel, denn nur ſtickſtoffhaltige
Speiſen
vermögen Fleiſch hervorzubringen.
Es iſt dieſer Stoff
aber
ganz eigentümlich in ſeinen Verbindungen, und deshalb
wollen
wir ihn jetzt etwas näher betrachten.
XIX. Die chemiſche Trägheit des Stickſtoffes
und deren wohlthätige Folgen.
Das eigentümliche chemiſche Verhalten des Stickſtoffs be-
ſteht
darin, daß er ſo gut wie gar keine Luſt hat, ſich mit
irgend
einem Körper zu verbinden.
Wir wiſſen, daß feucht gewordenes Eiſen eine große
Neigung
hat, ſich mit dem Sauerſtoff der Luft zu verbinden,
und
aus dieſer Verbindung entſteht der Roſt.
Desgleichen
haben
viele Metalle die Neigung, Verbindungen mit Sauerſtoff
einzugehen
.
Einzelne von ihnen ſind ſogar ſo kräftig in dieſer
Neigung
, daß ſie ſich den Sauerſtoff herausholen aus anderen
Körpern
, mit denen er bereits verbunden iſt.
Ebenſo giebt
es
Luftarten, die Luſt haben, ſich mit Waſſerſtoff zu verbinden,
obgleich
dies ſchon ſchwieriger vor ſich geht.
Der Stickſtoff
dagegen
iſt ein höchſt gleichgültiger Stoff, der nur unter
5648 beſonderen Umſtänden dazu gebracht wird, eine chemiſche Ver-
bindung
mit anderen Stoffen einzugehen.
Für das Leben der Menſchen und Tiere iſt dieſer Umſtand
von
der höchſten Wichtigkeit.
Wir atmen in einemfort Luft ein
und
benutzen eigentlich nur das eine Fünftel Sauerſtoff, das
darin
iſt;
die vier Teile Stickſtoff aber, die wir bei dieſer Ge-
legenheit
mit in unſere Lungen aufnehmen, würden, wenn im
Stickſtoff
eine Neigung vorhanden wäre, ſich chemiſch zu verbinden,
eine
weſentliche Störung in unſerem Körper verurſachen;
ſo
aber
, da der Stickſtoff ſo träge iſt, wird er wieder aus unſerm
Körper
entfernt, ohne irgendwie eine Rolle darin zu ſpielen.
Seine Anweſenheit in der Luft hat aber den Vorteil, daß
wir
mit jedem Atemzuge nur eine kleine Portion Sauerſtoff
aufnehmen
, wodurch die Lebensthätigkeit in uns gemäßigt und
geregelt
wird.
Denn der Sauerſtoff, den wir einatmen, geht
eine
Verbindung mit dem Kohlenſtoff unſeres Körpers ein;
dadurch wird eine Art langſamer Verbrennung im Körper
ſtattfinden
, welche die Leibeswärme erzeugt, und ſo läßt es ſich
leicht
denken, daß das Atmen von viel Sauerſtoff einen höheren
Hitzegrad
und eine größere Thätigkeit des Lebens hervorrufen
müßte
, als für die Erhaltung unſeres Körpers gut iſt.
Der
Stickſtoff
bewirkt alſo in der Luft eine ſtarke Verdünnung des
Sauerſtoffs
, die für den geſunden Atem notwendig iſt.
Wir haben es bereits geſagt, daß der Stickſtoff in der
Luft
mit Sauerſtoff gemiſcht iſt;
wir müſſen dies jetzt beſonders
hervorheben
, um den Irrtum zu meiden, dieſe Miſchung als
eine
chemiſche Verbindung anzunehmen.
Wir nehmen hierbei
die
Gelegenheit wahr, auf den wichtigen Unterſchied einer
chemiſchen
Verbindung und einer bloßen Miſchung aufmerkſam
zu
machen.
Wenn man Milch in den Kaffee ſchüttet, ſo iſt das nur
eine
Miſchung, die man vorgenommen.
Es verändert ſich
hierdurch
weder die Natur der Milch noch die des Kaffees.
5749 Die Farbe, der Geſchmack und alle ſonſtigen Eigenſchaften der
Miſchung
Milch-Kaffee ſind ein Mittelding zwiſchen Farbe,
Geſchmack
und Eigenſchaften der reinen Milch und des reinen
Kaffees
.
Nimmt man zur Miſchung mehr Milch als Kaffee,
ſo
nähern ſich die Eigenſchaften des Gemiſches mehr denen der
reinen
Milch, gießt man mehr Kaffee zu, ſo wird das Gemiſch
dem
reinen Kaffee ähnlicher.
Gleichwohl exiſtiert eine An-
ziehung
zwiſchen dem kleinſten Milch- und Kaffeeteilchen, welche
ein
gleichmäßiges Durchdringen dieſer beiden Flüſſigkeiten
möglich
macht.
In der Miſchung finden wir überall gleichviel
Kaffee-
und gleichviel Milchteilchen.
Wenn man aber Waſſer in Schwefelſäure ſchüttet, ſo iſt
dies
ſchon eine chemiſche Verbindung, die man hervorbringt,
denn
die Natur des Waſſers und die der Schwefelſäure werden
hierdurch
weſentlich verändert.
Die Veränderung giebt ſich
ſchon
in vielen Dingen kund.
Vor allem entſteht nach dem
Hineinſchütten
des Waſſers in die Schwefelſäure ein hoher
Grad
von Hitze.
Die zuſammengegoſſenen Flüſſigkeiten, von
denen
jede früher kalt war, werden ſo heiß, daß oft das Glas-
gefäß
, worin ſie ſich befinden, entzwei ſpringt, wie wenn man
heißes
Waſſer plötzlich in ein kaltes Glas gießt.
Das allein
iſt
ſchon ein Zeichen, daß hier etwas anderes vorgeht als eine
bloße
Miſchung;
es kommen aber noch andere Umſtände dazu,
die
dies beſtätigen.
Wenn man genau ein Quart Waſſer und ein Quart
Schwefelſäure
zuſammengießt, ſo ſollte man glauben, daß ſie
beiſammen
zwei Quart Flüſſigkeit ausmachen müßten, das iſt
aber
nicht der Fall.
Sie geben zuſammengegoſſen weniger
als
zwei Quart.
Es geht daraus hervor, daß ſie ſich gegen-
ſeitig
durchdringen, verdichten und etwas Neues bilden, was
ſie
früher nicht geweſen ſind.
Und in der That iſt dies der
Fall
.
Die Natur der verdünnten Schwefelſäure iſt anders als
die
Natur des Waſſers und der unvermiſchten Schwefelſäure.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VI.
5850
Wir haben geſehen, daß die verdünnte Schwefelſäure Zink
auflöſt
;
das kann aber weder die reine Schwefelſäure noch
das
reine Waſſer;
nur ihre Miſchung kann das, und dies iſt
Beweis
genug, daß die beiden Stoffe nach ihrem Zuſammen-
gießen
etwas ganz anderes geworden ſind.
Und das iſt das Weſentliche der chemiſchen Verbindung,
das
ſie von der bloßen Miſchung unterſcheidet.
Wenn wir nun ſagen, daß die gewöhnliche Luft aus Stick-
ſtoff
und Sauerſtoff beſteht, ſo verſtehen wir nicht darunter,
daß
ſie eine chemiſche Verbindung ausmacht, ſondern daß ſie
nur
eine bloße Miſchung dieſer beider Luftarten iſt.
Wie ganz
anders
aber eine chemiſche Verbindung von Sauerſtoff und
Stickſtoff
iſt, wie ſich in einer ſolchen chemiſchen Verbindung
etwas
ganz Neues bildet, das nicht die mindeſte Ähnlichkeit
mehr
mit beiden Stoffen hat, das werden uns die Leſer ſchon
glauben
, wenn wir ihnen ſagen, daß eine dieſer Verbindungen
in
Waſſer geleitet nichts anderes, als die ſcharfe, brennende
Salpeterſäure
, eine andere das ſogenannteLachgas” iſt.
Wir wollen jetzt über einige merkwürdige Stickſtoffver-
bindungen
ein Näheres mitteilen.
XX. Merkwürdige Verbindungen des Stickſtoffs.
Wie aber bringt man den Stickſtoff, der ſo träge und
gleichgültig
iſt, dazu, eine chemiſche Verbindung einzugehen?
Es geſchieht auf eigentümliche Weiſe, die einen tiefen Blick
in
die Natur der Chemie thun läßt.
Wir wiſſen, daß zwei Stoffe, die einmal chemiſch ver-
bunden
ſind, ſich mit einer gewiſſen Kraft feſthalten, wenn
aber
zu ihnen ein neuer Stoff gebracht wird, der eine kräftigere
Neigung
hat, ſich mit einem der verbundenen Stoffe zu ver-
binden
, ſo verläßt der bereits verbundene Stoff ſeine alte
5951 bindung und geht eine neue ein, wobei der zweite Stoff frei
wird
.
Um dies deutlich zu machen, erinnern wir nochmals
an
das Kalium-Metall, das man in einen Teller mit Waſſer
wirft
.
Das Kalium-Metall hat größere Neigung zum Sauer-
ſtoff
des Waſſers, es reißt aus dem Waſſer den Sauerſtoff
an
ſich, und dadurch wird der Waſſerſtoff des Waſſers frei.
Man kann ſich hierbei die Vorſtellung machen, als ob im
Waſſer
eine Art Ehe zwiſchen dem Sauerſtoff und dem Waſſer-
ſtoff
ſtattgefunden hätte;
das Kalium aber iſt der Friedens-
ſtörer
, der dazu kommt und nicht nur dieſe Ehe trennt, ſondern
auch
mit dem einen Gatten, dem Sauerſtoff, eine neue Ehe ein-
geht
, während der andere Gatte, der Waſſerſtoff, auf und davon
ziehen
muß.
Man ſollte nun glauben, daß dem Waſſerſtoff, dem die
Ehe
eben ſo ſchlecht bekommen iſt, lange Zeit braucht, ehe er
wieder
Luſt hat, eine zweite Verbindung, eine zweite Ehe ein-
zugehen
.
Das iſt aber nicht der Fall. Es findet gerade das
Gegenteil
ſtatt.
Läßt man zwar dem Waſſerſtoff Zeit, ſo geht
er
durchaus nicht leicht in eine neue Verbindung ein.
Bietet
man
ihm aber im Augenblick, wo er frei wird (“nascierender”
Waſſerſtoff
), ſogleich einen Stoff dar, mit dem er ſich verbinden
kann
, ſo geht er dieſe neue Verbindung ſehr begierig ein.
Woher dieſe Erſcheinung rührt, können wir jetzt noch nicht
auseinanderſetzen
, jedenfalls aber lernen wir hier ein wichtiges
chemiſches
Geſetz kennen, das folgendermaßen lautet:
Ein
chemiſcher
Stoff hat im Augenblick, wo er eben erſt aus einer
alten
Verbindung verdrängt wird, die größte Luſt, ſich mit
einem
andern Stoff zu verbinden.
Dieſe Luſt iſt gerade in
dieſem
Augenblick ſo ſtark, daß er zugreift und die Verbindung
eingeht
, ſelbſt wenn er ſonſt wenig Neigung zu ſolcher Ver-
bindung
hat.
Dieſe beſondere Luſt benutzt man auch, um den trägen
Stickſtoff
zu neuen Verbindungen zu bringen.
Das heißt,
6052 lauert ihm auf und bietet ihm gerade in demjenigen Augen-
blick
eine neue Ehe an, wo er eben crſt aus der alten Ehe ver-
trieben
worden iſt;
und der träge, verbindungsunluſtige Stickſtoff
geht
in die Falle und verbindet ſich mit einem neuen Stoff.
Dieſer Umſtand iſt ſo wichtig, daß man ihm einzig und
allein
es zu verdanken hat, daß ſowohl das ſo wichtige
Ammoniak
, eine Verbindung des Stickſtoffs mit dem Waſſer-
ſtoff
, wie die in der Fabrikation ſo wertvolle Salpeterſäure ſo
billig
zu haben ſind.
Sowohl bei der Herſtellung des Ammoniaks,
wie
bei der Herſtellung der Salpeterſäure benutzt man den
Moment
, wo der Stickſtoff eben frei wird.
Man bringt ihm
eben
erſt frei gewordenen Waſſerſtoff zu, um ihn ſofort zu
einer
Verbindung zu zwingen, die Ammoniak bildet, und ebenſo
führt
man dem eben erſt frei gewordenen Stickſtoff Sauerſtoff
zu
, um im günſtigen Augenblick Salpeterſäure bilden zu laſſen.
In derſelben Weiſe bildet ſich auch in der Natur das
Ammoniak
, welches der Luft ſtets in kleinen Mengen beige-
miſcht
iſt und bei der Ernährung der Pflanzen eine Rolle
ſpielt
.
Es werden nämlich beim Verbrennen und Verweſen
tieriſcher
Körper, die außer andern Stoffen auch viel Stickſtoff
und
Waſſerſtoff enthalten, dieſe beiden Luftarten gleichzeitig
frei
und verbinden ſich in dieſem Moment des Freiwerdens zu
Ammoniak
, das ſich der Luft beimiſcht.
Man wird es nun erklärlich finden, wenn die gewöhnliche
Luft
, welche die Beſtandteile der ſo gefährlichen Salpeterſäure
enthält
, nicht dieſen Stoff bildet.
In unſerer Luft ſind Stick-
ſtoff
und Sauerſtoff nur gemiſcht neben einander, und der träge
Stickſtoff
verhütet, daß eine chemiſche Verbindung der Stoffe
ſtattfindet
.
Wäre dies nicht der Fall, ſo würde das Leben in
der
Luft unmöglich ſein.
Die Erde wäre auch dann nicht von
einer
Hülle der Luft, ſondern von einem Meer Salpeterſäure
umgeben
.
Gleichwohl hat man die Entdeckung gemacht, daß
6153 unter Umſtänden die gewöhnliche Luft in Salpeterſäure um-
wandeln
kann.
Wenn man nämlich eine krummgebogene Glasröhre wie
ein
umgekehrtes lateiniſches U aufſtellt, und die beiden geraden
3[Figure 3]Fig. 1. Stücke dieſer Röhre derart mit Queckſilber füllt,
daß
ſie oben in dem Bogen durch eine Schicht Luft
getrennt
ſind, ſo braucht man nur einen elektriſchen
Funken
aus einer Elektriſiermaſchine von der einen
Queckſilberſäule
in die andere überſchlagen zu laſſen,
um
einen Teil der zwiſchen ihnen befindlichen Luft
in
wirkliche Salpeterſäure zu verwandeln.
Die Erklärung dieſer ſchon längſt bekannten
Erſcheinung
war erſt möglich, nachdem das ſogenannte Ozon
entdeckt
war.
Das Ozon iſt auch nichts anderes als reiner, un-
vermiſchter
Sauerſtoff, doch beſitzt es infolge einer eigen-
artigen
Anordnung ſeiner Atome eine Reihe abweichender
Eigenſchaften
.
So hat es zu allen Stoffen eine viel größere An-
ziehungskraft
als der gewöhnliche Sauerſtoff und verbindet ſich
mit
Stoffen, gegen die dieſer ganz gleichgültig iſt.
So ver-
bindet
ſich das Ozon auch leicht mit dem Stickſtoff, mit welchem
der
Sauerſtoff nur im Momente des Freiwerdens ſich vereint.
Beim Überſchlagen eines elektriſchen Funkens wird aber ſtets
ein
Teil des Sauerſtoffs der Luft in Ozon verwandelt.
Dieſes
Ozon
findet nun in der Luft Stickſtoff und bildet mit dieſem
Salpeterſäure-Anhydrid
, das man durch Zuſatz von Waſſer in
die
gewöhnliche Salpeterſäure zu verwandeln vermag.
Das Überſchlagen eines elektriſchen Funkens durch unſere
Luft
iſt nun keine ſeltene Erſcheinung.
Bei jedem Gewitter
entladet
ſich bekanntlich ein Teil der Elektrizität als Blitz,
der
ja nichts anderes iſt, als ein ſolcher elektriſcher Funke.
Hierbei verwandelt ſich etwas Sauerſtoff in Ozon, das teil-
weiſe
mit dem vorhandenen Sauerſtoff und Waſſergehalt
Salpeterſäure
bildet.
Die Salpeterſäure findet weiter in
6254 Luft Ammoniak vor, und es entſteht ſomit bei jedem Gewitter
etwas
ſalpeterſaures Ammoniak, das vom Gewitterregen mit-
geriſſen
und der Erde zugeführt wird.
Das ſalpeterſaure
Ammoniak
iſt aber für die Pflanzen ein ſehr wichtiges Nahrungs-
mittel
.
Da dieſes nun durch das Gewitter gebildet und den
Pflanzen
zugeführt wird, ſo erklärt ſich auch hieraus, zum
Teil
wenigſtens, der günſtige Einfluß, den ein tüchtiger Gewitter-
regen
im Sommer auf das Wachstum der Pflanzen ſo augen-
fällig
ausübt.
XXI. Was iſt Kohlenſtoff?
Wir haben bis jetzt drei der wichtigſten chemiſchen Stoffe
kennen
gelernt, den Sauerſtoff, den Waſſerſtoff und den Stick-
ſtoff
.
Wir wollen jetzt noch einen vierten näher betrachten,
denn
dieſe vier ſind die Hauptſtoffe der lebendigen Welt,
während
alle übrigen nur verhältnismäßig eine geringere Rolle
dagegen
ſpielen.
Der vierte chemiſche Grundſtoff heißt: Kohlenſtoff.
Während die drei erſten Stoffe zwar allenthalben ver-
breitet
, aber nur in ganz wenigen Ausnahmefällen in der
Natur
rein, d.
h. unvermiſcht und unverbunden mit audereu
Stoffen
gefunden werden, findet ſich der Kohlenſtoff ſehr häufig
in
der Natur rein vor.
Die erſten drei Stoffe ſind im unverbundenen Zuſtande
bloße
Luftarten, und nur durch außerordentliche Vorrichtungen
iſt
man imſtande, dieſe Luftarten ſo zuſammenzupreſſen, daß
ſie
zur Flüſſigkeit und ſogar zu einem feſten Körper werden.
Bei dem vierten Stoff iſt das gerade Gegenteil der Fall. Der
Kohlenſtoff
iſt ein feſter Körper, zumeiſt als Graphit vor-
kommend
, den man für unſereBlei”-Stifte verwendet, zuweilen
aber
auch in einer ganz anderen Form, nämlich als
6355 Diamant. Den Kohlenſtoff kann man zwar mit ganz be-
ſonderen
Hülfsmitteln in eine Flüſſigkeit, aber nicht in eine
Luftart
verwandeln.
Er iſt der feſteſte Stoff, und für den
jetzigen
Stand der Wiſſenſchaft gewiſſermaßen der feſte Bau
der
Dinge, oder um es bildlich auszudrücken, das Gerüſt der
lebendigen
Welt.
Wir wollen uns deutlicher darüber erklären.
Es giebt viele Gasarten, die ſich, wenn man ſie zuſammen-
preßt
oder durch Kälte zuſammenpreſſen läßt, in Flüſſigkeiten
verwandeln
.
Beiſpielsweiſe iſt dies mit Chlor der Fall. Chlor
iſt
ein gasförmiger Grundſtoff von grünlich-gelber Farbe.
Es iſt, wie wir bereits erwähnt haben, der eine Grundſtoff
unſeres
gewöhnlichen Kochſalzes.
Wenn man Chlorgas ſo
zuſammenpreßt
, daß es nur den fünften Teil des Raumes ein-
nimmt
, ſo verwandelt ſich das Gas in eine Flüſſigkeit, die
wie
grüngelbes Waſſer ausſieht.
Merkwürdig iſt es bei
dieſer
Flüſſigkeit, daß man ſie nicht wie viele andere Flüſſig-
keiten
gefrieren laſſen und ſo in einen feſten Körper, in Chlor-
Eis
verwandeln kann.
Sie bleibt in der höchſten Kälte immer
eine
Flüſſigkeit, ja, ſo wie man mit der Preſſung nachläßt,
verwandelt
ſich dieſe Chlorflüſſigkeit wieder in Gas.
Man ſieht, es iſt ein gewiſſer Eigenſinn in der Natur
der
Stoffe, und dieſer Eigenſinn iſt beim Sauer-, Waſſer- und
Stickſtoff
inſofern noch größer, als dieſe Luftarten erſt in
neueſter
Zeit durch künſtlich erzeugte, ungeheure Kältegrade in
Flüſſigkeiten
umgewandelt werden konnten.
Bei anderen Stoffen iſt das gerade Gegenteil der Fall.
Es giebt viele feſte Stoffe, wie Schwefel, Blei, Zinn, Eiſen,
Kupfer
, Silber, Gold u.
ſ. w. , die in der gewöhnlichen Wärme
feſt
ſind.
Durch ſtarke Hitze kann man ſie in Flüſſigkeiten
verwandeln
, d.
h. man kann ſie ſchmelzeu. Erhitzt man ſie
noch
weiter, ſo verwandeln ſie ſich in eine Luftform oder ſie
werden
zu Dampf.
6456
Noch viel eigenſinniger aber iſt der Kohlenſtoff. Erſt bei
4[Figure 4]Fig. 2.
Stückchen
aus einem Braunkohlenlager der Niederlauſitz, mit einem Baum-
ſtumpf
inmitten der Kohle.
den ſtärkſten, künſtlich erzeugten Hitzegraden von ca.
3500°,
wie
ſie der große franzöſiſche Chemiker Henri
6557 herſtellte, gelang es den Graphit zu verflüſſigen. In Dampf
aber
vermochte man ihn noch nicht zu verwandeln.
Wir werden ſpäter ſehen, daß die ganze lebende Welt,
die
Welt der Pflanzen und der Tiere, in ihren Hauptbeſtand-
teilen
aus vier Stoffen, dem Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff
und
Kohlenſtoff, zuſammengeſetzt iſt, aus dieſen eigenſinnigen
Stoffen
, die all unſerer Kunſt, ſie aus ihrer urſprünglichen
Geſtalt
zu verwandeln, ſo viel Widerſtand leiſten.
Doch wir müſſen zu unſerem Thema zurück, und wollen
vor
allem einmal den Kohlenſtoff ſelber näher kennen lernen.
Kohlenſtoff iſt die bekannte Kohle, die Holzkohle, die
Knochenkohle
, die Braunkohle, die Steinkohle, der Lampenruß,
der
Ruß im Schornſtein;
all dies iſt in ſeinen Hauptteilen
Kohlenſtoff
, der aber immer mehr oder weniger mit einigen
fremden
Stoffen, zumal mit Sauerſtoff gemiſcht iſt.
Schon
hieraus
kann man ſehen, daß der Kohlenſtoff eigentlich aus
der
Pflanzen- und Tierwelt entnommen iſt;
die Braunkohle
und
Steinkohle ſind in der That nichts, als die Überreſte vor-
weltlicher
Pflanzen (Fig.
2).
Indeſſen giebt es in der Natur zwei Sorten reinen Kohlen-
ſtoffs
, der gar nicht ſo ausſieht, als ob er jemals aus der
lebenden
Welt entnommen wäre, und dies iſt, wie wir ſchon
ſagten
, der Graphit und der Diamant.
Beide Stoffe kennt wohl jedermann, wenn ſie auch nicht
jedermann
beſitzt.
Der Graphit iſt das Schwarze in den Blei-
federn
, das wie Metall ausſteht und von vielen fälſchlich als
eine
Art Blei angeſehen wird.
Der Diamant iſt der Schmuck
des
glanzſüchtigen Reichtums, deſſen Beſitzer oft nicht ahnen,
daß
ſie mit Stolz ein Ding als Zierde tragen, deſſen Natur
durchaus
nicht verſchieden iſt von dem Ruß, den der Schorn-
ſteinfeger
an ſich trägt.
Wir wollen im nächſten Abſchnitt den Kohlenſtoff noch
etwas
näher kennen lernen.
6658
XXII. Kohle und Diamant.
Man kann ſo recht am Kohlenſtoff ſehen, wie zwei Dinge,
die
ihrem Stoffe nach ganz gleich ſind, dennoch in Geſtalt, in
Farbe
, Eigenſchaft und Gewicht ganz und gar von einander
abweichen
.
In Wahrheit iſt der glänzende Diamant nichts als Kohlen-
ſtoff
.
Er iſt ſeinem wirklichen Stoffe nach gar nichts anderes,
als
die Holzkohle, die Braunkohle, die Steinkohle und der
Graphit
iſt, und gleichwohl ſieht der Diamant nicht nur anders
aus
als dieſe Kohlenſtoff-Arten, ſondern er iſt auch mit anderen
Eigenſchaften
begabt, die ihm ſeinen Wert verleihen.
Er ge-
hört
zu den härteſten Körpern, die man beſitzt, mit einer Kante
des
Diamants kann man bekanntlich Glas ritzen.
Er hat
ferner
die Eigenſchaft, die Lichtſtrahlen ſtärker als die meiſten
durchſichtigen
Körper zu brechen, eine Eigenſchaft, die ihm be-
deutenden
Wert verleiht.
Und doch iſt der Diamant nur Kohlenſtoff, und ſeinem
Stoffe
nach nicht um das geringſte anders, als ein Stück Kohle!
Durch welches Ereignis vermag ſich aber die Kohle ſo
merkwürdig
zu verwandeln?
Hierauf giebt die Wiſſenſchaft
folgende
Antwort.
Man iſt imſtande, die meiſten Körper in künſtlich bereiteten
Flüſſigkeiten
aufzulöſen.
So z. B. löſen ſich Platin oder Gold
in
Königswaſſer auf, Silber und Kupfer löſen ſich in Salpeter-
ſäure
auf, andere Metalle in verdünnter Schwefelſäure;
d. h.
ein Stück Gold, Platin, Silber oder Kupfer zergeht ganz und
gar
, wenn man es in eine geeignete Flüſſigkeit hineinwirft,
ähnlich
wie Salz oder Zucker, das man in Waſſer Wirft.

Nur
die Kohle will in gar keiner Flüſſigkeit zerfließen.
Sie
löſt
ſich durchaus nicht auf, mag man ſie in noch ſo ſcharfe
Flüſſigkeiten
hineinbringen.
Wäre man imſtande, Kohle zu
ſchmelzen
oder auch nur in einer Flüſſigkeit aufzulöſen,
6759 wären wir vielleicht imſtande, aus jeder Holzkohle Diamanten
in
Hülle und Fülle zu machen.
Man brauchte eben nur die
durch
Hitze flüſſig gewordene Kohle langſam abkühlen zu laſſen,
ſo
müßte ſie zu einem regelmäßigen Kohlenkryſtall werden,
und
das eben iſt ein Diamant;
desgleichen könnte man die in
einer
Flüſſigkeit aufgelöſte Kohle durch geeignetes Verfahren
herauskryſtalliſieren
laſſen und daraus Diamanten in beliebiger
Zahl
und Größe gewinnen.
Der Unterſchied zwiſchen einer
gewöhnlichen
Kohle und einem Diamanten beſteht nur darin,
daß
die Kohle unkryſtalliſierter, der Diamant kryſtalliſierter
Kohlenſtoff
iſt (Erſter Teil, Seite 27, Fig.
5), ebenſo wie der
Schnee
nichts anderes iſt als kryſtalliſiertes Waſſer.
Der
Diamant
verhält ſich zum Graphit genau ebenſo, wie Schnee-
kryſtalle
(Erſter Teil, Seite 66—67, Fig.
15—17) zu gewöhn-
lichem
Waſſer.
Die Möglichkeit iſt vorhanden, daß die Wiſſenſchaft es
dahin
bringt, Kohlen zu ſchmelzen oder aufzulöſen, und dann
werden
alle Diamanten ihren Wert verlieren;
für jetzt jedoch iſt
es
noch nicht der Fall, und die Diamanten, die man in der
Erde
findet, könnten dadurch entſtanden ſein, daß die große
Hitze
, die tief im Innern der Erde herrſcht, Kohlenſtoff zum
Schmelzen
bringt, ſo daß daraus bei ſpäterer, langſamer Ab-
kühlung
Kryſtalle entſtehen, von denen einzelne durch Erdbeben
oder
durch Ströme, die aus dem Innern der Erde hervor-
ſtürzen
, der Oberfläche der Erde nahe gebracht werden.
Henri
Moiſſan
iſt es in der Neuzeit wirklich gelungen, in beſonderen
elektriſchen
Schmelztiegeln Kohle in Diamanten zu verwandeln.
Leider ſind die Diamanten jedoch einſtweilen nur von mikro-
ſkopiſcher
Größe.
Genug, wenn wir wiſſen, daß der Diamant wiſſenſchaftlich
nur
durch einige ſeiner Eigenſchaften einen Wert erhält, der
ſtofflichen
Weſenheit nach aber für den Chemiker nur ein Stück
kryſtalliſierte
Kohle iſt.
6860
Nachdem wir ſo den Kohlenſtoff in ſeiner urſprünglichen
Geſtalt
kennen gelernt haben, wollen wir einmal ſein wunder-
liches
Weſen betrachten, das er durch chemiſche Verbindungen
annimmt
, und die wichtige Rolle kennen lernen, die er in der
Welt
ſpielt.
XXIII. Sonderbare Eigenſchaften des Kohlenſtoffs.
So eigenſinnig der Kohlenſtoff iſt, wenn man ihn allein
behandeln
will, ſo gefügig iſt er, wenn man ihm andere Stoffe
darbietet
, wit welchen er ſich verbinden kann.
Ja, die eigent-
liche
Holzkohle, die wir täglich auf dem Herd und im Ofen
ſehen
, hat noch eine beſondere Eigenſchaft, die ihr großen Wert
verleiht
und der Grund intereſſanter chemiſcher Erſcheinungen
iſt
.
Dieſe Eigenſchaft iſt die Kraft, die die Holzkohle beſitzt,
Luftarten
in ſich einzuſaugen und in ſich zu verdichten.
Schon jede gewöhnliche Kohle, die in gewöhnlicher Luft
liegt
, ſaugt ſich voll von dieſer, und zwar in ſo hohem Grade,
daß
ſie an fünfundzwanzigmal ſo viel Luft einſaugt, als ſie
groß
iſt, d.
h. ein Kubikzoll Kohle kann an fünfundzwanzig
Kubikzoll
Luft in ſich aufnehmen.
Die Luft, die in den kleinen
Zwiſchenräumen
der Kohle ſteckt, iſt demnach fünfundzwanzig-
mal
dichter zuſammengedrängt, als die gewöhnliche Luft.
Es
giebt
aber Luftarten, die ſie noch begieriger aufſaugt.
Vom
Ammoniakgas
kann ein Stückchen Kohle neunzigmal ſoviel in
ſich
einſaugen, als das Stückchen Kohle groß iſt.
Man kann ſich alſo denken, daß die Kohle ein ſehr geeig-
netes
Mittel iſt, gewiſſe Gaſe aus andern Stoffen zu entfernen.
Daher iſt es ſehr wichtig, fauliges oder mit fremden Gaſen
gemiſchtes
Waſſer durch Kohlen zu filtrieren, und deshalb
werden
auch die Fäſſer, in welchen man das Waſſer für See-
reiſende
aufbewahrt, inwendig ſchwach verkohlt.
Und dies
6961 fürs Leben von großer Wichtigkeit. Denn für die Erhaltung der
Geſundheit
iſt gutes Trinkwaſſer ebenſo notwendig wie reine
Luft
.
Es iſt aber ferner in der neueren Zeit feſtgeſtellt, daß
eine
Reihe gefährlicher Krankheiten, wie die Cholera und der
Typhus
, durch faulende Stoffe führendes Trinkwaſſer verbreitet
werden
, welche die winzigen, zu den Organismen gehörigen
Krankheitserreger
ernähren.
Es iſt daher ſehr anzuempfehlen,
daß
jeder, beſonders zur Zeit, wenn jene Krankheiten herrſchen,
ſein
Trinkwaſſer durch ein Kohlenfilter, die man jetzt in den
verſchiedenſten
Größen verfertigt, reinige.
Die Kohle entzieht
dann
dem Waſſer ſeine ſchlechten Beſtandteile und macht es
unſchädlich
.
Dieſelbe Eigenſchaft der Kohle iſt es, die ſie zum Ent-
färben
und Reinigen vieler Stoffe ſo wichtig macht.
Durch
Filtrieren
durch friſche Kohle wird Rotwein farblos, durch
dasſelbe
Mittel bleicht man in Zuckerſiedereien den braunen
Syrup
, kann man dem ordinären Branntwein den fuſeligen
Geſchmack
benehmen, und bairiſch Bier verliert ſeinen bittern
Hopfengeſchmack
, wenn es durch ein Tuch gegoſſen wird, worin
ſich
Kohlen befinden.
Daher iſt auch gepulverte Kohle in
Krankenzimmern
vortheilhaft, da ſie die ſchlechten Dünſte in
ſich
aufſaugt.
Zuweilen bringt die Aufſaugungskraft der Kohle chemiſche
Wirkungen
hervor, die außerordentlich ſind.
In Pulverfabriken
iſt
ſchon oft großes Unglück entſtanden durch das Aufhäufen
von
Kohlenſtoff, der in irgend einer Weiſe Waſſerſtoff und den
Sauerſtoff
der Luft in ſich aufgeſaugt hatte und durch die
Verdichtung
der Luftarten die chemiſche Verbindung Knallgas
und
auch die Entzündung desſelben erzeugte.
Einen intereſſanten
Verſuch
kann man anſtellen, wenn man eine Kohle, die lange
Zeit
in einem Raum gelegen hat, wo Schwefel-Waſſerſtoffgas
enthalten
war, nunmehr unter eine Glasglocke legt, die mit
Sauerſtoff
gefüllt iſt.
Die Kohle nämlich, die ſchon viel
7062 erſterem Gas in ſich hat, ſaugt nun noch Sauerſtoff in ſich
ein
und bringt dadurch die beiden Gaſe ſo dicht aneinander,
daß
ſie ſich chemiſch verbinden und merkwürdige chemiſche
Erſcheinungen
hervorbringen.
Die Kohle fängt an ſich zu
erhitzen
, indem ſich der Schwefelwaſſerſtoff entzündet und im
Sauerſtoff
verbrennt.
Dabei entſteht als Produkt dieſer Ver-
brennung
Waſſer und Schwefelſäure.
Aber auch dieſer Verſuch
iſt
mit Gefahr verknüpft, denn es geſchieht zuweilen, daß
ſich
im Schwefel-Waſſerſtoff reines Waſſerſtoffgas befindet,
daß
dieſes und der Sauerſtoff ſich zuerſt miſchen und dann
ſich
erſt als Knallgas entzünden, wodurch eine heftige Exploſion
entſteht
.
Aus all’ dem nehmen wir wahr, wie die Kohle ſchon in
ihrer
Beſchaffenheit Eigenſchaften beſitzt, durch welche ſie mit
einer
großen Begierde fremde Gaſe in ſich anſammelt und
chemiſche
Prozeſſe vermittelt.
Bringt man aber gar die Kohle
ſelber
mit in den chemiſchen Prozeß, ſo wird dieſer Stoff, der
ſonſt
ſo ungefügig iſt, im höchſten Grade geſchmeidig und
willig
und läßt ſich in Verbindung mit andern Stoffen ſowohl
in
eine Luftart wie in eine Flüſſigkeit und in einen feſten
Körper
verwandeln.
Freilich hört er dann auch auf, Kohle
zu
ſein, und iſt nur eine kohlenſtoffhaltige Verbindung;
aber
immerhin
ſteckt doch die Kohle, die ſich zu gar keiner Ver-
wandlung
bequemen wollte, darin.
Wir wollen nun in der Folge zeigen, wie jedermann
ſchon
viele tauſendmal im Leben die Kohle in eine Luftart
verwandelt
hat;
wie man Kohle, wirkliche Kohle, teils trinkt,
teils
ißt;
ja, wie der Menſch ſelber, von dem man bildlich
ſagt
, er ſei aus Erde geſchaffen, eigentlich nur aus den drei
bisher
aufgeführten Luftarten beſteht, die ſich mit einer Portion
Kohlenſtoff
chemiſch verbunden haben.
7163
XXIV. Einige Verſuche mit Kohlenſäure.
Wir haben gleich bei dem erſten Verſuch mit dem Sauer-
ſtoff
geſehen, daß Kohle in einem Gefäß mit Sauerſtoff hell
leuchtend
brennt, und daß daraus eine Luftart entſteht, die
eine
Verbindung von Kohle und Sauerſtoff iſt und darum
Kohlenſäure
genannt wird.
Wir ſehen alſo auch ſchon hier, daß aus Kohle in Ver-
bindung
mit Sauerſtoff eine Luftart wird.
Man darf ſich das ja nicht ſo denken, als ob etwa die
Kohle
durch dieſen Vorgang nur fein zerteilt wird in eine
Art
feinen Pulvers, und daß ſie als ſolches im Sauerſtoff
herumſchwimmt
, ſondern es iſt wirklich in der Kohlenſäure
nicht
eine Spur mehr von Sauerſtoff noch von Kohle, ſie ſind
beide
vielmehr zu einem neuen Körper geworden, der
gar
keine Ähnlichkeit mehr mit den beiden urſprünglichen
Stoffen
hat.
Die Kohlenſäure iſt eine farbloſe Luftart, die man mit
dem
Auge nicht von gewöhnlicher Luft unterſcheiden kann.
Wenn man eine Flaſche voll Kohlenſäure beſitzt, ſo kann man
durch
den Anblick nicht merken, daß man hier etwas Beſonderes
vor
ſich hat.
Die Flaſche ſieht aus, als ob ſie mit gewöhn-
licher
Luft gefüllt wäre.
Allein durch Verſuche wird man
ſogleich
bemerken, daß dies Kohlenſäure iſt.
Hält man
z
.
B. einen brennenden Holzſpahn hinein, ſo erliſcht er ſofort,
zum
Beweiſe, daß dies keine gewöhnliche Luft, und am aller-
wenigſten
Sauerſtoff iſt.
Nun könnte es immer noch Waſſer-
ſtoff
ſein;
aber man laſſe die Kohlenſäure ausſtrömen und
verſuche
ſie anzuzünden, ſo wird man merken, daß dies auch
nicht
Waſſerſtoff iſt, denn dieſer brennt ja, wie wir wiſſen,
wenn
er an der Luft angezündet wird.
Freilich könnte es
noch
Stickſtoffgas ſein, das gleichfalls weder ſelbſt brennt
noch
andere Körper brennen läßt, die in dasſelbe
7264 werden. Allein ein zweiter Verſuch wird bald das Eigentüm-
liche
der Kohlenſäure zeigen.
Man braucht nur ein wenig klares Kalkwaſſer, das man
in
Apotheken billig bekommen kann, in die Flaſche zu ſchütten,
und
ſofort wird man bemerken, daß das Waſſer trübe wird.
Dies wird nicht der Fall ſein, wenn in der Flaſche Stick-
ſtoff
iſt.
Was aber geht mit der Kohlenſäure und dem Kalk-
waſſer
vor?
Um ſich das klar zu machen, muß man wiſſen, was denn
eigentlich
Kalk iſt.
Kalk iſt ein eigentümliches Metall, Calcium,
welches
ſich mit Sauerſtoff verbunden hat.
Das Metall Calcium iſt ſilberweiß und weich. Läßt man
es
an der Luft liegen, ſo zieht es den Sauerſtoff der Luft an
ſich
und wird hart, kreideartig, mit einem Wort, es wird Kalk
daraus
.
Es läßt ſich denken, daß man das Calcium-Metall
nirgends
rein in der Natur vorfindet, denn da allenthalben
Luft
iſt, die Sauerſtoff enthält, ſo verwandelt ſich das Calcium
immer
in Kalk;
man hat daher das Calcium erſt künſtlich aus
Kalk
herſtellen müſſen, und dies iſt erſt in dieſem Jahrhundert
gelungen
.
Genug, wir wiſſen, daß Kalk ein Metall iſt,
verbunden
mit Sauerſtoff.
Wiſſenſchaftlich nennt man den
Kalk
auch Calcium-Oxyd.
Der Kalk hat nun die Neigung, ſich mit Kohlenſäure zu
verbinden
, und wenn dies der Fall iſt, wird aus dem Kalk
ein
neuer Stoff, der kohlenſaure Kalkerde heißt, die in der
Natur
als Kalkſtein und Kreide vorkommt.
Ein Stückchen Kreide alſo iſt ein Ding, das wunderbar
genug
zuſammengeſetzt iſt, obgleich man es ihm gar nicht an-
ſehen
kann.
Es beſteht erſtens aus einem Metall, Calcium,
das
ſich mit Sauerſtoff verbunden hat, ſodann beſteht es aus
Kohle
, die ſich gleichfalls mit Sauerſtoff verbunden hat.
In
der
Kreide alſo ſteckt ein Stück Metall, ein Stück Kohle
7365 eine ganze Maſſe Luft! Wer in aller Welt würde darauf
kommen
, daß aus einem ſilberblanken Metall, aus einer
ſchwarzen
Kohle und einer Flaſche voll Luft ein Ding, wie
die
weiße Kreide, entſtehen würde?
Und doch iſt es ſo, und
man
kann vor den Augen eines jeden Zweiflers die Kreide
aus
dieſen Grundſtoffen fabrizieren.
Ja, ohne einen dieſer
Stoffe
würde nun und nimmermehr ein Stückchen Kreide in
der
Welt exiſtieren.
Ohne ſchwarze Kohle würde niemals
weiße
Kreide vorhanden ſein.
Jetzt wird es jedem klar werden, was denn eigentlich aus
dem
Kalkwaſſer, das man in die Flaſche mit Kohlenſäure ge-
@oſſen
, geworden iſt.
Es iſt aus dem klaren Kalkwaſſer
weißlich-trübes
Kreidewaſſer geworden.
Und nun wollen wir jedem Leſer, der ſich dafür intereſſiert,
zu
einem Verſuch raten, der ebenſo einfach wie intereſſant iſt.
Man ſchütte ein Bierglas halb voll mit völlig klarem Kalk-
waſſer
;
nun ſtecke man in das Waſſer ein Glasröhrchen hinein
und
blaſe langſam in dasſelbe, ſo daß das Waſſer recht herum-
ſprudelt
.
Man wird bald bemerken, daß das Waſſer weißlich-
trübe
wird.
Woher kommt das? Daher, daß die Luft, die
wir
hineinblaſen, aus unſern Lungen kommt, daß wir Kohlen-
ſäure
ausatmen.
Die Kohlenſäure unſeres Atems iſt ins
Waſſer
gekommen und hat aus dem Kalkwaſſer Kreidewaſſer
gemacht
.
XXV. Kleine Verſuche und große Folgerungen.
Wir haben geſehen, daß wir mit dem Atmen unſeres
Mundes
aus Kalk Kreide machen können.
Wie intereſſant dies auch für den Unkundigen ſein mag,
ſo
ahnt er doch ſchwerlich, von welcher Bedeutung dieſe That-
ſache
für die Bildung großer Schichten unſerer Erde iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VI.
7466
Es befinden ſich auf der Erde ganze Gebirge von Kreide
(Fig.
3) und große Strecken von Kalklagern. Die mikroſkopiſche
Unterſuchung
lehrt, daß ſowohl die Kreide wie der meiſte Kalk
nichts
anderes iſt, als die Schalen unendlich kleiner Tiere, die
dereinſt
gelebt, ähnlich wie unſere Schnecken, die in einem
Kalkgehäuſe
leben (Fig.
4). Vor vielen Jahrmillionen, ehe
noch
ein Menſchengeſchlecht oder das Tiergeſchlecht, das jetzt
auf
ihr wandelt, die Erde bevölkert hatte, war ſie von ſolchen
5[Figure 5]Fig. 3.
Kreidefelſen
von Stubbenkammer auf Rügen.
Schal-Tierchen bewohnt, von denen nunmehr nichts übrig ge-
blieben
iſt, als ihre Kalkſchale.
Zugleich aber lehrt uns die
neuere
Naturforſchung, daß in jenen Zeiten, die man die älteſten,
vorweltlichen” nennt, Gewächſe ganz eigner Art exiſtiert haben,
die
an Form und Weſen unſern Schachtelhalmen, Bärlappen
und
Farn ähnlich, aber an Größe unſern Waldbäumen gleich-
kamen
.
Ja, die Pflanzenwelt war ſo üppig, daß man an-
nehmen
muß, ſie habe außerordentlich reichhaltige Nahrung
bereit
gefunden, und daraus geſchloſſen hat, daß die Luft ſo
viel
Kohlenſäure der Haupt-Nahrungsſtoff der Pflanzen
7567 enthalten habe, daß Menſchen und Tiere jetziger Art damals
nicht
hätten auf der Erde atmen und leben können.
In noch früheren Epochen der Erde gab es wahrſcheinlich
noch
gar keinen freien Kohlenſtoff;
vielmehr war alle Kohle,
die
wir jetzt als Beſtandteile der Tiere und Pflanzen wie als
6[Figure 6]Fig. 4.
Ein
Pröbchen Kreide, ſta@k vergrößert.
mächtige Kohlenlager in der Erde antreffen, nur als Kohlen-
ſäure
vorhanden.
Die Wärme, die damals herrſchte, war ſo
groß
, daß die Kohle als ſolche gar nicht exiſtieren konnte.
Erſt
als
die Erde ſich weiter abgekühlt hatte, entſtanden die Pflanzen,
welche
die Kohlenſäure aufnahmen und ſie in Kohle und Sauer-
ſtoff
zerlegten.
Aber ſelbſt, nachdem die mächtigen
7668 jener vorweltlichen Zeit lange den Kohlenſtoff zu ihrem Aufbau
verbraucht
und den Sauerſtoff der Luft beigemiſcht hatten,
enthielt
dieſe vielleicht noch zu viel Kohlenſäure, als daß die
jetzigen
Tiere und Menſchen in ihr hätten leben können.
Wo blieb nun dieſe Kohlenſäure der Luft? Ohne Zweifel
haben
ſie zum großen Teil die Kalkſchalen der toten Tierchen
aufgenommen
, die ſich mit Kohlenſäure verbunden haben und
nun
als große Kreidegebirge vor uns liegen.
Wer denkt wohl daran, daß auch die Kreide im Daſein
der
Menſchen auf der Erde eine Rolle ſpielt!
Doch wir wollen uns nicht von unſerm eigentlichen Thema
entfernen
und uns noch nicht in die Dunkel vergangener Jahr-
tauſende
verlieren wir ſparen uns dies für ein andres Kapitel
auf
ſondern wollen zurück zur Kohlenſäure oder zum Kohlen-
ſtoff
, der ſich durch Verbrennung mit dem Sauerſtoff verbindet.
Denn die Wunder der Gegenwart ſind nicht minder zahlreich,
als
die der Vergangenheit.
Wir haben es bereits erwähnt, daß die Menſchheit eine
unendliche
Maſſe Kohlenſäure fabriziert.
Mit jedem Atemzug nehmen wir Sauerſtoff in unſere
Lungen
ein, mit jedem Ausatmen ſenden wir Kohlenſäure in
die
Luft hinaus.
Nicht minder ſendet jeder Ofen, jeder Herd,
auf
dem Holz, Torf, Kohlen, Steinkohlen oder ſonſt ein Brenn-
material
verbrannt wird, einen Strom von Kohlenſäure in die
Luft
, einen Strom dieſes Gaſes, zu dem eben eine unendlich
große
Maſſe von Sauerſtoff verbraucht worden iſt.
Woher aber kommt es, daß die Luft durch all’ dies nicht
verdorben
wird?
Woher entſteht immer der neue Sauerſtoff,
der
den vernutzten erſetzt, und wo kommt die Kohlenſäure hin,
die
die Luft unatembar macht?
Die Antwort hierauf giebt gleichfalls erſt die neuere Natur-
forſchung
, die den Zuſammenhang der Natur-Einrichtungen
immer
mehr und mehr aufhellt.
7769
Die Kohlenſäure, obgleich ſie ſchwerer iſt als gewöhnliche
Luft
und eigentlich zu Boden ſinken ſollte, wird durch die ſtete
Bewegung
der Luft, wie von einer eignen Kraft, mit der Luft ge-
miſcht
, und die Luft, wenn ſie an Stellen vorüberſtreicht, die Stoffe
enthalten
, welche Neigung haben, ſich chemiſch mit Kohlenſäure
zu
verbinden, giebt dieſen die Kohlenſäure ab und reinigt ſich
in
ſolcher Weiſe von dem uns gefährlichen Stoffe.
Namentlich
aber
ſind es die Pflanzen, die mit großer Begierde die Kohlen-
ſäure
aus der Luft einſaugen, denn die Pflanzen, die Bäume,
die
ſo viel Kohlen liefern, erhalten allen ihren Kohlenſtoff nicht
aus
der Erde, ſondern aus der Luft, in welcher die Kohlen-
ſäure
ſchwebt.
Die Pflanzen aber, die die Kohle aus der
Kohlenſäure
verbrauchen, hauchen wiederum den Sauerſtoff
aus
, ſo daß nicht ein einziges Atom verloren geht und die
Luft
wieder jenen Stoff bekommt, der dem Leben der Tiere
und
der Menſchen ſo notwendig iſt.
Was der Menſch ausatmet, die Kohlenſäure, gelangt ſo
zur
Pflanze und wird von dieſer aufgenommen.
Dafür giebt
die
Pflanze den Sauerſtoff wieder aus und fabriziert ſo in
ununterbrochener
Thätigkeit wieder die Luftart, die der Menſch
zum
Einatmen braucht.
Wir haben hier eins der ſchönſten Beiſpiele für den Kreis-
lauf
in der Natur vor uns:
wir ſehen, wie einzig und allein
die
Wechſelwirkung zwiſchen Tier- und Pflanzenreich alles
organiſche
Leben möglich macht, wie die Tiere und die Menſchen
und
alle unſre heutige Kultur, unſre Klugheit und Weisheit
zu
Grunde gehen würde, wenn nicht die Pflanzenwelt wäre,
die
die Atmoſphäre von der ſchädlichen Kohlenſäure reinigte
und
immer neuen Sauerſtoff produzierte, und wie andrerſeits
auch
die Pflanzen verkümmern müßten, wenn nicht Menſchen
und
Tiere ihuen die für ihr Daſein nötigen Stoffe, ohne es
zu
wiſſen und zu wollen, immer neu liefern würden.
Wir lernen hier den weltbeherrſchenden und
7870 Faktor der Anpaſſung in ſeiner großartigſten und umfaſſendſten
Wirkung
kennen.
Wie genau dieſe gegenſeitige Abhängigkeit
von
Tier- und Pflanzenwelt ſich ſelbſtthätig immer neu reguliert,
trotzdem
Milliarden und aber Milliarden Lebeweſen tagtäglich
durch
ihre Atmungsthätigkeit den Stoffgehalt der Luft zu ver-
ändern
ſtreben, wie genau die einzelnen Teile der großen Welt-
maſchine
ſich in einander fügen und in einander arbeiten, das
erkennt
man am beſten aus der überraſchenden Thatſache, daß
nachweislich
die Zuſammenſetzung der Luft ſich in den letzten
50
Jahren und wahrſcheinlich auch ſchon ſeit viel, viel
längerer
Zeit auch nicht um den kleinſten Bruchteil eines
Prozents
geändert hat.
XXVI. Ein wenig organiſche Chemie.
Die organiſche Chemie, d. h. die Chemie, die ſich mit den
chemiſchen
Verbindungen beſchäftigt, die von den Lebeweſen in
ihrem
Körper erzeugt werden, hat drei wichtige Aufgaben,
welche
in der neueren Zeit die bedeutendſten Forſcher als das
ſegensreiche
Feld ihrer Thätigkeit betrachten.
Vor allem iſt die organiſche Chemie von der größten
Wichtigkeit
für den Landbau.
Bisher lebte man im voll-
kommenen
Dunkel über die Erfahrungen, die der Landmann
beim
Bau des Feldes machte, und die Fruchtbarkeit und Un-
fruchtbarkeit
eines Feldes war rein eine Kenntnis, die man
durch
jahrelange Beobachtungen erſt ermitteln mußte.
Zeit-
raubende
Proben und ſchwere Verſuche belehrten erſt, wie und
wozu
ein Feld angewendet werden kann, welche Saat man
darauf
ausſäen und welche Frucht darauf gedeihen möchte,
mit
welcher Art von Dünger man den Boden verſehen müſſe,
und
welche Gattungen von Stoffen der Pflanze förderlich ſein
könnten
.
Jetzt, wo die Chemiker die Sache in die Hand
7971 nommen haben, iſt man ſchon einen gewaltigen Schritt weiter
gekommen
.
Der Landbau iſt jetzt eine wiſſenſchaftliche Thätig-
keit
geworden, und dieſe Wiſſenſchaft iſt die Wiſſenſchaft der
organiſchen
Chemie.
Der Chemiker nimmt eine Pflanze, zerlegt ſie auf chemiſchem
Wege
und ſieht, welche Stoffe darin enthalten ſind.
Er weiß,
daß
dieſe Stoffe nicht durch Zauber in die Pflanze hinein-
kommen
, ſondern daß es ein chemiſcher Vorgang iſt, durch
welchen
die Pflanze dieſe Stoffe aus dem Boden und der Luft
genommen
und umgebildet hat.
Kennt er die Stoffe, aus
denen
die fertige Pflanze beſteht, ſo weiß er auch, daß die
Pflanzen
dieſe Stoffe als Speiſe in ſich aufgenommen haben.
Er weiß alſo genau, was der Boden liefern muß, um ſolche
Pflanzen
hervorbringen zu können.
Nimmt er nun einen
Stich
Erde aus dem Boden und unterſucht ihn auf chemiſchem
Wege
und findet, daß dieſe Stoffe, die die Pflanze braucht,
im
Boden vorhanden ſind, ſo kann er, ohne jahrelange Kultur-
Verſuche
anſtellen zu müſſen, ſagen:
Dieſe Pflanze wird in
dieſem
Boden gedeihen!
Findet er, daß der Boden nicht alle Stoffe in ſich hat,
die
die Pflanze braucht, ſo weiß er anzugeben, womit der
Boden
verſorgt werden muß.
Denn der Chemiker ſcheut ſich
nicht
, auch jede Art von Dünger chemiſch zu zerlegen.
Er
unterſucht
, welche Stoffe der Dünger dem Felde zubringen
muß
und belehrt den ſtaunenden Landmann:
hier mußt du Gips
in
den Dünger miſchen! dort mußt du Knochenmehl hinzuthun!
da
darſſt du nicht zu viel tieriſchen Dünger ablagern! dieſes
Feld
mußt du ein Jahr lang ruhen laſſen und ſtatt Getreide
Klee
anbauen.
Jenes Feld braucht gar keinen Stoff, denn es
beſitzt
ſie alle im Überfluß, aber es kann darauf deshalb nichts
wachſen
, weil die nötigen Stoffe in einer Form vorhanden
ſind
, durch welche ſie ſich nicht im Regenwaſſer auflöſen können,
du
mußt alſo ſtatt des Düngers verdünnte Schwefelſäure
8072 dein Feld ſchütten, die dieſe Stoffe auflösbar machen wird, ſo
daß
die Pflanze ſie wird genießen können.
Die zweite Aufgabe der organiſchen Shemie iſt, aus der
Pflanzen-
und Tierwelt neue chemiſche Stoffe herzuſtellen, von
denen
man ſonſt keine Ahnung hatte.
Die Mannigfaltigkeit
in
der organiſchen Welt iſt ſo unendlich groß, daß mit jedem
Tage
aus der Pflanzen- und Tierwelt neue Stoffe erzeugt
werden
, von denen man früher nie etwas wußte.
Der Reich-
tum
an neuen Stoffen iſt durch die Forſchungen der letzten
Jahrzehnte
ſo gewachſen, daß es jetzt nur an Menſchen fehlt,
welche
ſich mit der Aufgabe beſchäftigen, wie und wo man
ſolche
Stoffe nützlich verwenden kann.
Und doch ſteht es feſt,
daß
jeder dieſer neuen Stoffe irgendwie verwendet werden
kann
, und einzelne von dieſen, die jetzt ganz unbeachtet bleiben,
bei
einer glücklichen Entdeckung zu einer Quelle großer Reich-
tümer
werden können.
Um ein kleines Beiſpiel hiervon zu geben, wollen wir
Folgendes
anführen.
Das Anilin war ſchon lange von den Chemikern aus dem
Steinkohlenteer
dargeſtellt und mit dem Namen Kyanol belegt
worden
.
Aber erſt vor wenigen Jahrzehnten machte man
weiter
die Entdeckung, daß dieſer Stoff, eine farbloſe, ölartige
Flüſſigkeit
, unter der Einwirkung anderer chemiſcher Stoffe,
ſich
in die prachtvollſten Farben verwandele.
Jetzt hat bereits
die
Anwendung dieſer ſchönen Anilinfarben eine ſo ausgedehnte
Verbreitung
, daß faſt alle roten, blauen und violetten Seiden-
und
Wollſtoffe, die in den Handel kommen, mit dieſem Anilin,
dem
Abkömmlinge des gewöhnlichen Steinkohlenteers, ge-
färbt
ſind.
Zahlloſe andere chemiſche Verbindungen haben eine ähn-
liche
Geſchichte aufzuweiſen.
Der Chemiker kannte ſie ſehr
wohl
, ohne ſie weiter zu beachten, ohne zu ahnen, welch wert-
vollen
Stoff er vor ſich hatte.
Beſouders charakteriſtiſch
8173 in dieſer Beziehung eine erſt wenige Jahre alte Erfindung,
die
in weniger als ſieben Jahren zu einer ungeheuren Be-
deutung
gelangte.
Ein ſeltenes Element, das für den Chemiker
lange
Zeit durchaus kein beſonderes Intereſſe bot und bei dem
er
ſich wie bei ſo vielen anderen Elementen mit der Kenntnis
ſeiner
Exiſtenz und ſeines Namens begnügte, dies Element,
das
Thorium, wurde durch eine glückliche Entdeckung Auer
von
Welsbachs plötzlich die Erundlage der großen Gas-
Glühlicht-Induſtrie
.
Wir ſind damit freilich wieder in ein Gebiet der unorga-
niſchen
Chemie gelangt, doch wollen wir nach dieſer Abſchwei-
fung
nun wieder zur organiſchen zurückkehren.
XXVII. Die wichtigen Aufgaben der organiſchen
Chemie.
Eine höhere Aufgabe der organiſchen Chemie iſt, die
Produkte
der Pflanzenwelt in ihrer Verbindung zu beobachten,
die
ſie annehmen, wenn ſie ſich ſelbſt überlaſſen oder durch
andere
Stoffe und Mittel zu Veränderungen angeregt werden.
Der Segen, den dieſer Teil der Chemie bereitet hat, iſt unge-
heuer
;
die Ausſicht, die hier noch Segensreiches in der Zukunft
verſpricht
, geht ins Unendliche.
Es iſt gar nicht lange her, daß man die Früchte der
Pflanzen
nur in der Weiſe verbrauchte, wie ſie die Natur
fertig
lieferte;
erſt als die Chemie anfing, dieſe Früchte zu
unterſuchen
, erſt da kam man darauf, daß man aus den
Früchten
noch ganz andere Dinge machen kann, als die Natur.
Es iſt bekannt, daß man vor ſiebzig Jahren nichts anderes
wußte
, als daß man Zucker aus der Ferne herholen müſſe,
wo
das Zuckerrohr gedeiht;
jetzt weiß es jeder, daß wir meiſt-
hin
den Runkelrübenzucker genießen.
8274
Als ein Beiſpiel der intereſſanteſten Art, wie die Kunſt
der
Chemie die Naturſtoffe in ganz veränderte Form und Be-
ſchaffenheit
verſetzen kann, iſt die jetzige Fabrikation des Holz-
eſſigs
zu erwähnen, bei welcher, wie wir ſpäter zeigen werden,
wirklich
aus Holz Eſſig gemacht wird.
Noch intereſſanter in
dieſer
Beziehung iſt die Kartoffel-Stärke, aus dieſer kann man
auf
chemiſchem Wege Gummi machen, den Gummi kann man
in
Zucker verwandeln, den Zucker kann man in Alkohol, den
Alkohol
in Äther und Eſſig umſchaffen.
In gleicher Weiſe verſteht es die organiſche Chemie, alle
Naturſtoffe
aus ihrer früheren Beſchaffenheit zu einer Ver-
änderung
anzuregen und ganz neue, gar nicht in dieſen Stoffen
vermutete
Dinge daraus zu machen, ſo daß eigentlich ſämt-
liche
Fabrikationszweige jetzt in das Bereich der Chemie
fallen
.
Wir wollen im nächſten Bändchen dieſe drei Aufgaben
der
organiſchen Chemie in kurzen Umriſſen näher beleuchten
und
durch Beiſpiele und Verſuche deren Wichtigkeit deutlich zu
machen
ſuchen.
Wir werden demnach in den nächſten Ab-
ſchnitten
einiges von den Hauptſachen der landwirtſchaftlichen
Chemie
, einiges von der Auffindung neuer Stoffe und endlich
einige
Beiſpiele von den Verwandlungen vorführen, die die
Chemie
mit vielen Stoffen vornimmt;
für jetzt dürfen wir
jedoch
über die Nützlichkeit und praktiſche Wichtigkeit dieſer
Wiſſenſchaft
nicht vergeſſen, daß ſie einen noch höheren Wert
beanſpruchen
darf, indem ſie es iſt, die das Dunkel im Lebens-
vorgang
des Tieres und des Menſchen beleuchtet, die undurch-
dringlichſten
Geheimniſſe unſeres eigenen Leibes erforſcht, und
ſo
eine bedeutende Stütze der Lehre vom Leben, vom Erkranken
und
der Heilung des Menſchen iſt.
Die organiſche Chemie iſt zur Erkenntnis des Lebens-
vorganges
im Menſchen von der höchſten Wichtigkeit.
Erſt
durch
die Chemie lernen wir verſtehen, weshalb wir
8375 und was mit dem Atem vorgeht. Erſt die Chemie belehrt uns,
weshalb
wir uns nur von gewiſſen Stoffen ernähren können.
Der Chemie der neuern Zeit erſt iſt es gelungen, zu zeigen,
in
welche Stoffe des Leibes ſich die Stoffe der Speiſen ver-
wandeln
, welche Speiſen zum Wachstum der Haare, der
Nägel
, der Zähne, der Muskeln und des Fettes nötig ſind.

Erſt durch die Chemie beginnt man jetzt zu ahnen, wie
und
in welcher Weiſe ſich Geſundheit im Körper erhalten und
Krankheit
entſtehen kann, und woher einzelne Medizinen in
dieſen
Zuſtand eingreifen.
Der Chemie erſt wird es gelingen,
die
Heilkunſt völlig in eine Heilwiſſenſchaft zu verwandeln
und
das Dunkel zu zerſtreuen, das jetzt noch über einem
großen
Teil der ärztlichen Praxis ſchwebt, ein Dunkel, das
ſelbſt
der glücklichſte Arzt nicht durchſchauen kann, ohne die
Chemie
zu Hilfe zu rufen.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
84
[Empty page]
85
Naturwiſſenſchaftliche Volkshiicher
von

A. Bernſtein.
Fünſte, reich illuſtrierte Aufſage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Siebenter Teil.
7[Figure 7]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
86
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
87
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Ein wenig Chemie. II.
I
. # Naturwiſſenſchaft, Weltgeſchichte und ſoziale Frage . . # 1
II
. # Die landwirtſchaftliche Chemie, der Keim, die Frucht und
# einige Verſuche . . . . . . . . . . . . . # 6
III
. # Die chemiſche Werkſtatt der Pflanze . . . . . . . # 10
IV
. # Die Nahrung der Pflanze . . . . . . . . . . # 13
V
. # Die Speiſung der Pflanze durch die Wurzel . . . . # 17
VI
. # Womit und wie man die Pflanzen füttern muß . . . # 19
VII
. # Die Düngung des Feldes . . . . . . . . . . # 21
VIII
. # Die wiſſenſchaſtliche Unterſuchung des Düngers . . . # 24
IX
. # Die Entdeckung neuer Stoffe . . . . . . . . . # 26
X
. # Die freiwilligen Veränderungen der Pflanzenſtoffe . . # 30
XI
. # Die Bereitung von Mehl und Stärke aus einer Kartoffel # 32
XII
. # Die Verwandlung der Kartoffel in Zucker . . . . . # 35
XIII
. # Die Dienſte der Schwefelſäure oder des Malzes . . . # 37
XIV
. # Kann man nicht aus Holz Zucker machen? . . . . . # 39
XV
. # Die Verwandlung des Zuckers durch Gährung . . . . # 43
XVI
. # Was die Gährung für Veränderung hervorbringt . . . # 46
XVII
. # Die Bildung von Met, Num, Wein und Bier . . . # 49
XVIII
. # Die Fabrikation des Biers in feinen verſchiedenen Sorten.
# Die Bildung des Äthers aus Alkohol . . . . # 52
XIX
. # Die Verwandlung des Alkohols in Eſſig . . . . . # 54
XX
. # Die ſchnellere Verwandlung des Alkohols in Eſſig . . # 57
XXI
. # Die Bedeutung der Chemie als Wiſſenſchaft . . . . # 60
XXII
. # Die höchſte Aufgabe der Tierchemie . . . . . . . # 62
## Über Bäder und deren Wirkung.
I
. # Was das Waſſer alles kann . . . . . . . . . # 66
II
. # Wir leben in einem Luftbade . . . . . . . . . # 68
III
. # Wie Waſſer ein ander Ding iſt . . . . . . . . #
1188IV IV. # In was für Haut wir ſtecken . . . . . . . . . # 73
V
. # Die Verdunſtung durch die Haut . . . . . . . . # 76
VI
. # Einteilung der Bäder . . . . . . . . . . . # 79
VII
. # Das Reinigungsbad . . . . . . . . . . . . # 82
VIII
. # Die Empfindlichkeit und die Geſundheit . . . . . # 85
IX
. # Die Einwirkung des Waſſer-Druckes . . . . . . . # 88
X
. # Die Haut als durchdringliche Waud . . . . . . . # 90
XI
. # Die Anregung der Haut-Thätigkeit . . . . . . . # 93
XII
. # Die lebendige Gegenwirkung . . . . . . . . . # 96
XIII
. # Die warmen Bäder . . . . . . . . . . . . # 99
XIV
. # Die Gegenwirkung im kalten Bade . . . . . . . # 102
XV
. # Schlußbetrachtungen . . . . . . . . . . . . # 105
XVI
. # Anhang: Die Kneipp-Kur . . . . . . . . . . # 108
891
I. Naturwiſſenſchaft, Weltgeſchichte und ſoziale
Frage.
In die zahlloſen Stimmen, welche die Segnungen der
Naturwiſſenſchaften
und zumal die Erfolge des letzten Jahr-
hunderts
auf dieſem Gebiete mit begeiſterten Worten preiſen,
miſchen
ſich vereinzelt zweifelnde Fragen von Laien, die ſich
mit
Mißtrauen dem allgemeinen Jubel gegenüber verhalten.
Stehen denn die ſchließlichen Erfolge”, ſo ſagen ſolche Leute,
wirklich in rechtem Verhältniſſe zu den unendlichen Mühen
und
Opfern jeder Art, welche zu ihrer Erreichung aufgewandt
werden
mußten?
Wir wollen ja zwar nicht verkennen, daß
die
mediziniſche Wiſſenſchaft uns viele, ſehr viele Segnungen
gebracht
hat, daß die Elektrizität und die Dampfkraft Handel,
Verkehr
und Produktion in großartigſtem Maße geſteigert haben,
daß
das Eigentum gegen den Blitz, das Leben gegen den See-
ſturm
viel mehr als früher geſchützt iſt, aber iſt denn der
Wohlſtand
der Menſchheit, welcher doch immer den höchſten
Geſichtspunkt
darſtellt, wirklich durch die Naturwiſſenſchaft
einigermaßen
beträchtlich gefördert worden?
Iſt es für den
Menſchenfreund
nicht vielleicht beſſer, ſeine Thätigkeit und
Arbeitskraft
ausſchließlich den ſozialen Verhältniſſen und
ihrer
Verbeſſerung zu widmen?
Würde er dadurch nicht der
Menſchheit
beſſer dienen, als wenn er irgend eine intereſſante
naturwiſſenſchaftliche
Entdeckung macht, eine beſonders leiſtungs-
fähige
Maſchine konſtruiert u.
ſ. w. ?
Zahlreiche übereifrige Nationalökonomen und Politiker,
welche
ſo ſprechen, und welche ihre eigene zweifellos ſehr
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
902
wichtige und unentbehrliche Thätigkeit hoch über das Streben
des
ſtillen naturwiſſenſchaftlichen Forſchers und Erfinders ſtellen
möchten
, ſie ahnen nicht, daß gerade der Naturwiſſenſchaft
der
bedeutendſte und ſegensreichſte Fortſchritt zu danken iſt,
welchen
die praktiſche Seite ſozialer Arbeit überhaupt bisher
zu
verzeichnen hat.
Und zwar iſt es unter den mannigfachen
Zweigen
der Naturwiſſenſchaft die Chemie, welcher das eben
angedeutete
Verdienſt zukommt.
Um die ganze Größe dieſer
herrlichen
Entdeckung, welcher wir jetzt unſere Aufmerkſamkeit
ſchenken
wollen, ermeſſen zu können, wollen wir zuvor in ein
ganz
anderes Gebiet abſchweifen, das an und für ſich abſolut
nichts
mit der Chemie, ja mit der Naturwiſſenſchaft überhaupt
zu
thun zu haben ſcheint.
Wir bitten dich, freundlicher Leſer, mit uns zunächſt einen
Rückblick
zu werfen auf die große Weltgeſchichte.
Aber wir
wollen
dies nicht in dem Sinne thun, in welchem dir die Ge-
ſchichte
in der Schule gelehrt wurde, ſondern wollen einmal
verſuchen
, naturwiſſenſchaftliche Erkenntniſſe darauf anzuwenden,
und
ſo einen großen, allgemeineren Geſichtspunkt zu gewinnen,
zu
dem ſich die meiſten Beurteiler der Geſchichte, “von Gunſt
und
Haß verwirrt”, nicht aufzuſchwingen vermögen.
Gewiß hat jeder, der die hiſtoriſchen Begebniſſe mit wirk-
lichem
Intereſſe verfolgte, ſich oft ſchon ſtaunend gefragt, wie
es
möglich ſei, daß die größten, mächtigſten und blühendſten
Reiche
ſtets nach wenigen Jahrhunderten höchſten Glanzes zer-
fielen
und anderen Staatenbildungen weichen mußten, denen
niemand
in ihren unſcheinbaren Anfängen ihre künftige Größe
prophezeit
haben würde.
Dort, wo die Geſchichte heraus-
tritt
aus dem nächtigen Dunkel, das über der ſagenhaften Vor-
zeit
ſchwebt, ſehen wir zunächſt Egypten ſich mächtig abheben
vor
allen anderen Ländern als einen Staat auf einer erſtaun-
lichen
Höhe der Kultur, wie ſie dort ſpäter nie wieder erreicht
worden
iſt.
Aber nach der Zeit des großen Ramſes
913 1322 v. Chr.) ſinkt ſeine Größe herab, und Egypten tritt den
Vorrang
als erſter Kulturſtaat an Aſſyrien ab, das dann ſeiner-
ſeits
nach einigen Jahrhunderten wieder Babylonien weichen
mußte
.
Die neu aufgehende Sonne des großen Perſerreiches
überſtrahlte
dann den Glanz der älteren Kulturländer, und
gleichzeitig
begann jene herrliche Blüteepoche in dem kleinen
Griechenland
, wo ſich eine bis dahin nie geahnte Höhe geiſtiger
Entwickelung
ausbildete, welcher es beſchieden war, der er-
drückenden
Macht des rieſenhaften Perſerreiches ſiegreich zu
widerſtehen
und den koloſſalen Staat ſchließlich zu zertrümmern.
Aber auch hier folgt einer kurzen, herrlichen Blütezeit eine
Jahrtauſende
währende Epoche des Verfalls, und während der
milde
Stern Griechenlands zu verbleichen beginnt, ſteigt mächtig
lodernd
das blendende Geſtirn der ewigen Roma zu ſeiner
weltheherrſchenden
Stellung empor.
Nie zuvor und nie nach-
her
gab es ein feſtgefügtes Reich von einer gleich rieſigen
Ausdehnung
:
der Bau der römiſchen Weltherrlichkeit ſchien für
die
Ewigkeit errichtet und wenige hundert Jahre ſpäter zer-
ſchlugen
die germaniſchen Heere den rieſigen Koloß, und in
buntem
Wechſelſpiel übernahmen nun verſchiedene Völker die
Führung
, und erſt in neuerer Zeit war es möglich, daß mehrere
Kulturreiche
von gleicher Größe und Bedeutung neben ein-
ander
beſtanden und, ſtatt ſich bis zur Vernichtung zu befehden,
ſich
gegenſeitig fördern und von einander lernen.
Das Ergebnis
der
Weltgeſchichte iſt, daß die höchſte Kultur, von ſüdlichen
Ländern
ausgehend, immer weiter und weiter nach Norden
bezw
.
Nordweſten rückte.
Was iſt daran ſchuld? Was hat jene ſüdlichen Kulturen
verſchwinden
laſſen?
Was hat zumal das ſtolze Römerreich
von
ſeiner Höhe herabgeſtürzt?
Auf die letzte Frage hört man
bei
uns in Deutſchland ſo oft gedankenlos antworten:
Ja,
die
verweichlichten Römer konnten eben den kraftſtrotzenden,
abgehärteten
Söhnen Germaniens nicht ſtand halten;
924 ihnen zuerſt im Teutoburger Walde begegnet war, das ließ
ſich
bei öfterer Wiederholung unmöglich ertragen, und deshalb
allein
ging das Römerreich zu Grunde.
Die, welche ſo
ſprechen
, beweiſen nur, daß ſie ſehr wenig geſchichtliches Ver-
ſtändnis
und deſto mehr Vorurteile beſitzen.
Ja, im Teuto-
burger
Walde konnten wohl die Germanen das Varusheer
vernichten
, wo ſie die ahnungsloſen Römer mitten im Frieden
in
ungünſtigſter Gegend und zur regneriſchen Herbſtzeit nächt-
lich
überfielen, aber in offener Feldſchlacht verſagte die un-
gezügelte
Tapferkeit und die urwüchſige Kraft der Germanen,
wie
es auch ganz natürlich iſt, ſtets gegen die überlegene
Kriegskunſt
derverweichlichten” Römer, und wer die Ge-
ſchichte
kennt, wird mit dem Hinweis auf die Namen Aquä
Sextiä
, Vercellä, Idiſiaviſo, Steinhuder Meer jene thörichte
und
patriotiſch ſein ſollende Geſchichtsauffaſſung gründlichſt
abfertigen
.
Nein, ſo leicht ließ ſich die Weltbeherrſcherin Rom
denn
doch nicht über den Haufen rennen.
Um ſie zu ſtürzen,
mußten
tiefer liegende Urſachen vorhanden ſein, und die Natur-
wiſſenſchaft
hat uns dieſe auch enthüllt.
Zum Teil waren es klimatologiſche Faktoren, welche den
Verfall
der alten Kulturen herbeiführten.
Die Witterung
Griechenlands
z.
B. hat ſich in den letzten 2000 Jahren außer-
ordentlich
zu ihrem Nachteil verändert:
Die Temperatur iſt
eine
viel höhere, die Hitze viel erſchlaffender, die Niederſchläge
viel
geringer als ehedem;
infolgedeſſen ſind große Teile des
Landes
, die einſt fruchtbar und waldreich waren, ausgetrocknet,
verdorrt
, zur Wüſte geworden, und das rege Geiſtesleben der
Bewohner
iſt matt und träge geworden, eingeſchlafen.
Das
Volk
, dem im Verlauf von zwei Jahrhunderten ein Themiſtokles
und
Ariſtides, ein Perikles und Epaminondas, ein Sophokles,
Äſchylus
, Phidias, ein Sokrates, Ariſtoteles, Epikur und un-
zählige
andere Männer entſprangen, welche ſich kühn den
größten
Geiſtern aller Zeiten zur Seite ſtellen können, es
935 ſeit zwei Jahrtauſenden auch nicht einen Mann mehr hervor-
gebracht
, der ſich jenen herrlichen Geſtalten zugeſellen könnte.
Ähnliches finden wir auch bei anderen alten Kulturſtaaten.
Speziell für Rom iſt aber dieſer klimatologiſche Faktor
nicht
von ſo großer Bedeutung geweſen wie ein anderer.
Der
Rückgang
der Landwirtſchaft
war es, der das römiſche
Reich
zertrümmerte:
der Boden Italiens und vor allem der-
jenige
des einſt über alle Maßen fruchtbaren Siciliens wurden
im
Laufe der Zeit derartig ausgeſogen, daß der Ernteertrag
bis
zum dritten Teil des urſprünglichen Reichtums herabſank.
Dieſer Faktor, der langſam, aber ſtets fühlbarer den Wohl-
ſtand
des mächtigſten Volkes bedrohte, verurſachte Verarmung
und
Verfall des großen Reiches, wie er ſchon ſo manches
andere
Reich dem Verderben entgegengeführt hatte.
Und zu
Anfang
unſeres 19.
Jahrhunderts ſchien es, als wolle ganz
Europa
dem gleichen, ſchrecklichen Schickſal unterliegen, das
einſt
die alten Kulturſtaaten betroffen hatte.
Unabwendbar
ſchien
das grauſige Verhängnis zu nahen, das nach Verlauf
weniger
Jahrhunderte Europa die führende Stellung unter den
Völkern
entriſſen und ſie alsdann nach Nordamerika verpflanzt
hätte
.
Man wußte wohl, daß durch fortwährende Ernten dem
Boden
die wichtigſten Beſtandteile entzogen werden, man wußte
auch
, daß dieſer ſcheinbar nicht allzu bedeutende Faktor es
war
, der zum größeren Teile die Weltgeſchichte lenkte und die
Geſchicke
der Völker beſtimmte, aber wie man dem drohenden
Unheil
mit Erfolg begegnen ſollte das wußte man nicht.
Der Naturwiſſenſchaft einzig und allein gebührt nun der
Ruhm
, die finſteren Schatten, welche über dem Glück und
dem
Wohlſtand der Kulturvölker ſchwebten, für alle Zeiten zu
verſcheuchen
.
In erſter Linie war es das unſterbliche Ver-
dienſt
des Chemikers Juſtus von Liebig (1803—1873), das
dieſen
ſtets zu einem der größten Wohlthäter der Menſchheit
ſtempeln
wird, daß er ſtreng wiſſenſchaftlich den
946 führte, wie man den Ackerboden rationell behandeln müſſe, um
alle
durch voraufgegangene Ernten verlorenen Stoffe ihm wieder
zu
erſetzen.
Wie dies ungefähr zu geſchehen habe, wollen wir
noch
in den folgenden Kapiteln genauer kennen lernen;
für jetzt genüge die Behauptung, daß mit dieſer That die
Chemie
, ja vielleicht die ganze Naturwiſſenſchaft den herrlichſten
unter
ihren zahlloſen Triumphen gefeiert hat.
Die Produktion
der
Landwirtſchaft iſt infolgedeſſen ſeit dem Beginn unſres Jahr-
hunderts
ſchon um mehr als das Doppelte geſtiegen und ver-
ſpricht
noch viel, viel größere Fortſchritte für die Zukunft.
Die
Naturwiſſenſchaft
hat damit eine Leiſtung vollbracht, welche
an
Bedeutung alle politiſchen und nationalökonomiſchen Thaten,
alle
techniſchen Erfindungen weit, weit überragt.
Ja, man
kann
ſagen, daß der wichtigſte Teil der ſogenanntenſozialen
Frage”
damit bereits ſeine befriedigende Löſung gefunden hat,
und
einem Naturwiſſenſchaftler kommt der ſtolze Ruhm zu, ſie
gelöſt” zu haben:
ſein Name iſt Juſtus von Liebig.
II. Die landwirtſchaftliche Chemie, der Keim,
die Frucht und einige Verſuche.
Sehen wir nun, in welcher Weiſe die Naturwiſſenſchaft
jene
herrlichen Reſultate erreicht hat, deren Bedeutung wir im
vorigen
Kapitel darzulegen vermochten.
Die landwirtſchaftliche Chemie hat ſich ihre Aufgabe dahin
geſtellt
:
die Geſetze des Lebens, des Wachstums und des Ge-
deihens
der Pflanzen zu ermitteln, um ihre Pflege genau
wiſſenſchaftlich
zu ergründen und mit Sicherheit angeben zu
können
, auf welchem Wege die Menſchen der Natur zu Hülfe
kommen
und das Wachstum der nützlichen Pflanzen in reichem
Maße
befördern können.
957
In der Pflanze iſt eine eigene und noch jetzt unbekannte
Kraft
thätig.
Die Neigung der chemiſchen Urſtoffe, Ver-
bindungen
einzugehen, iſt in den Pflanzen durchaus nicht ſo,
wie
in der toten Natur.
Im Gegenteil, die Pflanze ſchafft
andere
Verbindungen der Stoffe, macht aus den Stoffen andere
Dinge
als die tote Chemie.
Jedoch muß man annehmen, daß
die
Lebenskraft” das Reſultat von Zuſammenwirkungen bereits
bekannter
Kräfte iſt, das Zuſammenwirken von chemiſchen
8[Figure 8]Fig. 1.
Drei
ſehr ſtark vergrößerte Zellen der Kartoffelknolle
mit
Stärkekörnern.
Geſetzen im Verein
mit
phyſikaliſchen
Kräften
, mit Licht,
Wärme
, Elektrizi-
tät
und Erdmag-
netismus
.
Die
berühmteſten
Na-
turforſcher
ſind
hierüberim
Streite.
Uns jedoch muß
es
vorläufig ge-
nügen
, zu wiſſen,
daß
hier eine eigen-
tümliche
Thätigkeit
vor
ſich geht, und
zu
erkennen, in
welcher
Weiſe dieſe Thätigkeit vor ſich geht.
Eine jede Frucht enthält mindeſtens einen Keim zu einer
neuen
Pflanze, die im allgemeinen dazu beſtimmt iſt, dieſelben
Früchte
hervorzubringen.
Die Frucht enthält Nahrungsſtoffe.
Nun bilden wir uns im gewöhnlichen Leben ein, daß dieſe
Nahrungsſtoffe
von der Natur für den Menſchen geſchaffen
ſeien
.
Das aber iſt ein Irrtum. Der Nahrungsſtoff einer
Erbſe
, einer Bohne iſt von der Natur nur geſchaffen, um zur
erſten
Nahrung der künftigen Pflanze zu dienen, deren
968 die genannten Samen ſind. Ebenſo wie der Nährſtoff in den
unterirdiſchen
Knollen der Kartoffel (Fig.
1) und anderer
Pflanzen
, wie Fig.
2, dazu dient, den neu aus den Knoſpen
der
Knollen hervorwachſenden Pflanzen die erſte Nahrung zu
9[Figure 9]Fig. 2.
Stachys
tubifera.
bieten, ganz ſo, wie kein Kind geboren wird, ohne daß die
Natur
in den Brüſten der Mutter Milch als Nahrungsſtoff
für
die erſte Zeit vorbereitet, ganz ſo kommt keine Pflanze
zur
Welt, ohne daß die Natur ihr als Lebensunterhalt für
979 erſte Zeit ſeines künftigen, jungen Lebens Nahrung mitgiebt.
Ebenſo, wie die Natur die Milch der Kuh nicht für den
Menſchen
, ſondern für das Kälbchen geſchaffen hat, ebenſo
wie
wir uns eigentlich unberechtigt der Milch bemächtigen,
wenn
das Kälbchen nur ſo weit iſt, daß es ſich ſelber
Nahrung
ſuchen kann, ganz ebenſo kann man ſagen, daß wir
in
Früchten wie in jeder Kartoffel, die wir eſſen, in Samen
wie
Erbſen und Bohnen nicht etwas von der Natur für uns
Geſchaffenes
genießen, ſondern wir eignen uns etwas zu,
was
dem Keim gehört.
In dieſem Sinne darf man ſagen:
Eine
Frucht u.
ſ. w. iſt unter Umſtänden die Muttermilch für
den
Pflanzenkeim!
Man kann ſich durch Verſuche hiervon überzeugen.
Wenn man z. B. Gerſtenkörner in ein Glas ſchüttet und
mit
etwas Waſſer übergießt und an einen warmen Ort ſtellt,
ſo
wird man nach einiger Zeit bemerken, daß aus jedem Gerſten-
korn
ein Pflänzchen herauswächſt aus dem einen Ende und
ein
paar Fäden als Wurzeln aus dem andern Ende.
Es iſt
dies
, beiläufig geſagt, die Art, wie der Brauer aus Gerſte
Malz
macht.
Man ſieht alſo, es wächſt das Pflänzchen
anfangs
ohne Nahrung von außen her, und nur durch das
Erweichen
ſeiner Nahrung, des Gerſtenkornes, im Waſſer.
Nicht das Gerſtenkorn wird zu einem Halm, ſondern nur ein
kleiner
Keim, der darin ſteckt, wird ein ſolcher, und zwar ge-
ſchieht
dies durch eine Kraft, die in ihm ſteckt und in ihm
jahrelang
bleibt, wenn er trocken aufbewahrt wird.
Die Wärme
weckt
gewiſſermaßen dieſe ſchlummernde Kraft zur Thätigkeit
auf
, und wenn das Gerſtenkorn, dieſe Muttermilch des
Pflänzchens
, zugleich durch Waſſer erweicht wird, ſo iſt auch
der
Nahrungsſtoff für den Keim vorbereitet, und er beginnt
zur
Pflanze zu werden.
Erſt wenn dieſe Muttermilch aufgezehrt iſt, dann hat das
Pflänzchen
die Kraft, ſich durch Wurzeln die Nahrung
9810 dem Erdboden zu holen: findet es ſolche nicht, ſo ſtirbt es
auch
ab.
Wenn wir alſo auf das Leben der Pflanze eingehen, ſo
ſehen
wir, daß ſie vor allem Wärme und Waſſer braucht;
allein Wärme iſt kein Nahrungsſtoff, und Waſſer allein genügt
auch
nicht.
Die Wärme iſt nur die Erregung zum Leben
und
das Waſſer iſt vorerſt nur nötig, damit die Nahrung
erweicht
wird und eindringen kann in die junge Pflanze.

Freilich
könnte man ſagen:
dies iſt ja gar keine Chemie. Aber
wenn
man bedenkt, daß die Chemie eben die Wiſſenſchaft iſt,
die
da lehrt, aus einzelnen Stoffen ein neues, ganz anderes
Ding
zu machen, und wenn man hierbei erwägt, daß die Kraft
in
dieſem Pflänzchen aus einem Keim ein Hälmchen und
Wurzeln
macht, ſo wird man doch geſtehen müſſen, daß dies
Chemie
iſt;
wiewohl jeder Chemiker gern zugiebt, daß er ohne
Keim
nicht ein gleiches Kunſtſtück machen kann.
Wir wollen nunmehr die chemiſche Werkſtatt der Pflanze
etwas
näher betrachten.
III. Die chemiſche Werkſtatt der Pflanze.
In der Pflanze iſt ſo recht eine kleine, wunderbare
chemiſche
Fabrik;
aber das Wunderbarſte darin iſt, daß die
Fabrik
ſelber ein chemiſches Produkt iſt.
Die Pflanze erſchafft ſich ſelber immerfort auf chemiſchem
Wege
.
Wenn wir die unbekannte Kraft in der Pflanze uns
als
den eigentlichen, unſichtbaren Chemiker denken, ſo iſt die
Pflanze
freilich nur eine Art Wohnhaus dieſes wunderbaren
Chemikers
;
aber immerhin ſteht ſo viel feſt, daß alles, was
der
Chemiker zu Wege bringt, nichts iſt, als daß er aus
Stoffen
, die er von außerhalb der Pflanze hernimmt, die
Pflanze
macht.
Ganz ſo wie ein menſchlicher Chemiker
9911 Schwefel und Queckſilber Zinnober, ſchafft der geheime Chemiker
aus
gewiſſen Stoffen, die wir ſogleich nennen werden, eine
Pflanze
.
Das Dunkle und Wunderbare darin iſt nur, daß
dieſer
geheime Chemiker nicht wie der Menſch mit ſeinen
Händen
die Stoffe, die er braucht, herbeiholt und ſie durch
ſeine
Kunſt in den Zuſtand verſetzt, durch welchen ſie ſich ver-
binden
, ſondern dieſer geheime Chemiker bedient ſich eben der
Pflanze
, ſo weit ſie fertig iſt, um durch ſie die Stoffe von
draußen
her zu erhalten und damit die Pflanze noch weiter
auszubilden
.
Sehen wir indeſſen von dem Dunkeln und Unerklärten,
das
ſich hierin vor unſern Augen zeigt, ab, ſo ergiebt ſich
jedenfalls
folgendes:
Eine Pflanze iſt nichts anderes, als die organiſch oder
lebend
gewordenen toten Stoffe, die ſie zu ihrer Nahrung ver-
braucht
hat.
Wenn z. B. ein Chemiker findet, daß eine
Pflanze
aus Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff beſteht,
ſo
hat er das Recht zu ſagen:
dieſe Pflanze iſt nichts als
Sauerſtoff
, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff in einer belebten
chemiſchen
Verbindung.
Es iſt vollkommen richtig, wenn man
behauptet
, dieſe toten Stoffe bilden in einer gewiſſen Ver-
bindung
ein lebendiges Ding, das jetzt als Pflanze vor uns
ſteht
.
Da aber dieſe urſprünglich toten Stoffe die Nahrung
der
Pflanze waren, ſo iſt die Pflanze nichts, als ihre eigne
lebendig
gewordene Nahrung.
Eigentümlich aber iſt, daß die Stoffe, die zur Nahrung
der
Pflanze dienen und Pflanze werden ſollen, gewiſſermaßen
hierzu
chemiſch vorbereitet ſein müſſen, und es nicht genügt,
dieſe
Stoffe geſondert einer Pflanze darzubieten.
Geſetzt, man
wollte
eine Pflanze, die Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff und
Stickſtoff
zur Nahrung braucht, in eine Flaſche hineinlegen, wo
dieſe
Stoffe einzeln hineingebracht worden ſind, ſo würde ſie darin
nicht
leben.
Die Stoffe, wenn ſie einzeln da ſind, können
10012 zur Speiſe der Pflanze dienen; ſie müſſen ſich vielmehr unter
einander
chemiſch verbinden, und erſt, wenn die Stoffe chemiſch
verbunden
ſind, erſt dann ſind ſie zurecht gemacht, um der
Pflanze
als Nahrung zu dienen.
Schon außerhalb der Pflanze müſſen ſich Sauerſtoff und
Waſſerſtoff
chemiſch verbunden und Waſſer gebildet haben;
dann erſt dienen ſie, oder richtiger das Waſſer, zur Erhaltung
der
Pflanze.
Schon außerhalb der Pflanze müſſen ſich Kohlen-
ſtoff
und Sauerſtoff chemiſch verbunden und Kohlenſäure ge-
bildet
haben, damit dieſe eine Nahrung der Pflanze werde.

Schon
außerhalb der Pflanze müſſen ſich Waſſerſtoff und Stick-
ſtoff
chemiſch verbunden und etwa Ammoniak gebildet haben,
um
ein Speiſeſtoff der Pflanze zu werden.
Und in gleicher
Weiſe
verhält es ſich mit den anderen Stoffen, die in der
Pflanze
vorkommen, wie Kalium, Natrium, Calcium, Phosphor
u
.
ſ. w. ; auch dieſe müſſen bereits beſtimmte Verbindungen
eingegangen
ſein, wenn ſie den Pflanzen zur Nahrung dienen
ſollen
.
Wir entnehmen hieraus, daß die Beſtandteile der Pflanzen
freilich
nur Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff, Stickſtoff und
einige
andere Stoffe ſind;
aber wir ſehen zugleich, daß die
eigentliche
Nahrung der Pflanzen chemiſche Verbindungen dieſer
Stoffe
ſind und daß dieſe Nahrung u.
a. in folgenden Dingen be-
ſteht
:
in Waſſer, in Kohlenſäure, in Ammoniak und in Salzen.
Für die Landwirtſchaft alſo iſt es vor allem von der
größten
Wichtigkeit, zu wiſſen, daß dieſe Nahrungsmittel reich-
lich
vorhanden ſein müſſen in einem Boden, worin Pflanzen
gedeihen
ſollen.
Fehlt eines dieſer Nahrungsmittel, ſo ſtirbt
die
kräftigſte Pflanze ab, die Erhaltung derſelben iſt eben nur
dann
möglich, wenn man künſtlich dem Boden dieſe Stoffe
zuführt
.
Wir wollen nunmehr die Art und Weiſe deutlicher machen,
wie
die Pflanze ihre Speiſe zu ſich nimmt und welche
10113 mittel die landwirtſchaftliche Chemie an die Hand giebt, die
Speiſung
der Pflanzen zu erleichtern und ſo ihr Wachstum
und
Gedeihen zu fördern.
IV. Die Nahrung der Pflanze.
Eine jede Pflanze muß Nahrung zu ſich nehmen, ſie muß
alſo
Speiſe-Werkzeuge beſitzen, durch welche ſie, wie Tier und
Menſch
durch den Mund, die Nahrung aufnehmen kann.
Allein
die
Pflanzen haben keinen Mund, ſondern ſie haben Wurzeln,
die
die im Waſſer gelöſten Nährbeſtandteile des Erdbodens
durch
Endosmoſe (vergl.
6. Teil S. 69) aufnehmen, und Luft
einnehmende
Blätter.
Schon der Umſtand, daß die Pflanze Stoffe, die ſie braucht,
durch
die Wurzeln aufnehmen muß, iſt hinreichend, um be-
greiflich
zu machen, daß ſie keine harten Speiſen, wie Menſch
und
Tier, zu ſich nehmen kann, ſondern der flüſſigen Speiſen
bedarf
, um ſie zu genießen.
Nun wiſſen wir, daß der reine Kohlenſtoff nicht flüſſig
iſt
und nicht flüſſig gemacht werden kann.
Jede Pflanze aber
hat
viel Kohlenſtoff in ſich, wie wir ja alle unſere Kohlen
nur
aus den Pflanzen gewinnen.
Es kann alſo ſchon darum
die
Pflanze den bloßen Kohlenſtoff nicht in ſich aufnehmen,
ſondern
es muß ſich erſt außer ihr Kohlenſäure bilden, eine
Luftart
, die aus Kohlenſtoff und Sauerſtoff beſteht.
Dieſe
Luftart
nimmt die Pflanze durch die Blätter auf.
Mit den bloßen Augen können wir zwar nicht ſehen, wie
es
möglich iſt, daß die Blätter imſtande ſind, Kohlenſäure
einzuſaugen
;
aber durch ſtarke Vergrößerungsgläſer, durch
Mikroſkope
, ſieht man ganz deutlich, daß ein Blatt nicht eine
feſte
Maſſe iſt, ſondern ein Gewebe einzelner Zellen (Fig.
3) in
welchen
ſich Säfte befinden.
Dieſer Zellenſaft iſt nicht
10214 ſondern meiſt hell und farblos wie Waſſer, nur in einzelnen Zellen
befinden
ſich Körperchen von grüner Farbe, die man Blatt-
grün
nennt, und die ihre Farbe der Einwirkung des Lichts
verdanken
.
Dieſe Blattgrünkörper ſind ſo klein, und ſtehen ſo
dicht
bei einander, daß wir, wenn wir ein Blatt mit bloßen
Augen
anſehen, meinen, es ſei im Ganzen grün.
Durch das
10[Figure 10]Fig. 3.
Sehr
ſtark vergrößerter Querſchnitt durch ein kleines Stückchen eines Buchen-
blattes
. E = Ober- und Unterhaut mit Spaltöffnung St. L = Nahrung
leitender
Strang (Leitbündel). P u. Schw = Gewebe mit grünen Körnern.
E. P. Schw. E St. L.
Mikroſkop aber geſehen, nimmt man die einzelnen Chlorophyll-
körper
deutlich wahr, ebenſo wie Spaltöffnungen, die ſo aus-
ſehen
, wie ein zum Atmen etwas geöffneter Menſchenmund
und
die ſich in Maſſen zum Durchlaſſen der Luft, insbeſondere
der
Kohlenſäure derſelben, auf den Unterſeiten der Blätter
befinden
.
(Fig. 4).
Wie wir bereits mehrfach erwähnt haben, enthält die
1031511[Figure 11]Fig. 4. 1 = ein pflanzliches Hautgewebe mit 3 Spaltöffunngen. 2 = Eine
einzelne
Spaltöffnung noch ſtärker vergrößert. 3 = Dieſelbe Spaltöffnung im
Querſchnitt
.
1) 2) 3)
10416 in welcher Menſchen und Tiere leben, oder wo Tier- und
Pflanzenſtoffe
in Verweſung übergehen oder verbrannt werden,
viel
Kohlenſäure.
Dieſe Kohlenſäure ſchwimmt in der Luft
umher
, ohne ſich mit ihr chemiſch zu verbinden.
Man kann
dieſe
Kohlenſäure auch einfangen.
Man braucht nur ein
wenig
klares Kalkwaſſer in ein Glas zu gießen und es an
der
Luft ſtehen zu laſſen, ſo wird man ſchon finden, daß ſich
oben
auf der Flüſſigkeit eine weißliche Decke bildet, die ſpäter
zu
Boden fällt.
Dieſe Decke entſteht, indem der Kalk, der im
Waſſer
aufgelöſt iſt, die Kohlenſäure aus der Luft anzieht
und
eine Schicht von kohlenſaurer Kalkerde, alſo von Kreide
bildet
, die dann als ſchwer löslich im Waſſer zu Boden ſinkt.
Man könnte ſich nun das Aufnehmen der Kohlenſäure
durch
die Spaltöffnungen der Blätter ebenſo denken, und zwar
müßte
man vorausſetzen, daß die Blätter an dieſe Öffnung
immer
einen friſchen Saft hinſenden, der Neigung hat, ſich mit
Kohlenſäure
zu verbinden;
allein ganz ſo iſt es nicht, weil es
eine
Thatſache iſt, daß die Aufnahme von Kohlenſäure und
das
Aushauchen von Sauerſtoff nur beim Tageslicht, im
Dunkeln
dagegen, alſo des Nachts, das umgekehrte Verhältnis
ſtattfindet
.
Wie dem aber auch ſein mag, ſo ſteht ſo viel feſt, daß
die
Pflanzen Kohlenſäure einnehmen und Sauerſtoff ausgeben,
und
hieraus folgt, daß in der Pflanze eine Portion Kohlenſtoff
zurückbleibt
, die zum Leben der Pflanze beſtimmt iſt.
Dies iſt die Ernährung der Pflanze durch die Blätter,
und
dieſe iſt ſo wichtig, daß ein Baum, der viele ſeiner Blätter
verliert
, einen bedeutenden Verluſt an Lebenskraft erleidet.
Obgleich nun die Luft aus einem Gemenge von Stickſtoff
und
Sauerſtoff beſteht und die Pflanze auch dieſe Stoffe zu
ihrem
Unterhalte braucht, nimmt ſie doch dieſelben nicht durch
die
Blätter ein.
Vielleicht hauptſächlich darum nicht, weil
in
der Luft der Sauerſtoff und der Stickſtoff nicht
10517 verbunden, ſondern nur durcheinander gemengt ſind. Um zu
dieſen
Stoffen und zu dem Waſſer zu gelangen, ohne welches
Leben
unmöglich iſt, benutzt die Pflanze die Wurzeln.
V. Die Speiſung der Pflanze durch die Wurzel.
Das Eindringen der mineraliſchen und ſtickſtoffhaltigen
Pflanzennahrung
in die Pflanze geſchieht, wie bereits erwähnt,
hauptſächlich
durch die Wurzel, und zwar findet ſowohl Waſſer,
wie
die Stickſtoffnahrung und die Salze, durch die in der Erde
liegende
Wurzel den Weg zum Innern der Pflanze.
Man macht ſich im gewöhnlichen Leben die Vorſtellung,
daß
eine Wurzel das Waſſer ſo auſſauge, wie etwa ein Stück
Löſchpapier
, das man mit einem Ende in Waſſer taucht, wo
man
ſofort bemerkt, daß das Waſſer ſich weiter in das Papier
hineinzieht
.
Man denkt ſich gemeinhin, daß das Waſſer von
der
Wurzel aus in die Pflanze hineinſteigt, ebenſo, wie wenn
man
ein Stück weißen Zucker mit einer Ecke in den Kaffee
taucht
und ſofort wahrnimmt, daß die Flüſſigkeit in den Zucker
hinaufläuft
.
Dieſe Vorſtellung iſt ganz falſch. Es iſt zwar nicht lange
her
, daß ſelbſt die Gelehrten ſolche Vorſtellung von der Ver-
breitung
der Flüſſigkeiten in den Pflanzen hatten;
die neuere
Wiſſenſchaft
indeſſen iſt durch genauere Unterſuchungen zu der
Überzeugung
gekommen, daß die Verbreitung der Flüſſigkeiten
im
Pflanzenkörper auf ganz anderem Wege vor ſich geht.
Die Pflanzenkörper beſtehen ja (Fig. 3) aus dicht aneinander
gedrängten
, ganz kleinen Zellen, die im lebenden Zuſtande mit
Flüſſigkeit
erfüllt ſind.
Die Wände der Zellen beſitzen die
Eigenſchaft
, die Flüſſigkeit durch eine Art Ausſchwitzung von
ſich
zu geben und dafür durch Einſchwitzung eine Flüſſigkeit
aufzunehmen
;
und dieſes Aus- und Einſchwitzen geſchieht
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
10618
hauptſächlich zwiſchen zwei Zellen, ſobald die Flüſſigkeiten in
beiden
verſchiedenartig ſind.
Denkt man ſich, daß in einer
Zelle
eine Flüſſigkeit eingeſchloſſen iſt, die anders beſchaffen
als
die Flüſſigkeit ihrer Nachbarzelle, ſo findet der Austauſch
ſo
lange ſtatt, bis beide Flüſſigkeiten vollkommen zu gleicher
Miſchung
geworden ſind, wie wir das genauer im 5.
Teil
S
.
66 u. folgende kennen gelernt haben.
Man kann intereſſante, leicht auszuführende Verſuche an-
ſtellen
über dieſe Erſcheinung, die wir bereits als Diffuſion
kennen
gelernt haben, und wir werden bei einer anderen Ge-
legenheit
hiervon noch weiter Mitteilung machen.
Für jetzt
müſſen
wir uns begnügen darzuthun, daß das Waſſer, das in
die
Wurzel einer Pflanze dringt, ſich nicht wie etwa in einem
Docht
hinaufzieht in die Pflanze, ſondern daß dieſes Waſſer
zunächſt
eine Veränderung der Flüſſigkeiten in den Zellen der
Wurzel
hervorbringt.
Dieſe Veränderung veranlaßt die nächſte
Zelle
, ihre Flüſſigkeit mit der veränderten auszutauſchen, und
ſo
geht die Austauſchung von Zelle zu Zelle fort durch die
ganze
Pflanze, bis die Wirkung des Waſſers, das in die
Wurzel
eingetreten iſt, hinaufgelangt bis zum feinſten Blättchen
an
der Spitze der Pflanze.
In dieſer Weiſe findet in einer Pflanze ein fortwährender
Säfteaustauſch
ſtatt, und jeder Pflanzenteil erhält ſtatt ſeiner
bereits
verbrauchten Flüſſigkeit ſtets neue, ſobald nur die
Wurzel
neues Waſſer aufnimmt.
Da nun Waſſer aus Sauer-
ſtoff
und Waſſerſtoff beſteht, ſo gelangen in dieſer Weiſe dieſe
Stoffe
in die Pflanze, aus welchen die Pflanze ſelber ſich zum
Teil
aufbaut.
Viele und zwar die meiſten unſerer genießbaren Pflanzen
enthalten
aber auch noch eine Portion Stickſtoff, und obwohl
wir
wiſſen, daß die Blätter der Pflanzen Öffnungen haben,
durch
welche ſie Kohlenſäure aus der Luft zu ſich nehmen,
und
obwohl die Luft zum allergrößten Teil aus
10719 beſteht, ſo nimmt doch die Pflanze ihren Stickſtoff nicht aus
der
Luft auf, ſondern ſie bezieht ihn ebenfalls durch die
Wurzel
und zwar aus chemiſchen Verbindungen, die Stickſtoff
enthalten
.
Der Dünger, der zum großen Teil aus verweſenden
Stoffen
beſteht, entwickelt nun im Boden, mit dem er vermiſcht
worden
iſt, Stickſtoffverbindungen, welche die Pflanze aufzu-
nehmen
fähig iſt;
das Regenwaſſer nimmt dieſe Verbindungen in
ſich
auf, und die Wurzeln, die das Waſſer aufnehmen, bringen
auf
dieſem Wege den nötigen Stickſtoff in die Pflanze.
VI. Womit und wie man die Pflanzen füttern muß.
Nachdem wir nun geſehen haben, wie die Nährſtoffe in die
Pflanzen
hineingelangen, haben wir noch einige andere Stoffe zu
betrachten
, die gleichfalls Beſtandteile der Pflanzen ſind, und
dann
werden wir ſofort auf die eigentlichen Grundſätze der
landwirtſchaftlichen
Chemie in aller Kürze kommen können.
Jedermann weiß, daß, wenn man Holz, Stroh oder andere
Pflanzenſtoffe
verbrennt, eine Portion Aſche unverbrennlich
zurückbleibt
.
Wo kommt dieſe Aſche her? und woraus beſteht
dieſe
Aſche?
Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Kohlenſtoff und Stickſtoff geben
keine
Aſche.
Dieſe Hauptſtoffe der Pflanze gehen bei der
Verbrennung
im weſentlichen davon, ſie werden alle luftförmig
und
laſſen keinen Rückſtand übrig.
Die Aſche rührt von
anderen
Stoffen her, die jede Pflanze in ſich haben muß, es
ſind
dies mineraliſche Beſtandteile des Erdbodens.
Die hauptſächlichſten Stoffe, die die unverbrennliche Aſche
bilden
, ſind:
die metalliſchen Stoffe Kalium, Natrium, Kalk,
Magneſia
und Eiſenoxyd, und hierzu kommen noch Phosphor-
ſäure
, Schwefelſäure, Salzſäure, Kohlenſäure und
10820 die mit den erſtgenannten Metallſtoffen chemiſche Verbindungen
eingegangen
ſind.
Will man nun wiſſen, welch ein Boden für eine beſtimmte
Pflanze
tauglich iſt, ſo muß man nicht nur die Hauptſtoffe
dieſer
Pflanze, ſondern auch deren Aſche unterſuchen und ſehen,
welcher
Art dieſe Aſche iſt.
Die Aſche von Weizen iſt durch-
aus
verſchieden von Kartoffelaſche, die Aſche des Buchenholzes
iſt
anders als die vom Kienholze.
Jede Art Pflanze hat eine
andere
Art Aſche, die von anderen Stoffen herrührt, und des-
halb
hat die landwirtſchaftliche Chemie große Sorgfalt auf die
Unterſuchung
der Aſchen landwirtſchaftlich wichtiger Pflanzen
verwendet
, und ausführliche Angaben ſowohl über die Stoffe,
wie
über die Menge und Miſchung derſelben gemacht.
Dieſe Beſtandteile, deren Stoffe wir eben angegeben haben,
ſind
wirkliche Beſtandteile der Pflanzen und nicht dieſen zu-
fällig
beigemiſcht.
Die genaueſten Verſuche haben gezeigt, daß
man
nicht imſtande iſt, eine Pflanze auf einem Boden zu
ziehen
, der wohl Stoffe hat, aus welchen ſpäter Aſche wird,
dem
aber grade die Stoffe fehlen, welche in der Aſche dieſer
beſonderen
Pflanze enthalten ſind.
Und deshalb wird der
Boden
des Ackerlandes von dem wiſſenſchaftlich gebildeten
Landwirte
ſtets chemiſch unterſucht, damit er erfahre, welche
Saat
er dieſem beſtimmten Boden anvertrauen kann.
Wir können hier nicht die Art, wie man den Boden
chemiſch
unterſucht, angeben.
Wir wollen nur ſoviel ſagen,
daß
es jetzt ausreicht, ein Glas voll Erde aus einem Acker-
land
zu einem tüchtigen Chemiker zu bringen, um von ihm zu
erfahren
, welche Pflanze hier gedeihen wird, oder welchen
Stoff
man künſtlich hineinbringen muß in den Boden, um eine
gewiſſe
Pflanze mit Erfolg darauf ziehen zu können.
Als
Hauptgrundgeſetz
aber ſteht das Eine feſt, daß Aſchebeſtandteile
nur
durch die Wurzel in die Pflanze gelangen, und da die
Wurzel
nur Waſſer aufnimmt, ſo müſſen alle die Stoffe,
10921 wir eben als die Aſche gebenden angeführt haben, in ſolcher
Verbindung
in der Erde vorhanden ſein, daß ſie ſich in der
von
der Wurzel ausgeſchiedenen Säure auflöſen können.
Nach dieſen allgemeinen Grundzügen der landwirtſchaft-
lichen
Chemie können wir unſern aufmerkſamen Leſern manche
Erſcheinung
in der Landwirtſchaft erklären, die ſonſt ſelbſt
den
Landwirten, die ſie täglich vor ſich ſehen, ein Rätſel war,
und
manche von den Arbeiten des Landmannes verſtändlich
machen
, die der Bauer verrichtet, ohne den Nutzen noch den
Zweck
derſelben ſich deutlich zu machen.
Vor allem pflügt der Landmann den Boden, d. h. er lockert
ihn
auf und für die Lockerung des Bodens hat auch der Dung
beſondere
Bedeutung;
ferner wirft er die Schollen um, damit
das
, was früher auf dem Boden war, jetzt unter denſelben
kommt
, und was unten, jetzt obenauf liege.
Zu welchem
Zweck
geſchieht dies?
Es geſchieht, damit der Regen und die
Luft
tiefer in den Boden eindringe, als es im feſten Boden
möglich
iſt, damit die Pflanzennährſtoffe des Bodens Gelegen-
heit
haben ſich zu zerſetzen und aufnahmefähig zu werden.
VII. Die Düngung des Feldes.
Die wichtigſte Aufgabe der landwirtſchaftlichen Chemie
beſteht
in der genauen Unterſuchung des Düngers, in der
Erforſchung
ſeiner Beſtandteile und in der fortſchreitenden
Kenntnis
von der Wirkſamkeit jedes Teiles des Düngers.
Der Unkundige wird es kaum glauben, wenn wir ver-
ſichern
, daß die weltberühmteſten Chemiker unſerer Zeit gerade
hierauf
ihr Augenmerk gerichtet und in der Unterſuchung ſolcher
Stoffe
, die gewöhnlich Ekel erregend ſind, unermüdliche Tätig-
keit
entwickelt haben.
11022
Der natürliche Dünger beſteht aus faulenden Pflanzen
und
in Fäulnis übergegangenen Tierſtoffen.
Die abgefallenen
Blätter
der Bäume, das Kraut vieler Pflanzen und die in der
Erde
liegenden Wurzeln beſtehen aus denſelben Stoffen, aus
denen
die Natur neue Pflanzen ſchaffen kann;
aber ſie müſſen,
wie
wir bereits wiſſen, zu dieſem Zwecke in Waſſer auflöslich ſein,
und
damit ſie das werden, müſſen ſie in Fäulnis übergegangen
ſein
und ſich zu einer ſchwarzen Maſſe verwandelt haben, die
man
Humus nennt.
Es wird ſchon jedermann beobachtet
haben
, wie ein Blatt im Herbſt, wenn es abgefallen iſt, an-
fängt
braun zu werden, endlich ſchwarz wird und dann zerfällt.
Ganz in derſelben Weiſe geſchieht es mit Pflanzenreſten, und
dieſe
Fäulnis, dieſes Rückkehren zu den Urſtoffen iſt die Quelle
eines
neuen Pflanzenlebens, denn die neue Saat wird von
jenen
Stoffen der alten Pflanzen geſpeiſt.
Aber eine Pflanzenſpeiſe iſt es, die dem Humus haupt-
ſächlich
fehlt, und dieſe iſt darum für uns von großer Wichtig-
keit
, weil dieſer Stoff dem tieriſchen Leib ganz unumgänglich
nötig
iſt.
Und dieſer Stoff iſt der Stickſtoff.
Wir haben es bereits erwähnt, daß der größte Teil der
Pflanze
nur aus den drei Stoffen, Sauerſtoff, Waſſerſtoff
und
Kohlenſtoff beſteht;
dahingegen iſt in Tieren und Menſchen
auch
der Stickſtoff ein Hauptbeſtandteil, und deshalb haben
diejenigen
Pflanzen, die viel Stickſtoff enthalten, die größte
Wichtigkeit
für Tiere und Menſchen.
Weshalb ſättigen Obſt- und Gemüſearten den Menſchen
ſo
wenig, und warum muß er zu ſeiner Hauptnahrung gerade
Getreide
und Hülſenfrüchte haben?
Es rührt dies daher,
daß
in Obſt- und Gemüſearten der Stickſtoff faſt ganz fehlt,
im
Getreide und in Hülſenfrüchten aber der Stickſtoff in
reicherem
Maße vorhanden iſt.
Da aber das Fleiſch unſeres
Leibes
ſtickſtoffhaltig iſt, ſo müſſen wir, um dasſelbe ſtets neu
zu
bilden, auch ſtickſtoffhaltige Stoffe genießen.
Und
11123 rührt die Wichtigkeit der ſtickſtoffreichen Pflanzen, deren Er-
ziehung
eigentlich die Hauptaufgabe der Landwirtſchaft iſt.
Soll aber eine ſtickſtoffreiche Pflanze, ſoll Getreide oder
Hülſenfrucht
gedeihen, ſo muß ſie im Boden Stickſtoff vorfinden,
und
dieſer iſt im Humus, in den verfaulten Pflanzenreſten
nicht
oder nur in geringem Maße vorhanden;
er muß vielmehr
dem
Boden zugebracht werden, und zwar durch in Fäulnis
übergegangene
Tierſtoffe.
Und das iſt es, was den ſonſt Ekel
erregenden
Abgängen von Tieren und Menſchen den hohen
Wert
für die Landwirtſchaft verleiht, ſo daß das, was wir
nicht
ſchnell genug aus den Häuſern und Städten entfernen
können
, von den Landwirten als koſtbarer Stoff auf die Felder
gebracht
wird.
Der Stickſtoff iſt in dem Dünger aus Tierabgängen in
jener
Form vorhanden, die für die Pflanzen aufnahmefähig iſt,
nämlich
u.
a. in der Verbindung mit Waſſerſtoff, als Ammo-
niak
.
Die Stickſtoff-Verbindungen gelangen durch die Wurzel
in
die Pflanze, und hierdurch bietet der Tier- und Menſchen-
dünger
in leichter Weiſe der Pflanze eine Speiſe dar, die ſonſt
in
der Natur zwar ſehr reichlich vorhanden iſt, aber nicht in
der
Form, in welcher ſie im Waſſer ſich auflöſen kann.
Und hier gerade iſt es, wo die wiſſenſchaftliche Landwirt-
ſchaft
ganz außerordentliche Erfolge erzielt hat.
Seit unend-
lichen
Zeiten hat man das Feld gedüngt, aber ſo lange man
nicht
wußte, was denn im Dünger ſo wohlthätig wirkt, hat
man
den Dünger nicht durch ein anderes Mittel erſetzen können.
Die Landwirte waren genötigt, ſtets einen großen Viehſtand zu
halten
, damit ſie Dünger für ihre Felder haben, und die Frucht
ihrer
Felder mußte wiederum großenteils dazu dienen, den
Viehſtand
zu erhalten.
Seitdem man aber weiß, daß es
nur
hauptſächlich die Stickſtoff-Verbindungen ſind, die auf die
Felder
ſo wohlthätig einwirken, hat man angefangen, andere
Düngmittel
zu ſuchen, die reich z.
B. an Ammoniak ſind,
11224 daß ſie mit ſo viel Unbequemlichkeiten verbunden ſind, wie die
Pflege
und Verarbeitung des Düngers.
Die gemahlenen Knochen, das Rapsmehl und der Guano
ſind
jetzt die Düngmittel in wiſſenſchaftlich betriebenen Land-
wirtſchaften
.
Dadurch wird nach dem Zeugnis der gebildetſten
Sachkenner
ſtets ein ſteigender Ertrag in der Ernte erzielt, der
bei
dem gewöhnlichen Dünger nicht möglich geweſen wäre.
VIII. Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung des
Düngers.
Aber nicht nur einen Erſatz des gewöhnlichen Düngers
wußte
die landwirtſchaftliche Chemie ausfindig zu machen,
ſondern
ſie hat auch eine wiſſenſchaftliche Behandlung des bis-
herigen
Düngers gelehrt, wodurch die Einnahme des Land-
mannes
ſich erhöht, der Speiſeſtoff billiger und die Geſundheit
der
Menſchen weſentlich verbeſſert wird.
Es iſt nämlich eine Eigenſchaft des natürlichen Düngers,
daß
er erſt dann wirkſam auf die Pflanze iſt, wenn er in
Fäulnis
übergegangen iſt.
Dadurch entſteht dann der wider-
wärtige
Geruch, der die Luft verpeſtet;
denn die ſich entwickeln-
den
Gaſe verfliegen in der Luft.
Hierdurch aber entſteht nicht
nur
oft Erkranken von Tieren und Menſchen, beſonders in
warmer
, trockener Jahreszeit, ſondern der Dünger verliert
dabei
ſeine eigentliche Nährkraft für die Pflanzen, da gerade
die
die Gaſe zuſammenſetzenden Grundſtoffe als Nährſtoffe für
die
Pflanzen ſehr wichtig ſind, und er liefert daher, auf das
Feld
gebracht, eine nur ſpärliche Ernte.
Die Bauern haben das unſchickliche Sprichwort: was
ſtinkt
, das düngt! und freuen ſich, wenn der Dünger einen
recht
ſtechenden Geruch hat, aber ſie wiſſen nicht, daß
11325 üble Sprichwort ihnen auch viel Übel verurſacht und großen
Schaden
zufügt.
Es iſt ganz richtig, daß gerade dieſelben Stoffe,
die
ſo eindringlich widerlich im Geruch ſind, das wirkliche
Düngmittel
ſind;
aber gerade das, was ſchon gerochen wird,
das
iſt in die Luft verflogen und düngt nicht mehr.
Der
übelriechende
Dünger verliert mit jedem Augenblick ſeinen
Wert
, ſein Ammoniak, Schwefelwaſſerſtoff u.
ſ. w. verfliegt,
und
es bleiben nur die Reſte übrig, die wohl Aſche, aber nicht
mehr
die wichtigſten Nahrungsſtoffe den Pflanzen darbieten.
Die landwirtſchaftliche Chemie hat nun ein einfaches
Mittel
, dieſen Übeln abzuhelfen, und es wird dasſelbe auch
von
gebildeten Landwirten angewandt, ſodaß der Dünger dort
nicht
riecht, aber dafür vortrefflich düngt.
Der gebildete Land-
wirt
begießt den Dünger mit Schwefelſäure;
dadurch bildet
ſich
z.
B. mit dem Ammoniak das geruchloſe ſchwefelſaure
Ammoniak
, das als ein chemiſches Salz auch in unſeren Apo-
theken
zu haben iſt.
Dieſes Salz löſt ſich mit Leichtigkeit im
Waſſer
auf und liefert den Pflanzen nicht nur eine reichliche
Ammoniakſpeiſe
, ſondern auch Schwefel, der ebenfalls ein
Beſtandteil
der nährenden Fruchtarten iſt, und hierbei beſteht
außerdem
noch der Vorteil, daß durch die Löſung noch andere
Stoffe
des Düngers oder des Bodens, die ſonſt unlöslich
bleiben
, jetzt ſich leichter im Regenwaſſer auflöſen.
Es iſt eine wiſſenſchaftlich ganz ausgemachte Thatſache
und
ſie wird von der Landwirtſchaft beſtätigt, daß durch Auf-
wand
von einem einzigen Groſchen für Schwefelſäure der
Dünger
um fünf Groſchen mehr wert wird, als wenn man
ihn
ohne Schwefelſäure läßt.
Man ſollte kaum glauben, daß ſolch eine leichte Lehre,
geſtützt
auf gute und gründliche Erfahrungen, ſo ſchwer Ein-
gang
bei den Bauern finden könne, und doch iſt es der Fall.
Althergebrachte Gewohnheit iſt beim Bauern, freilich ebenſo
bei
jedem anderen Menſchen, ſehr ſchwer zu bekämpfen.
11426
Aber nicht das allein haben wir zu beklagen, ſondern
auch
, daß in den Städten der Sinn für wiſſenſchaftliche Chemie
noch
ſehr unausgebildet iſt, und gerade in Bezug auf den
Dünger
ſehen wir ſelbſt gebildete Hauswirte ein Mittel der
Chemie
verſchmähen, das ihr Haus vor verpeſtendem Geruch
bewahren
und den Werth ihrer Miſtgruben erhöhen kann.
Das Eiſenvitriol, eine Verbindung von Eiſenoxydul und
Schwefelſäure
iſt ein vortreffliches Mittel, den Geruch der
Abtritte
vollkommen zu vernichten.
Während die Schwefel-
ſäure
nur das Ammoniak geruchlos macht, wird durch das
Eiſenvitriol
auch der weit ekelhaftere Geruch des Schwefel-
waſſerſtoffs
, der nach faulen Eiern riecht, vernichtet.
Hierdurch
aber
entſteht eine weſentliche Verbeſſerung des häuslichen Düngers,
und
die Hauswirte würden, wenn ſie nur die Probe machen
wollten
, ſchon die Bauern zur Überzeugung bringen, daß der
nichtriechende
Dünger der beſſere iſt, weil er ſeine eigentliche
Nährkraft
nicht in die Luft ſendet, ſondern der Pflanze ab-
giebt
.
Die Erfahrungen haben gelehrt, daß durch ſolche
vernünftige
Behandlung des Düngers ein Getreideland nahe
um
ein Drittel mehr Frucht bringt und Grasland ſogar eine
fünfmal
beſſere Ernte liefert, als bei gewöhnlichem Dünger.
Die allgemeine Belehrung des Landvolkes iſt daher von
der
größten Wichtigkeit und dieſe Belehrung, die wir hier
freilich
nur in aller Kürze ausführen konnten, iſt eben nur
durch
die Verbreitung chemiſcher Kenntniſſe möglich.
IX. Die Entdeckung neuer Stoffe.
Nachdem wir unſern Leſern in das Weſen der neuern
landwirtſchaftlichen
Chemie einen Einblick verſchafft haben,
werden
ſie ſicherlich den Nutzen der Pflege der organiſchen
Chemie
nicht mehr bezweifeln, und wir wollen jetzt die
11527 anderen Hauptaufgaben der Chemie kennen lernen, um auch
deren
Bedeutung einmal zur allgemeinen Kenntnis zu bringen.
Wir haben bereits erwähnt, daß es die zweite Hauptauf-
gabe
der organiſchen Chemie iſt, aus den Pflanzen- und Tier-
ſtoffen
, die außerordentlich mannigfaltig ſind, neue chemiſche
Stoffe
zu entdecken;
neue Stoffe, die durch die Kunſt und die
Wiſſenſchaft
für die Menſchheit nutzbar gemacht werden können.
Es iſt rein unmöglich, die Zahl der neuen Stoffe, die
bereits
entdeckt ſind, auch nur entfernt anzugeben.
Wollte man
auch
nur die Namen all der Stoffe und ihrer Verbindungen
anführen
, die ſeit den letzten Jahren entdeckt worden ſind, ſo
würden
ſie ſchon in die Tauſende hineingehen.
Ein Chemiker,
der
ein Jahrzehnt nicht auf den Fortſchritt dieſer Wiſſenſchaft,
geblickt
hat, würde erſchrecken vor all dem großen Material,
das
er plötzlich vorfände und nun zu ſtudieren hätte.
Als eines von vielen, unzähligen Beiſpielen wollen wir
Folgendes
anführen.
Jeder unſerer Leſer kennt den Stein-
kohlenteer
, der bei der Darſtellung des Leuchtgaſes aus Stein-
kohlen
gewonnen wird.
Aus dieſem Teer kann man ein Öl
ziehen
, wonach ein Stoff übrig bleibt, den man künſtlichen
Asphalt
nennt, und der zum Straßenpflaſter dient.
Aus dieſem
Teer
ſind aber noch ganz andere Stoffe gewonnen worden,
die
teilweiſe ſelbſt dem Namen nach den Leſern unbekannt
ſein
werden.
Man gewinnt aus ihm Kyanol, Pyrrol, Leukol,
Karbolſäure
, Brunolſäure, Naphtalin und noch mehrere andere
Stoffe
.
Von dieſen Stoffen iſt das Naphtalin ein kampfer-
ähnlicher
Körper, der wieder der Stammvater einer großen
Maſſe
neuer Stoffe iſt.
Durch Einwirkung von Salpeterſäure
gewinnt
man aus dem Naphtalin eine große Reihe neuer
Stoffe
, die in ihrer Wirkung und Natur ſehr verſchieden ſind.
In Verbindung mit Chlor macht das Naphtalin nochmals
die
Reihe der Verwandlungen zu einem Dutzend neuer Stoffe
durch
, und jedem dieſer Stoffe ſteht noch das Schickſal
11628 ein Stammſtoff für viele Dutzend anderer neuer Verbindungen
zu
werden.
Ähnlich verhalten ſich die andern aus dem Teer dar-
geſtellten
Stoffe.
Durch Behandlung mit anderen Subſtanzen
erhält
man aus jedem der obengenannten Körper eine ganze
Reihe
neuer Verbindungen.
So gewinnt man aus dem Kyanol,
das
gegenwärtig unter dem Namen Anilin der Stammhalter
einer
großen Gruppe wichtiger Stoffe geworden, eine große
Reihe
der herrlichſten Farbſtoffe, ſo z.
B. das Roſanilin,
Chryſanilin
, Violanilin, Fuchſin u.
ſ. w.
Gerade die Stoffe, welche aus dem unſcheinbaren Stein-
kohlenteer
dargeſtellt werden, haben eine Bedeutung gewonnen,
daß
ſie nicht nur in großen Fabriken dargeſtellt werden, ſon-
dern
überhaupt einen großen Teil unſerer Geſamtinduſtrie
ausmachen
.
Nachdem nämlich die Chemiker Hofmann und Perkin
in
den Jahren 1857 und 1858 durch chemiſche Behandlung
des
Anilin aus demſelben einen ſchönen, roten Farbſtoff, den
Anilinpurpur
, dargeſtellt hatten, bemächtigte ſich die Induſtrie
bald
dieſer neuen Entdeckung und fand die Mittel, dieſen Farb-
ſtoff
zum Färben von Seide, Wolle und Baumwolle zu ver-
werten
.
Weitere Forſchungen führten aber bald dahin, nicht
nur
eine Purpurfarbe aus dem Anilin zu gewinnen, ſondern
auch
blaue, violette, rote, grüne, gelbe, ja faſt alle Farben
wurden
aus dem Anilin und den anderen Abkömmlingen des
Steinkohlenteers
dargeſtellt.
All’ dieſe Farben zeichnen ſich
durch
prachtvollen Glanz aus, ſo daß ſie die bis dahin ge-
brauchten
Farbſtoffe faſt ganz verdrängt haben.
Es iſt jetzt
allgemein
bekannt, daß unſere Zeuge ausſchließlich mit den
glänzenden
Anilinverbindungen gefärbt werden.
Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung nach neuen Stoffen hat
ſomit
in dieſem Gebiete den großartigſten praktiſchen Erfolg
gehabt
.
Stoffe, welche in den chemiſchen Werkſtätten der
11729 lehrten des wiſſenſchaftlichen Intereſſes wegen hergeſtellt wurden,
ſind
Fabrikationszweige geworden, die viele tauſend Menſchen-
hände
beſchäftigen und viele Familien ernähren.
Um noch ein Beiſpiel hierfür anzuführen, wollen wir ein
zweites
chemiſches Erzeugnis erwähnen, das jetzt ein not-
wendiger
Artikel für den Photographen geworden iſt.
Als
vor
mehreren Jahrzehnten die Lichtbilder erfunden wurden,
war
man nicht imſtande, ſolche Bilder vor der Einwirkung
des
Tageslichtes zu ſchützen, ſo daß man ſie nur abends bei
Lampenlicht
anſehen und anſtaunen konnte.
Da wurde denn
die
weitere Entdeckung gemacht, daß ein Salz, und zwar eine
Art
halbfertiges Glauberſalz, das unterſchwefligſaure Natron,
die
Bilder vor weiterer Licht-Einwirkung ſchütze.
Dieſes Salz,
das
man ſonſt nur in chemiſchen Laboratorien als Gelehrten-
Rarität
darſtellte, koſtete damals an zwei Thaler das Lot;
jetzt, wo man es allgemein anwendet, iſt es ein großer Handels-
Artikel
geworden, und man fabriziert es in ſolcher Maſſe, daß
das
Kilo nur etwa 1 Mk.
koſtet.
Wir haben bei der landwirtſchaftlichen Chemie geſehen,
daß
die Praxis ſich noch nicht völlig der Vorteile der neuen Ent-
deckungen
zu bemächtigen verſteht;
wir können dies von der
Entdeckung
neuer Stoffe nicht ſagen.
Die Aufgabe der Che-
miker
iſt es, dieſe zu finden, und ſie arbeiten rüſtig daran;
ſie nutzbar zu machen, iſt Aufgabe der Welt der Arbeiter, der
Künſtler
, der Technologen, der Polytechniker, und dieſe
das
müſſen wir ſagen halten in ihren Fortſchritten, die
wahrlich
bedeutend ſind, mit der chemiſchen Wiſſenſchaft gleichen
Schritt
.
Darum aber gebührt der chemiſchen Wiſſenſchaft die Ehre
und
beſondere Vorliebe des Volkes.
11830
X. Die freiwilligen Veränderungen der Pflanzen-
ſtoffe.
Die intereſſante Aufgabe der organiſchen Chemie, die wir
unſern
Leſern noch vorführen wollten, iſt die Beobachtung, die
Erforſchung
und die Anordnung der freiwilligen Verände-
rungen
, welche hauptſächlich die Pflanzenſtoffe annehmen, wenn
ſie
verſchiedenen Einflüſſen ausgeſetzt ſind.
Um dies deutlicher zu machen, wollen wir die bekannte
Thatſache
anführen, daß es viele Früchte giebt, die ihre Be-
ſchaffenheit
bedeutend verändern, wenn man ſie ruhig liegen
läßt
.
Viele Äpfelſorten, die in friſchem Zuſtande ſauer und
hart
ſ@nd, werden erſt genießbar, wenn ſie einige Monate ge-
lagert
haben.
Man ſollte kaum glauben, daß dies auch
Chemie
iſt, aber es iſt in Wirklichkeit ein chemiſcher Vorgang,
der
in dem Apfel ſtattfindet.
Mohrrüben werden, wenn ſie
lange
liegen, holzig, das iſt auch ein chemiſcher Vorgang,
denn
es iſt ja die Umwandlung eines Stoffes in einen andern.
Mit den Kartoffeln geht gleichfalls eine wichtige Umwandlung
vor
, wenn man ſie liegen läßt.
Wir wollen dieſe freiwilligen
Verwandlungen
einmal näher kennen lernen, denn wir werden
ſpäter
ſehen, welch’ wichtige Reſultate man daraus zieht.
Die Kartoffeln haben einen Hauptbeſtandteil von Stärke-
mehl
, welches eigentlich der Kartoffel ihren Wert giebt;
aber
ſie
hat nicht zu allen Zeiten einen gleichen Reichtum davon.
100 Pfund Kartoffeln haben im Auguſt 10 Pfund Stärkemehl
in
ſich, im September ſteigt der Mehlgehalt, und 100 Pfund
von
derſelben Kartoffelſorte haben in dieſem Monat ſchon
14
Pfund Stärkemehl in ſich.
Im Oktober wird die Kar-
toffel
noch beſſer;
100 Pfund Kartoffeln enthalten dann
15
Pfund Stärke;
im November hat ſie 16 Pfund; im De-
zember
17 Pfund;
im Januar 17 Pfund; im Februar 16 Pfund;
im
März 15 Pfund;
im April 13 Pfund; im Mai 10 Pfund.
11931 Im Iuni und Iuli werden ſie weich, ſchleimig und ſüß
von
Geſchmack.
Ja, ſchon im Frühjahr fangen ſie an,
Wurzeln
auszuſtecken und werden bartig oder richtig aus-
wüchſig
.
Das alles ſind chemiſche Veränderungen des Inhalts der
Kartoffeln
, und dies wird nun jedermann zur Überzeugung
bringen
, daß in den Pflanzenſtoffen etwas ganz Eigenes vor-
geht
, ſelbſt wenn man mit ihnen nichts vornimmt und ſie
ſcheinbar
ganz ruhig liegen bleiben.
Dies alles zu beobachten iſt die intereſſante Aufgabe der
Chemiker
;
aber das Intereſſante ihrer Aufgabe wird von dem
Nutzen
weit überwogen, den uns ihre Erforſchungen dieſer That-
ſachen
bringen.
Der Chemiker zerlegt nicht nur jede Pflanze und jede
Frucht
und lernt dadurch, woraus die Natur dieſe Dinge auf-
gebaut
hat, ſondern er erforſcht auch die Veränderungen,
welche
mit der Pflanze oder deren einzelnen Teilen und Früchten
vorgehen
, wenn man ſie ſich ſelber überläßt, wenn man ſie im
Waſſer
weicht, wenn man ſie der Wärme ausſetzt, wenn man
ſie
dem Licht ausſtellt oder ſie im Finſtern läßt, wenn man ſie
mit
anderen Stoffen in Berührung oder Miſchung bringt.
Mit einem Worte: der Chemiker ſtudiert aufs fleißigſte die
große
Reihe von freiwilligen und künſtlichen Umwandlungen,
die
ein Pflanzenſtoff durchmacht vom Augenblicke an, wo man
ihn
von der Wurzel abſchneidet, bis zu dem Moment, wo er
ganz
zerfallen und wieder in die Urſtoffe verwandelt iſt, aus
denen
er einſt aus der Natur aufgebaut worden.
All’ das, was man im gewöhnlichen Leben: Brennen,
Sengen
, Verkohlen, Modern, Faulen, Verweſen, Gähren, Ge-
rinnen
, Dumpfigwerden, Schalwerden, Sauerwerden, Ver-
bleichen
, Verſchießen und Zerfallen nennt, das alles ſind
chemiſche
Veränderungen der organiſchen Stoffe, deren Kennt-
nis
von der größten Wichtigkeit iſt;
denn nur durch dieſe
12032 gänge, die teils freiwillig, teils künſtlich eintreten, erhält man
Veränderungen
der Pflanzenſtoffe, aus denen die nützlichſten
Dinge
der Welt gemacht werden.
Um die Wichtigkeit dieſer Vorgänge, deren Studium und
Anwendung
für praktiſche Zwecke zu zeigen, wollen wir wieder
die
Kartoffel als Beiſpiel nehmen und einmal in aller Kürze
darthun
, wie und auf welchem Wege man durch ſolche Ver-
änderungen
aus der Kartoffel Mehl machen kann;
aus dem
Mehl
Gummi;
aus dem Gummi Dextrin; aus dem Dextrin
Zucker
;
aus dem Zucker Spiritus; aus dem Spiritus Eſſig.
Unſere Leſer werden hieraus erſehen, wie viel Brauer, Brenner
und
Fabrikanten der verſchiedenſten Zweige, wieviel überhaupt
alle
Welt, die Fabrikate jener Art benutzt, der Chemie zu ver-
danken
hat.
Wenn wir aber verſichern, daß all’ die Veränderungen und
deren
Studium noch geringfügig genannt werden dürfen gegen-
über
den praktiſchen Folgen der chemiſchen Studien im Ganzen,
ſo
wird es jedermann einleuchten, daß jeder, der auf einen,
wenn
auch nur geringen Grad der Bildung Anſpruch machen
will
, in den Grundlagen und Grundbegriffen der Chemie ein
wenig
Beſcheid wiſſen muß.
XI. Die Bereitung von Mehl und Stärke aus
einer Kartoffel.
Um die Verwandlungen kennen zu lernen, welche die
chemiſche
Kunſt durch geeignete Behandlung der Pflanzen hervor-
zubringen
vermag, wollen wir nunmehr die Verwandlungen der
bei
uns ſo wichtig gewordenen Kartoffel, aus der man faſt
alles
machen kann, vorführen.
Einige kleine Verſuche, die man ſehr leicht ſelbſt anſtellen
kann
, werden unſeren Leſern hoffentlich willkommen ſein.
12133
Man ſchneide einige abgeſchälte, rohe Kartoffeln in dünne
Scheiben
und übergieße ſie mit Waſſer, in welches man etwas
Schwefelſäure
gemiſcht.
Das Waſſer braucht nur ſchwach an-
geſäuert
zu ſein, ſo daß auf ein Lot Waſſer vier Tropfen
Schwefelſäure
vollkommen ausreichen.
Läßt man die Kartoffelſcheiben durch 24 Stunden in dieſem
angeſäuerten
Waſſer ſtehen, ſo iſt mit ihnen eine chemiſche Ver-
wandlung
vorgegangen, die wir ſogleich kennen lernen werden.
Man gieße jetzt das geſäuerte Waſſer ab und ſpüle die Kartoffel-
ſcheiben
mit reinem Waſſer ſo lange, bis jede Spur von Säure
verſchwunden
iſt.
Läßt man nun die Kartoffelſcheiben in einer
mäßig
warmen Ofenröhre vollkommen abtrocknen, ſo ſind die
Kartoffelſcheiben
zerreiblich geworden und bilden dann das
bekannte
Kartoffelmehl.
Die Kartoffel wird in dieſer Weiſe in Mehl verwandelt.
Eine ſolche Umwandlung als Gewerbe iſt zwar im Großen
nicht
lohnend, jedoch in kleinen Wirtſchaften, wo man der-
gleichen
als Nebenbeſchäftigung treiben kann, wird dieſe
Operation
vielfach vorgenommen, und man verdankt derſelben
das
für Backwerke und in Haushaltungen ſehr beliebte Kartoffel-
mehl
, das man in den Mehlhandlungen käuflich haben kann.
Die Verwandlung, die hier mit der Kartoffel vor ſich
gegangen
iſt, beſteht darin, daß ſowohl das Pflanzen-Eiweiß
der
Kartoffel wie die Pflanzenfaſer im angeſäuerten Waſſer
aufgelöſt
worden ſind.
Da man nun dies Waſſer fortgeſpült
hat
, ſo blieb von der Kartoffel nur ihr wertvoller Haupt-
beſtandteil
, das Stärkemehl, übrig.
Was dieſes Mehl von Weizenmehl unterſcheidet, iſt, daß
im
Weizenmehl ein großer Reichtum von Kleber vorhanden iſt,
einem
nahrhaften, klebrigen Stoff, der mit dem Eiweiß in ſeiner
Zuſammenſetzung
in gewiſſen Punkten übereinſtimmt, weshalb
ſich
auch Weizenmehl klümperig, während ſich das Kartoffel-
mehl
trockenſtaubig anfühlt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
12234
Durch geeignete Behandlung verwandelt man das Kar-
toffelmehl
in die gewöhnliche Stärke, die man zur Wäſche be-
nutzt
.
Angefeuchtet und unter ſtetem Umrühren gelind erhitzt,
erhält
man aus der Stärke harte, hornartige Krümelchen, die
man
Sago nennt, weil ſie die größte Ähnlichkeit mit der echten
Sago
haben, welche aus Stärkemehl bereitet wird, das ſich im
Marke
mancher Palmbäume Indiens befindet.
Die unechte
Sago
ſchwillt wie die echte mit kochendem Waſſer übergoſſen
auf
und bildet glasartige, weiße Kügelchen, die ein beliebter
Zuſatz
zur Fleiſchbrühe ſind.
Daß man aus der Stärke Kleiſter bereitet, weiß jede
Hausfrau
.
Hierbei ſaugen die Stärkekörnchen das heiße Waſſer
ein
und ſchwellen auf;
weniger bekannt dürfte es den Haus-
frauen
ſein, daß unſer Reis und Gries ihr Aufſchwellen und
Kleiſtrigwerden
während des Kochens gleichfalls nur der
Stärke
verdanken, welche in dieſen Speiſeſtoffen vorhanden iſt.
Eine bedeutende chemiſche Veränderung geht in dem
Kleiſter
vor ſich, wenn man ihn längere Zeit an einem
warmen
Orte ſtehen läßt.
Er wird nach und nach dünn und
ſauer
und bildet endlich eine Säure in ſich aus, die man Milch-
ſäure
nennt, denn es iſt dieſelbe Säure, welche ſich beim Sauer-
werden
der Milch erzeugt.
Auf chemiſchem Wege kann man
die
Milchſäure herausziehen und in Verbindung mit anderen
Stoffen
eine große Reihe chemiſcher Körper aus ihr bilden.
Nicht minder läßt ſich die Stärke auf verſchiedene Weiſe
in
einen andern Körper verwandeln, und zwar zunächſt in
Gummi
.
Erhitzt man etwas Stärke in einem Blechlöffel, während
man
ſtets umrührt, damit die Stärke nicht anbackt oder an-
brennt
, ſo verwandelt ſie ſich in Gummi, deſſen Verwendung
zu
vielen Zwecken, namentlich als Verbindungs- und Klebe-
mittel
bekannt genug iſt.
Sie nimmt hierbei eine Eigenſchaft
an
, die ſie früher nicht hatte.
Während die Stärke in
12335 Waſſer ſich nicht auflöſte, löſt ſich der Gummi vollkommen
darin
auf und man ſieht hieraus, wie die Wärme allein die
Eigenſchaft
eines Körpers vollſtändig umkehren und aus einem
Stoffe
einen ganz andern zu machen vermag.
Wir haben all’ die bisherigen Verwandlungen nur an-
geführt
, um vorerſt die reichhaltigen Veränderungen zu zeigen,
die
der Hauptſtoff der Kartoffel, das Stärkemehl, erleiden kann,
wir
wollen aber jetzt zu dem intereſſanteren Teil der Verände-
rungen
übergehen, und zwar zur Verwandlung der Stärke in
Zucker
.
XII. Die Verwandlung der Kartoffel in Zucker.
Die Verwandlung der Kartoffelſtärke in Zucker iſt ebenſo
intereſſant
wie lehrreich.
Man kann dieſe Verwandlung ſehr leicht vollbringen, und
zwar
in folgender Weiſe:
Man laſſe circa 100 Gramm Waſſer, in welches man
zwanzig
Tropfen Schwefelſäure gegoſſen hat, lebhaft kochen und
ſchütte
theelöffelweiſe während des Kochens etwa 40 Gramm
Stärke
hinein, die man mit ein wenig kaltem Waſſer zu einem
Brei
angerührt hat.
Das Einſchütten des Stärkebreies muß ſo
geſchehen
, daß hierbei das Sauerwaſſer nicht aus dem Kochen
kommt
.
Wenn alle Stärke eingeſchüttet iſt, ſo laſſe man die
Miſchung
noch einige Minuten aufkochen.
Nunmehr nehme
man
ſie vom Feuer und ſchütte in kleinen Portionen Schlemm-
kreide
hinein, bis jede Spur von Säure in der Flüſſigkeit
geſchwunden
iſt.
Iſt dies der Fall, dann filtriere man die Miſchung und
koche
die klare Flüſſigkeit ſo lange, bis ſie ſtark eindampft.
Man wird nun finden, daß aus der Flüſſigkeit Syrup ge-
worden
iſt.
12436
Durch ein geeignetes Verfahren, das man im Kleinen
nicht
gut nachmachen kann, iſt man imſtande, den braunen
Syrup
in einen beſonderen Zucker, den ſogenannten Trauben-
zucker
, zu verwandeln, welcher mit dem Kandiszucker die größte
Ähnlichkeit
hat, ſich aber durch einen minder ſüßen Geſchmack
und
eine andere chemiſche Zuſammenſetzung unterſcheidet.
Die
Darſtellung
dieſes Zuckers aus Stärke geſchieht in großen
Fabriken
und bildet jetzt einen großen Nahrungszweig für viele
Menſchen
.
Das Intereſſante dieſes Verſuches iſt außerordentlich lehr-
reich
.
Unterſucht man den Zucker oder den Syrup, ſo findet man
in
ihm weder Schwefelſäure noch Kreide.
Beide Stoffe,
Schwefelſäure
und Kreide, ſind nämlich beim Filtrieren in
dem
Bodenſatz zurückgeblieben.
Beide Stoffe haben ihre Dienſte
geleiſtet
und haben mit dem Syrup und Zucker nichts mehr
zu
thun.
Worin aber dieſe Dienſte beſtanden haben, das iſt
eben
die Frage, die ſich die Wiſſenſchaft zu ſtellen hat und
welche
wir nunmehr beantworten müſſen.
Man erklärt ſich die Einwirkung der Schwefelſäure auf
die
Stärke dahin, daß die Schwefelſäure die Eigenſchaft beſitzt,
die
Beſtandteile der Stärke und des Waſſers anders zu lagern,
anders
zu ordnen, und zwar in einer ſolchen Weiſe zu ordnen,
daß
dieſelben Stoffe ſich zu Zucker umbilden;
denn dieſer ſetzt
ſich
aus genau denſelben Grundſtoffen zuſammen, wie die
Stärke
, nämlich aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff.
Was für eine Rolle aber ſpielte die Kreide?
Die Kreide ſollte, wie wir ſogleich zeigen werden, nur
die
Schwefelſäure, die ihren Dienſt geleiſtet hatte, einfangen,
um
mit der Kreide verbunden aus der Miſchung hinausgeworfen
werden
zu können.
12537
XIII. Die Dienſte der Schwefelſäure oder des
Malzes.
Die Rolle, die die Kreide in dem im vorhergehenden Ab-
ſchnitt
erwähnten Verſuch ſpielt, läßt ſich leicht einſehen, wenn
man
der eigentlichen Beſtandteile der Kreide ſich erinnert, die
wir
bereits erwähnt haben.
Wie wir bereits gezeigt, verwandelt ſich Kalkwaſſer ſchon
in
Kreidewaſſer, ſobald man durch ein Glasrohr Luft hinein-
bläſt
.
Die Kohlenſäure, die wir ausatmen, hat eine Neigung,
ſich
mit Kalk zu verbinden und kohlenſauren Kalk zu bilden.
Kreide aber iſt nichts anderes als kohlenſaurer Kalk. Es hat aber
der
Kalk eine noch weit größere Neigung, ſich mit Schwefel-
ſäure
zu verbinden.
Wenn man alſo auf kohlenſauren Kalk,
auf
Kreide, etwas Schwefelſäure gießt, ſo verdrängt die
Schwefelſäure
die Kohlenſäure aus der Kreide und ſetzt ſich
an
deren Stelle.
Man braucht nur ein Stückchen Kreide in
ein
Glas Waſſer zu werfen, worin ein wenig Schwefelſäure iſt,
ſo
wird man ſofort wahrnehmen, daß von der Kreide aus ein
Aufbrauſen
ſtattfindet.
Es iſt dies das Aufſteigen der Kohlen-
ſäure
aus der Kreide, an deren Stelle der Kalk ſich mit Schwefel-
ſäure
verbindet und nun einen neuen Körper bildet, der wiſſen-
ſchaftlich
ſchwefelſaurer Kalk heißt und im gewöhnlichen Leben
Gips
genannt wird.
Indem wir nun die im vorigen Abſchnitte erwähnte Löſung
Kreide
hineingebracht haben, haben wir weiter nichts damit be-
zweckt
, als daß wir die in der Flüſſigkeit enthaltene Schwefelſäure,
die
ihre Dienſte geleiſtet hatte, zu feſſeln ſuchten und ſie
zwangen
, Gips zu bilden, der zu Boden ſinkt, und indem wir
die
Flüſſigkeiten filtriert und vom Gips gereinigt haben, ſind
wir
imſtande geweſen, die Schwefelſäure aus der Flüſſigkeit
hinauszuwerfen
.
12638
In der That zeigte die genaueſte Unterſuchung, daß weder
eine
Spur von Kreide, noch von Schwefelſäure in der Syrup-
löſung
, die wir gewonnen haben, zurückgeblieben iſt;
es hat ſich
alſo
, wie wir bereits geſagt, Stärke in Zucker umgewandelt,
ohne
daß etwas anderes als die Beſtandteile des Waſſers
hinzugetreten
ſind.
Zucker iſt alſo verwandelte Stärke.
Wir werden ſofort zeigen, daß man Zucker noch weiter ver-
wandeln
und ein ganz anderes Ding daraus ziehen kann,
nämlich
Spiritus, der auch Weingeiſt oder Alkohol genannt
wird
, und der bekanntlich nicht die mindeſte Ähnlichkeit mit
Zucker
hat.
Ein Glas Zuckerwaſſer iſt ein unſchuldiges Ge-
tränk
, und ein Glas Branntwein hat ſchon Manchen ins Un-
glück
gebracht, und doch iſt jeder Branntwein einmal Zucker
geweſen
und iſt nur aus dem Zucker entſtanden.
Bevor wir aber zeigen, wie das geſchieht und was hier-
bei
vorgeht, wollen wir nur noch eine wichtige Nebenbetrach-
tung
anſtellen.
Wir haben bereits angeführt, wie die Schwefelſäure das
Kunſtſtück
verſteht, durch ihre bloße Gegenwart die Stärke in
Zucker
umzuwandeln;
wir müſſen jetzt ſagen, daß es noch einen
Stoff
giebt, der dies Kunſtſtück kann, ja noch beſſer als die
Schwefelſäure
verſteht, und das iſt jene im Auswachſen be-
griffene
Getreideart, die man Malz nennt, und namentlich das
Gerſtenmalz
.
Wie wir bereits gezeigt haben, kann man Gerſte, die man
mit
Waſſer übergießt und an einen warmen Ort ſtellt, zum
Keimen
und Wachſen bringen.
Es bekommt jedes Gerſtenkorn
einen
Halm und eine kleine Wurzel, ganz ſo, als ob man es
in
Erde eingepflanzt hätte.
Trocknet man die Gerſte in dieſem
Zuſtande
, ſo erhält man das Malz der Bierbrauer.
Übergießt
man
nun dieſes Malz, das man ein wenig zerſtampft, mit
warmem
Waſſer, ſo zieht das Waſſer einen Stoff aus dem
Malz
, den man Diaſtaſe nennt, und dieſe Diaſtaſe
12739 dasſelbe Kunſtſtück wie die Schwefelſäure; es verwandelt ſich
in
ihrer Berührung die Stärke in Zucker.
Hierdurch wird uns nicht nur mancher chemiſche Vorgang
der
Brauerei erklärt, in welcher das Bier ſüß wird, ohne daß
der
Brauer Zucker zuthut, ſondern man erhält auch einen Ein-
blick
in die Veränderungen, die ſich beim Wachstum der Pflanzen
zeigen
.
Ein Gerſtenkorn iſt gewiſſermaßen die Muttermilch des
künftigen
Gerſtenhälmchens;
aber ganz wie die Muttermilch
einen
großen Reichtum an Zucker hat, weil das junge Kind
viel
Zucker genießen muß, ganz ſo wie die Natur das
Blut
der Mutter in der Mutterbruſt in die zuckerreiche
Milch
umwandelt, um ſie für den Säugling gedeihlich zu
machen
, ganz ebenſo ſorgt ſie für das junge Pflänzchen.
Ein
Getreidekorn
, ein Gerſtenkorn verwandelt ſich in der Erde in
Malz
.
Die Feuchtigkeit, die hinzutritt, bildet in dem Korn
die
Diaſtaſe aus, und dieſe Diaſtaſe macht aus dem Stärke-
mehl
des Gerſtenkornes einen Zucker, der ſich im Waſſer auf-
löſt
, und die junge Pflanze wird wie ein junges Kind mit
Zuckerſaft
geſpeiſt.
Daher rührt der ſüße Geſchmack der
jungen
Getreidehalme und namentlich der jungen Gerſte.
Was wir im Großen in Zuckerfabriken treiben, treibt die
Natur
in der Mutterbruſt und im kleinen Samenkorn.
Sie
treibt
es freilich im kleinen, und doch wer möchte dies nicht
einſehen
ſo großartig und erhaben, wie keine Menſchenkunſt
es
vermag.
XIV. Kann man nicht aus Holz Zucker machen?
Bevor wir nun zeigen, wie man Zucker in Spiritus um-
wandeln
kann, haben wir eine kleine Betrachtung unſern Leſern
vorzuführen
, die zwar augenblicklich für die Praxis von
12840 Bedeutung iſt, die aber zeigen wird, welche Zukunft uns noch
bevorſteht
, wenn die Chemie noch weitere Fortſchritte macht,
als
bisher.
Wir haben geſehen, daß man aus Stärke Zucker macht.
Wir wiſſen, daß dies Kunſtſtück von der Schwefelſäure und
von
dem Malzauszug, den wir Diaſtaſe nennen, vollbracht
werden
kann;
wir erinnern daran, daß gefrorene Äpfel und
namentlich
gefrorene Kartoffeln ebenfalls ſüß zu ſchmecken
anfangen
und zuckerreich werden;
und bei all’ dem wiſſen wir,
wie
dies daher rührt, daß die Beſtandteile der Stärke, daß
der
Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff ſich nur mit den
Beſtandteilen
des Waſſers, mit noch etwas Waſſerſtoff und
Sauerſtoff
zu verbinden brauchen, um vollſtändigen Zucker
zu
bilden.
Wie aber, möchte man fragen, giebt es nicht noch dergleichen
Stoffe
, die ganz dieſelben Beſtandteile wie der Zucker haben?
Hat nur die Stärke dieſen Vorteil, dem Zucker ähnlich zu ſein,
oder
kennt man noch andere Dinge, die dieſes Vorzuges ge-
nießen
?
Und iſt dem etwa ſo, kann man auch aus ſolchen
Dingen
Zucker machen?
Man braucht nicht weit herumzuſuchen, um einen ſolchen
Stoff
zu finden.
Die genaueſte Unterſuchung über die Menge von Sauer-
ſtoff
, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff, die in der Stärke enthalten
iſt
, hat ergeben, daß auch Holz, jede Art von Holz, die gleiche
Menge
dieſer Grundſtoffe in gleichem Verhältnis beſitzt.
Ein
Pfund
Holz hat eben ſo viel Sauerſtoff und ſo viel Waſſer-
ſtoff
und ſo viel Kohlenſtoff, als ein Pfund Stärke.
Kann man aber auch aus Holz ebenſo wie aus Stärke
Zucker
machen?
Die Frage klingt gewiß vielen komiſch, faſt lächerlich;
aber ſie iſt für die Wiſſenſchaft vollkommen Ernſt, und ganz
bedeutungsvoller
Ernſt, wie wir ſogleich ſehen werden.
12941
Um hier darzulegen, welche Antwort die Wiſſenſchaft
hierauf
giebt, müſſen wir ſagen, was denn eigentlich im wiſſen-
ſchaftlichen
Sinne Holz genannt wird.
Das Holz, das wir jeder Art von Bäumen abhauen, be-
ſteht
aus mehr oder minder ſaftreichen Pflanzenzellen, von
denen
wir bereits geſprochen haben.
Im chemiſchen Sinne
verſteht
man unter Holz jene Maſſe, die übrig bleibt, wenn
man
allen Saft der Zellen daraus entfernt und alſo nichts
übrig
läßt, als die Wand der Zellen, in welchen ehemals der
Saft
war.
Ein vollkommen in dieſem Sinne ausgetrocknetes
Stück
Holz beſteht aus nichts weiter, als aus Zellenwänden
der
ehemaligen Pflanze, und ſo wenig man im gewöhnlichen
Leben
daran denkt, ſo wahr iſt es doch, daß viele Dinge, die
man
gar nicht als Holz anſieht, dennoch Holz ſind.
Wir tragen Hemden aus Leinewand. Woher kommt aber
die
Leinewand?
Sie wird aus Holz gemacht, aus dem Holze
einer
Pflanze, deren Zellen baſtartig langgeſtreckt ſind, und
nach
dem Trocknen, Brechen und Hecheln zu Flachs werden.
Wir kleiden uns in Baumwolle; aber auch ſie iſt nichts anderes,
als
die hohlen Haare einer Pflanze, die ihren reifen Samen
umgeben
, und dieſe Haare ſind gleichfalls nur Pflanzenzellen,
die
in die Länge geſtreckt ſind.
Wir tragen Strohhüte und
wiſſen
, daß das Stroh ebenfalls nur aus langgeſtreckten Pflanzen-
zellen
beſteht.
Wir ſchreiben und drucken auf Papier, das
wiederum
nur aus zerfaſerten Pflanzenzellen hergeſtellt wird.

Mit
einem Worte, das Holz oder die Pflanzenzelle, und
namentlich
die faſerförmige Pflanzenzelle, ſpielt eine größere
Rolle
in der Welt, als wir im erſten Augenblick glauben
mögen
(Fig.
5).
Und alle dieſe Dinge, die nichts anderes als Holz
ſind
, deſſen chemiſche Hauptbeſtandteile der Chemiker Celluloſe
nennt
, ſind zuſammengeſetzt aus ganz denſelben Mengen von
Sauerſtoff
, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff, wie Stärke.
1304212[Figure 12]Fig. 5.
Faſerſorten
aus dem Pflanzenreich.
13143
Hat man es nun ſchon ſo weit gebracht, auch aus dieſen
Stoffen
Zucker zu machen?
Die Wiſſenſchaft hat es nicht unterlaſſen, den Verſuch zu
machen
und hat es wirklich erreicht.
Man kann genau ſo wie
aus
Stärke, auch aus Holz Zucker machen und erhält wie aus
der
Stärke auch aus dem Holz Traubenzucker.
Auch hier iſt es wieder die Schwefelſäure, welche dieſes
Kunſtſtück
verſteht.
Wie ſie die Atome der Stärke und des
Waſſers
umlagert und aus denſelben Traubenzucker macht, ſo
verſteht
ſie es, auch aus alter Leinwand und Papier durch
einen
ähnlichen Prozeß dieſelbe Zuckerart zu fabrizieren.
Leider hat es bisher den Bemühungen der Chemiker nicht
gelingen
wollen, aus dem Holze oder der Stärke ſtatt des
Traubenzuckers
den gewöhnlichen Stücken- oder Rohrzucker her-
zuſtellen
;
dies wäre ein Erfolg, der, wenn er gelänge, auf die
ganze
Zucker-Induſtrie von dem allerbedeutſamſten Einfluſſe ſein
würde
und den Menſchen ein unentbehrliches und bisher noch
verhältnismäßig
koſtbares Nahrungsmittel viel zugänglicher
machen
würde.
Doch werden es unſere Leſer zugeben, daß
die
Löſung dieſer Aufgabe nach dem, was bis jetzt erreicht iſt,
keineswegs
unmöglich iſt, und daß man es nicht belachen darf,
wenn
man hört, daß die Chemie noch möglicherweiſe aus einem
Haufen
Holz ſo und ſo viele Zentner nahrhafter Speiſe machen
wird
.
Unſere Kinder werden vielleicht Holz-Zucker ebenſo
natürlich
finden, wie wir jetzt Holz-Eſſig natürlich finden, ohne
zu
bedenken, daß unſere Vorfahren dies für Zauber oder
Tollheit
erklärt hätten.
XV. Die Verwandlnng des Zuckers durch Gährung.
Zur Verwandlung des Zuckers in Spiritus, oder richtiger
ausgedrückt
, in Weingeiſt oder Alkohol, iſt es nötig, daß
13244 dem Zucker einen Stoff zuthut, der eine Gährung desſelben
veranlaßt
.
Man kann die Gährung durch verſchiedene Stoffe hervor-
rufen
.
Eiweiß und alle eiweißhaltigen Stoffe, wie Fleiſch,
Leim
, Käſe, Blut und ebenſo alle Pflanzenſtoffe, welche Pflanzen-
Eiweiß
, Kleber in ſich haben, können Gährung hervorbringen,
wenn
ſie längere Zeit in der Luft gelegen und angefangen
haben
, in Fäulnis überzugehen;
vorzüglich aber verſteht dies
die
Bierhefe, die man bekanntlich benutzt, um Teig aufgehen
oder
gähren zu laſſen.
Durch Bierhefe kann auch Zuckerwaſſer, und noch beſſer,
Honigwaſſer
oder ſonſt der zuckerreiche Saft verſchiedener
Pflanzen
, wie der Saft der Mohrrüben oder der Runkelrüben,
in
Gährung verſetzt und dadurch in Alkohol verwandelt werden.
Was aber iſt Hefe, und was iſt Gährung, und wie iſt
die
ſonderbare Wirkung dieſes Stoffes?
Was man von dem merkwürdigen Stoffe weiß, iſt
Folgendes
:
Wenn man in Zuckerwaſſer einen jener Stoffe bringt, die
wir
als eiweißhaltige bezeichnet haben, alſo etwa in Fäulnis
übergehenden
Leim oder Käſe, und damit einige Zeit ſtehen
läßt
, ſo fängt die Miſchung an, ſich zu trüben und es bilden
ſich
in ihr kleine, mit bloßem Auge nicht ſichtbare, hohle
Kügelchen
, die die Geſtalt von Eiern haben.
Bringt man die
Miſchung
in ein kaltes Zimmer, wo es zwar nicht friert, aber
nicht
über 6—8 Grad warm iſt, ſo geht dieſe Trübung und
Bildung
von Kügelchen ſehr langſam vor ſich, und nach und
nach
ſinken die Kügelchen auf den Boden des Gefäßes, woſelbſt
ſie
Hefe und zwar Unterhefe bilden.
Hält man aber die
Miſchung
in einem warmen Zimmer, wo die Luft gegen
20
Grad Wärme hat, dann ſteigen die Kügelchen nach oben
und
bilden die ſogenannte Oberhefe.
Wenn man mit einer Nadelſpitze ein wenig von
13345 Hefe nimmt und ſie in einen Tropfen Waſſer bringt, in welchem
man
hat Gerſte keimen laſſen, ſo kann man dieſen Tropfen
unter
einem Mikroſkop beobachten und die Entwicklung der
Hefe
, das Wachſen derſelben deutlich wahrnehmen.
Nehmen
wir
an, daß man nur ein einziges Hefenkügelchen vor ſich hat,
ſo
kann man das eine Mutterzelle nennen.
Denn in der That
iſt
das Kügelchen hohl und bildet eine geſchloſſene Zelle, in
welcher
eine Flüſſigkeit, der Zellſaft, vorhanden iſt.
Bald aber
gebiert
dieſe Mutterzelle junge Zellen und zwar durch Knoſpung,
d
.
h. es zeigt ſich außen an der Wand der Zelle an irgend einer
Stelle
eine kleine Hervorſtülpung, die immer größer wird und ſich
ſodann
zu einer neuen Zelle geſtaltet.
Dieſe Tochterzelle ge-
biert
nun in gleicher Weiſe eine Enkelzelle;
und meiſt um die
Zeit
, wo der Enkel geboren wird, gebiert die Mutterzelle noch
eine
zweite Tochterzelle, aus welcher wieder Enkel hervorgehen.
Bald fangen auch die Enkel an, neue Junge zu gebären und
es
entſteht vor den Augen des fleißigen Beobachters eine
große
Reihe von Geſchlechtern, die alle noch mit der Mutter-
zelle
zuſammenhängen und eine Art Gewächs bilden, das ſich
immer
weiter und weiter vermehrt und vergrößert.
In der That giebt dies Veranlaſſung, die Hefe als eine
Pflanze
, ſpecieller einen Pilz zu betrachten, die entſteht, wenn
eiweißhaltige
Körper in Fäulnis übergehen, und die fortwächſt,
wenn
man ein einziges Hefenkügelchen in eine Flüſſigkeit bringt,
die
eiweißartigen Stoff enthält.
Der Bierbrauer, der ein wenig Hefe in ſeinen Gerſten-
malzaufguß
bringt, thäte in dieſem Sinne nichts anderes als
ein
Gärtner, der Pflanzenſamen in einen nahrungsreichen
Boden
einlegt.
Die Hefe findet im Malzaufguß Pflanzen-
eiweiß
, die Nahrung der Hefe, vor, und jedes Mutterkügelchen
Hefe
gebiert darin neue Hefenkügelchen, die weitere Geſchlechter
gebären
, und dieſes Wachſen oder richtiger Fortpflanzen
13446 Gebären geht ſo lange fort, bis aller eiweißhaltige Stoff aus
dem
Malzaufguß in neue Hefe verwandelt iſt.
Hiernach iſt es erklärlich, daß der Bierbrauer am Ende
der
Arbeit ſehr viel mehr Hefe vom Bier abnimmt, als er
dazu
gethan hat.
Dieſes Abnehmen der Hefe iſt gewiſſermaßen
die
Ernte der Hefe;
denn dieſe Hefe wird ſorgfältig geſammelt
und
dient dazu, in andern Körpern neue Hefe einzupflanzen
und
wachſen zu laſſen.
Aber man pflanzt nicht Hefe um der Hefe willen, ſondern
wegen
der Veränderung, die das Wachſen der Hefe hervor-
bringt
in der Flüſſigkeit, in welcher dieſes Wachſen vor
ſich
geht.
Die wachſende Hefe, welche den Eiweißſtoff der Flüſſig-
keit
an ſich zieht, bringt eine Veränderung der Flüſſigkeit
hervor
, und dieſe Veränderung, die mit der Flüſſigkeit vor ſich
geht
, nennt man Gährung.
Und worin beſteht dieſe Veränderung?
Sie beſteht, wie wir bald ſehen werden, darin, daß ſie
den
Zuckerſtoff der Flüſſigkeit in Alkohol verwandelt.
XVI. Was die Gährung für Veränderung
hervorbringt.
Die Veränderung, welche der Zucker erfährt, wenn man
in
eine Zuckerauflöſung, alſo in Zuckerwaſſer, ein wenig Hefe
bringt
, beſteht darin, daß ſich der Zucker in Spiritus um-
wandelt
.
Das Zuckerwaſſer wird nunmehr einen branntweinartigen
Geſchmack
haben, und da man die wäſſerigen Teile der Löſung
durch
das geeignete Verfahren, durch Deſtillation von dem
Spiritus
trennen kann, ſo iſt man imſtande, aus Zucker
13547 Spiritus zu machen, den wir nunmehr immer Weingeiſt oder
Alkohol
nennen wollen.
Wie aber erklärt man ſich dieſe Verwandlung?
Die Erklärung iſt nur zum Teil vollſtändig zu geben und
dieſe
iſt folgende:
Wir haben geſagt, daß der Zucker in Alkohol verwandelt
worden
iſt.
Dies iſt eigentlich ſtreng genommen unrichtig.
Unterſucht man nämlich die Beſtandteile des Alkohols, ſo findet
man
, daß ſie wohl übereinſtimmen in den Urſtoffen, die ſie
enthalten
, aber nicht übereinſtimmen in den Portionen von
jedem
einzelnen Urſtoff.
Wir wollen uns deutlicher ausdrücken.
Zucker und Alkohol ſtimmen in den Stoffen überein. Die
Beſtandteile
des Zuckers ſind Sauerſtoff, Kohlenſtoff und
Waſſerſtoff
, und die Beſtandteile des Alkohols ſind gleichfalls
Sauerſtoff
, Kohlenſtoff und Waſſerſtoff.
Allein der Alkohol
hat
weniger Portionen von zweien dieſer Stoffe in ſich.
In
einem
Pfund Alkohol iſt etwas mehr Waſſerſtoff als in einem
Pfund
Zucker;
allein nur ſoviel mehr, als vom Kohlenſtoff
und
Sauerſtoff weniger darin iſt.
Die Chemiker haben, auf gute Gründe geſtützt, nachgewieſen,
daß
, wenn Zucker in Gährung verſetzt wird, ſich aus demſelben
zwei
neue Dinge bilden, das eine iſt Alkohol und das andere
iſt
Kohlenſäure.
Da aber die Kohlenſäure aus Kohlenſtoff
und
Sauerſtoff beſteht, ſo hat der Alkohol von dieſen zwei
Urſtoffen
weniger in ſich als der Zucker.
Man gewinnt daher
aus
einem Pfund Zucker nicht ein volles Pfund Alkohol,
ſondern
es ſteigt aus der in Gährung begriffenen Zuckerlöſung
ein
Gas auf, das nichts anderes als Kohlenſäure iſt, und zwar
bekommt
man gerade um ſo viel weniger Alkohol heraus, als
die
aufgeſtiegene Kohlenſäure wiegt.
Es iſt bekannt, daß in Kellern, wo viel Bier oder Wein
oder
Zucker gährt, eine gefährliche Luftart ſich entwickelt.
13648 Luftart iſt die Kohlenſäure, die wir ſchon näher kennen gelernt
haben
, und ſie entſteht aus der Summe von Sauerſtoff und
Kohlenſtoff
, die ſich von dem Zucker dieſer Flüſſigkeit trennt
und
einen Reſt übrig läßt, der nunmehr Alkohol iſt.
Es iſt alſo in dieſem Sinne ungenau, wenn wir geſagt
haben
, daß ſich Zucker in Alkohol umwandelt;
es iſt vielmehr
ſtrenge
genommen eine Trennung, die hier vor ſich geht.
Es
iſt
ein Zerteilen des Zuckers in zwei verſchiedene Dinge, in
Alkohol
und Kohlenſäure;
es iſt eine Zerſetzung, bei welcher
die
Kohlenſäure aus der Flüſſigkeit in Blaſen aufſteigt und
ſich
in die Luft verliert, während ſtatt des Zuckers ein Teil
ſeiner
Beſtandteile als Alkohol in der Flüſſigkeit verbleibt.
Allein dieſe Erklärung giebt nur das ſichtbare Reſultat des
merkwürdigen
Vorganges;
keineswegs aber iſt hiermit der
hauptſächliche
Grund desſelben erklärt.
Und in der That gehört dieſe Erſcheinung zu den bisher
von
der Wiſſenſchaft noch nicht gelöſten Rätſeln.
Denn die
Frage
iſt immer noch nicht gelöſt, woher es kommt, daß die
Hefe
ſo merkwürdig ei@wirkt, und daß ſie im Gerſtenaufguß
z
.
B. das Pflanzeneiweiß in Hefe umwandelt und weshalb
dieſe
Umwandlung den Zuckergehalt zerlegt und Kohlenſäure
und
Alkohol daraus bildet?
Vielleicht könnte es einigen Leſern ſcheinen, als ob nicht
viel
darauf ankäme, dieſes Rätſel zu löſen;
allein eine kurze
Betrachtung
wird ſie ſofort von der außerordentlichen Wichtig-
keit
der richtigen Löſung dieſes Rätſels überzeugen.
Da die Hefe eine wirkliche Pflanze iſt, ſo iſt von höchſtem
Intereſſe
, hier wahrzunehmen, daß man dieſelbe, wie es den
Anſchein
hat, künſtlich machen kann.
Dies gelingt aber bei
keiner
Pflanze der Welt.
Eine Pflanze wächſt immer nur
aus
dem Samen oder einer Zelle einer bereits vorhergegangenen
Pflanze
.
Oberflächliche Beobachtung könnte zu der Annahme
verleiten
, daß die Hefe neu geſchaffen wird, ſobald man
13749 haltige Stoffe in Fäulnis übergehen läßt, d. h. daß man aus
einem
Ding, das keine Pflanze iſt, eine Pflanze herſtellen kann.
Dies aber iſt nun ſo ganz eine der Natur der Pflanzen-
welt
widerſprechende Thatſache, daß man vollen Grund hatte,
dieſer
Annahme zu mißtrauen, und deshalb haben Naturforſcher
lange
der Hefe einen ganz anderen Urſprung angewieſen und
ihre
Wirkung und Vermehrung ganz anders erklärt, als die
einer
pflanzlichen Fortentwicklung.
Die neuen Unterſuchungen indes haben es jetzt unzweifel-
haft
feſtgeſtellt, daß die Hefe wirklich eine Pflanze iſt.
Die
Keime
für die Hefenpflanze aber ſind, wie zahlloſe andere Keime,
u
.
a. auch viele Krankheitskeime, fortwährend in der Luft vor-
handen
und dringen mit derſelben zu den gährenden Flüſſig-
keiten
, in denen ſie ſich weiter entwickeln und wachſen.
Wenn
man
dieſen Keimen, wie namentlich Paſteur (1821—1895)
nachgewieſen
hat, auf paſſende Weiſe den Zutritt verſchließt,
ſo
tritt in der Flüſſigkeit keine Gährung auf, und es entwickelt
ſich
in ihr keine Hefe.
Dieſe wenigen Worte, die freilich nicht ausreichen, die
geiſtvollen
Forſchungen über die Natur der Hefe auch nur ent-
fernt
anzudeuten, werden jedenfalls genügen, dem Leſer zu
zeigen
, wie wichtig die Frage über die Hefe iſt.
XVII. Die Bildung von Met, Rum, Wein
und Bier.
Indem nun die Hefe jede Art von zuckerhaltiger Flüſſig-
keit
in eine weingeiſthaltige umwandelt, nennt man dieſe Art
von
Gährung die geiſtige Gährung, und ſie iſt es, die bei der
Bereitung
des Mets, des Rums, des Weins und des Biers
u
.
ſ. w. eine Hauptrolle ſpielt.
Nimmt man ſtatt Zuckerwaſſer ein wenig Honigwaſſer und
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
13850
verſetzt es durch Hefe in Gährung, ſo entſteht daraus bei
einem
gewiſſen Punkt der Gährung ein halb ſcharfes, halb
ſüßes
Getränk, das den Namen Met hat.
Preßt man den
ſüßen
Saft von Äpfeln, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Kirſchen
u
.
ſ. w. aus und läßt ihn in der Wärme ſtehen, ſo entwickeln
ſich
hieraus geiſtige Getränke, die unter dem Namen Apfelwein,
Iohannisbeerwein
oder Kirſchwaſſer bekannt genug ſind.
Hier
braucht
man nicht Hefe hinzuzuthun, weil Hefekeime ja überall
in
der Luft ſchon zu Tauſenden und Abertauſenden vorhanden
ſind
;
es bildet ſich alſo hier ſchon von ſelbſt Hefe aus, die
das
Geſchäft der Gährung und Umwandlung der Flüſſigkeit
vollzieht
.
Bei aller dieſer Gährung zerfällt aber immer der
Zucker
in zwei Beſtandteile, in Alkohol, der in der Flüſſigkeit
bleibt
, und in Kohlenſäure, welche in Form von Blaſen aus
der
Flüſſigkeit aufſteigt und ſich mit der Luft miſcht.
Ganz in gleicher Weiſe verfährt man bei der Fabrikation
von
Rum, indem man hierzu wenigſtens zu den vorzüg-
lichſten
Sorten den Saft der Zuckerpflanze, des Zuckerrohrs
in
Gährung verſetzt und eine möglichſt reine geiſtige Ver-
wandlung
derſelben hervorzubringen ſucht.
Für die Herſtellung
von
Arrak wird Reis verwendet.
Obwohl nun das eigentliche Weſen aller geiſtigen Getränke
eines
und dasſelbe iſt und alle ihren geiſtigen Gehalt eben
nur
der Zerſetzung von Zucker in Weingeiſt und Kohlenſäure
zu
verdanken haben, ſo beſitzen doch die verſchiedenen Früchte
jede
für ſich eine beſondere Art und Eigenſchaft des Geſchmackes
und
der Wirkung, die ſich dem geiſtigen Getränk, das aus
ihnen
bereitet wird, mitteilt.
Es iſt dies von der Wiſſen-
ſchaft
noch nicht vollkommen aufgeklärt, da das, was den Ge-
ſchmack
und die Wirkung von Getränken betrifft, nicht direkt dem
Bereiche
der Chemie angehört;
nur die Erfahrung hat gelehrt,
daß
jeder Sorte dieſer Getränke eine Eigentümlichkeit zukommt,
die
ſie vor anderen auszeichnet.
13951
Die hauptſächlichſten und wichtigſten geiſtigen Gährungen
ſind
und bleiben die des Weins und des Biers.
Beim Wein iſt es der Zucker der Weintraube, der in
geiſtige
Gährung verſetzt wird.
Die Hauptſache bei dieſer
Gährung
iſt, daß ſie langſam vor ſich geht, weshalb man den
Saft
der Weintraube, den Moſt, in Fäſſern nach dem Keller
bringt
, wo es ſo kühl iſt, daß die Gährung erſt nach einigen
Monaten
vollendet iſt.
Der Wein hat in dieſem Falle keine
Oberhefe
, ſondern die Hefe ſetzt ſich am Boden feſt und wird,
wie
wir bereits erwähnt, die Unterhefe genannt.
Wird der
junge
Wein in Flaſchen gebracht, ſo verbeſſert er ſich durch
eine
Nachgährung.
Geſchieht dieſe Nachgährung in verkorkten
Flaſchen
, ſo bleibt die Kohlenſäure im Wein und bildet die
brauſenden
Weinſorten, den Champagner, und da die Kohlen-
ſäure
ſich nicht entfernen konnte, ſo bleibt auch noch immer
ein
Theil des Zuckers unzerſetzt, woher der Champagner ſeinen
ſüßen
Geſchmack, ſeinen geringeren Gehalt an Weingeiſt und
ſeinen
Reichtum an Kohlenſäure hat, die das Knallen beim
Öffnen
, das Ziſchen und Schäumen beim Eingießen und den
prickelnden
, angenehmen Geſchmack beim Trinken verurſachen.
Wird aber auch die Nachgährung in offenen Flaſchen ab-
gewartet
, ſo geſchieht ſie doch ſo langſam, daß der Wein erſt
nach
und nach ſeinen Weingeiſt entwickelt, und wenn dann die
Flaſche
verkorkt und zur Ablagerung in den Keller gebracht
wird
, ſo ſetzt ſich die noch nicht ganz vollendete Gährung
äußerſt
langſam fort, und dies giebt dem Weine ſeinen feurigen
Geſchmack
, wenn er recht alt geworden iſt.
Obgleich es wiſſenſchaftlich noch nicht vollkommen erklärt
iſt
, ſo ſteht doch ſoviel feſt, daß es in den meiſten Fällen ein
weſentlicher
Unterſchied iſt, ob man eine chemiſche Veränderung
langſam
oder ſchnell vor ſich gehen läßt.
Dieſer Unterſchied
zeigt
ſich ſo recht beim Weine.
Läßt man ihn ſchnell voll-
kommen
ausgähren und ſucht den Zucker in kurzer Zeit
14052 ſtändig in Weingeiſt und Kohlenſäure zu verwandeln, ſo giebt
dies
nur einen ſchlechten, ſchnell in Eſſigſäure übergehenden
Wein
.
Läßt man aber all’ das langſam vor ſich gehen und
namentlich
ſo langſam, wie dies bei Weinen gebräuchlich iſt,
ſo
verbeſſert ſich der Wein fortwährend und erlangt jenen
hohen
Wert, der am alten Wein ſprichwörtlich geworden iſt.
XVIII. Die Fabrikation des Bieres in ſeinen
verſchiedenen Sorten. Die Bildung des Äthers
aus Alkohol.
Bei der Fabrikation des Bieres ſpielt ebenfalls die Zer-
legung
des Zuckers in Kohlenſäure und Weingeiſt die Haupt-
rolle
, und wie man dieſe vor ſich gehen läßt, ob langſam oder
ſchnell
, davon hängt es ebenfalls ab, welche Sorten von Bier
man
erhält.
Der Brauer ſtellt ſich zuerſt die Aufgabe, das Stärkemehl
der
Gerſte in Zucker zu verwandeln.
Er erreicht dies auf dem
bereits
erwähnten Wege, indem er das Gerſtenmalz mit heißem
Waſſer
überſchüttet und einige Zeit an einem warmen Orte
ſtehen
läßt.
Der Malzaufguß wird bei dieſem Vorgang ſüß,
indem
ſich, wie bereits angegeben, Dextrin und Zucker aus
dem
Stärkemehl bilden.
Jetzt erſt, nachdem dieſe erſte Ver-
wandlung
vor ſich gegangen, jetzt erſt kann die zweite chemiſche
Aufgabe
vorgenommen werden.
Zu dieſem Zwecke wird die
ſüße
Flüſſigkeit, die Würze genannt wird, durchgegoſſen.
Das
Malz
, das ſeinen Dienſt geleiſtet hat, wird wieder daraus ent-
fernt
und die Flüſſigkeit nun eingekocht, bis ſie kräftig und klar
genug
geworden iſt.
Läßt man ſie dann abkühlen bis auf
etwa
25 Grad und bringt etwas Hefe hinein, ſo beginnt die
zweite
chemiſche Umwandlung, die geiſtige Gährung, bei welcher
ſich
aus dem Zucker Alkohol und Kohlenſäure bildet.
14153
Auf ſolche Weiſe geſchieht die Fabrikation der ſüßen Bier-
ſorten
, die in wenig Tagen vollendet iſt;
das ſüße Bier iſt
noch
ſo zuckerhaltig, daß die Gährung noch in den Flaſchen,
die
man verkorkt, ſich fortſetzt und daher ein Getränk liefert,
dem
der Zucker, etwas Weingeiſt und eine Portion Kohlen-
ſäure
ihren Geſchmack geben.
Die gewöhnlichen Bitterbiere
erhalten
ihren bittern, den Magen ſtärkenden Nebengeſchmack
durch
einen Zuſatz von Hopfen oder andern Kräutern, die
ähnliche
Wirkung hervorbringen.
Die ſtärkeren Bierſorten, wie die ganzen bairiſchen Biere,
entſtehen
durch die langſame Gährung und zwar an kühlen
Orten
, wie in Kellereien, die beſonders hierzu gebaut werden.
Die Würze wird zu dieſem Zwecke bis auf etwa acht Grad
abgekühlt
, und ſodann in Fäſſern in die Keller gebracht, wo-
ſelbſt
es möglich kühl iſt.
Hier geſchieht nun die Gährung
außerordentlich
langſam und wird, wenn man ein recht gutes
Bier
haben will, bis auf mehrere Monate hin verzögert, wo-
durch
das Bier arm an Zucker, aber reicher an Alkohol und
Kohlenſäure
wird, und deshalb auch eine berauſchende Wirkung
ausüben
kann.
Dieſes Bier verliert ſeine Kohlenſäure nicht ſo leicht, hat
nicht
mehr Spuren von Hefe in ſich, da ſich dieſe als Unter-
hefe
am Boden anſetzt.
Es braucht nicht auf Flaſchen ge-
zogen
zu werden, indem eine Nachgährung nicht nötig iſt,
und
iſt am beliebteſten, wenn es friſch vom Faß kredenzt wird.
Daß das bairiſche Bier und alle ſeine Abarten teurer
ſind
als das gewöhnliche Bier, rührt nicht daher, daß es
teurere
Stoffe in ſich hat, ſondern liegt hauptſächlich darin,
daß
der Brauer das Kapital lange darin ſtehen laſſen muß,
ehe
ſein Bier trinkbar wird, und daß die Kellereien und Loka-
litäten
es verteuern.
Es iſt ein Leichtes, das Bier ſo lange gähren zu laſſen,
daß
es ſehr reich an Alkohol wird und außerordentlich
14254 rauſchend wirkt. Der Wert des Bieres wird aber dadurch
nicht
erhöht;
im Gegenteil iſt der Genuß von Bier, das zuviel
Alkohol
enthält, nicht ratſam.
Die bairiſchen Biere enthalten
meiſthin
5—8 Prozent Alkohol, was ſchon als das höchſte
Maß
angeſehen werden kann, bis zu welchem die Getränke
förderlich
ſind.
Wir haben nun die Verwandlungsreihen verfolgt, die das
Stärkemehl
der Pflanzen durchlaufen kann, und die alle ein
Ergebnis
der chemiſchen Zerſetzung ſind.
Es ſchließt aber die
Reihe
mit dem Alkohol nicht ab, ſondern ſie verzweigt ſich
nach
zwei Richtungen hin, indem man Alkohol beliebig in
Äther
oder Eſſig verwandeln kann.
Die Verwandlung des Alkohols in Äther iſt wiſſenſchaft-
lich
von beſonders hohem Intereſſe, hat aber in der praktiſchen
Welt
weniger Bedeutung, ſo daß wir uns mit wenigen An-
deutungen
hierbei begnügen wollen.
Der Äther wird durch Vermiſchung von Alkohol und
Schwefelſäure
hergeſtellt, bei welcher Miſchung nicht etwa die
Schwefelſäure
ein Beſtandteil des Äthers wird, ſondern nur
die
Aufgabe hat, dem Alkohol etwas von ſeinem Waſſerſtoff
und
Sauerſtoff zu entziehen.
Hierdurch kann man eine Flüſſig-
keit
herſtellen, welche den NamenSchwefeläther” führt.
Eine
Miſchung
von Schwefeläther und Alkohol bildet auch den
Hauptbeſtandteil
der bekannten Hoffmanns Tropfen, deren
Geruch
wohl jedermann kennt.
Nach dieſen Andeutungen über den Äther wollen wir nun-
mehr
zur Verwandlung des Alkohols in den bekannteren Stoff,
in
Eſſig, übergehen.
XIX. Die Verwandlung des Alkohols in Eſſig.
Kein Zweig der Fabrikation iſt durch die Chemie ſo außer-
ordentlich
erleichtert worden, als die Fabrikation des Eſſigs.
14355 Während die Chemie bei der Erzeugung von Zucker, von
Alkohol
und Bier nur Verbeſſerungen der Methode anzugeben
brauchte
, hat ſie in der Eſſig-Fabrikation ein ganz neues Ver-
fahren
eingeführt, und mit deſſen Hilfe iſt man jetzt imſtande,
ein
Fabrikat in wenig Stunden zu erzeugen, zu dem man
ſonſt
Wochen und Monate Zeit bedurfte.
Schon die gewöhnliche Erfahrung wird jeden belehrt haben,
daß
Bier in warmen Tagen ſauer wird.
Fragt man ſich, was
in
dem Gemiſch, welches im Bier enthalten, in Säure über-
gegangen
iſt, ſo findet man durch Verſuche, daß es der Alkohol
des
Bieres iſt, der ſich in eigentümlicher Weiſe in Eſſig ver-
wandelt
hat.
Man ſollte nun glauben, daß, wenn der Alkohol des
Bieres
die ganze Flüſſigkeit ſauer macht, der bloße Alkohol
um
ſo ſchneller in der Wärme zu Eſſig werden müßte;
allein
dem
iſt nicht ſo.
Es ſind zu dieſer Umwandlung außer der
Wärme
noch zwei Umſtände nötig, um ſie zu vollſtrecken und
wenn
dieſe beiden Umſtände nicht zuſammentreffen, ſo kann die
Verwandlung
nicht vor ſich gehen.
Dieſe zwei Umſtände ſind folgende. Erſtens muß in der
alkoholiſchen
Flüſſigkeit, mag ſie nun Bier, Wein oder Brannt-
wein
heißen, ein Stoff vorhanden ſein, der das Beſtreben hat,
den
Sauerſtoff der Luft an ſich zu ziehen und ihn dann dem
Alkohol
abzugeben.
Zweitens muß die Flüſſigkeit mit der Luft
in
Berührung kommen.
Im Branntwein iſt kein Stoff vorhanden, der Sauerſtoff
aus
der Luft anzieht, und deshalb kann man ihn in der Wärme
offen
ſtehen laſſen, ohne daß er in Eſſig umgewandelt werden
wird
.
Im Bier iſt jener Stoff wohl vorhanden. In jedem
Bier
und Wein iſt immer noch ein wenig Hefe vorhanden, die,
wenn
es warm wird, die Eigenſchaft hat, Sauerſtoff aus der
Luft
an ſich zu ziehen und ihn dem Alkohol der Flüſſigkeit
abzugeben
, und deshalb wird offenſtehendes, der Luft
14456 liches Bier oder dergleichen Wein ſauer und mit der Zeit
immer
ſaurer, bis aller Alkohol der Flüſſigkeit in Eſſigſäure
umgewandelt
worden iſt.
Eſſigſäure iſt alſo Alkohol, der eine bedeutende Portion
Sauerſtoff
in ſich aufgenommen und dafür eine beſtimmte
Menge
Waſſerſtoff abgegeben hat;
aber der Alkohol nimmt
den
Sauerſtoff nicht unmittelbar auf, ſondern er bedarf ge-
wiſſermaßen
eines Vermittlers, eines Kommiſſionärs, der für
ihn
den Sauerſtoff erſt aus der Luft bezieht und ihm dann
denſelben
überläßt, und dieſe Vermittlerrolle ſpielt im Bier
und
Wein die kleine Spur von Hefe, die darin enthalten iſt.
So ſonderbar es auch dem Unkundigen erſcheinen mag, daß
es
in der Chemie ſolche Kommiſſionäre geben ſoll, die gewiſſe
Dienſte
zum Nutzen anderer Stoffe verrichten, ſo wahr iſt doch
dieſe
Thatſache und ſo leicht läßt ſie ſich in vielen Fällen
nachweiſen
.
So iſt z. B. bei der Fabrikation der Schwefel-
ſäure
ein ſolcher Vermittler nötig, da bei der Verbrennung
des
Schwefels ſich zwar leicht ſchweflige Säure, eine luftartige,
halbfertige
Schwefelſäure, bildet, aber nicht wirkliche, flüſſige
Schwefelſäure
, wie man ſie braucht.
Um aus ſchwefliger
Säure
wirkliche Schwefelſäure zu machen, dazu gehört eine
ſtärkere
Portion Sauerſtoff, als der Schwefel beim einfachen
Verbrennen
aufnehmen kann.
Man bedient ſich deshalb der
Salpeterſäure
als eines Kommiſſionärs;
denn die Salpeter-
ſäure
, die ſehr viel Sauerſtoff enthält, giebt dieſen außer-
ordentlich
leicht an die ſchweflige Säure ab, aber in demſelben
Maße
, wie ſie ihn abgiebt, holt ſie ſich friſchen Sauerſtoff
aus
der Luft und ergänzt ſich ihren Verluſt, ſo daß gewiſſer-
maßen
die Salpeterſäure ein ununterbrochenes Kommiſſions-
geſchäft
verrichtet, das heißt:
immerfort Sauerſtoff aus der
Luft
nimmt, nicht um ihn zu behalten, ſondern um ihn der
ſchwefligen
Säure zuzuführen, die dadurch fertige Schwefel-
ſäure
wird.
14557
Wer Gelegenheit hat, eine Schwefelſäure-Fabrik zu be-
ſuchen
, der unterlaſſe nicht, ſich die Einrichtung zeigen zu
laſſen
und vergeſſe auch nicht, ſich die Salpeterſäure anzuſehen,
die
dieſen getreulichen Kommiſſionsdienſt pünktlicher als alle
Kommiſſionäre
der Welt verrichtet.
Ein gleiches Kommiſſionsgeſchäft führt die Spur von Hefe
aus
, die im Bier vorhanden iſt.
Die Hefe zieht Sauerſtoff aus der Luft an, was der Al-
kohol
ſelbſt nicht thut;
aber der Alkohol hat die Eigenſchaft,
der
angeſäuerten Hefe den Sauerſtoff zu entziehen, und ihn
ſelber
in ſich aufzunehmen.
Die Hefe wird dadurch ihren
Sauerſtoff
los und wiederum fähig, neuen Sauerſtoff aufzu-
nehmen
.
Sie thut es, wird wiederum vom Alkohol ihres
Sauerſtoffes
beraubt und wird wiederum fähig ſich neuen
Sauerſtoff
zu holen;
und ſo geht dies Kommiſſionsgeſchäft
immerfort
, bis endlich aller Alkohol zu Eſſigſäure geworden iſt.
Wenn nun auch die Spur von Hefe im Bier ein ſehr
getreuer
Kommiſſionär iſt, ſo geht doch das Kommiſſions-
geſchäft
, wie ſich denken läßt, für die Eſſigfabrikation viel zu
langſam
, und deshalb wollen wir im nächſten Artikel die beſſeren
Kommiſſionäre
kennen lernen, durch die das Geſchäft in einer
unglaublichen
Schnelligkeit betrieben wird.
XX. Die ſchnellere Verwandlung des Alkohols
in Eſſig.
Die Umwandlung des Weingeiſtes in Eſſig geſchieht ſchon
ſchneller
als beim gewöhnlichen Sauerwerden des Bieres oder
Weins
, ſobald man zu dem verdünnten Weingeiſt einen bereits
eſſigſauren
Stoff bringt.
Wenn man etwas Branntwein in ein Glas gießt, ihn mit
Waſſer
verdünnt, und ein wenig Sauerteig oder einen
14658 Brot, das mit Eſſig befeuchtet iſt, hineinſtellt, ſo verrichtet
dieſe
angeſäuerte Zuthat gleichfalls die Vermittelung, von der
wir
bereits geſprochen haben.
Der Alkohol des Branntweins
entzieht
dem Sauerteig oder dem Brot den Sauerſtoff, während
dieſes
immer friſchen Sauerſtoff aus der Luft anzieht und
dieſes
Übertragen des Sauerſtoffs der Luft auf den Alkohol
geht
ſo lange fort, bis aller Alkohol in Eſſigſäure umgewandelt
worden
iſt.
Zwar iſt dies in aller Strenge nicht ganz ſo. Nicht der
ganze
Alkohol wird Eſſig, ſondern der Alkohol verliert durch
dieſen
Vorgang etwas von ſeinen Beſtandteilen, und der Reſt
wird
Eſſig.
Dieſer Verluſt beſteht darin, daß der Alkohol
einen
Teil ſeines Waſſerſtoffs abgiebt und zwar dem hinzu-
tretenden
Sauerſtoff abgiebt, damit dieſer mit dem Waſſerſtoff
Waſſer
bildet.
Hiernach entſteht eigentlich aus einem Pfund
Alkohol
eine Flüſſigkeit, die mehr wiegt als ein Pfund.
Das
Waſſer
und die Eſſigſäure zuſammen betragen auch dem Maße
nach
mehr, als der Alkohol betragen hat;
denn es iſt Sauer-
ſtoff
aus der Luft hinzugekommen, der mit dem Waſſerſtoff
des
Alkohols Waſſer gebildet hat;
aber gerade darum, weil
der
Alkohol etwas von ſeinen Beſtandteilen verlieren mußte,
um
Eſſigſäure zu werden, darum iſt aus dem Pfund Alkohol
nicht
ein Pfund reine Eſſigſäure geworden.
Reine Eſſigſäure iſt daher auch viel teurer als reiner
Alkohol
;
unſer gewöhnlicher Eſſig aber iſt darum ſo bedeutend
billiger
, weil er aus ſehr wenig reiner Eſſigſäure und ſehr viel
Waſſer
beſteht.
Seitdem aber der Fortſchritt der Wiſſenſchaft den eigent-
lichen
Hergang bei der Eſſigbildung kennen lehrte, iſt die
Fabrikation
des Eſſigs nicht nur außerordentlich leicht, ſondern
ſie
geſchieht auch ungemein ſchnell, und deshalb iſt jetzt Eſſig
unvergleichlich
billiger als früher.
Die Schnell-Eſſigfabrikation gehört zu den
14759 und verbreitetſten Fabrikationszweigen, weil man zu derſelben
außerordentlich
wenig Einrichtungen braucht.
Die ganze
Fabrik
beſteht eigentlich in einer einzigen To@ne, an deren
einem
Ende man ordinären Branntwein mit viel Waſſer ver-
dünnt
eingießt und an deren anderem Ende Eſſig ausfließt.
Um zu zeigen, wa@ in dieſer Tonne vorgeht, wollen wir
hier
eine kurze Schilderung derſelben verſuchen.
Die aufrecht ſtehende Tonne hat oben einen Boden, der
viele
Löcher hat.
Durch jedes dieſer Löcher wird ein Stückchen
Bindfaden
geſteckt, woran ein Knoten gemacht wird, damit der
Bindfaden
nicht durchfällt.
Wird nun auf dieſen Boden ver-
dünnter
Branntwein gegoſſen, ſo fließt er an den Bindfäden
langſam
tropfenweiſe hinein in die Tonne.
Inwendig aber iſt die Tonne mit Hobelſpänen aus Büchen-
holz
gefüllt, welche einige Zeit in Eſſig gelegt waren;
der
verdünnte
Branntwein alſo fließt hier in der Tonne auf die
angeſäuerten
Hobelſpäne, und der Alkohol des Branntweins,
der
an den Hobelſpänen entlang fließt, verwandelt ſich auf dem
weiten
Wege, den er langſam von Span zu Span durchwandert,
in
Eſſigſäure.
Damit aber dies vor ſich gehen kann, muß,
wie
wir bereits wiſſen, die Luft freien Zutritt haben.
Zu
dieſem
Zwecke ſind in der Nähe des untern und obern Bodens
der
Tonne Löcher eingebohrt.
Durch den chemiſchen Vorgang
entſteht
in der Tonne von ſelber ein hoher Grad von Wärme,
ſo
daß die Luft, die in der Tonne warm wird, zu den oberen
Löchern
ausſtrömt, während durch die untern Löcher friſche
Luft
einſtrömt.
Es entſteht demnach innerhalb der Tonne
eine
Luftſtrömung, ähnlich wie die in unſern Lampen-Cylindern,
wo
auch oben heiße Luft ausſtrömt und unten kalte Luft ein-
ſtrömt
.
Dieſe friſche Luft aber bringt den Hobelſpänen immer
friſchen
Sauerſtoff zu und giebt immer mehr Veranlaſſung,
die
Eſſigſäure zu bilden.
So langt der Alkohol, der oben auf den Boden der
14860 gegoſſen wird, um langſam an den Schnüren hinabzufließen,
durch
den weiten Weg, den er tropfend-fließend von Hobelſpan
zu
Hobelſpan macht, und, von dem friſchen Sauerſtoff der Luft
ſtets
umweht, in verwandelter Natur auf dem untern Boden
der
Tonne an, und durch einen Hahn, der daſelbſt angebracht
iſt
, fließt er als Eſſig aus.
Man hat es nicht nötig, die Hobelſpäne wiederum in
Eſſig
zu legen, denn ſie tränken ſich von ſelber immerfort mit
friſchem
Eſſig, der in ihnen entſteht.
Die Fabrik alſo ergänzt
ſich
immer ſelber und wenn nur jemand dafür ſorgt, daß
oben
der Alkohol aufgegoſſen und unten der Eſſig fortgebracht
wird
, ſo iſt die Fabrik in ununterbrochenem Gange.
XXI. Die Bedeutung der Chemie als Wiſſenſchaft.
Bevor wir nunmehr unſer diesmaliges Thema verlaſſen,
wollen
wir noch zeigen, wie übergroß das Gebiet der Chemie
bereits
iſt und wie unendlich groß noch die Aufgabe iſt, die
ſie
ſich zu ſtellen hat und auch ſchon ſtellt.
Man kann im vollen Sinne des Wortes ſagen: die Chemie
iſt
ſo unendlich wie die Welt.
Alles, was wir bisher unſern Leſern in kurzen Umriſſen
vorgeführt
haben, iſt im Grunde genommen nichts als ein
ſchwaches
und ſehr unvollkommenes Bild der Verwandlungen,
welche
vier Urſtoffe annehmen können.
Wir haben ſo eigentlich
nur
mit Sauerſtoff und Waſſerſtoff, Stickſtoff und Kohlenſtoff
etwas
zu thun gehabt, und haben dieſe in ihrem Weſen als
unorganiſche
wie als organiſche Verbindung in einigen
Pflanzenſtoffen
gezeigt.
Es giebt aber, wie bereits erwähnt,
einige
ſiebzig Urſtoffe, und jeder dieſer Stoffe ſpielt eine Rolle
in
der Welt und muß von der Wiſſenſchaft in all ſeinen Ver-
bindungen
betrachtet werden;
und wenn auch nicht jeder
14961 Stoffe gleiche Wichtigkeit in der Welt hat wie die oben ge-
nannten
, ſo iſt doch wohl klar einzuſehen, daß die große Zahl
derſelben
das Gebiet der Wiſſenſchaft unendlich erweitert.
Aber wäre man auch mit dieſen Stoffen ſchon fertig, ſo
bliebe
doch noch ein unüberſehbares Feld des Forſchens, um
all
die Rätſel zu löſen, die ſich in jedem einzelnen Stoffe
zeigen
.
Der gründliche Chemiker beruhigt ſich nicht mit der
Thatſache
, daß Kohlenſtoff die Neigung hat, ſich mit dem
Sauerſtoff
der Luft zu verbinden und daß dieſe Verbindung
im
Verbrennen vor ſich geht.
Er fragt ſich, was iſt denn dieſe
rätſelhafte
Neigung?
Warum verbindet ſich mit einer be-
ſtimmten
Menge Kohle nur eine ganz genau beſtimmte Portion
Sauerſtoff
?
Was geht denn vor im Moment dieſer Verbindung?
Liegen in der Kohlenſäure die Kohle und der Sauerſtoff neben
einander
in unſichtbaren, kleinen Teilchen geordnet, oder durch-
dringen
ſie einander derart, daß ſelbſt ein Mikroſkop, das
unendlich
vergrößert, kein Teilchen beider Stoffe zeigen würde?

Die
Wiſſenſchaft hat höchſt ſinnreiche Geſetze der Verbin-
dungen
aufgefunden, die ſich immer mehr und mehr beſtätigt
haben
;
allein der Grund dieſer Geſetze iſt im höchſten Grade
rätſelhaft
.
Nicht minder ſind höchſt auffallende Entdeckungen gemacht
worden
über den Zuſammenhang des Gewichts der Urſtoffe
zu
der Art ihrer chemiſchen Verbindung.
Aber auch dieſes
ſind
noch große Rätſel, die ihrer wiſſenſchaftlichen Löſung
harren
.
Noch intereſſanter ſind die Entdeckungen, die darthun,
daß
ein ganz enger Zuſammenhang beſteht zwiſchen der Fähig-
keit
eines Urſtoffes, ſich chemiſch mit einem anderen zu ver-
binden
, und der Fähigkeit desſelben Urſtoffs, ſich zu erwärmen.
Allein auch dieſes Geſetz erwartet noch ſeinen ſcharfſinnigen
Meiſter
, der es genau nachweiſt und erklärt.
Begeben wir uns gar auf das Feld der Chemie der
Pflanzenſtoffe
, der organiſchen Chemie, ſo erweitert ſich
15062 Aufgabe bis zu ganz unüberſehbaren Grenzen. Was man
ſonſt
Leben und Lebenskraft nannte und in früheren Zeiten
durch
bloße Spekulationen erkannt haben wollte, das hat jetzt
die
Naturwiſſenſchaft und namentlich die Chemie vor ihre
Schranken
gerufen und verſucht ihre Kraft an dieſer höchſten
Aufgabe
des menſchlichen Geiſtes.
XXII. Die höchſte Aufgabe der Tierchemie.
Noch weit erhabener und unüberſehbar erſcheint das Gebiet
der
Chemie, wenn man ſich auf das Feld begiebt, das von
ihren
Meiſtern erſt in den letzten Jahrzehnten betreten worden
iſt
, wir meinen das Feld der Tierchemie.
Wenn ſchon in den Pflanzen die Chemie eine ſo unüber-
ſehbare
Rolle ſpielt, wenn ſie ſchon dort aus der verſchiedenen
Zuſammenſtellung
der vier Urſtoffe, die wir in Betracht ge-
zogen
haben, eine ſo unendliche Reihe von verſchiedenen Pflanzen-
ſtoffen
erzeugt, daß die Forſcher faſt ermüden, ihre Grenzen
aufzuſuchen
, ſo iſt das, was die Chemie in der Tierwelt
erzeugt
, von noch garnicht überſehbarer Ausdehnung.
Ein Stückchen Fleiſch oder ein beliebiger Beſtandteil des
tieriſchen
Körpers (Fig.
6) von der Größe eines Nadelkopfes
iſt
für den Forſcher, der es mit dem Mikroſkop unterſucht,
gewiſſermaßen
ein Berg, über den ſich Frage über Frage auf-
türmt
.
Es iſt ein Gewirre von unendlich feinen Nervenfaſern,
und
jedes Nervenfäſerchen zeigt verſchiedene Beſtandteile, von
denen
jedes beſonders unterſucht werden muß, da es ſicherlich
auch
von verſchiedener chemiſcher Beſchaffenheit iſt.
Durch
dieſes
.
Gewirr von Nervenfäſerchen ſchlängelt ſich ein anderes
Gewirr
von faſt unſichtbaren Blutgefäßen, von Äderchen, deren
es
wiederum zwei Gattungen giebt, deren beiderſeitige Grenzen
man
nicht einmal kennt.
Dieſes Gewirr von Nervenfaſern
15163 Blutgefäßen durchſchlängelt das Muskelfleiſch, das wiederum
aus
einer großen Reihe vereinzelter Gebilde, den Muskelfaſern,
beſteht
.
Jede Muskelfaſer kann wieder Querſtreifen zeigen, die
regelmäßig
über dieſelbe verteilt ſind und ihr das Anſehen
einer
feinen Perlenſchnur geben.
Dazwiſchen befindet ſich
Bindegewebe
von wiederum anderer Natur und chemiſcher
13[Figure 13]Fig. 6.Mikroſkopiſche Struktur der menſchlichen Milz. Beſchaffenheit, und all das iſt durchtränkt von einer Flüſſigkeit,
die
nicht Blut und nicht Fleiſch iſt.
Will nun die Wiſſenſchaft mit jener Gewiſſenhaftigkeit zu
Werke
gehen, welche ihr ziemt, ſo darf ſie es jetzt nicht mehr
machen
wie ehedem, wo ſie ein ganzes Stück Fleiſch in Pauſch
und
Bogen unterſuchte und die chemiſchen Beſtandteile von
ſamtundſonders
bekannt machte, ſondern ſie hat vorerſt die
unendlich
ſchwierigere Aufgabe, jeden Teil zu ſondern,
15264 Stuckchen Fleiſch, das für das bloße Auge kaum ſichtbar iſt,
in
ſeine verſchiedenen Gebilde zu trennen, jeden getrennten
Teil
in ſeinen verſchiedenen Geſtalten zu unterſuchen, jede
Geſtalt
von neuem einer Unterſuchung zu unterwerfen, und
erſt
dann, auf eine Reihe von faſt übermenſchlichen Mühen
und
Forſchungen gegründet, an die Frage zu gehen:
wie wirken
all
dieſe vereinzelten Gebilde zu- und aufeinander ein?
Wie aber, wenn zu all den Unterſuchungen noch die Frage
hinzutritt
, ob nicht in dem unter dem Mikroſkop liegenden
Stückchen
toten Körperteil ganz andere Beziehungen obwalten,
als
in demſelben während des Lebens thätig ſind?
Gewiß, der Laie erſchrickt vor der Unmaſſe von Schwierig-
keiten
und Fragen, der Mühen und Forſchungen, die ſich berg-
hoch
auftürmen, wenn man auch nur das kleinſte Gebilde der
Tierwelt
bis zu den Grundbeſtimmungen verfolgen ſoll.
Wer
ſich
einen Vorbegriff derartiger Arbeiten verſchaffen will, der
blicke
einmal in die neueſten Werke dieſes Faches.
Es wird
ihn
Erſtaunen und Bewunderung erfaſſen vor dem Geiſtes-
und
Forſcherdrang, der in dieſer Wiſſenſchaft leben muß, wenn
er
ſieht, wie Hunderte von Gelehrten ſich vereinen müſſen in
ihren
Beſtrebungen, um dieſer erhabenen Wiſſenſchaft auch nur
einen
Schritt weiteren Raum abzugewinnen;
aber er wird auch
eine
Ahnung erhalten von dem großen Geiſt der Wahrhaftig-
keit
und Treue, der in der Wiſſenſchaft waltet, die nicht ſich
und
andere täuſchen und nicht mit leeren Worten die Lücken
verdecken
und die Grenzen verwiſchen will, die der jetzigen
Erkenntnis
geſteckt ſind.
Aber eines wird er gewahren, daß es vorwärts geht.
Langſam und nach allen Seiten hin zerſtreut, bewegt ſich dieſer
Zweig
der Wiſſenſchaft, der in innigſter Berührung mit allen
Naturwiſſenſchaften
ſteht;
aber ſeiner Jünger ſind nicht wenig.
In
Deutſchland, England und Frankreich hat die Wiſſenſchaft
der
Tierchemie ihre treuen Verehrer und unermüdlichen Jünger.
15365 Viele Tauſend Mikroſkope ſuchen und unterſuchen Stoffe der
Tierwelt
, um des Lebens innerſte Geheimniſſe an dem Stoffe
zu
erforſchen.
Viele Namen, dem Volke unbekannt, viele
Männer
, vom Volke unbeachtet, ſind Zierde und Stolz der
Wiſſenſchaft
geworden.
Wie im geſellſchaftlichen Leben, hat auch im wiſſenſchaft-
lichen
die Teilung der Arbeit ſtattgefunden, in welcher jeder
auf
ſeinem Poſten treu ausharrt, bis ein großer Meiſter kommt,
der
Teil zu Teil fügt und zur Einheit des Geiſtes geſtaltet,
was
jetzt die Geiſter der Einzelnen hegen.
Und nun ſchließen wir unſer Themaein wenig Chemie”
mit
dem Wunſche, daß wir durch unſere Darſtellung Liebe und
Verehrung
zu dieſer Wiſſenſchaft, ihren Jüngern und Meiſtern
und
Geiſtern im Volke angeregt und den Gedanken befeſtigt
haben
, daß die Welt im Fortſchritt und die Wiſſenſchaft nicht
im
Umkehren begriffen iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
154
Über Bäder und deren Wirkung.
I. Was das Waſſer alles kann.
In der Zeit, in welcher immer mehr das Baden teils
zur
Herſtellung, teils zur Erholung der Geſundheit, teils als
Kühlung
, teils als angenehme Beluſtigung außerordentlich in
Aufſchwung
gekommen iſt, halten wir es für geeignet, unſern
Leſern
über Bäder und deren Wirkung ein paar Worte der
Belehrung
vorzuführen.
Daß es mit dem Baden ſeine eigene Bewandtnis haben
müſſe
, das hat wohl ſchon jeder bemerkt, der ſich all’ diejenigen
anſieht
, welche ſich beim Gebrauch eines und desſelben gewöhn-
lichen
Bades zuſammenfinden.
Hier ſehen wir oft einen
Schmerbauch
, der in der Hoffnung, daß das Waſſer, wie er
ſagt
, “zehrt”, ſeinen übermäßig genährten Leib den Wellen
anvertraut
, um mager zu werden.
Neben ihm erblicken wir
einen
hagern, bleichen Mann, der mit Neid auf die Fülle ſeines
Nachbars
blickt, und der in der Hoffnung ins Bad geht, ſeine
geſchwächte
Ernährung aufzurichten.
Dort ſehen wir einen
Beamten
, einen Gelehrten, der durch den ganzen Tag ſeinen
Stuhl
nicht verlaſſen hat, ins Waſſer gehen, um ſeinen ſteif-
gewordenen
Leib anzuregen, und neben ihm wirft ein Arbeiter,
der
ſeine Glieder durch den ganzen lieben langen Sommertag
mit
Energie und im Schweiß ſeines Angeſichts gerührt hat,
ſeine
Kleider ab, um ſich im Waſſer zur erquicklichen Ruhe
vorzubereiten
.
Da klagt einer über Schläfrigkeit und
15567 in den Gliedern und hofft durch ein Flußbad aufgeweckt zu
werden
;
und neben ihm erzählt ein anderer, wie er ohne Bad
die
Nacht in Schlafloſigkeit zubringe und wie dies ihn nötige,
ſich
aus dem Waſſer Schlafluſt zu holen.
Dem einen ſitzt es
im
Kopf, dem andern in den Beinen, und beide gehen ins naſſe
Element
, um der Geſundheit teilhaftig zu werden.
Und zwiſchen
dieſen
, welche die entgegengeſetzten Wirkungen vom Bade hoffen,
wimmeln
völlig Geſunde umher, um ſich im Waſſer zu tummeln
und
auf den Wellen umherzuſchwimmen aus purer, friſcher
Lebensluſt
.
Bedenken wir nun, daß faſt alle das Bad verlaſſen mit
dem
Gefühl, daß es ihnen wohlgethan, und daß dieſes Gefühl
nur
höchſt ſelten täuſcht, daß mithin das Bad wirklich die
gehoffte
Wirkung hat, ſo muß man geſtehen, daß es mit dem
Baden
in der That ſeine eigene Bewandtnis habe und daß
im
Waſſer eine Art Univerſal-Medizin ſein muß, die in allen
Fällen
wohlthätig einwirkt.
Wir haben hier freilich nur das kalte Flußbad im Auge
gehabt
, deſſen man ſich in den Sommermonaten ſo fleißig
bedient
, und auch nur die keineswegs kranken Beſucher desſelben
betrachtet
, die nicht an Übeln leiden, welche ſie nötigen, die
Hilfe
des Arztes in Anſpruch zu nehmen.
Bedenken wir jedoch,
daß
in vielen Krankheitsfällen die Bäder als eines der wirk-
ſamſten
Heilmittel gelten, daß es Waſſerheilanſtalten giebt, in
denen
viele Gebrechen in der That Hilfe und Linderung und
oft
vollſtändige Heilung finden, daß See- und Mineral-Bäder
der
Sammelplatz vieler Schwerleidenden ſind, daß ſelbſt bei
häuslicher
Behandlung die Umſchläge, die kalten Einwickelungen,
die
naſſen Abreibungen, die lauen und die kalten Begießungen
und
Bäder eine weſentliche Rolle ſpielen, daß endlich gar
außerordentlich
heiße Dampfbäder, wo der Leib nicht dem
Waſſer
, ſondern der Hitze des Waſſerdampfes ausgeſetzt wird,
zur
Anwendung kommen, und zwar meiſthin mit
15668 Erfolge, ſo muß ſich die Achtung vor der Wirkung des Bades
im
Allgemeinen nur ſteigern, und man wird es gerechtfertigt
finden
, wenn wir das Nachdenken unſerer Leſer auf dieſes
Thema
lenken.
Bei unſern naturwiſſenſchaftlichen Betrachtungen können
wir
freilich nicht auf die rein mediziniſchen Bäder eingehen.
Wir ſchreiben nicht für Ärzte, die die wiſſenſchaftlichen Quellen,
aus
denen wir ſchöpfen, teils ſelber eröffnen, teils fleißig
benutzen
.
Noch weniger ſchreiben wir für Kranke, weil wir
das
ſchwere Übel kennen, welches gemeinfaßliche Schriften für
Kranke
zu Wege bringen.
Schriften dieſer Art haben ſtets
nur
Hypochonder gemacht, und ſind auch meiſt nur eine
Spekulation
auf die große Zahl derer, die von dieſer leben-
verbitternden
Krankheit geplagt ſind.
Wir ſchreiben für
Geſunde
, die ihre Geſundheit erhalten wollen, ohne allzu
ängſtlich
nach dem eigenen Puls zu fühlen;
wir ſchreiben für
ſolche
, die zugleich den Wunſch haben, die Wirkung des Bades
vom
naturwiſſenſchaftlichen Standpunkt aus beurteilen zu können,
und
die Einſicht wünſchen in eine in der That außerordentliche
Heil-
und Geſundheits-Quelle, welche die Natur uns im Waſſer
und
in der verſchiedenen Art ſeiner Anwendung liefert.
Um zu dieſer Einſicht zu gelangen, wollen wir nicht ſo-
gleich
einen Kopfſprung ins Waſſer machen, ſondern wir
müſſen
einige wichtige Dinge, die dieſem Thema drum und
dran
hängen, vorerſt näher kennen lernen.
II. Wir leben in einem Luftbade.
Wenn wir uns über die verſchiedenen Wirkungen der
Bäder
klare Rechenſchaft geben wollen, müſſen wir auf die
Naturbeſchaffenheit
der Luft Rückſicht nehmen, in welcher wir
leben
, auf die Naturbeſchaffenheit des Waſſers, mit
15769 wir ſtatt der Luft zeitweiſe während des Badens unſern Körper
umgeben
, und endlich auf die Naturbeſchaffenheit unſerer Haut,
die
eigentlich das Hauptgeſchäft beim Baden zu verrichten hat.
Im natürlichen Zuſtand ſind wir ſtets von einer Luft-
ſchicht
umgeben, die von weſentlichem Einfluß auf unſern Körper
iſt
.
Nicht allein, daß wir die Luft durch die Lungen ein-
atmen
, ihren Sauerſtoff verbrauchen und das Verbrauchte
als
Kohlenſäure wieder ausatmen, wir ſtehen auch durch unſere
Haut
in fortwährender Wechſelwirkung mit der Luft.
Wir
ſcheiden
fortwährend Waſſerdunſt durch die Haut aus und
nehmen
auch Sauerſtoff aus der Luft ein.
Wir werden ſofort zeigen, wie unſere Haut zu dieſem
Geſchäft
ganz vortrefflich eingerichtet iſt;
für jetzt wollen wir
nur
die eine Thatſache hier anführen, die den Beweis liefert,
daß
wir ohne dieſe Wechſelwirkung zwiſchen unſerm Innern
und
der Luft nicht leben können.
Wenn man zwei Drittel
der
Haut durch irgend einen Lack-Überzug undurchdringlich
macht
, und ſo die Ausdünſtung und die Einwirkung durch die
Haut
vermindert, dann erfolgt nach kurzer Zeit der Tod.
Bei Verbrennungen eines großen Teils der Haut, wie dies
zuweilen
in Fällen ſtattfindet, wo Perſonen, die ſich den Körper
mit
Spiritus gewaſchen, einem Lichte zu nahe kommen, ſind
es
nicht die oft nur ſehr leichten Brandwunden, die ſo ge-
fährlich
werden, ſondern es erfolgt zuweilen der Tod, weil
die
angebrannte Haut die Ausdünſtung und Einwirkung der
Luft
verhindert.
Da wir fortwährend und in allen Teilen unſeres Körpers
von
Luft umgeben ſind, ſo wirkt ſowohl die Wärme wie die
Kälte
der Luft auf uns ein.
Allein die Luft hat eine Eigen-
ſchaft
, welche dieſe Einwirkung ſehr mildert.
Die Luft iſt ein
ſchlechter
, ja der ſchlechteſte Wärme-Leiter.
Das heißt: die
Wärme
bahnt ſich ſehr ſchwierig ihren Weg durch die Luft,
und
deshalb verlieren wir durch die kalte Luft nicht
15870 Wärme aus dem Körper, und giebt uns heiße Luft nicht ihre
ganze
Wärme ab.
Tritt man im Winter in ein ſehr kaltes
Zimmer
, ſo wird man die Beobachtung machen, daß es ſehr
lange
dauert, bevor man an Geſicht und Händen in ſolchem
Zimmer
ſchlimme oder ſchmerzhafte Eindrücke der Kälte em-
pfindet
.
Ganz anders iſt es aber, wenn man die Hand in Waſſer
ſteckt
, das z.
B. nur drei Grad Wärme hat; obgleich das Waſſer
vielleicht
wärmer iſt als die Luft jenes Zimmers, geht doch
die
Erkaltung der Hand außerordentlich ſchneller und alſo auch
empfindlicher
vor ſich.
Daß es mit der Erwärmung ebenſo
iſt
, davon kann man ſich gleichfalls durch Verſuche überzeugen.
Sehr oft iſt es in heißen Sommertagen auf der Sonnenſeite
der
Straße kaum auszuhalten vor Hitze, während man nur
einen
Schritt nach der Schattenſeite zu thun braucht, um an-
genehme
Kühlung zu empfinden.
Würde ſich die Wärme
leicht
durch die Luft mitteilen, ſo würde es im Schatten ſo
heiß
ſein wie in der Sonne.
Heiße Luft giebt ihre Wärme
ſehr
ſchwer ab.
Die wirtlichen Hausfrauen ſetzen bei vielen
Verrichtungen
am Feuerheerd ihre Hände ſehr oft einer außer-
ordentlich
hohen Hitze aus, und zuweilen, z.
B. beim Kaffee-
brennen
, geſchieht dies durch ſehr lange Zeit, ohne daß ſie
ſich
die Hände verbrennen.
In einer Röhre des Stubenofens,
worin
Waſſer in Kochen gerät, herrſcht eine Hitze von mindeſtens
100
Grad Celſius, gleichwohl kann man die Hand in die Röhre
halten
, ohne ſich zu verbrennen.
In den geheizten Bratöfen
unſerer
gewöhnlichen Küchen herrſcht oft eine bei weitem größere
Hitze
, in welcher ſogar Fett verdampft, und dennoch ſteckt die
Hausfrau
auf kurze Zeit ohne Gefahr den Arm hinein, um
den
Braten zurechtzurücken und ſchützt ſich höchſtens die Finger,
mit
welchen ſie die Bratpfanne berührt.
In Dampfbädern,
woſelbſt
oft eine Hitze von 100 Grad herrſcht, kann man es
eine
Zeitlang recht gut aushalten.
Bei Dampfmaſchinen ſteht
der
Maſchiniſt und Feuermann in einem Raum vor dem
15971 woſelbſt zuweilen ein furchtbarer Grad von Hitze herrſcht, ohne
daß
dieſe ihnen ſchadet.
Wie ſehr man ſich aber verbrüht,
wenn
auch nur eine Sekunde den Finger in Waſſer ſteckt, das
70—80
Grad heiß iſt, wird ſchon jeder ſelber erfahren haben.
Hieraus geht hervor, daß es mit der Luft ein ganz eigen
Ding
und durchaus anders iſt, als mit Waſſer.
Kalte Luft
entzieht
unſerm Körper nicht ſchnell Wärme.
In der Luft
alſo
, in welcher wir leben, vermag ſich die Wärme unſeres
Körpers
auf dem ihm natürlichen und nötigen Grad ſehr lange
zu
erhalten.
Wir können kältere, wir können heißere Luft
vertragen
, ohne ſofort darunter zu leiden und eine bedeutende
Veränderung
im Körper zu verſpüren.
Wir leben in der Luft: das heißt, wir genießen fort-
während
ein Luftbad:
da aber, wie wir ſogleich ſehen werden,
das
Waſſer von anderer Naturbeſchaffenheit iſt als die Luft,
ſo
darf es uns nicht wundern, daß eine Veränderung mit uns
vorgeht
, wenn wir ein Waſſerbad nehmen.
III. Wie Waſſer ein ander Ding iſt.
Die Naturbeſchaffenheit des Waſſers iſt in den Punkten,
in
welchen wir im vorhergehenden Abſchnitt die Luft betrachtet
haben
, und ebenſo in anderen weſentlich von dieſer verſchieden.
Die Luft an ſich iſt trocken; ſie nimmt aber Feuchtigkeit
in
ſich auf, das heißt, es verdampfen wäſſerige Flüſſigkeiten,
wenn
ſie der Luft ausgeſetzt werden.
Die Luft zehrt alſo am
Waſſer
, und zwar in ſehr ſtarken Portionen;
das Waſſer da-
gegen
nimmt nur wenig Luft in ſich auf;
es hat aber die
Eigenſchaft
, einen großen Teil feſter Stoffe, mit denen es in
Berührung
kommt, aufzulöſen und ſich beizumiſchen.
Setzt man bei trockenem Wetter einen Teller mit etwas
Waſſer
an die freie Luft, ſo wird man bald finden, daß
16072 Waſſer weniger wird und nach und nach ganz und gar ver-
ſchwunden
iſt.
Im gewöhnlichen Leben ſagt man, das Waſſer
ſei
ausgetrocknet oder eingetrocknet;
in Wahrheit aber iſt hier
eine
Verwandlung des Waſſers vor ſich gegangen.
Es hat ſich
nach
und nach in Waſſerdunſt verwandelt;
dieſer Waſſerdunſt
hat
ſich der Luft, die über den Teller dahinſtrich, beigemiſcht
und
ſchwebt jetzt in der Luft und mit dieſer umher.
Das
Waſſer
alſo iſt luftförmig geworden.
Wie aber iſt es, wenn in dem Waſſer irgend etwas auf-
gelöſt
geweſen iſt?
Was wird daraus, wenn man etwas
Zuckerwaſſer
oder Salzwaſſer in dem Teller der Luft aus-
geſetzt
hat?
Schwimmt dann auch der Zucker oder das Salz
mit
in der Luft umher?
Es iſt dies keineswegs der Fall;
man kann ſich vielmehr durch einen Verſuch ſehr leicht davon
überzeugen
, daß Zucker oder Salz und ganz ſo alles andere,
das
im Waſſer aufgelöſt enthalten iſt, im Teller zurückbleibt
und
in feinen Kryſtallen ſichtbar wird.
Wir ſehen alſo, daß das Waſſer auflöſend iſt, das heißt,
es
verwandelt viele feſte Stoffe in Flüſſigkeiten und miſcht ſich
dieſen
bei, dagegen iſt die Luft deſtillierend, das heißt, ſie
verwandelt
das Waſſer in Gas und läßt die in demſelben auf-
gelöſt
geweſenen Stoffe als feſten Beſtandteil zurück.
Auf dieſem Vorgang, der Auflöſung vieler Stoffe im
Waſſer
und dem Deſtillieren des Waſſers und dem Zurück-
bleiben
der feſten Beſtandteile durch die Thätigkeit der Luft,
beruht
ein bedeutender Teil der Thätigkeit der Natur ſowohl
in
der belebten wie in der unbelebten Welt;
wir können jedoch
in
unſerm Thema nicht weiter Rückſicht darauf nehmen und
müſſen
die weiteren Verſchiedenheiten des Waſſers und der Luft
näher
ins Auge faſſen.
Wir haben geſehen, daß die Luft ein ſehr ſchlechter Leiter
der
Wärme iſt, das heißt:
ſie nimmt ſehr langſam die Wärme
auf
und giebt ſie ſehr langſam wieder von ſich;
beim
16173 iſt es anders. Zwar iſt Waſſer im Vergleich mit anderen
Stoffen
, z.
B. mit Metallen noch immer ein ſehr ſchlechter
Wärmeleiter
.
Allein im Vergleich zur Luft iſt Waſſer immer
noch
ein ſtarker Leiter der Wärme.
Unſere Hand erkaltet
viel
ſchneller im kalten Waſſer als in kalter, trockener Luft,
und
wird vom heißen Waſſer verbrüht, ohne von ebenſo heißer
Luft
irgendwie geniert zu werden.
Wie bedeutend der Unterſchied iſt, ergiebt die tägliche Er-
fahrung
.
Wenn die Luft zwanzig Grad Celſius Wärme
hat
, ſo nennen wir ſie eine laue Luft und ſind imſtande, in
einem
Zimmer, wo dieſe Luft trocken iſt, mit Behaglichkeit tage-
lang
zu verweilen.
Waſſer dagegen nennt man erſt lau, wenn
es
35 bis 37 Grad Celſius hat, und wenn wir, ſei es in den
Kleidern
, ſei es nackt, länger als fünfzehn Minuten in einem
zwanzig
Grad warmen Waſſer zubringen, ohne uns zu bewegen,
ſo
klappern uns die Zähne vor Kälte.
Da es aber unſere Haut iſt, die wir eigentlich beim Bade
zu
Markte tragen, ſo müſſen wir die Naturbeſchaffenheit der-
ſelben
gleichfalls ins Auge faſſen, und dies wollen wir im
nächſten
Abſchnitt thun.
IV. In was für Haut wir ſtecken.
Die Haut iſt der Überzug des Leibes und die Grenze
zwiſchen
der ganzen Welt draußen und der höchſt wunderbaren
Lebensfabrik
im Innern des Menſchen.
Aber dieſe Grenze iſt
eigentümlicher
Natur.
Wenn wir das Innere des Menſchen
das
Inland und die Welt draußen das Ausland nennen, ſo
muß
man ſagen, daß die Grenzſperre nach dem Ausland bei
weitem
milder iſt als die nach dem Inland.
Die Haut ſperrt
den
Menſchen weit weniger von der Welt ab als die Welt von
dem
Menſchen.
Der Weg von innen nach außen iſt ſehr
16274 mütig in der Haut geöffnet; der Weg von außen nach innen
iſt
ſchon weit weniger offen.
Die Haut aber iſt durchaus nicht eine einfache Art Sieb,
durch
das Teile des Körpers beliebig austreten können, ſondern
ſie
iſt ein ſo bedeutendes und eigentümliches Organ des Körpers,
daß
wir auf eine nähere Beſchreibung desſelben hier eingehen
müſſen
.
Die Haut des Menſchen beſteht aus drei verſchiedenen
Lagen
, die zuſammen ein gar nicht ſchwaches Leder liefern,
die
obere Haut, welche wir auf dem Körper ſehen, heißt die
Hornhaut
.
In ihr fließt weder Blut, noch ſind in derſelben
Nerven
vorhanden;
ſie iſt deshalb blutlos und gefühllos. Von
dieſer
Oberhaut kann man ganze Fetzen abſchneiden, abreißen
und
abbeißen, ohne Schmerz zu empfinden.
Sie reibt oder
nutzt
ſich auch fortwährend ab, und erneut ſich außerordentlich
ſchnell
.
Wenn man ſich ein Stückchen dieſer Haut, z. B. von
der
Handfläche mit einem ſcharfen Federmeſſer abſchneidet, ſo
kann
man, wenn man dieſelbe geſpannt gegen das Licht hält,
ſehr
deutlich ſehen, daß ſie außerordentlich viele Löcher hat.
Es ſind dies die Schweißlöcher, deren Beſtimmung wir ſofort
kennen
lernen werden.
Unter dieſer Hornhaut befindet ſich die Lederhaut, welche
von
Nerven und Blutäderchen vielfach durchwebt iſt.
Es
kommt
vor, daß man ſich durch einen Stoß am Schienbein die
Oberhaut
abgeſchunden hat;
in ſolchem Fall ſieht man oft die
Lederhaut
unverletzt als eine glänzende, blutreiche, äußerſt
empfindliche
Haut bloß liegen, ohne daß ſie jedoch blutet oder
ſchmerzt
, wenn man ſie nur vor kalter Luft ſchützt.
In dieſer,
der
Lederhaut, liegen die Wurzeln der Haare eingebettet, wes-
halb
es auch ſchmerzt, wenn man ſich ein Haar ausreißt.
Auch dieſe zweite Haut iſt durchlöchert, denn die Schweiß-
kanäle
führen durch ſie hindurch, da die Quelle des Schweißes
noch
tief unter derſelben liegt.
16375
In der That iſt es eben die dritte Haut, oder das Unter-
haut-Zellgewebe
, in welcher alle Schweißkanäle ihre Wurzeln
haben
.
Es ſind dies eigentümlich gewundene Knäul-Drüſen,
die
durch ein ſtarkes Vergrößerungsglas betrachtet, wie Därme
ausſehen
.
Dieſe ſtecken meiſt in einem Fettlager und haben
das
Geſchäft, das Waſſer aus dem im Umlauf begriffenen Blut,
das
an ihnen vorüberſtreicht, aufzunehmen und durch den Kanal
hinauszubefördern
.
Mit dieſem Waſſer werden auch noch ein-
zelne
andere Stoffe aus dem Körper hinaus befördert, die dem
Schweiß
eigen ſind, und von denen wir nur hier ſo viel ſagen
wollen
, daß ihr Verbleiben im Körper, nachdem ſie verbraucht
ſind
, durchaus ſchädlich iſt.
Es iſt aber nicht durchaus nötig, daß wir tropfbaren
Schweiß
ausſondern;
es iſt vielmehr noch eine beſondere Auf-
gabe
der Haut, die darin beſteht, daß ſie in Gasform die ver-
brauchten
Stoffe ausdünſtet, und dies geſchieht fortwährend,
ſelbſt
wenn wir uns ruhig verhalten.
Die gasförmige Aus-
ſonderung
iſt bei weitem wichtiger als die wäſſerige, denn ein
Stocken
derſelben bringt die heftigſten Krankheiten hervor, und
wie
wir bei künſtlichen Lack-Überzügen über den größten Teil
der
Haut ſehen, erfolgt ſogar in kurzer Zeit der Tod, während
wohl
alle ſchon bemerkt haben, daß man wochenlang exiſtieren
und
ſich verhältnismäßig ganz wohl befinden kann, ohne in
wirklichen
Schweiß zu geraten.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir hier auf die
Art
der Wirkſamkeit der Haut genauer eingehen wollten.
Wir
haben
uns für jetzt nur einiges hierüber zu merken.
An der Oberhaut iſt es wichtig, daß wir ſie in einem
Zuſtande
erhalten, welcher ſowohl der gasförmigen, wie
wäſſerigen
Abſonderung den Durchzug geſtattet.
In der
zweiten
Haut ſtecken Blutadern und Nerven, und es läßt ſich
denken
, daß bei rein gehaltener oberſter Haut auch eine Ein-
wirkung
durch dieſelbe auf Blut und Nerven möglich iſt.
16476 lich ſind nicht nur Blut und Nerven, ſondern auch die Schweiß-
drüſen
in der unterſten Haut vorhanden, und auch auf dieſe
iſt
eine mittelbare und unmittelbare Einwirkung von außen
her
möglich.
Daß beim Baden ſolche verſchiedene Einwirkungen ſtatt-
finden
, werden wir ſogleich ſehen, wenn wir erſt noch einen
weſentlichen
Punkt über die Thätigkeit der Haut werden in
Betracht
gezogen haben.
V. Die Verdunſtung durch die Haut.
Wie bereits geſagt, ſcheidet ſich durch die Haut ſowohl
flüſſiges
Waſſer, das heißt Waſſer in tropfbarer Geſtalt, aus
dem
Körper aus, wie Waſſerdunſt, das heißt Waſſer in gas-
förmiger
Geſtalt.
Betrachtet man nun die Haut ſelber, ſo
zeigen
ſich nur die Schweißlöcher als die offenen Wege von
innen
nach außen, und es liegt nahe, daß man den ganzen
Vorgang
der Verdunſtung am menſchlichen Körper dieſen
offenen
Kanälen der Haut zuſchreibt.
Die Sache hat jedoch einige Schwierigkeit in der Er-
klärung
, und man iſt durch nähere Betrachtung genötigt, einen
tiefern
Grund für dieſe Verdunſtung aufzuſuchen.
Es haben nämlich gewiſſenhafte Naturforſcher die Zahl
der
Schweißlöcher des ganzen Körpers mit ziemlicher Genauig-
keit
beſtimmt, und das iſt eben nichts Kleines.
Die Zahl der-
ſelben
iſt auf verſchiedenen Körperteilen ſehr verſchieden.
Auf
einem
Stück Haut von der Größe eines Fünfpfennigſtücks am
Nacken
, am Rücken u.
ſ. w. finden ſich 400 Schweißlöcher; auf
einem
ebenſo großen Stück Haut von den Wangen ſind 540;
ein gleich großes Stück Haut von Bauch und Bruſt hat 1130,
von
der Stirn 1258, vom Halſe 1300, von der Fußſohle ſogar
2685
ſolcher Schweißlöcher.
Alles in allem gerechnet,
16577 man für den ganzen Körper eines erwachſenen Menſchen an
2
380 000 offene Kanäle der Verduuſtung.
Da man nun die Weite dieſer einzelnen Kanäle mit Ge-
nauigkeit
gemeſſen hat, ſo haben ſich die Naturforſcher die
Frage
vorgelegt:
wie groß ſind die Schweißlöcher ſamt und
ſonders
?
das heißt: wie groß würde das Loch ſein, wenn man
aus
all den zwei Millionen Schweißlöchern ein einziges machen
würde
?
Die Antwort hierauf iſt, daß ſolch ein Loch an zwanzig
Quadratcentimeter
groß wäre, das heißt ungefähr ein ſo großes
Loch
, daß man es mit einem gewöhnlichen Teller zudecken könnte.
Hierauf ſtellte ſich nun die Naturforſchung folgende weiter-
gehende
Frage.
Wenn der menſchliche Körper wirklich nur an
all
den einzelnen Schweißlöchern einen ebenſo großen Ver-
dunſtungsraum
beſitzt, wie etwa ein Teller, ſo müßte aus
ſolchem
Teller mit Waſſer, den man ſo warm hält, wie den
menſchlichen
Körper, alſo 37 Grad, und den man der Luft
ausſetzt
, ſo müßte aus ſolchem Teller eine ebenſo ſtarke Ver-
dunſtung
ſtattfinden, wie aus dem Körper eines Menſchen.

Iſt
dies aber auch wirklich der Fall?
Angeſtellte Verſuche und getreue Beobachtungen haben
gelehrt
, daß ein Menſch durchaus ein ander Ding iſt, als ein
tellergroßes
Loch mit Waſſer von 37 Grad Wärme.
Von einem Teller Waſſer, der auf 37 Grad Wärme er-
halten
wird, verdunſten nach genauen Beobachtungen in 24
Stunden
etwa {1/4} Pfund Waſſer.
Ein Menſch aber verliert
durch
die Hautausdünſtung in 24 Stunden an zwei Pfund;
das heißt nahe achtmal ſoviel, wie er verdunſten würde, wenn
er
ein Teller mit Waſſer wäre.
Es laſſen ſich zwar nun Erklärungen auffinden, weshalb
die
Verdunſtung am Menſchen ſoviel mal ſtärker iſt, als an
einer
anderen, tellergroßen Verdunſtungsfläche.
Man hat bei
dieſer
Berechnung nur den Durchmeſſer der Schweißlöcher in
Anſchlag
gebracht, während man wohl die ganze Fläche
16678 Kanals hätte mit berechnen müſſen. Ferner geht bei der Ver-
dunſtung
des Waſſers in einem Teller Vieles vor, was bei
einzelnen
, getrennten Verdunſtungspunkten nicht ſtattfindet, wie
z
.
B. der kühlende Einfluß eines verdunſtenden Atoms auf ſein
Nachbar-Atom
;
oder das Steigen des untern, erwärmten
Waſſers
, und das Sinken des oben an der Verbindungsfläche
abgekühlten
Waſſers, was nicht ohne ſtörenden Einfluß auf die
Verdunſtung
ſelber ſein kann.
Endlich darf man nicht außer
acht
laſſen, daß der menſchliche Körper einmal ſo eingerichtet
iſt
, daß er fortwährend eine Wärme in ſich erzeugt, und den-
noch
niemals mehr als 37 Grad warm werden darf;
es muß
alſo
die Verdunſtung fich ſteigern;
weil der Menſch in dieſem
Punkte
gewiſſermaßen einer Flüſſigkeit gleich iſt, die ſchon bei
37
Grad kocht und alſo niemals ſtärker als bis auf 37 Grad
erwärmt
werden kann.
Aber wenn man auch anderweitige Erklärungen für die ſo
ſtarke
Verdunſtung am menſchlichen Körper auffinden kann, ſo
iſt
doch Folgendes die wichtigſte und weſentlichſte der Er-
klärungen
:
Die menſchliche Haut iſt nicht nur in den Kanälen der
Schweißdrüſen
durchdringlich, ſondern es findet auch ein Durch-
dringen
von gasförmigen Ausdünſtungen durch die Haut ſtatt,
ſelbſt
an Punkten, wo keine Schweißlöcher ſind.
Die Kanäle der Schweißdrüſen führen die bereits im
Körper
zu Waſſer ſich verdichtenden Gaſe in wäſſeriger Form
aus
dem Körper, während die Haut ſelber für das Gas durch-
dringlich
iſt, und dies durch dieſelbe ihren Ausgang nimmt,
ſelbſt
da, wo kein ſichtbarer Ausgang iſt.
Daß dem wirklich ſo iſt, daß Gaſe durch Häute hindurch-
gehen
, ſelbſt wenn dieſe keine Poren haben, das ergeben die
neueſten
Verſuche und Unterſuchungen der mit dem Namen
Diffuſion
bezeichneten Erſcheinungen, von denen wir bereits
bei
einer anderen Gelegenheit Mitteilung gemacht
16779 namentlich findet dieſes Durchdringen der Gaſe durch Häute
dann
ſtatt, wenn auf beiden Seiten der Haut verſchiedene Lüft-
arten
ſind;
befindet ſich jedoch auf einer Seite der Haut
Waſſer
und auf der anderen Luft, ſo geht das Durchdringen
der
Luftart nicht ſo merklich vor ſich.
Hieraus aber entnehmen wir, daß die gasförmige Aus-
dünſtung
des Menſchen durch die Haut geſchieht, und zwar
nicht
durch die Schweißkanäle allein, und hauptſächlich dann,
wenn
die Haut von außen mit der Luft in Berührung ſteht.
Entziehen wir zeitweiſe den Körper der Luft und gehen ins
Waſſer
, ſo verſchließen wir den Durchzug und behindern die
gasförmige
Verdunſtung für dieſe Zeit.
VI. Einteilung der Bäder.
Nachdem wir nun die Naturbeſchaffenheit der Luft, in
welcher
wir leben oder in welcher wir ſo zu ſagen fortwährend
baden
, ferner die Naturbeſchaffenheit des Waſſers kennen ge-
lernt
, in welches wir uns nur zeitweiſe begeben, um daſelbſt
ein
Bad zu nehmen, und endlich die Naturbeſchaffenheit und
Hauptthätigkeit
der Haut unſern Leſern vorgeführt haben, auf
welche
zunächſt dieſer Wechſel von Luft und Waſſer wirkt, ſind
wir
vorbereitet genug, um zum Bade ſelber übergehen zu
können
.
Wir werden, wie bereits angegeben, auf die große Reihe
rein
mediziniſcher Bäder hier nicht eingehen, ſondern haben
nur
diejenigen Bäder im Auge, die der Privatmann ohne
direkte
Zuziehung des Arztes benutzt und wobei er ſich ent-
weder
von allgemeinen Vorſchriften oder ſeinem eignen Gefühl
und
Wohlbehagen leiten läßt.
Wir können die Bäder je nach ihren Wirkungen in vier
verſchiedene
Klaſſen einteilen.
16880
Das allgemeinſte Bad iſt das Reinigungs-Bad.
Wir haben es bereits mehrfach erwähnt, daß ein bloßer
Lack-Überzug
über die Haut, welcher die Ausdünſtung der-
ſelben
hindert, hinreicht, um den Tod nach ſich zu ziehen;
und
hieraus
ergiebt es ſich von ſelbſt, daß das Reinhalten der
Haut
das erſte Erfordernis zur dauernden Geſundheit des
Leibes
iſt.
Das Reinigungs-Bad iſt alſo das hauptſächlichſte
und
allgemeinſte, und wir werden dies zuerſt in Betracht
ziehen
.
Aber ſelbſt in Fällen, wo die Haut vollkommen rein iſt,
kann
durch Umſtände, die wir noch näher werden kennen lernen,
ihre
Thätigkeit gehemmt ſein.
Sie kann durch andauernde,
feuchte
Kälte, ebenſo durch erſchlaffende Hitze in den Zu-
ſtand
einer krankhaften Ruhe geraten und ohne ein beſtimmtes
Leiden
bereits hervorgerufen zu haben, ein leichtes, erfriſchendes,
anregendes
Mittel nötig machen, das ein Bad in unübertreff-
lichem
Maße gewährt.
Und hier iſt es, wo das Bad ſchon den Charakter einer
Kur
an ſich trägt, wenn auch einer Kur, zu der das eigene
Wohlbefinden
und Gemeingefühl der beſte Arzt iſt.
Da die Haut aber ein ſo einfach Ding nicht iſt, wie ſie
im
gewöhnlichen Leben erſcheint, da ſie die Grenze iſt, wo
Wärme
und Kälte ihren Eindruck hervorbringen, da ſie der
Sitz
eines weit verzweigten Netzes von Blutadern und Nerven,
von
Talgdrüſen und Schweißdrüſen iſt, und außerdem noch in
ihrem
ganzen Umfang eine für innere Gaſe des Körpers durch-
dringliche
und für äußere Gaſe aufnehmende Schicht bildet,
ſo
können, wie ſich von ſelbſt verſteht, die Einwirkungen der
Bäder
auf die Haut ſehr verſchieden ſein.
Wir wollen bei unſerer Einteilung der Bäder dieſelben
je
nach der Wirkung und dem Organ, auf welches ſie ge-
richtet
ſind, ordnen.
Nach der Klaſſe der Reinigungs-Bäder wollen wir
16981 jenigen betrachten, die entweder durch Kälte oder durch Wärme
wirken
.
Beides aber, Kälte ſowohl wie Wärme, kann ebenſo
auf
die Schweißdrüſen der Haut, wie auf die durch die Haut
verbreiteten
Nerven und Blutgefäße einwirken, und ſo ergiebt
ſich
dann folgende Einteilung.
Erſtens: Reinigungs-Bäder.
Zweitens: Bäder in ihrer Einwirkung auf die Drüſen.
Drittens: Bäder in ihrer Einwirkung auf die Blutgefäße.
Viertens: Bäder in ihrer Einwirkung auf das Nerven-
ſyſtem
.
Um jedoch Mißverſtändniſſe zu vermeiden, müſſen wir
hier
noch auf Folgendes aufmerkſam machen.
Der menſchliche Leib iſt eine Fabrik, in welcher zwar eine
Teilung
der Arbeit ſtattfindet.
Was die Nerven zu thun haben,
thun
die Adern nicht, und was die Adern bewerkſtelligen
müſſen
, können die Drüſen nicht vollbringen;
allein es ar-
beiten
die geſonderten Organe derart Hand in Hand, daß
man
auf eines gar nicht einwirken kann, ohne das andere zu
treffen
.
Man muß ſich daher nicht vorſtellen, als könne man auf
die
Drüſen allein oder das Aderſyſtem allein oder auf die
Nerven
allein einen Eindruck machen, ohne alles ſamt und
ſonders
dadurch anzuregen;
es handelt ſich bei unſerer Ein-
teilung
nur darum, auf welches dieſer Organe man vornehm-
lich
und aus erſter Hand einwirken will;
aus zweiter Hand
iſt
und muß auch jede Einwirkung auf die geſamten Organe
wirkend
ſein.
Unſere Einteilung iſt alſo nicht ſowohl eine ſolche, wie
ſie
die Natur des Erfolges mit ſich bringt, ſondern wie ſie
zur
leichteren Überſicht der Wirkſamkeit dieſer Natur-Einwir-
kung
nötig iſt.
Und ſomit zur Sache.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VII.
17082
VII. Das Reinigungsbad.
Die Bedeutung und das Bedürfnis der Reinigungsbäder
iſt
ſo allgemein bekannt und anerkannt, daß eigentlich wenig
zu
ſagen bleibt zu dem, was bereits in vortrefflichen Volks-
ſchriften
hierüber geſagt worden iſt.
Wir wollen deshalb nur
das
hinzufügen, was in naturwiſſenſchaftlicher Beziehung be-
lehrend
ſein kann.
Da wir wiſſen, daß die Haut ein äußerſt wichtiges Organ
iſt
, welches den Beruf hat, zwiſchen der Welt draußen und
der
Lebensthätigkeit im Innern des Menſchen einen Austauſch
und
eine Wechſelwirkung zu unterhalten, ſo iſt es klar, daß
man
über dieſer bereits dreifachen Hautſchicht nicht noch eine
vierte
anwachſen laſſen darf, eine Schmutzſchicht, welche die
Grenzſperre
zwiſchen innen und außen in gefahrvoller Weiſe
verſtärken
würde.
Man glaube aber nicht, daß es hierzu ſchon ausreichend ſei,
reinlich
zu leben, ſich vor Berührung mit ſchmutzigen, ſtaubigen
Gegenſtänden
zu hüten und gewiſſermaßen die Haut in ihrer
ſogenannten
Natur-Reinheit und Natur-Schönheit zu erhalten.
Nicht nur von außen her ſetzen ſich an die Haut Staub
und
verſchiedenartige Teile von all’ den Dingen an, die uns
umgeben
;
ſondern von innen heraus benutzt die Natur die
Haut
als die Stätte, wo ſie Alles, was ſie aus dem Körper
zu
ſchaffen Luſt hat, ablagert, und ſie überläßt es uns dann, das,
was
ſie abgeworfen, in irgend einer Weiſe zu transportieren.
Wir haben bereits darauf aufmerkſam gemacht, wie Waſſer
die
Eigenſchaft beſitzt, viele Stoffe aufzulöſen, wie aber, wenn
das
Waſſer an der Luft verdunſtet, die aufgelöſten Stoffe
zurückbleiben
.
Es tritt auf unſerer Haut ſolch ein Vorgang
gar
oft ein.
Der wäſſerige Schweiß, der ſich aus den Schweißporen
drängt
und der unſeren Körper mehr oder weniger
17183 iſt kein reines Waſſer. Es befinden ſich in dieſem gar viele
Stoffe
aufgelöſt, die man ſchwerlich ſonſt hier ſuchen würde.
Es iſt eine Portion Kochſalz, einiges von Schwefelverbin-
dungen
, ferner noch andere Salze und Säuren und der von
Vielen
ſchwerlich hier vermutete Harnſtoff in dem Schweiße
enthalten
, und überdem ſchwimmen noch im Waſſer aufgelöſte
Fett-Tröpfchen
umher, die man durch Vergrößerungsgläſer
ſehr
gut ſehen kann.
Die Natur lagert demnach mit dem Strom von Schweiß,
den
ſie vom Innern des Körpers nach außen hin ſendet, auf
die
Haut eine ganze Maſſe ihr nicht mehr nützlicher Stoffe
ab
.
Nun iſt zwar die Luft ſo freundlich, das Waſſer in
Form
von feinem Dunſt fortzuführen, und mit dieſem Dunſt
verdunſten
auch eine Menge flüchtiger Säuren des Schweißes,
die
ihm ſeinen eigentümlichen Geruch verleihen;
aber die anderen,
nicht
flüchtigen Stoffe bleiben als feſte Kruſte auf der Ober-
fläche
der Haut zurück und bilden einen kleinen Überzug über
derſelben
, der keineswegs auf Natur-Reinheit und Natur-Schön-
heit
günſtig einwirkt.
Hierzu kommt noch, daß wir aus einer anderen Quelle
ſogar
wirklichen Talg auf der Haut ablagern.
In der mittleren
Hautſchicht
, woſelbſt die Haare eingebettet ſind, befinden ſich
an
der Wurzel derſelben kleine, traubenförmige Drüſen, welche
eine
ölartige Flüſſigkeit abſondern.
Auf der Oberfläche der
Haut
wird das Öl hart wie Talg, erhält ein gelbes, ſchmutziges
Anſehen
und verleiht der Haut jene Klebrigkeit und das ſo-
genannte
ungewaſchene Anſehen, das wir an recht gehörig
verſchlafenen
Geſichtern bemerken, bevor friſches Waſſer und
gute
Seife die Reinigung vollzogen.
Würden wir nur ſo ſcharfblickende Augen haben, wie man
ſie
mit Hilfe guter Vergrößerungsgläſer ſich künſtlich verſchafft,
ſo
würden wir ſtaunend bemerken, wie die Natur durchaus
nicht
ſoviel auf Natur-Reinheit und Natur-Schönheit hält,
17284 ſich Natur-Enthuſiaſten einbilden, wie ſie vielmehr die Haut
als
eine Art Müllkaſten betrachtet, auf dem ſie Häufchen von
Salzen
ablagert, Berge von Fett auftürmt und Schuppen von
Talg
anſchmiert, und wie ſie es dem Menſchen überläßt, ſich
ſelber
davon zu reinigen, wenn es ihm zu arg wird.
Kommen nun zu dieſer meiſt klebrigen Natur-Schminke
noch
von außen her die Schönpfläſterchen des Staubes aller
Arten
, den ſelbſt die vornehmſten Menſchen nicht von ſich ab-
wehren
können, wie erhaben ſie ſich auch über dem Staube
dünken
mögen, ſo vollendet ſich eine Toilette, die nicht nur
unſerer
Schönheit, ſondern auch hauptſächlich unſerer Geſundheit
ſchweren
Eintrag thut.
Indeſſen müſſen wir der Natur die Gerechtigkeit wider-
fahren
laſſen, daß ſie nicht ſo ganz und gar unbarmherzig mit
unſerer
Haut umgeht, ſondern ein ſehr praktiſches Mittel weiß,
ihre
Ablagerungen fortzuſchaffen.
Die Oberhaut, der ſie ſoviel aufbürdet, wird von der
Natur
ſelber in kleinen Schüppchen abgeſtoßen, während ſich
neue
Oberhaut unter derſelben bildet.
Wir ſtecken nicht gar lange
Zeit
in unſerer Haut, ſondern werfen ſie in feinen Stückchen von
uns
ab.
Wir häuten uns, nicht wie die Schlangen und der-
gleichen
Kreaturen mit einem Male, ſondern fahren äußerſt
langſam
und einzeln aus der Haut;
weshalb denn Menſchen,
die
ſich lange Zeit nicht gewaſchen oder ſonſt die Haut einzeln
durch
Arbeit abgerieben haben, nach Krankheiten, namentlich
Hautkrankheiten
, ſich förmlich abpellen und als neue Menſchen
aus
ihrer eigenen Haut kriechen.
Das iſt nun freilich eine Natur-Reinigung; aber eine, auf
die
man nicht warten kann, weil ſonſt gerade die Schüppchen
der
Hornhaut ſich zu der Natur-Schmiere geſellen und den
Leib
ſo gehörig verkleiſtern, daß ſchwere Krankheiten die Folge
von
Vernachläſſigung des Waſchens und Badens unſer Los ſind.
17385
VIII. Die Empfindlichkeit und die Geſundheit.
Wie ſich von ſelbſt verſteht, iſt bei dem Bade, das wir
ſoeben
betrachten, die Reinigung der Haut die Hauptſache,
während
das Bad nur ein Mittel hierzu iſt.
Es folgt hieraus
von
ſelbſt, daß Waſchungen, welche eine Reinheit der Haut be-
wirken
, in dieſem Punkte recht wohl das Bad erſetzen können,
und
weil es bei jedem ordentlichen Menſchen gebräuchlich iſt,
mindeſtens
von Zeit zu Zeit durch Waſchungen die Reinigung
des
Körpers vorzunehmen, iſt es dahin gekommen, daß das
Baden
zu dieſem Zweck viel zu ſelten geſchieht.
Weil dies aber der Fall iſt, deshalb trifft man gar zu
häufig
auf Menſchen, die das Baden mit einem gewiſſen Ge-
fühl
des Unbehagens anſehen, denen es immer einen Entſchluß
koſtet
, ein Bad zu nehmen, und die es, wenn ſie baden, als
eine
ungewohnte Laſt betrachten, deren ſie ſich entledigen müſſen.
Da aber ein lauwarmes Bad dem Zweck der Hautreinigung
am
beſten entſpricht, da der Gebrauch von ein wenig Seife,
deren
Wirkung darin beſteht, daß ſie imſtande iſt, Fette löslich
zu
machen, die Reinigung außerordentlich unterſtützt, ſo können
wir
Bäder dieſer Art nicht dringend genug Allen empfehlen,
die
ihre Geſundheit erhalten wollen, und dieſer Empfehlung
die
Verſicherung hinzufügen, daß ein großer Teil der gewöhn-
lichen
Krankheiten ihren Grund in unterdrückter Hautthätigkeit
haben
.
Die Vernachläſſigung iſt allgemein, und ſelbſt in denjenigen
Volksklaſſen
, welche eine Ausgabe für ein Bad nicht gerade zu
ſcheuen
haben, ſo allgemein, daß wir gewiſſen verſteckten Vor-
urteilen
gegen dasſelbe hier begegnen müſſen.
Wer den Mut hat, offen zu zeigen, daß er dem Baden
nicht
hold iſt, führt zu ſeiner Verteidigung die Thatſachen an,
daß
die geſundeſten und kräftigſten Menſchen im Arbeiter-
ſtande
zu finden ſind, aus dem nur ſehr Wenige ſich zu
17486 Bade bequemen; daß das Landvolk kräftiger iſt, als das
ſtädtiſche
, trotzdem ein Bad auf dem Lande zu den ſeltenſten
Ausnahmen
gehört;
daß eine beſondere Pflege der Haut eine
Verweichlichung
und Verzärtelung zu Wege bringt;
daß eine
Gewöhnung
an das Bad die Verſagung desſelben gefährlicher
mache
;
daß man nach dem Bade leichter Erkältungen ausgeſetzt
iſt
, als vor demſelben, und endlich fügen dieſe offenen
Gegner
des Badens hinzu daß ſie ſich wohl und kräftig
fühlen
, trotzdem ſie höchſtens in den heißeſten Sommertagen
ein
Bad im Freien zur Abkühlung nehmen.
Es haben dieſe Einwürfe einen Schein der Wahrheit für
ſich
, ſind aber im wahren Sinne dennoch falſch.
Es iſt wahr, daß man in den arbeitenden Klaſſen, die
wenig
baden, eine entwickeltere Muskelſtärke findet, als in den
anderen
Bevölkerungsklaſſen, die häufiger die Bäder in An-
ſpruch
nehmen;
aber man täuſcht ſich, wenn man den Arbeiter
im
Durchſchnitt deshalb für geſunder hält.
Die Erkrankungen
ſind
unter den Arbeitern ſeltener, als unter den weniger
körperlich
thätigen Ständen;
aber dafür finden ſich die Todes-
fälle
unter erkrankten Arbeitern bei weitem häufiger, als unter
den
Erkrankten der anderen Volksklaſſen.
Und hierin hat
unter
anderen Urſachen auch die vernachläſſigte Reinigung der
Haut
Schuld.
Der Arbeiter empfindet bei ſeiner ſtärker ent-
wickelten
Muskelkraft, bei ſeinem weniger empfindlichen Nerven-
ſyſtem
die kleineren Störungen der Geſundheit weniger, die
ſtets
die Vorläufer größerer Störungen ſind.
Er geht oft an
die
Arbeit, ja, er muß oft noch an die Arbeit gehen, wenn
ihm
auch nicht ſo recht zu Mute iſt, und der Fall tritt nicht
ſelten
ein, daß gerade die heftige Körperbewegung einen ge-
waltſamen
Schweiß durch die halb verſchloſſenen Poren ſeines
Körpers
treibt und ihn nach der Arbeit geſunden läßt, während
der
Wohlhabendere genötigt oder gemüßigt iſt, den geſundenden
Schweiß
im Bette und nach ärztlicher Hilfe abzuwarten.
17587 ſolchen Fällen, die gar ſehr oft eintreten, erſcheint in der That
der
Arbeiter als der geſündere, denn er ſelber fühlt es kaum,
daß
er wirklich krank war.
Es geht mit dem Landbewohner faſt ebenſo. Er iſt
weniger
empfindlich für leichtere Übel, und deshalb eben, weil
dieſe
leiſen Mahnungen der geſtörten Geſundheit nicht empfunden
werden
, treten die weſentlicheren Störungen weit kräftiger und
charakteriſtiſcher
auf und raffen unter einer gleichen Zahl von
Erkrankten
weit mehr fort, als es unter den nichtarbeitenden
Klaſſen
der Fall iſt.
Würde man Erkrankungsliſten führen,
ſo
würden die arbeitenden Klaſſen als geſünder erſcheinen;
wer
aber
Sterbeliſten vergleicht, der weiß leider, wer das traurige
Material
zur Füllung derſelben zumeiſt liefert.
Wenn man der vorſorglicheren Pflege der Haut durch
laue
Bäder ihre größere Empfindlichkeit zuſchreibt, ſo iſt dies
ganz
richtig;
aber dieſe Empfindlichkeit, wenn ſie nicht aus-
artet
, iſt ein wohlthätiger Anzeiger, der rechtzeitig auf Gefahren
aufmerkſam
macht.
Es gleicht in dieſer Beziehung die Haut mit ihren Schweiß-
poren
dem Sicherheitsventil einer Dampfmaſchine.
So lange
keine
Gefahr da iſt, arbeitet eine Maſchine mit nicht empfind-
lichem
Ventil noch ungenierter, als eine mit empfindlicherem
Ventil
, das fortwährend die Schwankungen des Dampfdrucks
anzeigt
und Regulierung fordert.
In Gefahren aber iſt das
unempfindliche
Ventil gar oft die Urſache, daß der Dampf den
Keſſel
ſprengt und ſchweren Schaden anrichtet, während die
ſcheinbar
unbequeme, große Empfindlichkeit eines Ventils davor
zu
ſchützen vermag.
Das Reinigungs-Bad macht an ſich nicht geſund; aber es
iſt
ein gutes Mittel, das Sicherheits-Ventil der Geſundheit auf-
recht
und wirkſam zu erhalten.
17688
IX. Die Ginwirkung des Waſſer-Druckes.
Wir wollen nun das Baden in ſeiner Einwirkung auf die
Schweißdrüſen
oder überhaupt auf die abſondernde Eigen-
tümlichkeit
der Haut betrachten.
Beim Reinigungsbad war die Hauptſache eine bloße Rei-
nigung
der Haut, bei der es gleichgültig iſt, ob ſie durch
Baden
oder Waſchen, oder auch durch bloßes trockenes Ab-
reiben
, wenn es möglich wäre, geſchieht.
In ſolchem Falle
wirkt
das Waſſer eigentlich nur mechaniſch.
Sobald man
jedoch
eine Einwirkung auf die Lebensorgane des Menſchen
verlangt
, muß ſchon die Naturbeſchaffenheit, alſo die phyſikaliſche
Eigenſchaft
des Waſſers, mitwirken und in eingreifende Be-
ziehung
zu der Naturbeſchaffenheit des Leibes treten.
Blicken wir nun auf die phyſikaliſchen Einwirkungen, ſo
ſtellen
ſich dieſe bei einem Menſchen, der das Luftbad, das er
fortwährend
genießt, verläßt und ſich ins Waſſer begiebt, in
folgender
Weiſe heraus.
Vor Allem iſt Waſſer eine ſchwerere Umgebung als Luft.
Der Druck, den die Luft auf die ganze Oberfläche der Haut
ausübt
, ſteht in genauem Verhältnis zu der Thätigkeit der
inneren
Organe, wie zur Haut-Ausdünſtung und -Ausſchwitzung.

Wenn
ſich nun nicht mit Genauigkeit die Wirkung angeben
läßt
, die bei Vermehrung des Druckes durch das ſchwerere
Waſſer
eintritt, ſo rührt dies daher, daß die Wirkungen des
Waſſers
im allgemeinen ſo weſentlich und vielfach ſind, daß
der
vermehrte Druck ſich nicht mit Beſtimmtheit fühlbar macht.

Ohne
Einfluß aber kann dieſer Druck nicht ſein, wenn er auch
auf
dem Barometer ſich nicht bedeutend in jener Tiefe erweiſt,
welche
der menſchliche badende Leib einnimmt.
Bedenkt man,
daß
beim Beſteigen ſehr hoher Berge, woſelbſt der Druck der
Luft
etwas abnimmt, die Einwirkung auf Ausdünſtung und
Ausſchwitzung
des Körpers ſo bedeutend iſt, daß die
17789 der Glieder äußerſt beſchwerlich wird und ein Ermatten der-
ſelben
ſehr ſchnell eintritt;
bedenkt man ferner, wiedie
Witterung”
, das heißt die Schwere oder Leichtigkeit der Luft,
welches
ſich durch ein geringes Steigen oder Fallen des Baro-
meters
kundgiebt, von ſo weſentlichem Einfluß auf das All-
gemeinwohl
des Menſchen iſt, ſo darf man den Schluß ziehen,
daß
der vermehrte Druck auf die Haut, der beim Baden ſtatt-
findet
, einflußreich ſein muß, wenn es auch ſehr ſchwer hält zu
beſtimmen
, wie dieſer Einfluß ſich ergiebt.
Wer in einer Wanne lauwarmen Waſſers badet, wo weder
Kälte
noch Wärme einen mächtigen Eindruck auf den Körper
macht
, der wird die Einwirkung, die der Druck des Waſſers
ausübt
, wohl im allgemeinen empfunden haben.
Man fühlt
die
Glieder des Leibes vom Waſſer getragen und gehoben.
Erhebt man den Arm unter dem Waſſer bis zur Oberfläche,
ſo
fühlt man, wie ſanft und leicht die Bewegung iſt, hebt
man
ihn weiter aus dem Waſſer heraus, ſo fühlt man, welch
eine
Laſt ſolch ein Arm hat, und merkt die Anſtrengung der
Muskeln
, die zu dieſer Bewegung nötig iſt.
Man ſitzt mit
behaglicher
Gemächlichkeit nackt in einer ungepolſterten Bade-
wanne
, die ohne Waſſer nicht wenig, namentlich magere Menſchen,
drücken
würde;
jetzt, wo Waſſer darin iſt, vermindert deſſen
Gewicht
die Schwere unſeres Leibes.
Der allſeitige Druck
des
Waſſers, der eben unſeren Körper faſt ſchwebend im
Waſſer
erhält, bringt es mit ſich, daß man im Bade noch
mehr
Muskel-Ruhe hat, als beim Liegen auf dem Lager, wo
immerhin
der unten liegende Körperteil die Laſt der oben
liegenden
zu tragen hat.
Das alles fühlt man im lauwarmen Bade, weil in dieſem
jeder
andere mächtigere Eindruck fehlt, der im heißen oder
kalten
Waſſer ſtattfindet.
Dieſe mächtigen Eindrücke, die wir
noch
näher kennen lernen werden, verwiſchen nur beim nicht
lauwarmen
Bade den Einfluß des vermehrten Druckes
17890 ſchweren Waſſers; keineswegs aber kann man dieſe Ein-
wirkung
unbedeutend und gleichgültig nennen.
Es kommt vor, daß heftige, dauernde Muskel-Anſtrengung
eine
augenblickliche Ermattung zu Wege bringt, in welcher
einem
die auf der Bettdecke ruhende Hand ſchwer wie ein
Stein
vorkommt;
wer in einem ſolchen Zuſtand in ein lau-
warmes
Bad gebracht wird und zehn Minuten darin verweilt,
der
wird die große Erleichterung fühlen, welche der Druck des
Waſſers
, dieſes allſeitige Tragen des Körpers, ausübt, und
abgeſehen
von den ſonſtigen Einwirkungen des Bades, die
natürlich
den Umſtänden angemeſſen ſein müſſen wohl ein
Wörtchen
mitſprechen können von der Wirkung des veränderten
Druckes
der leichteren Luft und des ſchwereren Waſſers.
Was hierbei direkt auf die Muskeln einwirkt, und
vielleicht
noch weſentlicher auf die Nerven, welche zur Bewegung
der
Muskeln dienen wirkt aber ganz ſicher auch auf die
Haut
und ihre Thätigkeit, wenn es auch nicht leicht iſt, auf
ſtreng
naturwiſſenſchaftlichem Wege dieſe Einwirkung genau
feſtzuſtellen
.
Auf ſicherem Boden befinden wir uns aber, wenn wir
bedenken
, daß Waſſer eine Flüſſigkeit iſt, welche dieſen Druck
ausübt
, und von dem Einfluß dieſes Umſtandes auf die Haut
und
die Schweißdrüſen wollen wir im nächſten Abſchnitt
ſprechen
.
X. Die Haut als durchdringliche Wand.
Wenn man die Einwirkungen ganz überſehen will, welche
eintreten
, ſobald der Menſch die Luft verläßt und ſeinen
Körper
dem Waſſer ausſetzt, ſo muß man einen Umſtand in
Erwägung
ziehen, den erſt die Wiſſenſchaft der neueren Zeit
einer
Unterſuchung zu unterwerfen angefangen hat.
17991
Im gewöhnlichen Leben kommt es einem ſo vor, als ob
der
menſchliche Körper aus feſtem Stoffe beſtehe, in welchem
höchſtens
in einzelnen Teilen etwas Waſſer enthalten iſt;
nähere
Unterſuchungen
aber ergeben dies als einen Irrtum.
Wenn
man
die Beſtandteile des menſchlichen Leibes ſamt und ſonders,
mit
Blut, Fleiſch, Haut Haaren, Knochen, Nägeln und ſo weiter
zerlegt
, ſo findet ſich, daß nur dreißig Prozent davon feſte
Beſtandteile
, während volle ſiebzig Prozent Waſſer ſind.
Das
heißt
:
in einem Menſchen, der hundert Pfund wiegt, ſind
ſiebzig
Pfund Waſſer enthalten.
Wer dies unglaublich findet, den wollen wir nur an die
eine
Thatſache erinnern, daß Kinder in den erſten Monaten
ihres
Lebens nichts als Milch genießen, und nach Verlauf
eines
Jahres dreimal ſo ſchwer ſind, als ſie nach der Geburt
geweſen
.
In hundert Gramm Muttermilch aber ſind an neunzig
Gramm
Waſſer, während die Beſtandteile des Käſeſtoffes, der
Butter
, des Zuckers und einiger Salze nur zehn Gramm
davon
ausmachen.
In Wahrheit iſt der menſchliche Körper durch und durch
mit
Waſſer getränkt, welches in der geſamten Bildung ſeiner
Organe
aufgeht;
und dieſes Waſſer iſt in einem fortwährenden
Wechſel
begriffen, es wird verbrauchtes durch Haut-Ausdünſtung,
durch
Ausatmen und durch Harn ausgeſchieden, während in
Speiſen
und Getränken der Erſatz dafür in den Körper gebracht
werden
muß.
Nur in Krankheitsfällen, wie z. B. bei Waſſer-
ſucht
oder bei den Entleerungen und Erbrechungen in der
Cholera
, tritt mehr Waſſer aus den Organen, wie mit der
Nahrung
aufgenommen wird, als ein Zeichen des geſtörten
Zuſtandes
des Blutes.
In phyſikaliſcher Beziehung kann man daher den Menſchen
wie
eine Maſſe betrachten, von welcher nur etwa ein Drittel
aus
feſtem Stoff, während über zwei Drittel aus Flüſſigkeit
beſtehen
.
18092
Die Maſſe iſt nun in einer Haut eingeſchloſſen, und in
dieſer
Haut iſt ſie fortwährend der Luft ausgeſetzt und wird
auch
zeitweiſe ins Waſſer gebracht.
Was wird die Folge hiervon ſein?
Erſt die neuere Zeit vermochte dieſe Folgen wiſſenſchaftlich
zu
beſtimmen, und zwar nach vorangegangenen, ſtreng geführten
Verſuchen
.
Setzt man eine Flüſſigkeit in Tierblaſe verſchloſſen der
Luft
aus, ſo verdunſtet ſie durch die verſchloſſene Blaſe hin-
durch
.
Die Haut des menſchlichen Körpers iſt ſchwächer als
gewöhnliches
Leder;
aber ſelbſt durch eine lederne Blaſe ver-
dunſtet
wäſſerige Flüſſigkeit.
Bringt man ſolch eine gefüllte
Blaſe
in Waſſer, ſo ſtellt ſich Folgendes heraus.
Wenn das Waſſer in der Blaſe ganz gleich iſt in Be-
ſtandteilen
, wie das Waſſer, in welches die Blaſe eingetaucht
wird
, ſo geſchieht weder ein Eintritt noch ein Austritt der
Flüſſigkeit
durch die Wände der Blaſe;
ſobald aber die beiden
Waſſer
nicht von gleicher Beſchaffenheit ſind, ſo findet ein
Austauſch
ſtatt, und zwar derart, daß das dünnere, leichtere
Waſſer
ſich in größeren Mengen durch die Haut drängt und
ſich
dem dichteren, ſchwereren Waſſer beimiſcht, als von dieſem
zu
jenem übergeht.
Man kann ſich hiervon durch einen Verſuch überzeugen.
Bindet man einen Lampen-Cylinder unten mit Tierblaſe zu,
gießt
in denſelben ſtarkes Salzwaſſer und ſetzt ihn dann in
ein
Glas gewöhnlichen Waſſers hinein, ſo wird, wenn die beiden
Flüſſigkeiten
anfangs ganz gleich hoch ſtehen, bald ein Unterſchied
bemerkbar
werden;
denn es wird ſich durch die Tierblaſe hin-
durch
mehr reines Waſſer in den Cylinder hineindrängen,
ſo
daß die Flüſſigkeit im Cylinder zu ſteigen anfängt.
Daß der menſchliche Körper gleichen Geſetzen unterworfen
iſt
, lehrt die tägliche Erfahrung.
18193
Warum dürſtet man nach ſalzigen Speiſen? Weshalb
trinkt
man ſoviel nach dem Genuß von Häring?
Es rührt daher, daß die Wände des Magens ebenfalls
durchdringlich
für Flüſſigkeiten ſind und bei weitem durch-
dringlicher
als gewöhnliche Tierblaſe.
Nun aber zirkuliert in
den
Wänden des Magens das Blut durch reichhaltige Adern.
Befindet ſich im Magen eine Flüſſigkeit, die leichter iſt als
die
Blutflüſſigkeit, z.
B. reines Waſſer, ſo tritt durch die
Wände
des Magens das Waſſer ſofort ins Blut über, weshalb
denn
unſer Durſt ſo außerordentlich ſchnell durch einen Trunk
geſtillt
wird.
Nimmt man aber ſalzige Speiſen zu ſich, ſo
wird
durch die Auflöſung der Salze die Flüſſigkeit im Magen
dichter
als die Blutflüſſigkeit, und es treten Waſſerbeſtandteile
aus
dem Blute durch die Wand des Magens zu der dort be-
findlichen
, dichteren, ſalzigen Flüſſigkeit.
Salzige Speiſen im
Magen
entziehen demnach dem Blute Waſſerbeſtandteile und
verurſachen
im Blute den Mangel an Waſſer, den das Gefühl
des
Durſtes uns anzeigt.
Denn Durſt iſt eine Naturſprache,
welche
ins Deutſche überſetzt ſoviel heißt wie:
Unſer Blut
braucht
Waſſer!
Wir ſehen hiernach aus den täglichen Erfahrungen, daß
im
lebenden Körper jenes Durchdringen der leichteren Flüſſigkeit
zur
dichteren, die man wiſſenſchaftlichEndosmoſe” nennt,
ſtattfindet
, und ſind nun ſo weit, zeigen zu können, wie dies
beim
Baden von weſentlichem Einfluß iſt.
XI. Die Anregung der Haut-Thätigkeit.
Die Haut des Badenden iſt es, die zwei Flüſſigkeiten von
einander
trennt.
Inwendig im Körper ſtrömt unter der Ober-
haut
ein fortwährender, in unzählbaren, feinen Kanälen ver-
teilter
Blutſtrom in ununterbrochenem Kreislauf;
und
18294 am Körper befindet ſich beim Badenden eine ihn umſpülende
Waſſermaſſe
.
Das Blut iſt auf der einen Seite der Haut,
das
Waſſer auf der anderen, und der Austauſch durch dieſe
Wand
hindurch bleibt nicht aus, ſobald beide Flüſſigkeiten
nicht
völlig von gleicher Dichtigkeit ſind.
Zwar iſt das Blut ſelbſt noch in der zarten Haut der äußerſt
feinen
Adern, die ihrer Feinheit wegen die Haargefäße genannt
werden
, eingeſchloſſen, und man könnte hiernach glauben, daß
dieſe
doppelte Scheidewand ein Hindernis des Austauſches ſei;
wer jedoch ſchon bemerkt hat, wie bei Ohnmachten das Ein-
reiben
der Haut mit Äther wirkſam iſt, und an ſich ſelbſt
einmal
gefühlt hat, wie ſchnell der leichte Äther durch die
Haut
und die Blutgefäße hindurch ins Blut dringt, der wird
nicht
zweifeln, daß der Austauſch trotz der verdoppelten Haut
ſtattfindet
.
Ja, im Leben der Pflanzen, wo ſich Flüſſigkeiten
von
der Wurzel aus bis zur höchſten Spitze verbreiten, rührt
auch
die Verbreitung derſelben nur von dem Austauſch durch
die
Wände von vielen Millionen Zellen her, die rings ver-
ſchloſſen
ſind und doch ein Durchdringen der Flüſſigkeit geſtatten.
Es kommt nun darauf an, in was für Waſſer wir baden.
Das Blut iſt nur um ein Zwanzigteil ſchwerer als reines
Waſſer
, und dieſer Unterſchied will nicht viel ſagen;
allein man
muß
hierbei bedenken, daß bei dieſer Vergleichung der Schwere
ein
ſehr verſchiedener Grad von Wärme vorausgeſetzt iſt.
Das
Blut
iſt hier in ſeiner Naturwärme von nahe 37 Grad gemeint,
während
das Waſſer im Zuſtande ſeiner größten Dichtigkeit,
das
heißt, wenn es vier Grad warm iſt, zum Maßſtab an-
genommen
wird.
Setzen wir nun voraus, daß man ein lau-
warmes
Bad nimmt, ſo iſt durch die Wärme des Waſſers
deſſen
Schwere bedeutend verringert, und es ſtellt ſich der
Unterſchied
der Dichtigkeit zwiſchen ſolchem Waſſer und dem
Blut
ſchon bei weitem ſtärker heraus.
Der Unterſchied
verliert
aber auch nicht viel an Größe, wenn wir ein
18395 Bad nehmen, indem die Kälte des Waſſers ſich für den Augen-
blick
dem Blut mitteilt und es jedenfalls für einen Moment
dichter
macht.
Baden wir alſo in reinem Waſſer, wie z. B. in Flüſſen,
ſo
tritt durch die Haut Waſſer in unſer Blut über.
Wir ſind
imſtande
, durch ein Bad in reinem Waſſer den Durſt zu
löſchen
, durch ein Bad in leichten Flüſſigkeiten dem Körper
nährende
und anregende Stoffe zuzuführen, was bei den Malz-
Bädern
und Kräuter-Bädern der Fall iſt.
Verweilt man
längere
Zeit im Waſſer, ſo mehrt ſich deshalb die Aufnahme
des
Waſſers im Körper derart, daß man den Drang nach
Waſſer-Entleerung
empfindet.
Ganz anders aber iſt es, wenn man in einer Flüſſigkeit
badet
, welche dichter iſt als die Blutflüſſigkeit;
es tritt dann
Waſſer
aus dem Innern des Körpers in das Bad über.
Vom
Bad
in Salzwaſſer, wie dem Seebad, ſagt man mit Recht im
Volke
, daß es zehre, in der That enzieht die dichtere Flüſſigkeit,
in
welcher man badet, dem Blut die leichteren Beſtandteile.
Die Hausfrauen, welche Fleiſch einſalzen, werden ſchon
die
Bemerkung gemacht haben, daß nach einiger Zeit der
Boden
des Gefäßes, worin das geſalzene Fleiſch liegt, mit
einer
blutigen Flüſſigkeit bedeckt iſt.
Es rührt dies daher,
daß
die obere Schicht von Salzwaſſer, die ſich über dem Fleiſch
bildet
, die leichtere Flüſſigkeit aus dem Innern des Fleiſches
herauszieht
, die nun abtropft und ſich am Boden des Gefäßes
anſammeln
.
Man nehme nun ein Bad, welches man wolle, wenn das
Waſſer
nicht gerade eben ſo dicht iſt wie das Blut und
das
wäre ein ſonderbarer Zufall , ſo wird entweder ein
Austritt
oder ein Eintritt von Flüſſigkeit durch die Haut
ſtattfinden
.
Käme es nun auf weiter nichts an, als wäſſerige Flüſſig-
keiten
in den Körper zu bringen oder aus ihm zu
18496 ſo könnte man dies auf leichterem Wege, durch Trinken oder
Durſten
haben, obgleich es mediziniſch oft von Wichtigkeit iſt,
gerade
gewiſſe Stoffe durch die Haut eindringen oder entfernen
zu
laſſen.
Für unſer Thema jedoch iſt nicht die eintretende
oder
austretende Flüſſigkeit die Hauptſache, ſondern die An-
regung
, welche die Haut hierbei erhält, das Wechſelgeſchäft,
zu
dem ſie berufen iſt, kräftiger fortzuſetzen, wenn ſie wieder
aus
dem Bade iſt.
Unſere Haut iſt denſelben phyſikaliſchen Geſetzen unter-
worfen
, wie ein Lederſack, der, mit einer Flüſſigkeit gefüllt, in
eine
andere Flüſſigkeit geſtellt wird;
aber unſere Haut iſt kein
bloßer
Lederſack, ſondern ein lebensthätiges Organ, das, wenn
es
phyſikaliſch angeregt iſt zu einer Thätigkeit, dieſe auch fort-
ſetzt
, ſelbſt wenn die Anregung aufhört.
Das, was während
des
Badens geſchieht, iſt an ſich gleichgültig;
aber es regt
das
Bad die Durchdringlichkeit der Haut überhaupt an, und
nach
dem Bade iſt dieſelbe nicht nur mechaniſch gereinigt
ſondern
auch phyſikaliſch angeregt worden, ihr Geſchäft beſſer
fortzuſetzen
, ſobald man wieder aus dem Waſſerbade ins Luft-
bad
tritt.
Das Bad alſo regt die Lebensthätigkeit der Haut an und
macht
dieſe ſamt ihren Drüſen energiſcher und wirkſamer.
XII. Die lebendige Gegenwirkung.
Wir haben bisher die Wirkung des Bades nur von dem
Geſichtspunkt
aus betrachtet, daß die Haut in ihrer natur-
gemäßen
Thätigkeit gefördert werden ſolle.
Jedes Bad aber
leiſtet
in Wirklichkeit mehr als dies, denn es bleibt nicht ohne
Einfluß
auf Blut und Nerven und wirkt durch dieſe auf den
ganzen
Körper des Menſchen.
Hierbei ſpielt jedoch eine Eigenſchaft der lebenden
18597 eine große Rolle, welche wir mit einigen Worten erſt näher
bezeichnen
müſſen:
wir meinen die Eigenſchaft derGegen-
wirkung
.
Es iſt ein Zeichen des Lebens, daß der Körper gegen
äußerliche
Eindrücke einen gewiſſen Widerſtand leiſtet und daß
eine
Wirkung auf ein beſtimmtes Organ eine Gegenwirkung
von
innen herausfordert.
Man kann dies ſchon im gewöhn-
lichen
Leben in vielfachen Fällen wahrnehmen.
Drückt man z. B. mit einem Finger auf irgend eine Stelle
der
Haut, ſo ſchwindet unter dem Drucke das Blut aus dem
zuſammengedrückten
, feinen Ader-Geſpinnſt, das die Haut durch-
zieht
;
die Stelle wird bleich. Läßt man mit dem Druck nach,
ſo
ſtrömt nicht nur das Blut hinzu, wie es vor dem Drucke
war
, ſondern das Zuſtrömen iſt heftiger, und es rötet ſich dieſe
Stelle
in demſelben Maße ſtärker, als ſie erblichen war.
Durch Reiben kann man für den erſten Moment aus einem
Glied
des Körpers das Blut verdrängen;
ſetzt man aber das
Reiben
fort oder läßt man auch nur damit nach, ſo findet die
Gegenwirkung” ſtatt:
es drängt ſich das Blut gerade ſtärker
nach
der Stelle hin, von wo es verdrängt geweſen war.

In
krankhaften Zuſtänden iſt es ein ſchlimmes Zeichen, wenn
dieſe
Gegenwirkung nicht mehr eintritt, denn es liegt darin
der
Beweis, daß das Leben nicht mehr die Energie beſitzt,
ſein
geſtörtes Gleichgewicht wiederherzuſtellen und fortan dem
auflöſenden
Einfluß der Krankheit nicht mehr Widerſtand
leiſten
wird.
Es würde uns zu weit abführen von unſerm Haupt-Thema,
wenn
wir auf eine weitere Erklärung dieſer höchſt wichtigen
Erſcheinung
der Lebensthätigkeit eingehen wollten.
Es gehört
noch
zu den ungelöſten Fragen, ob bei der Gegenwirkung das
Blut
oder die Nerven die Hauptrolle ſpielen, ob die Elaſtizität
der
Adern, die namentlich in hohem Maße allen denjenigen
Adern
eigen iſt, die das Blut vom Herzen nach allen Teilen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
18698
des Leibes führen, hierbei die Hauptſache iſt, oder ob der
Reiz
auf die feinen Nervenzweige, die in der Haut verbreitet
ſind
, die Veranlaſſung zu einer erhöhten Thätigkeit derſelben
und
ſomit zum verſtärkten Zuſtrom des Blutes bildet.
Nur
ſoviel
ſteht durch tauſendfache Erfahrungen feſt, daß Kälte wie
Wärme
ſehr mächtige Eindrücke auf die lebendige Widerſtands-
kraft
hervorbringen und lebensvolle Gegenwirkung in hohem
Maße
hervorrufen.
Jedermann weiß es, daß man beim Austritt in kalte
Winterluft
anfangs blaß wird und ſich ein fröſtelndes Gefühl
der
Haut einſtellt.
Das Blut zieht ſich auf den erſten Eindruck
der
Kälte aus der Haut zurück in die inneren Organe.
Bewegt
man
ſich jedoch kräftig in der kalten Luft, ſo folgt ſchnell ein
ebenſo
ſtarkes Füllen der Hautäderchen mit Blut und namentlich
an
den Stellen, die am meiſten ſchutzlos der Luft ausgeſetzt
ſind
, wie die zu beiden Seiten in den Wind hineinragende
und
noch von innen offene Naſe, die ſchutzloſen Ohren und
die
von feinerer Hornhaut bedeckten Kinn und Wangen.
An
ſolchem
kältegeröteten Geſicht, das trotz der Kälte einen hohen
Grad
der Wärme und der Blutanfüllung zeigt, ſieht man die
Kraft
derGegenwirkung” und nimmt ſie mit Recht als ein
Zeichen
der Geſundheit an.
Iſt die Kälte ſo heftig, daß ſie
die
feinen Blutäderchen zuſammenzieht und die Nerventhätigkeit
in
der Haut lähmt, ſo erſcheint das betroffene Glied bleich
und
abgeſtorben, ein Zeichen, daß hier bald ein Erfrieren ein-
treten
werde.
Was aber thut man in ſolchem Fall? Nun,
das
weiß wohl ſchon jeder, daß man ſolch ein Glied nur noch
retten
kann, wenn man es zeitig mit Schnee reibt, das heißt,
es
noch einer heftigen Einwirkung der Kälte ausſetzt, und
dadurch
einen kräftigen Reiz auf das Hervortreten derGegen-
wirkung”
ausübt, um dieſe deſto ſtärker hervorzuheben.
Wie
ſtark
dieſe hervortritt, wiſſen die Kinder am beſten, die das
Vergnügen
durch den Schnee zu waten oder mit
18799 zu ſpielen, durch Froſtbeulen büßen müſſen, welche eben ein
ſo
ſtarkes Zuſtrömen von Blut zu den erkalteten Teilen zeigen,
daß
eine entzündliche Röte alsGegenwirkung” auftritt.
Daß Kälte alſo eine Gegenwirkung auf die Haut hervor-
ruft
, dürfen wir hiernach als bekannt vorausſetzen.
Es iſt aber
nicht
minder mit der Wärme der Fall, wenngleich dieſe Er-
ſcheinung
nicht ſo auffallend hervortritt.
Wer am warmen
Ofen
hockt, der fröſtelt, ſowie er ſich von demſelben entfernt;
wer ſich die Hände am Kaminfeuer erhitzt hat, empfindet ein
eiſiges
Gefühl in denſelben im ſonſt warmen Zimmer, wenn
er
ſie vom Feuer entfernt.
Bei ſolchen und ähnlichen Fällen
ſpielt
die Gegenwirkung, wenn auch nicht ausſchließlich, ſo doch
eine
bedeutende Rolle, und wie dieſe ſowohl beim kalten wie
beim
warmen Bade eintritt, und eine bedeutende Einwirkung
auf
Blut und Nerven und ſomit auf den ganzen Körper ver-
anlaßt
, das wollen wir in den nächſten Abſchnitten darthun.
XIII. Die warmen Bäder.
Im warmen Bade, das heißt in einem Bade von 37 Grad
Celſius
, geſchieht vor allem die Reinigung der Haut weit
ſchneller
und beſſer als im kalten, wovon ſich jeder beim Waſchen
der
Hände oft genug überzeugt haben wird.
Es durchdringt
aber
auch warmes Waſſer weit ſchneller die Haut als kaltes,
weshalb
jenes Eintreten oder Austreten der Flüſſigkeiten aus
dem
Körper während des warmen Bades ſtärker vor ſich geht.
Da ein warmes Bad auch zugleich ein Wohlbehagen für
den
erſten Moment erzeugt und namentlich das Gefühl der
Wärme
nach dem Entkleiden und dem leichten Fröſteln hierbei
ſehr
angenehm iſt, ſo iſt es dahin gekommen, daß mit Ausnahme
der
ſehr heißen Sommermonate das warme Bad bei weitem
noch
gebräuchlicher iſt als das kalte.
188100
Die Wirkung des warmen Bades auf Blut und Nerven
iſt
aber ſo ganz entſchieden anders als die des kalten, daß
es
am wichtigſten iſt, ſich gerade hierüber eine Einſicht zu
verſchaffen
, damit jeder ſich ſelber je nach ſeinem Zuſtand für
das
eine oder andere entſcheiden könne.
Um zu dieſer Einſicht zu gelangen, müſſen wir noch einen
beſonderen
Umſtand in der Thätigkeit unſeres Leibes hervor-
heben
;
und das iſt die Erzeugung der innern Wärme.
Wie bekanntlich die Umwandlung eines Eies in ein
Hühnchen
nicht bewerkſtelligt werden kann, wenn man ihm
nicht
37 Grad Wärme zuführt, ſo kann auch die Umwandlung
der
nicht lebendigen Speiſen im lebendigen Leib nicht vor ſich
gehen
, wenn im Körper nicht 37 Grad Wärme verhanden ſind.
Ja es ſteht mit dem lebenden Leibe noch ſchlimmer. Dem
Ei
kann man oder muß man vielmehr von außen her Wärme
zuführen
, um ſeine Umwandlung zu veranlaſſen;
dem menſch-
lichen
Körper würde alles Zuführen von Wärme nichts helfen,
wenn
dieſe nicht im Innern ſich ſelber herſtellte.
Zum Glück
iſt
die innere Fabrik außerordentlich thätig zur Erzeugung
von
Wärme, und zwar iſt die Hauptquelle derſelben der
chemiſche
Vorgang des Atmens, und das Blut, welches recht
eigentlich
die Hauptrolle hierbei ſpielt, trägt die Wärme durch
den
ganzen Körper.
Da man aber fortwährend atmet, alſo einem Ofen gleicht,
in
welchem fortwährend eingeheizt wird, ſo würde unzweifelhaft
ein
zu hoher Grad entſtehen, wenn nicht in jedem Augenblick
Teile
des lebendigen Leibes in uns ſich wieder auflöſen und
abſterben
würden, wodurch die erzeugte Wärme verbraucht
wird
;
und indem wir die abgeſtorbenen Teile aus dem Körper
hinausbefördern
, indem wir ſie ausatmen, und auch auf anderem
Wege
Stoffe aus unſerem Leibe ausſcheiden, vermindern wir
wieder
die Wärme und geben ſoviel weg von der Wärme, als
wir
erzeugen.
189101
Lebten wir nun in einer Luft, die Tag und Nacht, Jahr
aus
und Jahr ein 37 Grad warm iſt was beiläufig geſagt
nicht
zum Aushalten wäre ſo würde die Rechnung immer
ſtimmen
.
Wir leben aber nicht in einer ſo warmen Luft und
ſind
auch nicht danach eingerichtet, fortdauernd in ſo heißer
Luft
zu leben;
ſo ſchwach nun auch die Leitungsfähigkeit der
Luft
in Bezug auf Wärme iſt, ſo ſehr nimmt ſie doch einen
Teil
der Leibeswärme fort, und wir würden ſelbſt im Sommer
erfrieren
, wenn der Körper nicht mehr an Wärme fabrizierte,
als
er zu ſeinem Lebensprozeß verbraucht;
und dieſer Überſchuß
iſt
es, der durch die Haut teils mit der gasartigen Ausſcheidung
teils
durch den Schweiß davongeht.
Begeben wir uns nun in ein Bad, das 37 Grad Wärme
hat
, ſo empfinden wir nach dem Fröſteln während des völligen
Entkleidens
, wo eine Entziehung von Wärme ſtattgefunden hat,
das
Wohlbehagen der natürlichen Erwärmung.
Nicht ſowohl
die
Wärme des Waſſers iſt es, die dies Behagen erzeugt, ſondern
die
Wärme im Innern, die dem Waſſer nichts abgiebt, weil
es
gleichfalls 37 Grad warm iſt.
Dadurch erhöht ſich für den
erſten
Augenblick die Lebensthätigkeit, das Blut ſtrömt kräftiger,
der
Herzſchlag iſt lebendiger, die Haut rötet ſich mehr, und
indem
die feinen Adern derſelben ſich reichhaltiger füllen, findet
der
Austauſch mit dem Waſſer lebhafter ſtatt, ſo daß dieſe
Seite
der Wirkung eines Bades im erſten Moment beſſer im
warmen
Waſſer erfüllt wird als im kalten.
Allein der An-
drang
des Blutes nach allen Teilen der Haut bringt als
Gegenwirkung
eine Verminderung derſelben in den inneren
Organen
hervor.
Die Wärme, die die feinen Adern der Haut
ausdehnt
, bringt es zu Wege, daß ſie mehr Blut faſſen als
im
gewöhnlichen Zuſtand, und die hierdurch entſtehende Ver-
minderung
des Blutes im Innern erzeugt bald entgegengeſetzte
Erſcheinungen
.
Daher tritt nach dieſen erſten Momenten eine
Verminderung
des Pulsſchlages ein, es macht die
190102 Wärme bald einem Gefühl des Erkaltens Platz, ſo daß das
Waſſer
, das anfangs brühend heiß ſchien, jetzt wie erkältend
einwirkt
.
Hierdurch aber tritt ſowohl im Atmen wie im
Nervenleben
eine gewiſſe Beruhigung ein, und wenn man das
Bad
nun verläßt und mit gehöriger Vorſicht Abtrocknung und
Ankleiden
und Abkühlung bewerkſtelligt hat, wird man als
Wirkung
des Bades eine empfänglichere Haut, eine größere
Regſamkeit
ihrer Thätigkeit gewounen haben, während bei einem
Gefühl
angenehmer Kühle eine Beruhigung des Blutlaufs und
der
Nerventhätigkeit eintritt.
Nach heftigen Anſtrengungen und bei bedeutenden Stockungen
der
Hautthätigkeit bewährt daher das warme Bad ſeinen
Nutzen
, wenn es nicht übertrieben wird;
während der häufige
Gebrauch
eine Erſchlaffung und Verweichlichung bedenklicher
Art
hervorbringt, die die geſamte Lebensthätigkeit bedeutend
herabzuſtimmen
vermag.
XIV. Die Gegenwirkung im kalten Bade.
Wie wir geſehen haben, iſt das warme Bad gerade durch
entgegengeſetzte
Wirkung auf den Körper vom weſentlichſten
Einfluß
;
anſtatt durch die Wärme die Lebensthätigkeit zu er-
höhen
, was auch im erſten Moment des Badens der Fall iſt,
ſtellt
ſich durch die innere Gegenwirkung bald eine Beruhigung
und
Ermattung ein, während die geſteigerte Haut-Ausdünſtung
ein
Gefühl der angenehmen Kühle über den Körper verbreitet.
Dieſer wohlthätige Einfluß, der in vielen, namentlich krank-
haften
Fällen garnicht auf anderem Wege zu erreichen iſt und
der
dem warmen Bade ſeinen unſchätzbaren Wert verleiht,
verliert
ſich jedoch, ſobald man zulange im Bade verweilt
oder
noch höhere Grade der Wärme anwendet, was meiſthin
ſolche
Badende thun, die ſchnell zum heißen Waſſerrohr
191103 zu müſſen glauben, ſobald ſich nach den erſten Momenten des
Badens
das Gefühl der Wärme in ihrer Haut verliert.
Die Folgen dieſer Übertreibung ſind Erhöhung der Eigen-
wärme
des Körpers;
hierdurch rötet ſich die Haut, ohne daß
ſie
unter Waſſer Schweiß abſondert.
Der Atem wird kürzer
und
ſchwerer, der Puls voller und lebhafter, das Blut ſtrömt
nach
dem Kopfe, die Schlagadern des Halſes ſind in heftiger
Thätigkeit
, es tritt ein Gefühl von Schwere und Druck im
Kopfe
, Schwindel, Flimmern vor den Augen ein, bis endlich
das
Geſicht ſich mit einem heftigen Schweiß bedeckt, ohne daß
dieſer
das Wohlgefühl herbeiführt, das ſonſt unter günſtigen
Umſtänden
der Begleiter des Schweißes iſt.
Da in Fällen dieſer Art bei unvorſichtigem Benehmen
nach
dem Bade ſchlimmere Zufälle eintreten als ſie vor dem
Bade
geweſen, ſo können wir als allgemeine Regel bei Be-
nutzung
warmer Bäder das Zufüllen warmen Waſſers während
des
Badens als ſchädlich bezeichnen und den Moment, wo
nach
dem erſten Gefühl der Erwärmung das der Kühlung ſich
kund
giebt, als den geeignetſten betrachten, das Bad zu verlaſſen.
Ganz entgegengeſetzt verhält es ſich mit der Wirkung der
kalten
Bäder, worunter wir Bäder von 16 bis 21 Grad
Wärme
verſtehen.
Begiebt man ſich in ſolch’ ein Bad, ſo iſt die erſte
Wirkung
desſelben das Gefühl des Fröſtelns, ſelbſt in Zeiten,
wo
die Luft noch kälter iſt als das Badewaſſer.
Es rührt
dies
von der ſchnelleren Leitung der Wärme her, welche dem
Waſſer
in höherem Maße eigen iſt als der Luft.
Die Kälte
bewirkt
das Zuſammenziehen der feinen Adern der Haut und
giebt
deshalb derſelben ein bleiches Anſehen.
Es kann ſich
ſogar
für den erſten Augenblick heftiger Schauder, Beklemmung
der
Bruſt einſtellen, Atem und Puls werden langſamer, wie
überhaupt
die Lebensthätigkeit für einen Moment niedergedrückt
wird
.
Die außerordentlich reich verzweigten Nerven der
192104 werden von dem plötzlichen Gefühl der Kälte derart angegriffen,
daß
ſie auf das ganze Nervenſyſtem vorerſt herabſtimmend ein-
wirken
.
Aber es tritt ſofort nach dieſem erſten Eindruck,
der
für viele etwas Abſchreckendes hat, die von uns bereits
beſprochene
Gegenwirkung ein.
Der Grund dieſer Gegenwirkung iſt keineswegs mit voller
Beſtimmtheit
anzugeben.
Es iſt möglich, daß das aus der ganzen
Haut
verdrängte Blut, welches nach den innern Organen hin-
ſtrömt
, daſelbſt einen verſtärkten Reiz auf die Nerven ausübt
und
ſie zu energiſcher Thätigkeit anregt;
es iſt möglich, daß
ſchon
die bloße Entziehung der Wärme an der Oberfläche des
Körpers
eine kräftigere Wärme-Erzeugung als Ausgleichung im
Innern
hervorruft und hierdurch die ganze Lebensthätigkeit
erhöht
;
es iſt endlich möglich, daß der plötzliche Eindruck auf
die
Hautnerven auf die geſamte Thätigkeit des Nervenſyſtems
als
Reiz wirkt und die Gegenwirkung hervorruft;
aber gleich-
viel
, ob hier das eine oder das andere der Fall iſt, oder ob
alle
Fälle gemeinſam wirken, es bleibt die Gegenwirkung nicht
aus
und giebt ſich ſelbſt bei bedeutend in ihrer Geſundheit
herabgekommenen
Menſchen kund.
Regt und bewegt man ſich im Bade, namentlich wenn
man
die ſehr wirkſamen Schwimmbewegungen macht, ſo fördert
man
die wohlthätige Gegenwirkung bedeutend, und es macht
das
Gefühl der Kälte und des Abſchreckens dem der ange-
nehmſten
Kühlung und der Behaglichkeit ſchnell Platz.
Will man auch hier die Wirkung nicht übertreiben, ſo iſt
es
nicht gut, zu lange im Bade zu verweilen, namentlich nicht,
wenn
man im Wannenbade ſitzt oder wenn man im Flußbade
nicht
recht kräftig den Körper bewegt, wie man es beim
Schwimmen
thut.
Wer ſolch’ kräftiger Anſtrengung nicht fähig
iſt
, aber dennoch gern im Bade längere Zeit bleibt, der ſuche
ein
gutes Wellenbad auf, wo das an der Haut vorüberſtrömende
Waſſer
eine ähnliche Wirkung wie die Körperbewegung
193105 ſtehenden Waſſer hervorbringt. Am beſten ſind die Wellen
des
Seebades, deren ſtarker Schlag eine Muskelanſtrengung
erfordert
, um ſich auf den Beinen zu erhalten und ſo eine
kräftigende
Thätigkeit des Leibes erweckt.
Verläßt man das kalte Bad zur rechten Zeit, das heißt
zur
Zeit, wo die Gegenwirkung noch vorhanden iſt, ſo wird
weder
Zittern noch Zähneklappern eintreten, die ein Zeichen
des
zu langen Badens ſind;
es wird ſich vielmehr eine Rötung
der
Haut beim gehörigen Abreiben einſtellen und während
man
auf der Haut angenehme Erwärmung, im Innern friſche
Kühlung
empfindet, nimmt man eine Stärkung der Nerven und
der
ganzen Lebensthätigkeit wahr und fühlt ſich abgehärtet gegen
Einwirkungen
der Witterung, die ſonſt nicht ſelten die Quelle
ſchwerer
Leiden ſind.
XV. Schlußbetrachtungen.
Wir haben über die Wirkung der Bäder auf den Menſchen
vom
naturwiſſenſchaftlichen Standpunkt aus geſprochen;
über
den
Gebrauch der Bäder kann freilich nur das eigne Wohl-
gefühl
des Geſunden und der ärztliche Rat bei Kranken die
Entſcheidung
treffen.
Im allgemeinen läßt ſich indeſſen zur Regel Folgendes
aufſtellen
:
Menſchen, die an der Lunge leiden, dürfen überhaupt
nicht
baden.
Der Druck des Waſſers, der wegen der Schwere
desſelben
ſtärker iſt als der Druck der Luft, iſt an ſich genügend,
bei
ſolchen Perſonen das Atmen zu erſchweren.
Das Aus-
atmen
wird ihnen zu leicht werden, denn hierzu hilft der
Druck
des Waſſers, der von außen auf den Bruſtkaſten wirkt,
während
das Einatmen, bei welchem ſie den Bruſtkaſten
194106 weitern und alſo das Waſſer, das ihn umgiebt, verdrängen
ſollen
, in ſehr merklichem Grade erſchwert wird.
Dies ſind
ſchon
die Beſchwerden, die ihnen beim lauwarmen Bade ent-
gegenſtehen
;
beim kalten ſowohl wie beim warmen Bade treten
noch
die Wirkungen auf Blut und Nerven hinzu, die momentan
den
Blutumlauf in ſtarkem Maße erhöhen und leicht bei
Kranken
dieſer Art Blutſturz veranlaſſen, das heißt, ein Über-
füllen
der Luftröhrchen der Lunge mit Blut, das dann nach
Platzen
eines Äderchens unter Erſtickungs-Anfällen aus dem
Munde
ſtrömt.
Perſonen, deren Beſchäftigung während des Tages ſie mit
Staub
, Öl oder ſonſt mit Stoffen in Berührung bringt, welche
die
Schweißporen der Haut leicht verſtopfen, thun am beſten,
wenn
ſie, außer dem täglichen Waſchen mit Seife, welche die
Eigenſchaft
hat, ſowohl das Fett des Schweißes wie von außen
herkommendes
Öl aufzulöſen, mindeſtens zweimal wöchentlich
ein
lauwarmes Bad von 28 bis 30 Grad nehmen.
Ein ſolcher
Wärme-Grad
iſt hinreichend, die Reinigung der Haut zu fördern
und
wird weder durch Kälte noch durch Wärme eine bedeutende
Umſtimmung
der Lebensthätigkeit hervorrufen.
Regt und
bewegt
man ſich in ſolchem Bade und reibt man namentlich
die
Haut gut ab, ſo ſtellt ſich der kleine Verluſt an Wärme
durch
eine mäßige Erhöhung der Hautthätigkeit her.
Perſonen, die eine ſitzende Lebensart führen, die geiſtige
Beſchäftigung
haben, die leicht an Unterleibsbeſchwerden leiden
und
die öfter Schlaffheit der Glieder verſpüren, thun in der
Regel
gut, wenn ſie das kalte Baden vorziehen.
Sie werden
nach
kurzem Gebrauch ſolcher Bäder die ſteigende Friſche und
Rüſtigkeit
empfinden, die eine erhöhte Lebensthätigkeit erzeugt,
und
werden namenlich, unter ſonſt günſtigen Umſtänden, bald
an
ihrem Appetit ein Kennzeichen haben, wie der Stoff-Umſatz
im
Körper gehoben und ſomit ihre ganze Körper-Beſchaffenheit
belebter
und gekräftigter wird.
195107
Der dauernde Gebrauch warmer Bäder hat im allgemeinen
für
Geſunde nichts Empfehlenswertes und ſollte eigentlich nur
auf
ärztliche Anordnung in Anwendung kommen.
Dahingegen iſt das kalte Bad faſt durchgängig von wohl-
thätiger
Wirkung und ein treffliches Mittel zur Erhaltung der
Geſundheit
.
Beſonders verdient es hervorgehoben zu werden,
daß
dem mannigfachen leidenden Zuſtande der Frauen, ihrer
Nervenſchwäche
und deren Folge am beſten durch Gebrauch
kalter
Bäder vorgebeugt wird.
Abgeſehen davon, daß das
Frauengeſchlecht
von der Natur ſchon auf Ertragung mannig-
facher
Leiden und Schmerzen hingewieſen iſt, findet gerade in
der
Haut-Thätigkeit der Frauen ein erhöhter Zuſtand ſtatt.
Es ſchwitzen Frauen um ein bedeutendes mehr als Männer,
wohingegen
ſie auf anderem Wege weniger Flüſſigkeit aus dem
Körper
ausſcheiden.
Da nun einmal die Zuſtände bei uns ſo
ſind
, daß die Frauen bei weitem leichter gekleidet gehen als
Männer
, und Hals, Bruſt, Nacken und Arme dem Spiel der
Luft
in oft übermäßigem Grade preisgeben, ſo iſt die ſo-
genannte
Abhärtung, die kalte Bäder gewähren, ihnen um ſo
notwendiger
.
Inwieweit der geregelte Gebrauch des kalten Waſſers
auch
ein Heilmittel in Erkrankungsfällen iſt, das gehört in
die
mediziniſche Wiſſenſchaft.
Von unſerem Geſichtspunkte aus
können
wir nur ſagen, daß eben nur ſo wenig wie irgend ein
geprieſenes
Univerſal-Mittel ſich als ſolches bewährt hat, eben
ſo
wenig auch das kalte Waſſer ein ſolches zu ſein ſcheint,
das
von allen Übeln befreit.
Wohl aber iſt die vernünftige
Anwendung
desſelben und namentlich als Reizmittel auf die
Haut-Thätigkeit
, wie auf Blut und Nerven bereits in die
Praxis
gebildeter und einſichtsvoller Ärzte übergegangen und
es
ſteht wohl die Zeit in Ausſicht, wo die Kalt-Waſſer-Kuren
für
gewiſſe Krankheitsfälle in allgemein anerkannte Anwendung
kommen
werden.
196108
Zum Lobe des kalten Bades, namentlich als Mittel zur
Erhaltung
der Geſundheit wollen wir ſchließlich noch Folgendes
ſagen
.
Die Sorge für die Kräftigung des heranwachſenden Ge-
ſchlechtes
hat manches Gute bereits ins Leben gerufen, wozu
hauptſächlich
das Turnen gehört.
Eine Turnübung vorzüglicher
Art
iſt das Schwimmen, ſowohl als Bewegung des Leibes an
ſich
, wie als ein Mittel, die ſchlimmen Folgen des zu langen
Verweilens
im kalten Bade zu verhüten.
Solange ein Schwimmer
nicht
ermattet, ſolange wird das Verharren im kalten Bade
nicht
von ſchädlichem Einfluß ſein.
Für die Jugend aber,
beſonders
in den Entwickelungs-Jahren, iſt die Abhärtung
durch
kalte Bäder das beſte Schutzmittel gegen Laſter, die im
Verborgenen
ſchleichen, und eine treffliche Förderung der
körperlichen
Geſundheit, die ſtets die Grundbedingung geiſtiger
Geſundheit
iſt.
XVI. Anhang: Die Kneipp-Kur.
Man hat in der letzten Zeit ſo viel von der Kneipp-Kur
geleſen
und gehört, daß es unſere Leſer gewiß intereſſieren wird,
wenn
wir ſie im Anſchluß an das Vorhergehende einer kurzen
Beſprechung
würdigen.
Dieſe Heilmethode, erfunden von dem
kürzlich
verſtorbenen katholiſchen Pfarrer Sebaſtian Kneipp
zu
Wörishofen in dem bairiſchen Regierungsbezirk Schwaben,
gehört
zur Art der ſogenannten phyſikaliſch-diätetiſchen Kuren,
das
heißt derjenigen, welche auf der Wirkung der natürlichen
Heilmittel
(Waſſer, Dämpfe, Luft, Licht, Wärme und Kälte)
und
einer beſonderen vorgeſchriebenen Ernährungsweiſe beruhen.
Der letztere Punkt muß für uns hier ausſcheiden, da er aus
dem
allgemeinen Gebiet der Naturwiſſenſchaften hinaus in
197109 ſpeziellen Bereich der Medizin fällt. Wohl aber müſſen wir
unſere
Aufmerkſamkeit dem erſteren Teile, dem auch bei weitem
wichtigeren
der ganzen Kur, zuwenden.
Pfarrer Kneipp war
ein
Empiriker, das heißt, ein Erfahrungsmenſch.
Er gab ſich
nicht
mit theoretiſchen Studien ab, ſondern kam auf dem Wege
des
Verſuches zu ſeinen Ergebniſſen.
Zu ſeiner Ehre muß angeführt werden, daß er alle An-
wendungen
zunächſt an ſich ſelbſt erprobt hat und ſie nur dann
bei
Kranken anwendete, wenn ſie ihm ſelbſt gut bekamen.
In
ſeinem
BucheMeine Waſſerkur, welchem wir hier im weſent-
lichen
folgen, führt er an, daß er mit 21 Jahren als ſchwind-
ſüchtig
von den Ärzten aufgegeben war und durch ein ihm
zufällig
in die Hände gefallenes Büchleinüber die Heilkraft
des
kalten Waſſers, welches einen Arzt zum Verfaſſer hatte,
auf
die Waſſerbehandlung hingeleitet worden wäre.
Dieſelbe
hätte
er dann mit ſo großem Erfolge an ſich ſelbſt angewendet,
daß
er noch im höheren Greiſenalter den doppelten Anſtrengungen
ſeines
Berufs als Seelſorger und als Naturheilkundiger voll-
kommen
gewachſen wäre.
Die Kneippkur beruht auf zwei altbekannten und viel
erprobten
Grundſätzen:
Die Krankheiten ſind durch eine ver-
nünftige
, naturgemäße Lebensweiſe und durch maßvolle Ab-
härtung
möglichſt zu vermeiden, bereits entſtandene Übel aber
durch
natürliche Mittel, zu denen Kneipp auch zahlreiche einfache
und
zuſammengeſetzen Thees aus den gewöhnlichſten Wald-
und
Feldkräutern und Pflanzen rechnet, möglichſt raſch zur
Heilung
zu bringen.
Das Hauptheilmittel iſt das Waſſer, das
in
allen erdenklichen Formen, teilweiſe auf recht originelle Art,
gebraucht
wird.
Kneipp behauptet nun, worin ihm freilich die
gelehrten
Mediziner nicht beipflichten, daß das Waſſer alle
überhaupt
heilbaren Krankheiten heile.
Nach ihm hat das
Waſſer
eine vierfache Wirkung auf den erkrankten menſchlichen
Organismus
:
198110
1. Es löſt die Krankheitsſtoffe im Blut auf;
2. es ſcheidet das Aufgelöſte aus;
3. das gereinigte Blut wird in beſſeren Umlauf gebracht
und
endlich
4. der geſchwächte Organismus wird zu neuer Thätigkeit
gekräftigt
.
Über die auflöſende Wirkung des Waſſers haben wir
ſchon
unter Nr.
III (Wie Waſſer ein ander Ding iſt) geſprochen.
In erhöhtem Maße wohnt dieſe Kraft dem warmen Waſſer
bei
.
Kneipp verordnet zu dieſem Zwecke warme Bäder, in
denen
Heilkräuter gekocht ſind (vergleiche Seite 95) und am
meiſten
leiſten in dieſer Hinſicht die Waſſerdämpfe.
Was die Ausſcheidung der Krankheitsſtoffe anlangt, ſo
ſucht
ſie Kneipp durch Wickelungen, ſogenannte Aufſchläger und
Güſſe
zu erreichen und zwar bevorzugt er die Behandlung
einzelner
Körperteile.
Bei den Wickelungen werden dieſelben
zuerſt
in ein naſſes, grobes Leinentuch gepackt und alsdann
mit
einer wollenen Decke feſt verhüllt.
Der Wickel wird auf verſchiedene Arten angewendet: als
Kopfwickel
, Halswickel, Bruſt- und Rückenwickel, Fuß- und
Kniewickel
, Unterwickel, kurzer Wickel, naſſes Hemd und ſpaniſcher
Mantel
.
Die Beſchreibung der einzelnen Anwendungen würde
uns
hier zu weit führen.
UnterAufſchläger” verſteht Kneipp
kalte
Umſchläge und unterſcheidet denOberaufſchläger”, der die
Bruſt
und den Unterleib, und denUnteraufſchläger, der den
ganzen
Rücken bedeckt.
Es werden auch beide zuſammen, oder
endlich
der Umſchlag auch auf den Unterleib allein angewendet.
Beſonders bekannt iſt Kneipp durch ſeine Güſſe geworden, die
unter
dem NamenKneippſche Güſſe” von den Anhängern der
Naturheilmethode
, unter denen ſich auch praktiſche Ärzte be-
finden
, allgemein in die Zahl der Heilmittel aufgenommen
ſind
und denen gute Erfolge nachgeſagt werden.
Kneipp
199111 fünf verſchiedene Arten ſolcher Gießungen, die entweder mit
der
Gießkanne oder einem Schlauche angewendet werden, den
Knieguß
, den Oberguß, den Rückenguß, den Unterguß und den
Ganz-
oder Vollguß.
Zur Stärkung des geſamten Organismus dienen endlich
die
Abhärtungsmittel, als welche aufgeführt werden:
die kalten
Bäder
, die Waſchungen und das Barfußgehen, welches auf bloßer
Erde
im naſſen Graſe, auf naſſen Steinen, im kalten Waſſer,
ja
ſogar im neugefallenen Schnee zur Ausführung kommt.
Auch gehört hierzu das Stehen und Gehen im kalten Waſſer
und
das ſogenannte Waſſertreten, bei welchem die Füße in
knöcheltiefem
Waſſer abwechſelnd herausgezogen und wieder
hineingeſetzt
werden.
Von Bädern werden Fußbäder, Halb-
bäder
, Sitzbäder, Vollbäder und Teilbäder unterſchieden, von
denen
ſämtliche, mit Ausnahme der Halbbäder, kalt oder warm
gebraucht
werden können.
Die Teilbäder zerfallen wiederum in Hand- und Arm-
bäder
, Kopfbäder und Augenbäder.
Ebenſo wie Voll- und
Teilbäder
werden auch die Ganzwaſchungen und Teilwaſchungen
unterſchieden
.
Die Beſchreibung der Kräuterbäder und der aus
Kräutern
zuſammengeſetzen Heilmittel (Tinkturen, Theeſorten,
Pulver
, Öle) gehörte zwar zu unſerm Thema, paßte aber nicht
in
unſeren Abſchnitt von den Wirkungen des Waſſers, zu
welchem
dieſer Schlußaufſatz nur das Nachwort bilden ſoll.
Faſſen wir das Geſagte kurz zuſammen, ſo können wir wohl
mit
Fug ſagen, daß die unleugbaren Wirkungen der Kneipp-
ſchen
Heilmethode auf derjenigen Naturkraft des Waſſers be-
ruhen
, die wir unter Nr.
XII alslebendige Gegenwirkung”
bezeichnet
haben, wenngleich ihre Bedeutung von zahlreichen
Laien
ungebührlich überſchätzt wird.
Wir wollen endlich noch
hinzufügen
, daß Kneipp ſelbſt einen möglichſt milden Gebrauch
des
Waſſers befürwortet und den Grundſatz vertritt, daß kurz-
dauernde
Anwendungen ganz kalten Waſſers im
200112 die beſte Wirkung ausüben, was ja auch mit unſeren Aus-
führungen
im XIV.
Abſchnitte übereinſtimmt. Im Übrigen
ſpricht
Kneipp in dem Vorwort zur erſten Auflage ſeines Waſſer-
buches
wohl in der Erkenntnis, daß man mit dem bloßen Aus-
probieren
allein die Urſachen der Heilwirkung des Waſſers
nicht
ergründen könne, den Wunſch aus, daß die Leute vom
Fach
(naturwiſſenſchaftlich gebildete Ärzte) allgemeiner und um-
faſſender
auch die Waſſerheilmethode gründlich ſtudieren und
in
die Hand und Aufſicht nehmen mögen.
Die Erfolge, die
Pfarrer
Kneipp mit ſeiner Kur erzielte, ſind allerdings be-
deutend
, ſo daß dieſelbe täglich mehr Anhänger gewinnt und
auch
ſchon in ärztlichen Kreiſen Beachtung gefunden hat.
201
Naturwiſſenſchaftliche Volksbiicher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Achter Ceil.
14[Figure 14]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
202
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
203
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Etwas vom Alter der Erde.
I
. # Das Leben der ſogenanntentoten Natur” . . . . # 1
II
. # Wie entſtehen die Berge und die Meere? . . . . . # 5
III
. # Die Wirkung entgegengeſetzter Kräfte auf die Erde . . # 7
IV
. # Wie ſieht es im Innern der Erde aus? . . . . . # 11
V
. # Die harte Erdſchale . . . . . . . . . . . . # 14
VI
. # Die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der Erde . # 17
VII
. # Geſteine, die ſich unter dem Waſſer gebildet haben . . # 20
VIII
. # Unterſchied der Geſteinarten . . . . . . . . . # 23
IX
. # Unterſchied in Bezug auf das Vorkommen der Geſteine # 27
X
. # Die gegenwärtige Umbildung der Erde . . . . . # 29
XI
. # Das norddeutſche Flachland . . . . . . . . . # 37
XII
. # Die Braunkohle und ihre Entſtehung . . . . . . # 40
XIII
. # Der Bernſtein . . . . . . . . . . . . . . # 45
XIV
. # Die Eiszeit . . . . . . . . . . . . . . . # 57
XV
. # Wie alt iſt der gegenwärtige Zuſtand der Erde? . . # 73
XVI
. # Wie lange Zeit brauchte die Erdrinde, um zu erkalten? # 76
XVII
. # Haben wir noch eine Umwälzung der Erde zu erwarten? # 78
XVIII
. # Iſt eine einſtmalige Rückbildung der Erde denkbar? . # 81
XIX
. # Veränderungen, die man an den Kometen beobachtet . # 84
XX
. # Das Entſtehen und Vergehen der Fixſterne . . . . # 91
XXI
. # Nebelflecke . . . . . . . . . . . . . . . # 94
## Bon der Umdrehung der Erde.
I
. # Die Uhr . . . . . . . . . . . . . . . # 100
II
. # Das Pendel . . . . . . . . . . . . . . # 104
III
. # Die Taſchenuhren . . . . . . . . . . . . . . # 110
IV
. # Rotiert die Erde gleichmäßig? . . . . . . . . # 114
V
. # Der Umlauf des Mondes . . . . . . . . . . # 117
VI
. # Scheinbare Beſchleunigung des Mondes . . . . . # 120
VII
. # Wie der Mond unſere Tage länger macht. . . . . # 123
204IV11
# # Seite
## Von der Geſchwindigkeit des Lichtes.
I
. # Vom Licht . . . . . . . . . . . . . . . # 128
II
. # Der Poſtenlauf des Lichtes . . . . . . . . . # 130
III
. # Was uns der Planet Jupiter angeht . . . . . . # 133
IV
. # Wie die Geſchwindigkeit des Lichtes gemeſſen wurde . # 135
V
. # Die weiteren Beſtätigungen . . . . . . . . . # 138
VI
. # Die Entdeckung Bradleys . . . . . . . . . . # 140
VII
. # Wie Bradley die Ab-Irrung des Lichtes entdeckte . . # 143
VIII
. # Ein Blick in die Unendlichkeit . . . . . . . . . # 146
205
Etwas vom Alter der Grde.
I. Das Leben der ſogenanntentoten Natur.
Wir wiſſen, daß die Erdoberfläche, auf der wir leben,
nicht
immer ſo beſchaffen war, wie ſie jetzt iſt.
Die Luft, die
die
Erde umgiebt, war ehedem eine andere als die jetzige;
die
Pflanzen
anders als die, die jetzt unter uns gedeihen.
Die
Tierwelt
war eine von der unſrigen verſchiedene, und der
Menſch
?
es war ehedem eine lange Zeit, in der er
noch
gar nicht auf der Erde exiſtierte, und ſicherlich war das
Menſchengeſchlecht
, als es auftrat, ein anderes als das jetzige.
Iſt dem aber ſo und hierüber herrſcht in der Wiſſen-
ſchaft
nicht mehr der geringſte Zweifel dann darf man
nicht
glauben, daß die Erde fortan und in aller Ewigkeit ſo
bleiben
wird, wie ſie iſt, daß Luft und Waſſer und Pflanzen
und
Tiere und Menſchen in Form und Weſen unabänderlich
für
alle Ewigkeit ſo fortbeſtehen werden, ſondern wir haben
das
Recht, den Schluß zu ziehen, daß die Veränderungen, die
ſich
nach beſtimmten Geſetzen bisher entwickelt haben, noch
ferner
ſtattfinden und Umgeſtaltungen hervorgebracht werden.
War die Erde einmal anders und iſt ſie bis jetzt anders
geworden
, weshalb ſollte man annehmen, daß ſie nicht noch
ferner
ſich umgeſtalten wird?
Große Gebiete der Erde, die
ehedem
vom Waſſer bedeckt waren, liegen jetzt als trockener
Boden
vor uns.
Ja, hohe Gebirge, die gegenwärtig, von
Wolken
umhüllt, emporragen, tragen die
2062 Spuren, daß ſie ehedem auf dem Boden eines Meeres ge-
legen
haben.
Sandſteinblöcke, die ganze Gebirgsketten aus-
machen
, auf denen jetzt rieſige Bäume wurzeln, die die Vögel
des
Himmels bewohnen und um welche die neugierigen Menſchen
herumwandeln
, um von der Höhe hinabzublicken in die ſonnige
Ebene
des flachen Landes, dieſe Sandſteinblöcke waren ehe-
dem
lockerer, loſer Sand auf dem Grunde eines Meeres, welcher
Muſcheln
der Schalttiere in ſich aufgenommen hat.
Und dieſer
lockere
, loſe Sand, in dem ſich unter Umſtänden unzählige Reſte
eines
ehemaligen Lebens erhalten haben, iſt erſt im Verlauf
vieler
Tauſende von Jahren auf dem Boden des Meeres zu
Stein
geworden, und wurde dann durch eine Kraft empor-
gerichtet
als Felsgebirge, die der Menſch anſtaunt und als
ein
Bild unveränderlicher Ewigkeit betrachtet.
Und Gebiete, die heute unter dem Meeresſpiegel liegen,
ſie
haben ebenſo unzweifelhaft einmal dem Licht und der Luft
angehört
und waren der feſte Boden für die vorweltliche Tier-
und
Pflanzenwelt, die die Reſte ihres Daſeins darin zurück-
gelaſſen
.
Das Meer hat das jetzt begraben, was die Erde einſt
in
ihren Schoß aufgenommen.
Denn das Meer, das uns wie
ein
Bild der Unendlichkeit erſcheint, hat ſich ſtets verändert.
Auch in menſchlich-hiſtoriſcher Zeit ſind ſolche Schwan-
kungen
hier und da durch günſtige Umſtände bemerkbar ge-
worden
;
ſo ſind langſame und ſtetige Senkungen beziehungs-
weiſe
Hebungen an vielen Küſten beobachtet worden.
Ein be-
rühmtes
Beiſpiel bieten die an der Meeresküſte gelegenen Ruinen
des
Serapis-Tempel bei Puzzuoli nahe Neapel.
Die drei etwas
über
12 Meter hohen, aus je einem einzigen Marmorſtück ge-
fertigten
Säulen (Fig.
1), zeigen in ihrem unterſten Teil bis
2
{1/2} Meter Höhe eine unverſehrte glatte Oberfläche, die darüber
befindliche
etwa 3 {1/2} Meter hohe Zone hingegen iſt mit zahl-
reichen
Löchern verſehen, welche von der Bohrmuſchel, deren
Schalen
in den Löchern vielfach noch erhalten ſind,
2073 wurden. Um wenigſtens 6 Meter muß der Boden des Serapis-
Tempels
ſich einmal geſenkt haben, um den Bohrmuſcheln
Gelegenheit
zu geben, ihre Löcher in die Säulen zu bohren.
Die glatte Zone im unterſten Teil der Säulen erklärt ſich leicht
15[Figure 15]Fig. 1. dadurch, daß die letzteren, als ſie im Waſſer ſtanden, bis zur
Höhe
dieſer Zone in vulkaniſchem Sand ſteckten.
Die Boden-
Bewegung
dauert an der Stelle fort:
nachdem die Tempelreſte
wieder
in die Luft erhoben wurden, ſinken ſie, dem Boden folgend,
heute
, und zwar jährlich um ca.
2 Centimeter, wieder hinab.
Ungeheure Veränderungen haben langſam im Laufe
2084 Zeiten auf der Erde ſtattgefunden: wie ſtetes Tropfen den
Stein
aushöhlt, ſo ergeben auch immerwährend und ewige
Zeiten
hindurch währende kleine Bewegungen gewaltige Reſultate.
Wo alſo heute Feſtland iſt, war Meer, und wo heute Meer iſt,
da
war Feſtland.
In den verſchiedenen geologiſchen Epochen
ſah
die Landkarte der Erde demnach ganz anders aus.
Das
16[Figure 16]Fig. 2. Kärtchen (Fig.
2) zeigt uns z. B. das etwaige Ausſehen Central-
Europas
zu einer Zeit, die wir noch als dieKreidezeit” kennen
lernen
werden.
Wo alſo heute u. a. Hamburg, Berlin und
Breslau
, München und Wien liegen, war damals Meer.
Alſo die Berge ſind nicht ewig und das Meer nicht unend-
lich
vor dem Forſcherblick der Wiſſenſchaft;
beginnen wir daher
dieſe
unſere geologiſchen Betrachtungen mit der Thätigkeit der
Erde
in Bildung der Gebirge und der Meere.
2095
II. Wie entſtehen die Berge und die Meere?
Die Berge ſind nicht ewig und die Meere nicht unendlich.
Die Berge ſind erſt groß geworden und entſtehen teilweiſe
noch
jetzt langſam und unmerklich , und die Meere
ſind
in ihrem Sein und Weſen der ewigen Umwandlung aus-
geſetzt
.
Es fehlte nur bisher der beobachtenden Menſchheit der
Blick
für die Geſchichte dieſer Umwandlungen, und die Wiſſen-
ſchaft
hat unendliche Mühe, der Natur in ihren kleinen Wir-
kungen
und großen Folgen mit ſicherem Blicke nachzuſpüren.
Wir werden von der Bildung der Berge und der Meere
noch
ein Näheres unſeren Leſern darzulegen ſuchen.
Für jetzt
jedoch
wollen wir den Kampf ſchildern, der zwiſchen den
Bergen
und den Meeren geführt wird;
ein Kampf, bei welchem
die
Quellen, die Flüſſe und Ströme einerſeits und andererſeits
die
Luft, die Alles umſchließt, ihre große, unendliche Rolle
ſpielen
.
Von den Bergen wäſcht der Regen unausgeſetzt kleine Teile
ab
.
Selbſt die härteſten Steine verwittern an ihrer Oberfläche
durch
die Einwirkung der Luft und der Feuchtigkeit.
Die
Oberfläche
aller Steine ſieht faſt immer anders aus, als ihr
Inneres
, denn dieſe Oberfläche iſt immer im Verwittern, im
Zerkrümeln
begriffen.
Felſen, die bis in die Wolken hinein-
ragen
, ſind beſtimmt, nach Tauſenden und Millionen von
Jahren
dem Erdboden gleich gemacht zu werden.
Die Wolken,
die
ſie umhüllen, ſind die Zeugen ihrer fortwährenden, langſam
vor
ſich gehenden Zerſtörung.
Was in ſtiller, feuchter Luft
von
den Felſen verwittert, führt der trockene Wind als feinen
Staub
davon und wäſcht der Regen herunter, um es am Fuße
der
Gebirge abzulagern.
Daher iſt am Fuße der meiſten Ge-
birge
ein reiches Fruchtland verbreitet, denn aus den ver-
witterten
Geſteinen wird eine fruchtbare Erddecke.
Die dürren
Felſen
, die ein Bild des ſtarren Todes ſind, werden nach
2106 Verwitterung geſegnet und bilden einen üppigen Grund, auf
dem
ein Pflanzen-Paradies gedeiht.
Sammelt ſich aber der Regen auf den Höhen der Berge
in
Vertiefungen, die ihm den Ablauf zur Erde verſperren,
ſo
ſucht das ruheloſe Waſſer ſeinen Weg durch alle Spalten
des
Felſens, durch alle Lücken der Geſteine und ſickert hindurch
durch
Sand- und Erdlagen und bricht dann an einer tiefer
liegenden
, oft ſehr fernen Stelle als ſchwacher Berg-Quell
heraus
an das Licht des Tages, um das Geſtein unter ihm
zu
überrieſeln, durch Rinnen und Hohlgänge und ausgeſpülte
Dämme
bald zu ſtürzen, bald zu fließen, bald ſich hindurch zu
winden
, bis er Genoſſen findet, die gleichen Weges mit ihm
ziehen
und ſich zu einem größeren Quell vereinen, der einem
Bache
zueilt.
Wo eilt der Bach hin? Der Bach ſchlängelt ſich ſo lange
durchs
Land, bis er einen Strom findet, der das Waſſer ver-
ſchiedener
Bäche in ſich aufgenommen hat, und der Strom eilt
dem
Meere zu, um in deſſen unendlichem Becken ſich zu ver-
lieren
und das ewig volle und dennoch ewig dürſtende Meer
mit
ſeinen Gewäſſern ſpeiſen zu helfen.
Aber jeder Regen und jeder Quell und jeder Bach und
jeder
Strom und jeder Fluß führt kleine, in ihm ſchwebende
oder
auch aufgelöſte Teilchen der feſten Gebirge mit ſich hinab.
Was auf dem weiten Wege zu beiden Seiten der Ufer oder
in
der Tiefe abgelagert wird, reißt das nächſte Waſſer bei
vollerem
Strom wieder weiter fort, und ſo fließt und ſtrömt
und
ſtürzt und wirbelt fort und fort das im Vergehen be-
griffene
Gebirge ins Meer hinab, und ſo ſind die himmel-
anragenden
Felſen beſtimmt, vernichtet und in die Ebene ge-
tragen
, zum Teil vom Meere verſchlungen zu werden.
2117
III. Die Wirkung entgegengeſetzter Kräfte auf
die Erde.
Die Berge alſo zerfallen und fließen mit den Gewäſſern
in
kleinen, aufgeſchwemmten Teilen ins Meer.
Das Meer aber ſammelt an den Mündungen der Ströme
alle
jene kleinen Geſteinsteilchen wieder, wo ſie zu Boden fallen.
Iſt es jedoch hinabgelangt in die Tiefe, ſo findet es daſelbſt
Genoſſen
, die vor ihm ſich hingelagert haben;
liegen aber
ſtändig
Geſteinsteilchen ruhig im Waſſer nebeneinander, ſo
werden
ſie im Laufe langer Zeit miteinander verkittet, ſodaß
ſie
wiederum Felſen werden, wie ſie es ehedem waren, als ſie
hoch
in die Luft emporragten.
Verſchlingt das Meer demnach die Felſen, ſo verdrängen
fort
und fort die kleinen Teilchen wiederum das Meer und
füllen
ſeinen Boden aus.
Das Meer muß daher in ſeinen
Ufern
ſteigen und fortwährend in der Weite zunehmen.
Und
da
dies immer der Fall und ewig der Fall ſein wird, ſo
müßten
die Berge verſchwinden, die Meere ſich erheben und
die
Länder bedecken, die jetzt über dem Spiegel der Gewäſſer
hervorragen
.
Der trockene Boden müßte hinabſinken und
endlich
eine gleichmäßige Kugel bilden, auf der Waſſer allein
die
Oberfläche bildet.
Dieſer Zerſtörung des Erdbodens durch das Waſſer wirkt
jedoch
die die Berge bildende Kraft entgegen.
Wie ein Apfel, der an der Luft liegt, langſam durch Ver-
dunſtung
von ſeiner Flüſſigkeit abgiebt, ſodaß der Umfang des
Apfels
geringer wird und die ihn urſprünglich prall umſpannende,
unelaſtiſche
Haut nunmehr Falten bilden muß, oder kurz und
bündig
, ſodaß der Apfel einſchrumpft:
ebenſo ſchrumpft die
älter
werdende Erde allmählich zuſammen.
Sie giebt durch
langſame
Abkühlung Wärme an den Weltenraum ab, und da
ſie
ſich dadurch in ihrem Raumgehalt vermindert, die
2128 Erdkruſte jedoch wie die Apfelhaut vergleichweiſe unelaſtiſch iſt,
ſo
muß auch die letztere Runzeln bekommen:
Altersrunzeln, die
wir
kleinen Menſchen als Gebirge bezeichnen.
Bei der allmählichen Erd-Abkühlung entſtehen Spaunungen
in
der ſtarren Erdkruſte, die, wenn ſie ſich endlich auslöſen, als
Erdbeben
in die Erſcheinung treten, wodurch oft Berge er-
ſchüttert
, Thäler verſchüttet werden, der flache Boden der Erde
tiefe
Riſſe erhält, Gewäſſer ihren Lauf ändern, alte Quellen
verſiegen
und neue entſtehen.
In ſtiller Wirkſamkeit iſt die gebirgsbildende Kraft un-
unterbrochen
thätig, und unbemerkbar für das Menſchenauge
und
das Gedächtnis eines Menſchengeſchlechts richtet dieſe
Kraft
neue Berge auf, ſchafft dieſe Kraft neue Inſeln, erhebt
dieſe
Kraft große Landſtriche, die oft Hunderte von Quadrat-
meilen
umfaſſen, und ſchafft neue Unebenheiten auf dem Erden-
rund
, der Thätigkeit der Gewäſſer, die Alles auszugleichen
ſtrebt
, entgegen wirkend.
Bei dieſem Kampf der Abtragung der Geſteine einerſeits
namentlich
durch das Waſſer und der Bildung von Uneben-
heiten
infolge der Abkühlung, wechſelt die Erde ihre Geſtalt
wie
ein Gewand, ein Kampf, der vom Erdenleben Zeugnis
giebt
, wenn auch das Leben eines Menſchen viel zu kurz iſt,
um
nur den allerkleinſten Teil des Erdenlebens mit eignem
Blicke
zu überſchauen.
Über die wirklichen Verhältniſſe der Aufrichtungen und
Faltenbildungen
der Erdkruſte findet man häufig recht falſche
Vorſtellungen
.
Die Berge und Gebirge werden für ſteile und
plötzlich
emporgerichtete Bildungen gehalten, was ſie in Wirk-
lichkeit
nicht ſind.
In Wahrheit iſt die Erde hinſichtlich ihrer
Hervorhebungen
höchſtens einer ſchwach rauhen Kegelkugel zu
vergleichen
, und könnte die Erde wie eine ſolche Kugel auf
einer
glatten Ebene gerollt werden, ſo würden die Gebirge
keinerlei
Hinderniſſe bilden, die den Lauf auch nur
2139 ſtören könnten. Die Erhöhungen ſind ſo ſchwach, daß ſie ſich
auf
einem gewöhnlichen, großen Globus nicht auftragen laſſen:
17[Figure 17]Fig. 3.
ſie würden unbemerkt bleiben, ſodaß die Notwendigkeit, die
Berge
dennoch als Hervorragungen zu markieren, zu
21410 Übertreibungen ihrer Höhe oder, wie die Wiſſenſchaft ſagt, zu
18[Figure 18]Fig. 4.Braunlage
Torthaus
Rad@u
Wurm
B.
Ecker
Bode
Brocken
Jlse
Brocken
Jlse
Jlse
Jlsenburg
Hassero@
Überhöhungen nötigt.
Unſere
Längsſchnitte
(Profile, Fig.
4)
durch
den Brocken (Fig.
3), die in
Richtung
der in dem Kärtchen ein-
getragenen
beiden, ſich im Brocken-
gipfel
brechenden Linien verlau-
fen
, zeigen, daß die Gebirgs-
Erhöhungen
in der That nur
ſchwache
Unebenheiten der Ober-
fläche
ſind.
Man köunte nun glauben,
daß
der heutige Zuſtand des
Kampfes
zwiſchen Feſtem und
Flüſſigem
von Ewigkeit her der-
ſelbe
geweſen ſein müſſe.
Aber
dies
iſt nicht der Fall.
Es muß eine Zeit vor vielen,
vielen
Millionen Jahren gegeben
haben
, wo das Waſſer auf der
Oberfläche
der Erde noch nicht
vorhanden
war, wo die Erde ſelber
eine
große, feurige und flüſſige
Kugel
geweſen iſt, die ſich erſt
nach
und nach abgekühlt und da-
durch
erſt nach langen Entwicke-
lungen
die harte Oberfläche er-
halten
hat, welche jetzt unſer
Wohnort
iſt.
Wenn dies der Fall iſt
und
es ſprechen viele Beobachtun-
gen
dafür, ſo iſt mit der Erde
eine
Veränderung vor ſich gegangen, die ihren ganzen
21511 anders geſtaltet hat, als er urſprünglich war, und man hat
dann
Grund anzunehmen, daß die Erde ſich noch immer weiter
verändern
wird.
Und hier eben iſt das Gebiet, wo nicht mehr die Forſchung
der
ſtrengen Wiſſenſchaft, ſondern nur die Vermutung uns leiten
kann
, und wo der Phantaſie ein außerordentlich freier Spiel-
raum
gegönnt iſt, ſich zu verlieren in weit hinter uns liegende
vorweltliche
Bilder und weit hinauszugreifen in Vorſtellungen
über
eine in graueſter Ferne der Zukunft liegende Zeit.
So intereſſant dieſe Phantaſien ſein mögen, ſo wenig
wollen
wir ihnen doch in dieſen Artikeln folgen, die der unter-
haltenden
Belehrung, aber nicht der bloßen phantaſtiſchen Unter-
haltung
gewidmet ſind.
Wir wollen daher unſeren Leſern lieber
mit
dem offenen Geſtändnis entgegentreten, daß die ſtrenge
Wiſſenſchaft
noch nicht ganz eingedrungen iſt in die Geheimniſſe
jener
Vergangenheit und noch nicht, ohne ſich zu verwirren,
weit
hinausgreifen darf in die verhüllte Zukunft.
IV. Wie ſieht es im Innern der Erde aus?
Die Frage, wie es im Innern der Erde ausſieht, beant-
wortet
die Wiſſenſchaft in der folgenden Weiſe.
Die Thatſache, daß an geeigneten Stellen heiße Quellen
aus
dem Innern herausſteigen und glutflüſſige Geſteinsmaſſen,
daß
vor allem die Unterſuchungen von Bohrlöchern und der
Temperaturen
in tiefen Bergwerken ergeben, daß die Temperatur
mit
der Tiefe zunimmt, zwingen zu der Annahme eines
glühenden
Erdkernes.
Die meiſten Gelehrten nehmen an, daß
der
Erdkern glut-flüſſige Beſchaffenheit beſitzt, daß die Erde
nur
an ihrer Oberfläche hart geworden iſt durch nach und nach
eingetretene
Erkaltung, wie wenn eine große, geſchmolzene
21612 maſſe zuerſt auf der Oberfläche erkaltet und ſtarr wird, während
ſie
im Innern eine Zeitlang flüſſig und heiß bleibt.
Folgt man dieſer Vorſtellung, ſo hat man ſich die Erde
zu
denken, wie einen Körper, der von einer harten Schale
umſchloſſen
, unter der aber eine flüſſige, heiße Maſſe vor-
handen
iſt.
Und dieſe Vorſtellung iſt in der That hin-
reichend
, ſo manche Erſcheinung der Natur zu erklären.
Vor allem hat man ſich durch Verſuche überzeugt, daß
die
Wärme, welche durch die Einwirkung der Sonne auf der
Oberfläche
der Erde herrſcht, nicht Einfluß hat auf die Tiefe
der
Erde.
Schon in genügend tieſen Kellern iſt es Sommer
und
Winter gleich warm, wie in den 28 Meter tiefen Kellern
des
Obſervatoriums von Paris, die ſeit 1783, wo man mit
den
Beobachtungen begann, eine konſtante Temperatur von
11
,7 Grad Celſius zeigen.
Unſere Keller dienen daher, die
Speiſen
im Sommer vor Fäulnis durch Hitze und im Winter
vor
Verderben durch Froſt zu ſchützen.
Gräbt man alſo
bis
zu einer geringen Tiefe, ſo iſt gar kein Unterſchied zwiſchen
heißen
oder kalten Tagen, zwiſchen Sommer und Winter,
zwiſchen
Tag oder Nacht zu merken.
Die Wärme bleibt dort
vollkommen
dieſelbe, mag die Sonne auf der Oberfläche der
Erde
glühend ſcheinen oder gar keinen Strahl hinſenden.
Geht man aber noch tiefer, ſo nimmt die Wärme ſtets zu und
Verſuche
haben gezeigt, daß ſie auf je 30 Meter um etwa
einen
Grad ſteigt, ſo daß man in dieſer Weiſe zu dem Schluß
gekommen
iſt, daß in einer Tiefe von 66 000 Metern eine Hitze
von
2000 Grad herrſchen müſſe, eine Hitze, bei welcher ſelbſt
die
härteſten Gegenſtände ſchmelzen und flüſſig ſein müſſen,
wenn
nicht der dort herrſchende Druck ſie vielleicht zwingt, feſt
zu
bleiben.
Es iſt indeſſen keineswegs ausgemacht, daß die Hitze
wirklich
fort und fort mit der Tiefe zunimmt:
denn es iſt
leicht
denkbar, daß die Erde eine gewiſſe Naturwärme
21713 wie es mit dem tieriſchen Körper der Fall iſt, deſſen Oberfläche
auch
kälter iſt als das Innere, und wo eine Zunahme der Wärme
gleichfalls
ſtattfindet, je tiefer man durch die Haut in den Körper
hineindringt
;
gleichwohl nimmt die Wärme nur bis zu einem ge-
wiſſen
Grade zu, bis ſie die Blutwärme, die etwa 36 bis 38 Grad
beträgt
, erreicht hat und ſodann ſich nicht weiter ſteigert.
Die ſowohl in Bergwerksſchachten als in tiefen Brunnen
19[Figure 19]Fig. 5.
Der
Veſub.
zahlreich angeſtellten Meſſungen haben auch in der That er-
geben
, daß, je tiefer man vordringt, deſto geringer die Wärme-
zunahme
wird.
Im Ganzen ſind jedoch die Wärmemeſſungen
nicht
weit genug gegen das Innere der Erde vorgedrungen, um
einen
beſtimmten Schluß auf die Erdwärme ſelbſt zu geſtatten;
die Wärmebeſtimmungen erſtrecken ſich erſt auf eine Tiefe von
2000
Metern, was gegen den Durchmeſſer der ganzen Erdkugel
verſchwindend
klein iſt.
21814
Wie dem aber auch ſein mag, ſo ſteht doch ſo viel feſt,
daß
die Wärme im Innern der Erde oft genug hervorbricht
auf
die Oberfläche, und die heißen Waſſerquellen, die aus der
Erde
emporſteigen, die Dämpfe und Flammen, welche von
feuerſpeienden
Bergen hervorgeſchleudert werden, wie die Laven,
das
geſchmolzene Geſtein, das ſich aus den Kratern der
Vulkane
ergießt, führen einen Teil der Erdwärme nach oben
hin
und geben Zeugnis davon, daß die Glut im Innern noch
nicht
erloſchen iſt.
Namentlich ſind es die durch die gebirgsbildende Kraft,
die
Schrumpfung der Erdkruſte infolge allmählicher Abkühlung
entſtehenden
Riſſe und Sprünge, welche Anlaß zu feuer-
ſpeienden
Bergen (Fig.
5), geben. Nicht, wie man früher
glaubte
, ſind es die Stöße einer glutflüſſigen Maſſe gegen die
Erdkruſte
, welche Hervorwölbungen, Gebirge veranlaſſen, ſondern
umgekehrt
, die feuerſpeienden Berge ſind nach dem Geſagten
Folge-Erſcheinungen
der Schrumpfung.
Ein Längsſchnitt durch
einen
feuerſpeienden Berg zeigt denn auch keine Hervor-
wölbung
der Erdkruſte, ſondern es ſind die im Laufe der Zeit
im
Glutzuſtande ausgequollenen und dann erſtarrten Lava-
Maſſen
, welche ſich naturgemäß um die Ausſchnittsſtelle
ablagernd
den feuerſpeienden Berg bilden.
V. Die harte Erdſchale.
Wenn man die Gebirge der Erde genauer unterſucht, ſo
findet
man eine auffallende Erſcheinung an denſelben.
Man ſollte meinen, auf den Spitzen der Berge müßten
ſich
diejenigen Stein- und Erd-Arten finden, die ſonſt auf
oberem
Boden zu finden ſind, während der Fuß des Gebirges
ſolche
Maſſen zeigen ſoll, die ſonſt tief unter dem flachen
Erdboden
vorhanden wären.
Dies iſt aber nicht der Fall.
21915
Es zeigt ſich vielmehr umgekehrt. Die höchſten Berge
beſtehen
gerade in ihren Höhen aus ſolchen Geſteinen, die ſonſt
am
tiefſten unter der Oberfläche der Erde liegen.
Es verhält ſich hierbei folgendermaßen:
Wenn man ein Loch in die Erde gräbe und dies immer
tiefer
und tiefer bohrt, ſo findet man, daß die harte Schale
der
Erde, die ihre Oberfläche bildet, aus verſchiedenen Schichten
beſteht
, die über einander liegen.
Indem wir dieſe Schichten
ſpäter
noch näher bezeichnen werden, wollen wir nur für jetzt
ſagen
, daß die unterſte all’ dieſer Schichten von Steinarten
gebildet
iſt, zu denen z.
B. der Granit gehört, und daß dieſe
ſo
tief unter der Oberfläche liegen, daß man durch Nachgrabungen
noch
garnicht bis zu dem Granit gekommen iſt.
Dies iſt nur auf flachem Boden der Fall, wo kein Gebirge
vorhanden
iſt.
Wo aber Gebirge ſich hoch emporrichten, da
iſt
es oft gerade umgekehrt.
Das unterſte Geſtein der am
tiefſten
liegenden Schicht bildet das höchſte und ſchroffſte
Gebirge
und liegt ſo, daß die oberen Schichten immer von ihm
durchriſſen
und die unterſten durch die oberen hindurch ge-
drängt
erſcheinen.
Dieſe Erſcheinung kommt dadurch zuſtande, daß das die
Berge
langſam, aber ſicher abraſierende Waſſer naturgemäß
zunächſt
die oberen Stücke hinweggenommen hat und in dem
angenommenen
Fall bis zum Granit u.
ſ. w. vorgedrungen
iſt
.
In anderen Fällen werden glutflüſſige Geſteinsmaſſen
durch
ſchwache Stellen der Erdrinde hervorgepreßt, ſich ſo
über
die ſchon vorhandenen Schichten ergießend und nach ihrer
Erkaltung
den Eindruck machend, als ſeien dieſe ergoſſenen
Geſteine
älter als diejenigen, die nunmehr darunter liegen.
So iſt’s mit dem Baſalt, der ſich nach der Erkaltung in Säulen
zerklüftet
(Fig.
6), dem Porphyr und anderen Geſteinen, die
durch
die Geſteine, die über ihnen lagen, gewiſſermaßen hin-
durchgingen
wie eine Kanonenkugel durch eine Wand.
22016
Auch ſolche Geſteine können Gebirge bilden. Noch nirgend
hat
man gefunden, daß der Baſalt von einer andern Steinart
durchbrochen
worden iſt, ſondern er durchbricht alle übrigen.
Daraus hat man den Schluß gezogen, daß der Baſalt das
Geſtein
ſein muß, das, geologiſch geſprochen, ſehr ſpät durch
die
harte Erdſchale durchgebrochen iſt.
Der Porphyr durchbricht alle übrigen Geſteine, wenn
er
ein Gebirge bildet, nur den Baſalt nicht;
folglich hat man
daraus
mit Recht geſchloſſen, daß der Porphyr in früherer
20[Figure 20]Fig. 6.
Baſalt-Säulen
auf der Iuſel Staffa.
Zeit die harte Erdrinde
durchbrochen
als der
Baſalt
.
Aus der Betrach-
tung
der höchſten Ge-
birge
hat man nun die
Geheimniſſe
der Tiefe,
in
die noch kein Menſch
hineinzudringen
ver-
mochte
, zu erforſchen
geſucht
, und hat den
richtigen
und zuver-
läſſigen
Schluß gezogen, daß in verſchiedenen Epochen des
Erdenlebens
verſchiedene Geſteine durch die immer dicker ge-
wordenen
Schalen der Erde an die Oberfläche gekommen ſind.
Stellt man ſich nun die Erde als glutflüſſige Maſſe im
Innern
vor, die von einer harten Geſteins-Schale umgeben iſt,
ſo
fragt es ſich vor allem, woher die Schale wohl gekommen
ſein
mag, ob dieſelbe ſich noch fortwährend bildet, oder ob ſie
wohl
noch einmal zuſammenſchmelzen könnte?
Die Vorſtellung, die man ſich hiervon zu machen berechtigt
iſt
, iſt folgende:
Ehedem, ſicherlich vor vielen, vielen Millionen Jahren, iſt
die
Hitze der Erde groß genug geweſen, um auch dieſe
22117 ſteine im Schmelzzuſtande zu erhalten, und die ganze Erde
war
nur eine flüſſige Feuerkugel, jedoch durch Ausſtrahlung
der
Wärme in den Weltraum iſt die äußerſte Hülle erkaltet
und
hart und erſt nach und nach zu dieſer vergleichweiſe dünnen
Schale
geworden, die den Kern jetzt einſchließt.
Daß die Hitze der Erde im Innern einmal ſo wachſen
ſollte
, daß ſie ihre Geſteinsdecke wiederum ſchmilzt, das iſt
nicht
anzunehmen.
Die Erde verliert vielmehr tagtäglich nicht
unbeträchtliche
Maſſen von Wärme.
Die warmen Waſſerquellen,
die
emporſtrömen, entführen ihr unausgeſetzt Wärme, und
Vulkane
ſind nicht minder thätig, ihr fortwährend Wärme zu
entziehen
, ſo daß man eher an eine Erkaltung als an ein neues
Aufflammen
der Erde zu denken hat.
VI. Die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der
Erde.
Die erſte Erſtarrungskruſte iſt keineswegs der Grund und
Boden
, auf dem wir leben, ſondern es iſt jene Schale noch von
viele
Kilometer dicken Schichten umgeben, die erſt nach und
nach
die Grundlage geworden ſind zu dem Wohnſitz und der
Entwickelung
aufkeimender Pflanzen, lebender Tiere und endlich
denkender
Menſchen.
Sicherlich hat bereits jeder unſerer Leſer ſich die Frage
vorgelegt
, wo denn damals, als die Erde erſt durch Erkaltung
jene
Steinſchale um ſich gebildet hatte, das Waſſer geweſen
ſein
mag, das jetzt einen ſo großen Teil der Erdoberfläche
bildet
?
Die Antwort hierauf iſt folgende.
Das Waſſer iſt ſeiner Natur nach flüſſig, ſo lange es nicht
über
100 Grad Celſius hinaus erwärmt wird.
Sobald es jedoch
A. Bernſtein, Naturw. Volſsbücher VIII.
22218
dieſen Grad der Wärme erreicht hat, verdampft es und bildet
Waſſerdampf
, der ſich mit der Luft miſcht und mit derſelben
unendliche
Zeiten ſich unverändert erhalten kann, ſobald er
nicht
erkaltet.
Noch jetzt verwandelt ſich das Waſſer auf der Oberfläche
der
Erde fortwährend zu Waſſerdampf, ſchwebt in der Luft umher
und
ſtrömt dann in Form von Regen, Schnee a.
wieder zur
Erde
nieder.
Auch von den unendlichen Waſſermaſſen gilt
jener
Kreislauf der Veränderung, der alles Daſein charakteriſiert,
und
wir werden bei anderer Gelegenheit von dem Kreislauf
des
Waſſers unſeren Leſern ein Näheres mitteilen.
Zur Zeit, als die Erde ihre feſte Geſtalt der Oberfläche
erſt
bildete, war ohne Zweifel das Waſſer noch gar nicht vor-
handen
.
Vielmehr konnte bei dieſen alle unſere Vorſtellungen
überſteigenden
Hitzegraden der Sauerſtoff und der Waſſerſtoff
nur
unverbunden nebeneinander in der Atmoſphäre der Erde
exiſtieren
;
ganz ſo wie jetzt das Waſſer in ſeine beiden luft-
förmigen
Beſtandteile zerfällt, wenn es ſehr hohen Wärme-
graden
ausgeſetzt iſt.
Erſt nachdem die Erde auf einen be-
ftimmten
Grad abgekühlt war, vereinigten ſich der Waſſerſtoff
und
der Sauerſtoff der Atmoſphäre zu Waſſerdampf, der in
der
weiteren Erdbildung eine große Rolle ſpielen mußte, wie
wir
dies nunmehr näher betrachten wollen.
Verſetzt man ſich in Gedanken in jene Zeit, in welcher
die
Erde durch Erkalten ihre harte Geſteinsſchale um ſich bildete,
ſo
iſt es klar, daß dieſe Schale in der erſten Zeit noch immer
ſo
heiß geweſen iſt, daß auf ihr kein Tropfen Waſſer nieder-
fallen
konnte, ohne ſofort zu verdampfen.
Dahingegen muß
in
der Höhe der Luft, damals, als eine yarte Schale die
Glut
im Innern der Erde verſchloſſen hielt, ſchon ein ſolcher
Grad
von Kälte geherrſcht haben, daß der Dampf, wenn er
nach
oben hinauf gelangte, ſich in Wolken und Waſſertropfen
und
Regen verwandelte.
22319
Und nun begann bei der Bildung der Erde auch das
Waſſer
ſeine Rolle zu ſpielen.
Man ſtelle ſich nur vor, daß zu jener Zeit das Waſſer
aller
Meere, Seen und Flüſſe nicht als tropfbares Wafſer,
jondern
als Waſſerdampf die Erde umgab, ſo wird man leicht
einſehen
, daß die Erde außer den Geſteinshüllen noch eine
Dampfhülle
von ungeheurer Größe um ſich hatte.
In dieſer
Dampfhülle
verwandelte ſich ſtets der obere Teil, der
kälteſte
, in Waſſer und ſtürzte toſend zur Erde.
Hier aber
gelangte
das Waſſer auf die heißen Geſteine und wurde wieder
unter
dem Brauſen heftig kochenden Waſſers ſchnell in Dampf
verwandelt
, der wieder zur Höhe emporſteigen mußte.
Man
wird
wohl einſehen, daß dies ein Toſen und Strömen hervor-
bringen
mußte, für welches jede Phantaſie zu ſchwach iſt, um
es
auch nur einigermaßen ſich vorſtellen zu können.
Ganze
Weltmeere
im Niederſtürzen begriffen, und wieder in Dampf
verwandelt
hinaufgeſchleudert, und wieder in der Höhe zu
Waſſer
umgeſchaffen und wieder auf das Geſtein herabſtürzend,
um
wiederum zu kochen und wiederum hinaufgeſchleudert zu
werden
! Man erwäge nur, daß dieſe Erſcheinungen, das
Verwandeln
des Waſſers in Dampf, und das Verwandeln des
Dampfes
in Waſſer, ſchon bei unſeren Dampfkeſſeln mit dem
ſtürmendſten
Toſen vor ſich gehen, daß die Erſcheinungen ſtets
von
elektriſchen Erſcheinungen begleitet ſind.
In jenem Stadium
der
Erdbildung müſſen daher jene Revolutionen von fort-
währenden
Gewittern begleitet geweſen ſein, deren Furcht-
barkeit
alle Begriffe überſteigt.
Man ſtelle ſich vor, daß
damals
die Glut im Innern der Erde noch in einer ſchwachen
Decke
eingeſchloſſen war, und daß die elektriſchen Flammen
in
der weiten, großen, fortwährend im Verwandeln begriffenen
Dampfhülle
die verwandten Flammen der Erde hervorlockten.
Dabei ein ewiges Donnern und ein ewiges Niederſtürzen der
Gewäſſer
, und unter unendlichen Blitzen und
22420 aus dem Innern der Erde ein Zerreißen der Geſteinshülle!
Und
all’ dies nicht nur durch Tage und Monate und Jahre,
ſondern
durch viele Jahrtauſende hindurch, bis die Geſteinshülle
dick
und abgekühlt genug war, um Meere auf ſich zu dulden
und
ſie in großen Becken zu ſammeln.
Man ſtelle ſich,
ſoweit
die Phantaſie reicht, nur ſolch ein Bild vor, und man
wird
ſich einen ſchwachen Begriff davon machen können, welche
Erſchütterungen
die Bildung des tropfbaren Waſſers auf der
Erde
begleiten mußten.
VII. Geſteine, die ſich unter dem Waſſer gebildet
haben.
Wie viele Jahrtauſende die aus der Glutflüſſigkeit er-
ſtarrten
Geſteine die oberſte feſte Decke der Erde bildeten, läßt
ſich
nicht beſtimmen.
Als die Glut aufhörte eine ſolche Rolle
auf
der Oberfläche der Erde zu ſpielen wie bisher, und als
das
Waſſer ſich in allen tiefen Stellen der harten Erd-
kruſte
ſammelte, begann das große Werk der Umbildung der
Erde
und ſchaffte nunmehr aus den verwitternden Gebirgen
der
Vorwelt neue Lagen und Schichten über den Tiefen der
Erde
, die ſich nach und nach zu großen Maſſen anſammelten
und
gewaltige Steinmaſſen bildeten, die ſpäter als neue Ge-
birge
auftraten.
Ähnlich wie noch gegenwärtig in den Tiefen der Meere
ſich
alles anſammelt, was der Regen hinabſpült in die Bäche,
in
Ströme und Flüſſe, die alle ihre Gewäſſer zum Meere
tragen
, ähnlich wie dieſer Vorgang muß der damalige ge-
weſen
ſein und aus ihm ging eine Maſſe von Geſteinen hervor,
in
denen man Spuren oder Anhäufungen von Reſten von
Tieren
und Pflanzen findet, wie in der Steinkohle, die
22521 iſt als der verſteinerte Überreſt einer vorweltlichen, gewaltigen
Pflanzenwelt
.
21[Figure 21]Fig. 7.
Meeresboden
, wie er an manchen Stellen des Mittelländiſchen Meeres erſcheint, mit
den
Schal-Reſten von 20 verſchiedenen Meerestieren.
Zwar wuchs dieſe Pflanzenwelt nicht unter der Oberfläche
des
Waſſers;
nur der Boden, in welchem dieſe
22622 wurzelte, bildete ſich auf dem Grunde der Gewäſſer aus. Aber
dieſer
in den Tiefen des Abgrundes liegende Boden wurde
durch
die ſtets wirkende gebirgsbildende Kraft emporgehoben
und
zu Flachland oder Gebirgen über dem Waſſer umgeſtaltet,
während
andere Strecken, die bis dahin über das Waſſer hin-
ausragten
, niederſanken und vom Waſſer bedeckt wurden.
So
entſtand
ſtreckenweiſe eine neue Erde mit neuem Boden, der
Pflanzen
trug und auf dem ſpäter eine Tierwelt ſich zu
bewegen
anfing.
Es iſt nichts intereſſanter und lehrreicher, als eine Be-
ſchreibung
der Reſte vorweltlicher Tiere und Pflanzen, die
man
jetzt zahlreich auffindet.
Nach dieſer Zeit, in der ſchon
Pflanzen
und Tiere auf der Erde zu leben begonnen hatten,
ſind
noch gewaltige und zum Teil gewaltſame Umwälzungen
vorgegangen
, und ſie haben die Erde ſo weſentlich umgeſtaltet,
daß
wir von ihrem ehemaligen Leben keine Ahnung gehabt
hätten
, wenn nicht die Wiſſenſchaft die Gebirge durchforſcht
hätte
, die die Spuren der untergegangenen Welt an ſich tragen.
Alle Kalkgebirge, Sandſteingebirge, Kreidegebirge, alle
Gebirge
, in denen ſich Gips und Steinſalz findet, haben ſich
ehedem
unter der Oberfläche des Waſſers gebildet.
Sie ſind
außerordentlich
reich an Muſcheln und Schalen ſolcher Tiere, die
nur
unter dem Waſſer leben konnten, wie denn Kalk- und
Kreidelager
(vergl.
Teil VI, Seite 67, Fig. 4) überhaupt nur
Überreſte
ſind von Tieren, die ihre harten Schalen zurückließen,
nachdem
ſie geſtorben.
Die Betrachtung des heutigen Meeresbodens, wie er z. B.
an manchen Stellen des mittelländiſchen Meeres (Fig. 7),
beobachtet
wird, macht die ausſchließliche Zuſammenſetzung
ganzer
Kalkfelſen aus den Schalen von Meerestieren ver-
ſtändlich
.
22723
VIII. Unterſchied der Geſteinarten.
Wir haben nur flüchtig über die Art und Weiſe ge-
ſprochen
, wie ſich, nachdem ſich das Waſſer auf der Erde ge-
ſammelt
und weite
22[Figure 22]Fig. 8. Meere geſchaffen hatte,
ganze
Geſteine unter
der
Oberfläche des
Waſſers
zu bilden an-
fingen
;
wir können aber
nicht
umhin hier an-
zuführen
, daß zwiſchen
dieſen
Geſteinen, die
vom
Waſſer abgeſetzt
werden
, und denen,
welche
durch Erkalten
geſchmolzener
Maſſen
entſtanden
ſind, ein
ſehr
weſentlicher Unter-
ſchied
auch ſchon äußer-
lich
zu merken iſt.
Alle Geſteine, die
aus
geſchmolzenen Maſſen entſtanden ſind, haben ein mehr
oder
weniger krnſtalliſches Anſehen und Gefüge und einen
23[Figure 23]Fig. 9. glaſigen Anſchein.
Die hin-
gegen
, welche unter.
dem
Waſſer
entſtanden, ſind ſchich-
tenweiſe
gelagert, haben oft
einen
blätterigen Bruch und
ein
körniges Gefüge und be-
weiſen
dadurch, daß ſie nicht
vor
ihrer Entſtehung ein durch
Glut
flüſſig geweſenes
22824 waren, das nur durch Erkalten erſtarrt iſt, ſondern daß ſie ſich
regelmäßig
Schicht auf Schicht gelagert und Körnchen an
Körnchen
geſammelt haben.
Wie ſehr ſich der Sandſtein von Granit unterſcheidet, weiß
24[Figure 24]Fig. 10. wohl Jeder.
Der Granit iſt eine durch Feuer geſchmolzene
und
durch Erkalten zu Geſtein verhärtete Maſſe;
der Sand-
ſtein
hat ſchon ſeinen Namen von dem Sande, aus welchem er
beſteht
:
er iſt fein- oder grobkörnig wie der Sand und verrät
ſchon
dem Auge die Geſchichte ſeiner Entſtehung, daß er
22925 durch Anſammlung einzelner Körner unter dem Waſſer ent-
25[Figure 25]Fig. 11.
Das
Prebiſchthor in der Sächſiſchen Schweiz.
ſtanden iſt, und daß er durch ſein jahrtauſendlanges Ruhen
zu
Stein verhärtet iſt.
23026
Darum trägt ein urſprünglich aus Sand gebildetes, wie
überhaupt
ein vom Waſſer abgeſetztes Geſtein oft Spuren, daß
es
ehedem weich geweſen iſt.
Man findet in ſolchen Geſteinen
die
Reſte von Tieren (Fig.
8 u. 9), wie z. B. Muſcheln, in reicher
Maſſe
.
Man hat auch in Sandſteinen die Fußtapfen großer
Tiere
entdeckt (Fig.
10), die zum Teil in der Luft, zum Teil
im
Waſſer gelebt haben.
In den Steinen, die ſich unter dem
Waſſer
bildeten, findet man Gerippe von ungeheuern, eidechſen-
artigen
Tieren, die Überreſte von Fiſchen und Krebſen, und
dies
iſt offenbar ein Beweis, daß dieſe Steine dereinſt weich
waren
, daß Tiere ſich auf ihrer Oberfläche bewegten und
Spuren
oder nach dem Tode ihre weniger leicht zerfallenden
Körperteile
, dieſe mehr oder minder erhalten, zurückließen, daß
dann
nach und nach neue Schichten ſich über ihnen lagerten,
die
ſpäter gleichfalls erhärteten.
Auch vom Sandſtein findet man Lager, die hoch über die
ehemalige
Waſſergrenze hinausgehoben worden ſind, wie die
ſächſiſche
Schweiz, deren Säulen und Quadern, in die der
Sandſtein
dort nachträglich zerklüftet iſt, dem Gebirge den
eigenartigen
Anblick geben (Fig.
11).
Wie viele Jahrtauſende aber vergingen wohl, bevor ſich
Körnchen
auf Rörnchen häufte?
bevor ſie ſich miteinander
verkitteten
?
bevor ſie über das Waſſer erhoben wurden? Wie
viele
Jahrtauſende ſchon ſtehen dieſe Felſen hoch in die Luft
hineinragend
?
Wie viele Jahrtauſende wird es dauern, bevor
Wind
und Regen wieder körnchenweiſe dieſes Gebirge ab-
getragen
?
Wie viel Menſchengeſchlechter entſtehen und wie
viele
vergehen, bevor ein ſolch’ Gebirge entſteht, bevor ein
ſolch’
Gebirge vergeht!
23127
IX. Unterſchied in Bezug auf das Vorkommen
der Geſteine.
Auch in Bezug auf das Vorkommen der Geſteine iſt ein
Unterſchied
zwiſchen den vom Feuer flüſſig gewordenen und
dann
durch Erkalten zu Stein verhärteten Maſſen und den
vom
Waſſer gebildeten Geſteinen.
Die Geſteine, die durch das Erkalten der feurig-flüſſigen
Maſſe
entſtanden ſind, ſind ohne Zweifel allenthalben als
unterſte
Schicht der Erdkruſte vorhanden.
Sie ſind zuweilen
durch
die gebirgsbildende Kraft emporgekommen;
aber man
hat
ſich vorzuſtellen, daß dieſe Geſteine die Erde um-
ſchließen
wie eine allenthalben ſchließende Schale einen Kern,
und
darf die Gebirge, die ſie bilden, als eine Ausnahme be-
trachten
.
Anders iſt es mit den Geſteinen, die erſt durch das
Waſſer
gebildet worden ſind.
Sie bildeten ſich zur Zeit, als bereits Gebirge und Thäler
von
den älteren Geſteinen, den Feuer-Gebilden, vorhanden
waren
.
Nur in den Thälern können die verwitterten Teilchen
vom
Waſſer abgelagert werden.
Man darf ſich daher die ge-
ſchichteten
Geſteine nicht als eine um die ganze Erde ſchließende
Geſteinsſchale
denken, ſondern als eine Schale, die urſprünglich
ſchon
durch ältere Gebirge durchbrochen war, und die ſich nur
in
den Thälern lagerte und in tieferen Thälern am ſtärkſten
vorhanden
war.
Freilich können ſpäter die in den Tiefen entſtehenden Ge-
ſteine
emporgehoben werden, denn die Maſſe vieler Gebirge iſt
thatſächlich
unter der Oberfläche des Waſſers entſtanden.
Die
Baumeiſter
dieſer Gebirge waren z.
B. auch kleine, dem freien
Auge
unſichtbare Tiere, die in kalkigen Schalen lebten und
nach
ihrem Tode die jetzt zu Gebirgen aufgetürmten Kalkſchalen
zurückließen
.
(Vergl. Teil VII, S. 66 u. 67 Fig. 3 u. 4.)
23228
Große Strecken feſten Erdbodens beſtehen aus Lagern von
kleinen
, tierartigen PflänzchenDiatomaceen” (Fig.
12), oder
beſſer
aus den harten, kieſeligen Skelett-Teilen ihrer Leiber.
In Berlin ſteht der größte Teil der Häuſer der Luiſenſtadt
auf
einem ſolchen, durch dieſe Pflänzchen gebildeten Boden.

26[Figure 26]Fig. 12.
Diatomeen-Erde
unter dem Mikroſkov geſehen.
Sie ſind ſo klein, daß Millionen davon in einem Kubik-
zentimeter
Erde enthalten ſind.
Wir erwähnen noch, daß gewaltige Maſſen von kleinen,
dem
bloßen Auge unſichtbaren Tieren noch jetzt immerfort in
der
Tiefe der Meere gebildet werden;
die Kalkgebirge meiſt
und
die Kreidegebirge alle beſtehen aus ſolchen Überreſten von
unter
dem Waſſer lebenden, kleinen Geſchöpfen.
23329
X. Die gegenwärtige Umbildung der Erde.
Was man von der Bildung der Oberfläche der Erde an-
zunehmen
berechtigt iſt, beſteht kurz wiederholt darin, daß zuerſt
eine
harte Geſteinsſchale durch Erkalten der ehemals flüſſigen
Geſteine
ſich gebildet hat.
Die durch die allmähliche Abkühlung
bedingte
Zuſammenziehung der Erde aber hat dieſe harte Schale
an
vielen Stellen durchbrochen, hat die Oberfläche uneben ge-
macht
und ſo die älteſten hohen Gebirge gebildet.
Erſt nachdem die Geſteinsſchale bis unter 100 Grad ab-
gekühlt
war, konnte ſich das Waſſer, das ehemals nur in der
Luft
ſchwebte, auf der Erde ſammeln.
Dieſes lagerte alle feſten
Teilchen
, die in ihm aufgeſchwemmt waren und die es ab-
ſpülte
von den Bergen, nach und nach ab, und es bildeten ſich
ſo
Geſteinsarten, die manWaſſergebilde” nennen kann, und zu
welchen
auch ſolche gezählt werden, die nicht vom Waſſer ſelber
mechaniſch
abgelagert wurden, ſondern aus den Reſten von
Tieren
und Pflanzen, die im Waſſer lebten, beſtehen.
Während dieſer gewiß viele Millionen Jahre betragenden
Zeit
bildeten ſich Pflanzen und Tiere aus, zunächſt im Waſſer,
ſodann
auch auf dem Feſtlande der Erde.
Wir haben unſere Betrachtung begonnen mit dem lang-
ſamen
Verwittern und Zerfallen der älteſten Gebirge und der
Hinabbewegung
kleiner, aufgelöſter oder fortgeſpülter Teile in
den
Meeresgrund.
Wir haben gezeigt, welch’ ein Kampf zwiſchen
dem
Meere und den Bergen beſteht, und auf das Gleichgewicht
hingewieſen
, das zwiſchen der Alles gleichmachenden Wirkung
des
Waſſers auf der Oberfläche der Erde und der ſtets Er-
hebungen
und Senkungen veranlaſſenden gebirgsbildenden Kraft
ſtattſindet
.
Denn wir haben geſehen, daß die fortſchreitende Abkühlung,
wie
in älteſter Zeit, ſo auch heute die Bildung von Gebirgen
veranlaßt
, und ſo reicht der Kampf zwiſchen
23430 und Gebirgs-Vernichtung bis in unſere Zeit und wird vielleicht
das
Menſchen-Geſchlecht überdauern.
Sehen wir uns dieſen
Kampf
in der freien Natur einmal an.
Alle Bäche, alle Flüſſe, alle Ströme der Erde ſind in
fortwährendem
Laufe begriffen, und doch werden ſie nicht
waſſerleer
;
alle Gewäſſer ziehen in das Meer, und doch wird
dieſes
nicht überfüllt.
Es rührt dies daher, daß das Waſſer
die
Eigenſchaft hat, zu verdunſten und ſich mit der Luft zu
vermiſchen
, und daß die ſtets in Bewegung befindliche Luft den
Waſſerdunſt
über den trockenen Boden der Erde hinführt, und
ihn
als Nebel, als Wolke, als Regen oder Schnee oder Hagel
wieder
zurück auf die Erde fallen läßt.
Da die Ströme nur das Waſſer zum Meere tragen, was
ihnen
von den Bergen und allen höher gelegenen Orten zu-
fließt
, und da die Berge wiederum dieſe Waſſermaſſen nur aus
der
Luft empfangen, welche ſie wiederum aus dem Meere ent-
nimmt
, ſo iſt es eine unbezweifelte Thatſache, daß nur ſo viel
Waſſer
nach dem Meere ſtrömt, als früher verdunſtet war, daß
alſo
die Verdunſtung und die Waſſerbildung ſich immer das
Gleichgewicht
halten, und daß ſich ſo ein Kreislauf herſtellt, in
welchem
das Waſſer aller Ströme dem Meere zueilt, und zwar
ſichtbar
vor Aller Augen;
in welchem aber, abgeſehen von der
Wolken-Bildung
unſichtbar für das Auge, hoch über uns, in
der
Luft, ein Zurückſtrömen des Waſſers ſtattfindet.
Alles, was auf der Erde lebt, wird nur erhalten durch
dieſen
Kreislauf des Waſſers;
dieſer Kreislauf des Waſſers
wird
nur erhalten durch die Kreisſtrömungen der Luft;
dieſe
Luftſtrömungen
beſtehen nur durch den täglichen Umlauf der
Erde
um ihre Achſe und die Alles belebende Kraft der Wärme
erzeugenden
Sonne.
Für heute wollen wir nur darthun,
wie
die Verwandlung der Oberfläche der Erde, welche von den
ewig
ſtrömenden Gewäſſern herrührt, mit in dieſen großen
Kreis
hineingehört und ſicherlich ſo notwendig zum
23531 daſein iſt, wie nur irgend eine andere großartige Erſcheinung
der
Natur.
Das von allen Höhen zum Meere ſtrömende Waſſer nimmt
die
abgewitterten Teilchen mit, löſt und reißt kleine Teile von
den
höher gelegenen Teilen ſeines oft ſehr langen Weges ab
und
ſenkt ſie nieder in die Tiefen, über die der Weg dahin
führt
.
Hierdurch entſteht eine Ausgleichung, ein Ebnen des
Strombettes
, das fort und fort weiter vorſchreitet, ſo daß ſich
nach
und nach alle Unebenheiten auf dem Boden der Ströme
verlieren
müſſen.
So lange der Strom in ſeinem Laufe iſt,
läßt
er zwar die mitgeriſſenen kleinen Teile feſter Erde, wie
Sandkörner
, Lehm, Thon und Steingerölle langſam oder
ſchnell
auf dem Boden des Strombettes niederſinken;
aber die
nachfolgenden
Waſſer ſpülen alle dieſe Maſſen immer weiter
hinunter
;
nur dort, wo ſich dem Strom ein Hindernis in den
Weg
ſtellt, wo er alſo genötigt iſt, langſamer dahin zu ziehen,
da
findet eine größere Ablagerung der mitgeriſſenen feſten Teile
ſtatt
.
Wo aber der Strom ins Meer hineintritt, da trifft er
auf
ſolch ein Hindernis ſeines Laufes;
denn die Waſſer des
Meeres
, die an den Mündungen der Flüſſe nicht ſtrömen,
ſtellen
ſich ihrem Laufe entgegen.
Der Strom wird, wenn er
ins
Meer gelangt iſt, zum Stehen gebracht, und deshalb läßt
er
nach ſeinem Eintritt in das Meer alle ſeine feſten, unter-
wegs
noch nicht abgelagerten Teile fallen und bildet ſich ſo
ſelber
ein Hindernis ſeines Weges.
Dieſes Hindernis, das ſich immerfort vergrößert, wächſt
bald
zu einem kleinen Berge unter dem Waſſer an, und der
Strom
iſt genötigt, ſich zu teilen und ſich durch den Berg neue
Wege
zu ſuchen, um ſeine Waſſer mit dem des Meeres zu
miſchen
.
Mit der Zeit aber nimmt das Hindernis immer mehr
zu
;
es ſammeln ſich immer mehr und mehr feſte Teilchen und
lagern
ſich an dem Berge ab, bis endlich der Berg heran-
wächſt
und ſo hoch wird, daß er bis an die Oberfläche
23632 Waſſers hervorragt. Schwillt nun der Strom zuweilen an
und
erhebt ſich über dieſen Berg, ſo lagert er, während er
darüber
hinfließt, noch mehr Teilchen auf demſelben ab, der
Berg
wächſt alſo durch den angeſchwollenen Strom noch mehr,
und
wenn nach einiger Zeit der Strom fällt, ſo ragt an ſeiner
Mündung
der Berg über die Fläche des Waſſers hinaus und
es
iſt Land entſtanden aus all’ den kleinen Teilchen, die das
Waſſer
mit ſich führte;
und der Strom iſt meiſt genötigt, in
27[Figure 27]Fig. 13.Mittelländisches Meer mehreren Armen durch dieſes neue Land herum ins Meer zu
fließen
.
Dieſes neu entſtandene Land wächſt nun langſam immer
mehr
und mehr und wird unter günſtigen Umſtänden zu einer
weiten
Ebene, wo Pflanzen und Waldungen entſtehen und
Dörfer
und Städte errichtet werden können.
Je mehr aber
das
Land wächſt, deſto mehr muß ſich der Strom teilen, und
je
mehr dies geſchieht, deſto weiter wächſt das Land ſtrom-
aufwärts
zwiſchen die Arme des Stromes hinein.
23733
Das iſt die Art, wie ein neues Land an den Strom-
müudungen
entſteht.
Man nennt die bezeichnete Art, wie durch einen Strom
ſich
neues Land bildet, wo derſelbe in das Meer fließt,
die
Delta-Bildung.
Die berühmteſte Delta-Bildung iſt die des
Niles
in Ägypten, die ein Dreieck und daher die Form des
griechiſchen
Buchſtabens Delta (Δ) nachahmt (Fig.
13). Ja,
ganz
Unter-Ägypten iſt in der bezeichneten Weiſe entſtanden,
28[Figure 28]Fig. 14.Mississippi Mündungen
GOLF von MEXICO
und die Betrachtung dieſes Landes und ſeines Stromes iſt
darum
ſo lehrreich geworden, weil man mit Sicherheit die
Veränderungen
kennt, welchen das Land ſeit dem Altertum
unterworfen
iſt, und mit ziemlicher Genauigkeit angeben kann,
wie
dieſes Land ſich noch fernerhin verändern wird.
Als
ein
weiteres Beiſpiel ſei das Rheindelta genannt, welches den
Boden
des Königreiches der Niederlande bildet, und ferner das
weit
ins Meer vorgeſchobene Delta des Miſſiſſippi (Fig.
14).
Allenthalben haben die Ströme neues Land angebaut und da-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
23834
durch ihren eigenen Eintritt ins Meer verändert; und weil
dies
ſeit ungeheurer Zeit der Fall war, ſind hierdurch Ver-
änderungen
der Erdoberfläche entſtanden, durch welche an den
Küſten
das Land wuchs und das Meer weit zurücktrat.
Aber auch das Meer iſt unausgeſetzt thätig, einerſeits
Land
abzureißen und andererſeits Land anzuſchwemmen.
Die
Ufer
des Meeres ſind in fortwährender Veränderung begriffen
und
verändern langſam die Grenzen des feſten Bodens und
der
Waſſerfläche.
Die Flut trägt oft einem Stück Land be-
deutende
Maſſen erdiger Teile zu und läßt ſie auf denſelben
zurück
, während ſie auf andern Orten Landmaſſen abſpült und
beim
Abfluß während der Ebbe mit ſich fortführt.
Die Wellen,
die
an das Ufer des Landes anprallen und Brandungen ge-
nannt
werden, höhlen oft ſtreckenweiſe Felſen, namentlich Sand-
ſteinfelſen
aus und untergraben das Feſtland, daß es dereinſt
zuſammen
und ins Meer ſtürzen muß.
Stellenweiſe iſt dies an
den
Küſten Englands der Fall, Oſtfriesland und Holland ſind
hierdurch
einer fortwährend langſam vor ſich gehenden Ver-
änderung
ihrer Küſten ausgeſetzt, und die Inſel Helgoland iſt
ſo
offenbar dem Angriff der Brandungen ausgeſetzt, daß man
den
vollſtändigen Untergang derſelben mit Sicherheit voraus-
ſagen
kann.
Es leben an den meiſten Meeres-Ufern Deutſchlands Sagen
im
Munde des Volkes von Städten und Ländern, die dereinſt
dort
geſtanden haben, wo jetzt das Meer herrſcht.
Zu dieſen
Sagen
hat ſicherlich die Beobachtung Veranlaſſung gegeben, daß
das
Meer ſtellenweiſe das Ufer zerſtört und das Land bedeckt.
Wenn auch die berühmteſte dieſer Sagen, die von der
untergegangenen
Stadt Vineta am Streckelberg auf Uſedom
(beim heutigen Dorfe Coſerow), wie ſo manche andere, höchſt
wahrſcheinlich
keinerlei hiſtoriſchen Hintergrund beſitzt, ſo weiß
man
doch, daß zahlloſe Ortſchaften zumal an der deutſchen
und
holländiſchen Nordſeeküſte thatſächlich, z.
B.
2393529[Figure 29]Fig. 15.
Ein
Baumkirchhof”. (Der weiße Berg bei Misdroy an der Oſtſee.)
24036 winterliche Sturmfluten, völlig zerſtört und vom Meere be-
graben
wurden.
Daß nicht nur das Waſſer, ſondern auch der Wind die
Oberfläche
der Erde zu verändern imſtande iſt, iſt den Be-
wohnern
der Küſten unſeres Heimatlandes beſonders bekannt.
Wo lockere Maſſen, wie Sandmaſſen, angehäuft ſind,
werden
dieſe von regelmäßig wehenden Winden nach und
nach
an beſtimmte Stellen transportiert, ſodaß im Verlauf der
nötigen
Zeit in dieſer Weiſe ganze Berge verſetzt werden
30[Figure 30]Fig. 16.
Kantengeſteine
(“Dreikanter”).
können.
Solche durch Wind veranlaßten Ablagerungen werden
als
Dünen bezeichnet;
ſie können ganze Dörfer und Wälder,
(Fig.
15) überſchütten. In China ſind ganze Landſchaften
von
Geſteins-Staubabſätzen, Löß, gebildet worden, die im
Laufe
langer Zeiten durch ſtändige Winde eine gewaltige
Mächtigkeit
erreicht haben.
Auch hier iſt es alſo eine lange Zeiten hindurch währende
Veranlaſſung
, der Wind, der durch die ſtändige Wirkung im
Reſultat
Gewaltiges vollbringt.
Wie das Waſſer, ſo trägt auch der Wind zur
24137 des feſten Geſteins bei, wie die Kantengeſteine (Fig. 16) be-
weiſen
, die ſich vielfach in unſerer Heimat vorfinden, und die
ſich
durch ſcharfkantige, zuſammenſtoßende, glattpolierte Flächen
auszeichnen
, welche durch das ſtete Anprallen von Geſteins-
körnchen
, die der Wind herzuträgt, abgeſchliffen wurden.
XI. Das norddeutſche Flachland.
Von beſonderem Intereſſe muß uns die Geſtaltung des
norddeutſchen
Flachlandes ſein, auf die wir nun etwas ein-
gehen
wollen.
Es iſt aber nötig, vorher einige Namen kennen
zu
lernen, die die Geologen, alſo die Gelehrten, die ſich
mit
dem Bau und der Entſtehung der Erdrinde beſchäftigen,
anwenden
.
Die Geologen teilen die verſchiedenen Zeitepochen nach
den
während derſelben in der angedeuteten Weiſe entſtandenen
Geſteinablagerungen
und deren organiſchen Einſchlüſſen ein,
und
in der folgenden Überſicht nennen wir die aufeinander-
folgenden
geologiſchen Zeiten reſp.
Schichten (Formationen)
mit
ihren wiſſenſchaftlichen Namen.
Wir beginnen mit den
jüngeren
Formationen, um ein der Natur entſprechendes Bild
zu
geben, in welcher ja auch abgeſehen alſo von etwaigen
nachträglichen
Verwerfungen” die jüngeren Schichten die
oberen
, die älteren die unteren ſind.
Känolithiſche Epoche: Quartär. Jetztzeit (Alluvium), Eis-
zeit
(Diluvium).
Tertiär (Braunkohlen-Formation).
Meſolithiſche Epoche: Kreide, Jura. Trias.
Paläolithiſche Epoche: Perm (Dyas), Carbon, Devon,
Silur
.
Archäolithiſche Epoche: (Aus dem Glutflüſſigen erſtarrte
erſte
Beſtandteile der Erdkruſte).
Daß nicht überall und an jedem Orte der Erde die
24238 nannten Schichten vorhanden ſind, iſt wohl ohne weiteres klar,
31[Figure 31]Fig. 17.Süd,
Nord
.
Dobrilugk
Stargardt
Hilmersdorf
Berlin
N
. Brandenburg
Dahme
Neddemin
Golm
B.
Spiegel
der Ost See
i h s f e d a a e b a
wo z.
B. heute trockenes Land iſt,
können
keine Waſſerabſätze gebildet
werden
, vielmehr wird das Material
des
Kontinentes langſam, aber ſtetig
in
den Flußläufen und dann im
Meer
zur Ablagerung gebracht.
So
war
es natürlich ſtets:
die Beſtand-
teile
älterer Formationen haben
immer
hergehalten zur Bildung der
neuen
Formationen.
Als ein kleines Beiſpiel, wie
die
Schichtenfolgen übereinander auf-
treten
, wählen wir die Schichten-
folgen
des Bodens, wie ſie durch
Bohrungen
in der Provinz Branden-
burg
erſchloſſen worden ſind.
Der
durch
Zuhülfenahme der Bohrreſul-
tate
erſchloſſene Schnitt, das Profil
(Fig.
17) durch die oberſten Schichten
dieſer
Provinz zeigt uns in ſchema-
tiſcher
Weiſe von a bis i ihre zeit-
liche
Aufeinanderfolge, die ſich durch
die
Übereinanderlagerung kundthut.
a iſt Geſtein älterer Formationen,
b
bis h ſind Tertiär-Schichten und i
iſt
die zur Eiszeit gebildete obere,
heutige
Decke.
Von denFormationen” treten
in
Norddeutſchland außer den ge-
nannten
beiden noch mehrere zu
Tage
, ſo die Trias-Formation in
dem
Kalkgeſtein von Rüdersdorf, öſtlich von Berlin,
2433932[Figure 32]Fig. 18.Meerestier-Verſteinerungen aus dem Muſchelkalk.
2444033[Figure 33]Fig. 19.Eine Meeresmuſchel
(Leda Deshayesiana)
aus
demSeptarienthon”
des
Tertiärs.
Bildung, die Verſteinerungen von
Meerestieren
enthält (Fig.
18), und ſich
dadurch
als eine Meeres-Ablagerung
kundgiebt
, ferner die Kreide, aus der
z
.
B. Stubbenkammer auf Rügen gebildet
wird
, und die ebenfalls ein Meeres-
Abſatz
iſt, u.
ſ. w. Etwas näher ein-
gehen
wollen wir bei ihrer Bedeutung
für
den Menſchen auf eine Bildung
der
Tertiärzeit, auf die Braunkohlen-
Bildung
, die im norddeutſchen Flach-
lande
eine beſondere Rolle ſpielt.
XII. Die Braunkohle und ihre Entſtehung.
Die Zeit, die der noch näher zu beſprechenden Eiszeit
unmittelbar
vorausging und in der die Schichten gebildet
wurden
, die ſich allermeiſt tief unterhalb unſerer eiszeitlichen
Mergel-
, Sand-, Lehm- und Thon-Schichten befinden, bezeichnet
der
Geologe alſo als die Tertiärzeit.
Die Tertiärſchichten be-
ſtehen
zum Teil auch noch aus Meeresabſätzen, wie die in
denſelben
vorkommenden Verſteinerungen von Meerestieren, von
denen
Fig.
19 ein Beiſpiel bietet, beweiſen, zum anderen Teil
aus
Süßwaſſer-Ablagerungen und großen Moorbildungen, die
ſich
in den Braunkohlen dieſer Formation erhalten haben;
wir
können
die Tertiärzeit daher als Braunkohlenzeit bezeichnen.
Die Braunkohlenlager ſind allermeiſt die Überreſte tertiärer
großer
Waldmoore, wie ſie noch heute im ſüdlichen Nord-
Amerika
große Strecken bedecken.
Das heißt: ebenſo wie die
Pflanzen
der Torf- und Waldmoore an Ort und Stelle, wo
ſie
wachſen, Humuslager erzeugen, war es auch in der Vorzeit
die
Norm, daß ſolche Lager an derſelben Stelle gebildet
24541 wo auch das Material derſelben gewachſen iſt, und das gilt
nicht
allein für die Braunkohlenſchichten (Flötze), ſondern auch
für
die Kohlen der Steinkohlenzeit.
Von den Mooren, die ſchnell große Humusmaſſen erzeugen,
bis
zu den bewaldeten Sandflächen der Provinz Brandenburg,
die
in den meiſten Fällen (namentlich die Böden der Kiefern-
wälder
) auch nicht einmal ſchwach humös werden, ſondern rein
ſandig
verbleiben, giebt es alle Übergänge, je nachdem das ab-
ſterbende
Pflanzenmaterial durch die vorhandenen Bedingungen,
namentlich
Luftabſchluß, mit dauernder Hinterlaſſung von
Humus
eine Umbildung erfährt, wie in den Mooren, oder
mehr
oder minder weitgehend oder endlich namentlich bei ge-
nügendem
Luftzutritt, ſtets vollſtändig derartig zerſetzt wird,
daß
in oder auf dem Boden nichts zurückbleibt.
Die Erhaltung
des
Pflanzen-Materials bei Umbildung zu Humus iſt alſo
ſeiner
Maſſe nach je nach den bei der Verweſung und Fäulnis
durch
die Verhältniſſe bedingten chemiſchen Vorgängen ganz ver-
ſchieden
, ja, wie wir ſehen, kann die geſamte abgeſtorbene Sub-
ſtanz
ohne Hinterlaſſung feſter Beſtandteile verſchwinden.
Das Braunkohlenflötz z. B. des Senftenberger Reviers in
der
Niederlauſitz bietet ein treffliches Beiſpiel für den Nach-
weis
der Bildung des Kohlen-Materials, des vorweltlichen,
man
kann ſagen verſteinerten Humus, an derſelben Stelle, wo
auch
die Pflanzen, welche die Kohle geliefert haben, gewachſen
ſind
.
Das Senftenberger Braunkohlen-Flötz, auf dem viele
Gruben
bauen, iſt in einem Bezirk von etwa einer Quadrat-
meile
bekannt;
es beſitzt eine Mächtigkeit von rund 10 bis
20
Meter und wird von Thonen und Sanden überlagert, die, wo
die
Mächtigkeit derſelben nicht zu bedeutend iſt, abgedeckt
werden
, ſodaß dann die Kohle in Tagebauen abgebaut wird.
Mehrere der letzteren bieten eine beſonders intereſſante Erſchei-
nung
dadurch, daß in dem Kohlen-Flötz mächtige, bis 4 Meter,
unter
Umſtänden auch mehr im Durchmeſſer zeigende,
24642 Baumſtümpfe ſtecken: die Reſte der alten Rieſen, welche das
Waldmoor
einſt belebten.
34[Figure 34]Fig. 20.Braunkohlen-Tagebau. Aus dem Senftenberger Braunkohlenrevier.
Ein ſehr inſtruktives Bild entſteht nach dem Abbau eines
größeren
Flötzteiles an der Stelle, wo er ſich befand.
Der
Boden
, der das Flötz trug, zeigt ſich nämlich mit
24743 mächtigen Vaumſtümpfen bedeckt, in Entfernungen von ein-
ander
, wie ſie der Kampf ums Daſein in einem Urwalde ſchafft
(Fig.
20). Die Stümpfe ſind alle bis zu einer beſtimmten
Höhe
verbrochen, vermutlich dadurch den ehemaligen Waſſer-
ſtand
anzeigend:
der über das Waſſer hinausragende Teil war
durch
den Einfluß der Atmoſphäre hinfälliger als der unter
Waſſer
befindliche.
Horizontal liegende Baumreſte, Stamm-
ſtücke
, gelegentlich bis zu einer Länge von über 20 m geben
Kunde
von den geſtürzten Teilen der Rieſen.
Auf der Oberfläche des Flötzes, nach Entfernung der Sand-
und
Thon-Decke, dasſelbe Bild, und auch inmitten des Flötzes
ſelbſt
(Fig.
2 auf Seite 56 im VI. Teil), ſind die aufrechten,
noch
bewurzelten Stümpfe und die zugehörigen abgebrochenen
Stämme
in horizontaler Lage vorhanden (Fig.
21). Es handelt
ſich
eben in dem Flötz um ein foſſiles Waldmoor, in welchem
die
ſpäteren Generationen auf den Leichen der vorhergehenden
wuchſen
.
In der Jetztzeit bieten die nordamerikaniſchen Cypreſſen-
Sümpfe
, dieCypreß-Swamps” der Amerikaner, dieſelbe Er-
ſcheinung
.
Ja, um den Vergleich vollkommen zu machen: ſo-
gar
der Hauptbaum dieſer Swamps, die virginiſche Sumpf-
Cypreſſe
, Taxodium distichum, hat auch in unſerem nieder-
lauſitzer
vorweltlichen, “verſteinerten” Swamp dieſelbe Rolle
geſpielt
.
Für den Bergbau iſt das Vorhandenſein des Braunkohlen-
Holzes
, denLignits”, in der Kohle (es iſt erdige Braunkohle)
keineswegs
günſtig:
die Stümpfe im Liegenden des Flötzes
bleiben
ſtehen und werden in den Tagebauen mit demAbraum”,
dem
Material der Flötzdecke, das fortgeſchafft wird, um das
Flötz
freizulegen, wieder verſchüttet.
Abgeſehen davon, daß
das
Holz den Abbau der ſehr waſſerhaltigen Kohle erſchwert,
iſt
es nämlich für die Briquettierung unverwertbar.
Die Stümpfe ſind allermeiſt hohl. In den Höhlungen
24844 findet ſich gewöhnlich Schweelkohle: eine ſehr harzreiche Kohle,
die
, angezündet, leicht weiter ſchweelt oder mit leuchtender Flamme
35[Figure 35]Fig. 21.Braunkohlen-Tagebau. Aus dem Senftenberger Braunkohlenrevier. ohne weiteres brennt.
Die Taxodien ſind harzführend. Das
Harz
wird von den Bäumen als Wundverſchluß benutzt, und
da
die Höhlung in einem alten Baume als eine
24945 Wunde anzuſehen iſt, ſo wird in dieſe ein beſonders reichlicher
Harzerguß
erfolgen, der nach abwärts fließend ſchließlich den
übrigbleibenden
Stumpf erfüllt.
Im rechten Vordergrunde
der
Fig.
20 befindet ſich ein Stumpf, aus deſſen Höhlung die
Schweelkohle
entfernt wurde, im linken Vordergrunde ein
anderer
Stumpf, bei dem das Außenholz bis zur Ausfüllungs-
maſſe
der Höhlung, alſo exkluſive der Schweelkohle, fort-
genommen
worden iſt, ſodaß auf dem die Baſis der Höhlung
bildenden
, übrigbleibenden Holzklotz ein tüchtiger Klotz von
Schweelkohle
thront.
Unſer vorweltliches Waldmoor liefert ein wichtiges Heiz-
material
.
Die Kohle wird, da ſie ziemlich waſſerhaltig iſt, in
Pulverform
getrocknet, dann unter hohem Druck in beſtimmte
Formen
gepreßt und als Senftenberger Braunkohlenbriquetts
verkauft
.
XIII. Der Bernſtein.
Wir haben im vorhergehenden Kapitel Gelegenheit gehabt,
von
Harzergüſſen der vorweltlichen tertiären Bäume zu reden
und
wir wollen uns nun näher mit dem altbekannten Bern-
ſtein
beſchäftigen, der nichts anderes als ein ſolches verſteinertes
Harz
aus der Braunkohlenzeit iſt.
Der Bernſtein verdankt ſeinen Namen ſeiner leichten
Brennbarkeit
;
Brennſtein wäre uns daher im erſten Augen-
blick
verſtändlicher.
Bernſtein kommt von dem altdeutſchen
Wort
börnen, d.
h. brennen, und dementſprechend ſagte man
daher
auch urſprünglich Börnſtein;
ſingt doch Caspar Henne-
berger
1576
Wenn ausz dem Weſten der Wind weht,
Allhie
man viel des Börnſteins fäht.
Der Bernſtein iſt dem Menſchen ſchon ſeit ſehr
25046 Zeit, namentlich es brauchte kaum geſagt zu werden als
Verwendungsmittel
für Schmuckſachen bekannt.
Aus der Steinzeit iſt Bernſteinſchmuck als Zeichen älteſter
Kultur
in Nord- und Mittel-Europa gefunden worden, aus
den
Jahren 1000—800 vor unſerer Zeitrechnung.
Die Durch-
bohrung
der Stücke, z.
B. großer Bernſtein-Perlen, iſt offenbar
nicht
durch Metallinſtrumente, ſondern durch Feuerſteinſplitter
hergeſtellt
worden.
Bei den alten Griechen hieß der Bernſtein Elektron, von
welchem
Wort die BezeichnungElektrizität” abgeleitet wird,
weil
ja der Bernſtein durch Reibung ſehr leicht negativ-elektriſch
wird
.
Da nun bei Homer die Frauen zur Zeit des trojaniſchen
Krieges
Hals- und Armbänder von Elektron tragen, ſo ſcheint
hiernach
auch vor Homers Helden der Bernſtein Verwendung
gefunden
zu haben.
Allerdings iſt dabei zu beachten, daß der
Name
Elektron im Altertum eine doppelte Bedeutung hatte:
man verſtand nämlich darunter auch eine Metallmiſchung von
etwa
vier Teilen Gold und einem Teil Silber.
Die ſichere
Entſcheidung
, was Homer unterElektron” verſteht, iſt nicht
leicht
, möglicherweiſe iſt es bei ihm bald Bernſtein bezw.

Edelſtein
überhaupt, bald die genannte Metallmiſchung.
Sicher
aber
gebrauchten die Alten den Bernſtein zur Blütezeit der
Phönizier
, die ihnen den Bernſtein meiſt aus dem Golf von
Genua
zuführten, vornehmlich als Räuchermittel und als
Frauenſchmuck
.
In der römiſchen Kaiſerzeit kam er ſogar
in
ſolcher Menge nach Rom, daß er ganz im Werte ſank.

Auch
andere Völkerſchaften, wie die Etrusker, haben den
Bernſtein
geſchätzt.
Gewiſſe Namen von Räucherharzen in
der
Bibel werden auf Bernſtein bezogen.
Als Heilmittel
iſt
unſer vorweltliches Harz und zwar namentlich im Mittel-
alter
gebraucht worden, es iſt das faſt ſelbſtverſtändlich,
denn
es iſt ja leichter anzugeben, was noch nicht als Heil-
mittel
gedient hat, als die unzählige Schaar von
25147 zu nennen, die in der genannten Weiſe mißbraucht worden
ſind
.
Wenn auch nicht der Bernſtein ſelbſt, ſo iſt doch ein
aus
ihm dargeſtelltes Produkt, die Bernſteinſäure, als ein die
Nerventhätigkeit
belebendes, krampſſtillendes Mittel beliebt
geweſen
und wird auch wohl heute noch hier und da benutzt.
Außerdem haben auch Bernſteinöl und bernſteinſaure Präparate
mediziniſche
Verwendung gefunden und finden ſie vielleicht
auch
jetzt noch.
Der Verwertung von Bernſteingegenſtänden
ſeit
älteren Zeiten als Amulette und in Form von Ketten als
vermeintliches
Schutz- und Heilmittel gegen Rheumatismus
und
Zahnſchmerzen ſei auch gedacht.
Wenn endlich noch auf
die
Benutzung unſeres Minerals zur Darſtellung des Beru-
ſteinlackes
hingewieſen iſt, ſo haben wir wohl alle ſeine Ver-
wendungsarten
erwähnt.
Das Vorkommen des baltiſchen Bernſteins (Succinit) er-
ſtreckt
ſich über ganz Norddeutſchland, Polen, die ruſſiſchen
Oſtſeeprovinzen
und Finnland, andererſeits über Holland,
England
, Dänemark und Schweden;
am häufigſten findet er
ſich
im Samland bei Königsberg in Oſtpreußen, wo alljährlich
über
100 000 Kilo im Werte von über 3 Millionen Mark ge-
wonnen
werden.
Schon ſeit dem Altertum und noch früher fließt
hier
die Quelle;
beſonders die Phönizier zu Schiffe und an-
dere
Kaufleute zu Lande haben von hier durch Zwiſchenhandel
den
Bernſtein den Römern zugeführt.
Der Bernſteinhandel
ſagt Alexander von Humboldt bietet uns in ſeiner
nachmaligen
Ausdehnung für die Geſchichte der Weltanſchauung
ein
merkwürdiges Beiſpiel von dem Einfluß dar, den die Liebe
zu
einem einzigen fernen Erzeugnis auf die Eröffnung eines
inneren
Völkerverkehrs und auf die Kenntnis großer Länder-
ſtrecken
haben kann.
Derſelbe ſetzte zuerſt die Küſten des
nördlichen
Ozeans in Verbindung mit dem adriatiſchen Meer-
buſen
und dem Pontus.
Er ſcheint in der That die Urſache
des
Beginnes der geographiſchen Kenntnis unſeres Nordens.
25248
Bei der Wichtigkeit des Samlandes ſei im folgenden nur
dieſes
berückſichtigt.
Die ſogenannte blaue Erde des Samlandes, ein Sand,
in
welchem ſich der Bernſtein, ferner Holzſtücke, zuſammen mit
Neſten
von Meerestieren, wie Muſcheln, Haifiſchzähne u.
ſ. w.
eingelagert finden, iſt ſeiner zeitlichen Entſtehung nach natürlich
jünger
als der Bernſtein.
Die Nadelbäume, welche den
Bernſtein
als Harz abſonderten, der Bernſteinwald ſtand auf
36[Figure 36]Fig. 22.{ca/+28om} h g f d c 0,0m 0,0m b Osl-See {Ca/ -6,0}m Trümmern der Kreideformation,
er
ſelbſt gehört der älteren Ter-
tiärformation
an, dem Eocän
der
Geologen, während die
blaue
Erde mitteltertiären (ſpe-
zieller
unteroligocänen) Alters
iſt
.
Meereswaſſer hat den Bern-
ſtein
mit den begleitenden Reſten
und
der blauen Erde zuſammen-
geſchwemmt
:
er befindet ſich ſo-
mit
im Samlande an zweiter
Lagerſtätte
.
Wird er in noch
jüngeren
, wie z.
B. häufig genug
in
den das Tertiär überlagern-
den
Diluvial-Schichten (das ſind
die
Schichten der noch zu be-
ſprechenden
Eiszeit”) angetroffen, ſo befindet er ſich demnach
hier
an dritter Lagerſtätte.
Bei Groß-Hubniken vergl. die
beigegebene
Profilzeichnung Fig.
22 liegt unter der blauen
Erde
eine Schicht, die ſogenannte wilde Erde a, der Oſtſeeſpiegel
trennt
die blaue Erde b von darüber lagerndem Triebſand c,
dann
folgt eine Lage weißen Sandes d, dann ein Braun-
kohlenflötz
e, feiner, geſtreifter Sand f, endlich Diluvium g und
als
oberſte Schicht Humus h.
Wie hier liegt auch anderswo die
Bernſtein
führende Sandſchicht meiſt unter dem
25349 und zwar vielfach unmittelbar am Meere und auch den See-
grund
bildend.
Das Waſſer zerſtört die Schicht unabläſſig,
nimmt
den Bernſtein auf und wirft ihn, da ſein ſpezifiſches
Gewicht
dem des Oſtſeewaſſers ungefähr gleichkommt, oftmals
an
den Strand.
Auch diluviale Gletſcher, welche, wie wir
noch
ſehen werden, einſtmals unſere Heimat bedeckten, haben
an
der Zerſtörung der Bernſteinſchichten, die eine ausgedehnte
weſtliche
Verbreitung gehabt haben müſſen, weſentlich Anteil
genommen
, und ſo iſt der Bernſtein alsGeſchiebe” in unſer
Diluvium
, ſowie in dasjenige Jütlands, der däniſchen Inſeln
und
Schwedens hineingelangt.
Aber die Wiederzerſtörung der
Ablagerungen
der blauen Erde hat ſchon früher, zur Tertiärzeit
ſelbſt
, begonnen, und es findet ſich daher auch Bernſtein in
den
Schichten über der blauen Erde, namentlich in den ge-
ſtreiften
Sanden.
Wie mächtig die Zerſtörung auch jetzt um
ſich
greift, erhellt daraus, daß z.
B. die St. Adalbertskapelle
bei
Fiſchhauſen früher eine Meile vom Seeufer entfernt lag,
die
Ruinen derſelben aber heutzutage in unmittelbarer Nähe
des
Strandes zu finden ſind.
Was die Gewinnung des Bernſteins anbetrifft, ſo wurde
urſprünglich
nur der Seebernſtein gewonnen, ſpäter erſt wurde
Bernſtein
gegraben.
Das Fiſchen, Schöpfen, geſchah zunächſt
einfach
durch Käſcher, jetzt durch Taucherei und Baggerei;
aus
dem
primitiven Ausgraben hat ſich Bergbau entwickelt.
Bei dem
Abteufen
der Schächte zum Abbau der blauen Erde bietet der
über
dieſer liegende Triebſand, dasſchwimmende Gebirge”
der
Bergleute, die größten Schwierigkeiten, weil deſſen Waſſer-
zufluß
unter Umſtänden nicht zu bewältigen iſt.
Nun zur Frage nach der urſprünglichen Herkunft des
Bernſteins
.
Es iſt allbekannt, daß der Bernſtein wie ſchon an-
gedeutet
ein foſſiles Harz ausgeſtorbener Nadelhölzer iſt,
alſo
ein durch chemiſche Einwirkung der äußeren Einflüſſe um-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
25450
gebildetes, erhärtetes, urſprünglich zähflüſſiges Harz. Schon
Ariſtoteles ſchließt aus den im Bernſtein vorkommenden
Inſekten
, daß dieſer Stoff ähnlich der Myrrha flüſſig den
Bäumen
entquollen ſei.
Auch Cornelius Tacitus, der uns wegen ſeines be-
rühmten
Geſchichtswerkes über das alte Deutſchland ja beſonders
intereſſieren
muß, meint, man erkenne den Bernſtein als ein
Baumharz
, “denn man ſieht ſagt er oft kriechende und
ſelbſt
fliegende Inſekten durchſchimmern, welche von der flüſſigen
Maſſe
erfaßt, nachmals bei deren Verhärtung eingeſchloſſen
wurden
.
Tacitus fährt fort: Ich denke mir, daß, wie in
den
fernen Gegenden des Morgenlandes, wo Weihrauch und
Balſam
ausſchwitzt, es ſo auch auf den Inſeln und Küſten
des
Abendlandes fruchtbare Wälder und Haine giebt, wo
Baumharz
durch die Strahlen der nahen Sonne aus-
gezogen
und flüſſig gemacht ins nächſte Meer hinabrinnt und
durch
Sturmesgewalt ans gegenüberliegende Ufer geſchwemmt
wird
.
Über die Bedeutung der Harze für das Leben der Gewächſe
haben
die Botaniker zur Zeit eine ziemlich übereinſtimmende
Anſicht
.
Hiernach fällt ihnen die Aufgabe zu, bei etwaigen
Verletzungen
die Wundſtelle durch das ausgeſchiedene Sekret luft-
dicht
abzuſchließen und ſo das verwundete Organ vor Ver-
weſung
und Fäulnis zu ſchützen.
In der That werden z. B.
die zum Zweck der Harzgewinung angeſchnittenen Stämme
von
dem Sekret überrieſelt und die Heilung der Wunden iſt
regelmäßig
die Folge.
Die Behälter, die das Harz enthalten,
finden
ſich beſonders in der Rinde der Stämme und Zweige,
alſo
in den am leichteſten Beſchädigungen ausgeſetzten Teilen,
ſie
ſind aber auch im Holze reichlich vorhanden;
es ſind Kanäle
oder
anders geſtaltete Räume, z.
B. wie bei der Fichte, der
Kiefer
und auch den Bernſteinbäumen, welche alle außer
Harzkanälen
ſogenannte Harzdruſen oder Harzgallen aufweiſen.
25551 Die Harzdruſen ſind beſtimmt-vorgebildete Zellenkomplexe,
welche
verharzen (Fig.
23 u. 24).
37[Figure 37]Fig. 23.
Querſchliff
durch Bernſteinholz. 56 mal vergrößert.
Im
Holz liegt eine Gruppe abnormer Zellen aP. Die Lücken im Gewebe ſind durch Herausfallen
einzelner
Partieen während des Schleifens entſtanden. M = Markſtrahlen. Hs = Holzzellen.
Bc
= Bernſteinkanäle.
Hs
Bc
a
.P.
Bc
M
Die ſämtlichen bisher gefundenen Holzreſte der Bernſtein-
bäume
ſind, worauf Conwentz aufmerkſam gemacht hat,
25652 um die genauen Pflanzen-Arten danach zu beſtimmen, nicht zu
unterſcheiden
.
Zu den Bernſteinbäumen rechnet Conwentz
38[Figure 38]Fig. 24.
Längsſchliff
durch Bernſteinholz, 80 mal vergrößert.
Bgl = Bernſteingallen. M = Markſtrahlen. Die mehrreihigen Markſtrahlen
umſchließen
je einen Harzgang, Bernſteinkanal: Bc. Hs = Holzzellen.
Hs. M Bal aP. Bgl Bc.
25753 nach Blatt- und Blütenreſten vier Kiefernarten, von welchen
aber
keine einzige unſerer Föhre oder gemeinen Kiefer, Pinus
silvestris
, uaheſteht, feruer eine Fichtenart, die der Picea
ajanensis
vom Amur und von der Inſel Jezo ähnlich ſieht.
Außerdem gediehen immergrüne Eichen und Buchen, zuſammen
mit
Palmen und lorbeerartigen Gewächſen, mit Magnolien.

Es
iſt wahrſcheinlich, daß alle dieſe verſchiedenartigen Bäume
und
Sträucher nach verſchiedenen Regionen geſondert waren
und
nicht etwa ſich zu einem gemiſchten Wald zuſammenſchloſſen.

So
bildeten die eigentlichen Bernſteinbäume für ſich einen
geſchloſſenen
Beſtand, welcher nur hier und da von anderen
Baumarten
unterbrochen wurde.
Die Kiefern nahmen hierin
eine
durchaus vorherrſchende Stellung ein.
Vergeſſen wir
nicht
, daß es ſich um Urwälder handelt und nicht um wohl-
gepflegte
Forſten, wie wir ſie zu ſehen gewöhnt ſind.
Um
demnach
einen Vergleich mit heutigen Verhältniſſen zu haben,
müſſen
wir den Urwald durchſtreifen.
Conwentz hat dies
gethan
und namentlich im Böhmerwald Studien angeſtellt;
ex
zieht
aus dieſen den Schluß, daß es im ganzen Bernſteinwald
kaum
einen geſunden Baum gegeben haben kann das
Krankhafte
war die Regel, das Normale die Ausnahme! Nicht
allein
durch Wind und Wetter, ſondern auch durch pflanzliche
Paraſiten
und Fäulnis, ſowie durch Inſekten und andere
Tiere
vollzogen ſich an ihnen unausgeſetzt Beſchädigungen,
welche
zu Harzfluß und zu weiteren Krankheitserſcheinungen
Anlaß
boten.
Es lag in der Natur der Dinge, daß die aus
Anflug
hervorgegangenen und gedrängt aufgewachſenen Bäume
ihre
unteren Äſte verloren, ſobald dieſe bei mangelnder Be-
leuchtung
nicht mehr genügend ernährt werden konnten.
Bei
der
geringſten Erſchütterung durch Wind oder Regen, durch
Tiere
oder andere Agentien brachen ſie ab und hinterließen
eine
offene Wunde, die in der Folge durch Harz und bei fort-
ſchreitendem
Wachstum des Stammes durch Überwallung
25854 narben konnten. Obſchon auf dieſe Weife den Bäumen kein
erheblicher
Schaden zugefügt wurde, iſt dieſer Prozeß doch
wegen
ſeines allgemeinen Vorkommens nicht ohne Einfluß auf
das
Leben der Bäume geblieben;
aber es ſpielten ſich im
Bernſteinwald
auch mancherlei andere Vorgänge ab, wodurch
erhebliche
Beſchädigungen angerichtet wurden.
Alte, abgeſtorbene
Bäume
ſenkten ſich zu Boden und ſtreiften und knickten die
Zweige
anderer Bäume in weitem Umkreis, um dann mit der
ganzen
Wucht ihres Körpers auf alles das niederzufallen,
was
ihnen in ihrer Fallrichtung entgegenſtand.
Mit Gewalt
ſchlugen
ſie an die Nachbarſtämme an, riſſen ihre Borke auf
weite
Strecken hin ab und verletzten ſtellenweiſe auch den Holz-
körper
ſelbſt.
Auch heftigere Winde und Orkane zogen über den Bernſtein-
wald
hin und richteten in demſelben die ſchlimmſten Verhee-
rungen
an.
Was die Natur durch Jahrhunderte geſchaffen,
wurde
im Verlauf weniger Augenblicke durch ein furchtbares
Element
zerſtört.
Ein Wirbelwind ſetzte ſich in die mächtige
Krone
und drehte ſie auf ihrem Stamme in kürzeſter Zeit ab;
die ſtärkſten Bäume wurden wie Grashalme über dem Boden
geknickt
und kreuz und quer durcheinander geworfen.
Andere
Bäume
wurden mit ihren Wurzeln aus der Erde gehoben und
auf
weite Strecken durch die Luft gewirbelt, bis ſie zu Boden
fielen
oder an irgend einem noch aufrechten Baum hängen
blieben
.
Dieſes Phänomen mag immer nur an einzelnen
Stellen
des Waldes aufgetreten ſein, verſchonte aber kaum ein
Individuum
und riß daher große Lücken in den Beſtand, wo
nunmehr
eine enorme Menge von totem Material angehäuft
wurde
.
Zu anderen Zeiten herrſchte wohl eine drückende Schwüle
im
Bernſteinwald, und heftige Gewitter entluden ſich über
demſelben
.
Blitze ſchlugen in die Baumkrone oder in einen
alten
Aſtſtumpf und ſprengten dann auf weite Strecken hin
25955 Rinde ab, deren Fetzen teilweiſe an den Wundrändern hängen
blieben
und frei in die Luft hineinragten;
auch der Holzkörper
wurde
geſpalten und die herausgeriſſenen Holzſplitter flogen,
ſamt
einzelnen Rindenfetzen, weit fort.
Zuweilen fuhr ein
Blitzſtrahl
in einen abſterbenden Baum oder auch in pilz-
krankes
Holz und bewirkte hier eine Entzündung.
Das Feuer
ergriff
nicht nur den getroffenen Stamm und die Nachbar-
ſtämme
, ſondern lief auch am Boden hin und verzehrte das
auf
demſelben lagernde, trockene Material.
Auch das von
Mulm
und Moos umgebene alte Harz der Bäume wurde vom
Feuer
erfaßt, konnte aber nicht hell aufflammen, ſondern ſchweelte
auf
der ſchützenden Decke nur langſam fort und ſetzte eine
ſchwärzliche
Rinde an.
Der Bernſteinwald wurde von einer
ſehr
reichen Tierwelt belebt, denn Inſekten und Spinnen,
Schnecken
und Krebſe, Vögel und Säugetiere hielten ſich hier
auf
, ganz wie in den Wäldern der Jetztzeit.
Das Leben der
meiſten
ſtand in inniger Beziehung zum Leben der Bernſtein-
bäume
, und es giebt unter ihnen viele, welche den grünenden
Baum
ſchädigten, während andere das tote Holz angegriffen
haben
.
Größere Tiere brachen mutwillig und unabſichtlich
Äſte
ab und verletzten durch ihren Tritt die zu Tage liegenden
Wurzeln
.
Eichhörnchen ſprangen von Zweig zu Zweig und
ſchälten
die junge Rinde derſelben.
Die Stille des Waldes
wurde
vom Klopfen des Spechtes unterbrochen, welcher in der
Rinde
und im Holz der Bernſteinbäume nach Inſekten ſuchte, auch
wohl
Höhlen zum Nachtaufenthalt und zum Brutgeſchäft in
das
Innere hineinzimmerte.
Mit vereinten Kräften mögen
auch
beide Tiere die Zapfen der Nadelbäume bearbeitet und
zerſtört
haben.
Überall wo eine Beſchädigung ſtattfand und ſie kam
ja
an jedem Baum vielfältig vor ſuchte die Natur durch
Harzerguß
die Wunde zu heilen;
dieſer trat aber gewöhnlich
nicht
ſo ſchnell ein, daß nicht vorher Pilzſporen anfliegen und
26056 Keimung gelangen konnten. Die weitere Entwickelung derſelben
wurde
um ſo mehr begünſtigt, als Wärme und Feuchtigkeit in
reichem
Maße vorhanden waren.
Daher wurden nach und
nach
alle Bäume von einem oder dem anderen, oft auch von
mehreren
Paraſiten gleichzeitig befallen.
Auch höhere Pflanzen,
wie
miſtelähnliche Gewächſe, lebten paraſitiſch auf den Bernſtein-
bäumen
.
Sie führten reichlich Harz in allen ihren Teilen, vor-
nehmlich
aber wie ſchon geſagt in der Rinde und im
Holze
.
Wenn man das normale Vorkommen der harzbildenden
Organe
, deren Größe und Verteilung ins Auge faßt, kann
man
einen erheblichen Unterſchied von unſeren heutigen Kiefern
und
Fichten nicht bemerken;
ebenſo finden die verſchiedenen
abnormen
Bildungsweiſen des Harzes durchweg ihre Ähnlichkeit
bei
Tannen der Jetztzeit.
Was aber die Bernſteinbäume in
hervorragendem
Maße auszeichnet, iſt der Umſtand, daß
die
ihnen ſo häufig zu teil gewordenen Beſchädigungen nicht
allein
den Harzausfluß, ſondern auch die Neuanlage von Harz-
behältern
weſentlich begünſtigten.
Wenn das klare Harz die
Oberfläche
des Stammes und der Äſte überzog, nahm es leicht
vorüberfliegende
Inſekten, ſowie angewehte Pflanzenreſte in
ſich
auf:
bei wiederholtem Fluß entſtanden geſchichtete Stücke,
die
Schlauben” des Handels, welche ſich durch den Reichtum
an
organiſchen Einſchlüſſen auszeichnen.
Das dünnflüſſige
Harz
tropfte aber auch von Zweig zu Zweig und bildete in
dieſen
freihängende Zäpfchen, welche durch Ablagerung neuer
Schichten
immer mehr an Umfang und Länge zunahmen;
während dieſes Vorgangs wurden gleichfalls kleine Tiere und
Pflanzen
eingeſchloſſen.
Mit Rückſicht darauf, daß dieſer Prozeß
ſchnell
vor ſich ging und die einhüllende Maſſe dünnflüſſig war,
zeigen
die ſo erhaltenen Organismen außerordentliche Schärfe.

Wegen
der, wenn auch geringen Durchläſſigkeit der Harzmaſſe
konnte
jedoch eine Verweſung der Einſchlüſſe nicht
26157 werden; nur Kohlenreſte, ſowie widerſtandsfähige Subſtanzen
finden
ſich noch in den Hohlräumen.
Die vermeintlichen zarten
Blüten
, Inſekten u.
dergl. im Bernſtein ſind daher nur treue
Naturſelbſtdrucke
.
Das dünnflüſſige Harz fiel auch auf den Boden und ver-
kittete
den Mulm, unförmige Maſſen bildend, welche den Firnis
des
Bernſteinhandels geliefert haben.
Das Wort Bernſtein iſt übrigens keine wiſſenſchaftliche
Bezeichnung
für eine beſtimmte Harzart, ſondern umfaßt eine
größere
Zahl von foſſilen Harzen und harzähnlichen Körpern,
welche
nach ihrer Abſtammung und Bildungsweiſe, ſowie nach
ihrem
chemiſchen und phyſikaliſchen Verhalten verſchieden ſind.
Auch das geologiſche Vorkommen und, wie wir ſahen, die geo-
graphiſche
Verbreitung der Bernſteine weicht von einander ab.
XIV. Die Eiszeit.
Nach der Braunkohlenzeit trat in unſerer Heimat eine
Kälte-Periode
ein, die derſelben ein Anſehen gab, wie es heute
etwa
Grönland beſitzt.
Die ſchlagenden Thatſachen, die zu
dieſer
Annahme zwingen, wollen wir näher vorführen.
Auf den Rauenſchen Bergen bei Fürſtenwalde liegen zwei
mächtige
Granitſteine, dieMarkgrafenſteine” (Fig.
25), deren
einer
das Material zu der großen Granitſchale vor dem Ber-
liner
Muſeum hergegeben hat.
Solche loſen Blöcke (der Geo-
loge
nennt ſie Geſchiebe), aber nur ſelten ſo groß wie die
genannten
, kommen vielfach in unſerem Flachlande vor, zwar
nicht
immer aus Granit, ſondern aus den allerverſchiedenſten
mineraliſchen
Beſtandteilen gebildet:
nicht nur Geſteine, die
vulkaniſchen
Erſcheinungen ihren Urſprung verdanken, ſondern
auch
urſprünglich durch Waſſerabſatz gebildete Geſteine, unter
Umſtänden
noch Verſteinerungen enthaltend.
Die Blöcke
26258 Fremdlinge in unſerer Heimat; ſie heißen denn auch Irr-
Blöcke
(“erratiſche” Blöcke).
Eine genaue Unterſuchung derſelben hat die überraſchende
Thatſache
ergeben, daß dieſe Irr-Blöcke ihre urſprüngliche
Heimat
im Norden, nämlich in Skandinavien, Finnland und
39[Figure 39]Fig. 25.
Der
kleine Markgrafenſtein.
in den ruſſiſchen Oſtſeeprovinzen haben, eine Thatſache, die
ſchon
lange bekannt, u.
a. von dem berühmten Berliner Geo-
logen
Leopold von Buch (1774—1853) durch die Annahme
erklärt
wurde, daß ungeheuerliche Waſſerfluten die Blöcke über
die
Oſtſee geſchleudert hätten.
Nun zeigte ſich aber, daß die Alpen in vorhiſtoriſcher
26359 eine weit ins Vorland hineinreichende Vergletſcherung beſeſſen
haben
und die heutigen Gletſcher nur als die minimalen letzten
Reſte
der alten Eisbedeckung dieſes Gebirges anzuſehen ſind,
und
daß hier durch die Transportfähigkeit dieſer alten Gletſcher-
Bedeckung
die aus den Alpen-Geſteinen ſtammenden Geſchiebe
ins
Vorland der Alpen geſchafft worden ſind.
Auf Grund dieſer Kenntnis und der gewonnenen Einſicht,
40[Figure 40]Fig. 26. daß auch namentlich Skandinavien einſt ganz vergletſchert ge-
weſen
iſt, kam der große engliſche Geologe Charles Lyell
(1797—1875) zu der Vermutung, daß Norddeutſchland nach der
Braunkohlenzeit
von einem Meere bedeckt geweſen ſei, und daß
die
ſich von den ins Waſſer ragenden Teilen der Eisbedeckung
Skandinaviens
ablöſenden und nun nach Süden ſchwimmenden
Eisberge” die mittransportierten Blöcke beim Schmelzen fallen
ließen
und dieſe ſo über das norddeutſche Flachland verbreitet
haben
.
Unſere Abbildung (Fig. 26) giebt eine Anſchauung
26460 den bis ins Meer ragenden Gletſcherenden, wie es heute im
hohen
Norden vorkommt.
Die ins Waſſer ſich vorſchiebenden
Eismaſſen
brechen ſchließlich ab (“kalben”) und ſchwimmen nach
Süden
, um auf dem Wege allmählich zu ſchmelzen und die
eventuell
mitgeſchleppten Geſteinsmaſſen ins Meer fallen zu
laſſen
.
Erſt 1875 wurde von dem noch lebenden bedeutenden
ſchwediſchen
Geologen Otto Torrell gezeigt, daß die Ver-
gletſcherung
von Norden bis an die mitteldeutſchen Gebirge
(Harz—Rieſengebirge) gereicht hat, von einer Meeresbedeckung
alſo
bei uns zur Zeit, von der wir ſprechen, nicht die Rede
ſein
kann, daß wir es vielmehr mit derſelben Erſcheinung zu
thun
haben, wie in den Alpen.
In den Gebieten des ewigen Schnees im Hochgebirge fällt
mehr
Schnee, als durch Verdunſtung wieder abgegeben wird.
Der ſtarke Druck, den die neu hinzukommenden Maſſen auf die
untenliegenden
ausüben und andere Verhältniſſe verwandeln
den
Schnee in feſtes Eis, das wie ein Waſſerlauf in einem
Strombett
zwar viel langſamer aber fortdauernd und un-
widerſtehlich
die Thäler entlang in die Ebene ſich vorſchiebt.

Dieſe
Eisſtröme ſind die bekannten Gletſcher (Fig.
27).
Die auf den Rücken des Gletſchers herabfallenden Geſteins-
brocken
und der auf ihn gelangende Schutt werden ſo nach ab-
wärts
geführt, je nach der Länge des Gletſchers, die durch
Abſchmelzen
in wärmeren Regionen bedingt wird, mehr oder
minder
fern von der Urſprungsſtelle hinweg, ebenſo wie die
von
dem Gletſcher durch den an ſeinem Grunde ausgeübten
Druck
fortgeſchobenen, meiſt feinpulverig zerriebenen Unter-
grundmaſſen
, deren Abwärtsbeförderung durch das am Grunde
des
Gletſchers zu Thal fließende Schmelzwaſſer unterſtützt wird.
Alles vom Gletſcher transportierte Geſtein wird Moränen-
Material
genannt;
man ſpricht demgemäß von Ober-Moränen
und
von Grund-Moränen, ſowie von End-Moränen,
26561 letzteren ſich am Fußende der Gletſcher aufthürmen, wo durch
das
vollſtändige Wegſchmelzen des Eiſes ein Weitertransport
unmöglich
wird.
Die Grundmoräne bildet, wenn ſie z. B. aus gemahlenen
granitiſchen
Geſteinen hervorgegangen iſt, eine ſchlammige,
41[Figure 41]Fig. 27. lehmig-ſandige Maſſe mit eingeſtreuten größeren und kleineren
Granit-Geſteinsbrocken
, die durch das Aneinanderreiben und
durch
Reibung am Untergrunde dieſen und ſich ſelbſt ab-
polieren
und mit Ritzen verſehen, d.
h. Gletſcherſchliffe und
Gletſcherſchrammen
erzeugen.
26662
Die Oberflächen-Geſtaltung des norddeutſchen Flachlandes
und
die Beſchaffenheit der Ablagerungen, die nach der Braun-
kohlenzeit
entſtanden ſind, zeigen nun unwiderleglich, daß
dieſe
Ablagerungen im weſentlichen gewaltige Grundmoränen-
Maſſen
ſind.
42[Figure 42]Fig. 28.
Rüdersdorfer
Gletſcherſchrammen.
Wo feſtes Geſtein
unter
dieſem Grund-
moränen-Material

vorkommt
, ſieht
man
dasſelbe auf
ſeiner
Oberfläche
poliert
und ge-
ſchrammt
, wie auf
dem
Kalkgeſtein von
Rüdersdorf
bei
Berlin
(Fig.
28),
deſſen
Studium auch
zuerſt
Torrell zu
ſeiner
heute allge-
mein
angenomme-
nen
Eiszeit-Theorie
Beweiſe
lieferte
(3.
November 1875).
Die dortige Grund-
moräne
iſt deshalb
beſonders
inter-
eſſant
, weil dieſelbe die abgewitterten, alſo an der Ober-
fläche
liegenden Kalkgeſteinsbrocken in ſich aufgenommen
hat
, weshalb man in ſolchen Fällen von einer Lokal-Moräne
(Fig.
29) ſpricht. Die in dieſer lokalen Moräne, L M unſerer
Figur
, vorkommenden Kalkſtücke ſind bei dem geringfügigen
Transport
oder da ſie an Ort und Stelle in die Grund-
Moräne
eingebacken wurden, noch kantig und zeigen nicht
26763 durch lange Bewegung bedingte Abrundung der Kanten, wie
weither
transportierte Geſchiebe, wie ſie ſich in den die Grund-
Moräne
bedeckenden Schichten L und L S zeigen.
Unſere Fig. 30
zeigt
ein ſolch typiſches Geſchiebe aus der Grund-Moräne des
norddeutſchen
Flachlandes.
Auch Strudellöcher oderRieſenkeſſel” ſind in Rüders-
dorf
gefunden worden.
Sie kommen durch das in Spalten
43[Figure 43]Fig. 29.
Lokale
Grund-Moräne von Rüdersdorf LM mit Kalkgeſteinsſtücken. K = an-
ſtehendes
Kalkgeſtein. L = Lehm und LS = lehmiger Sand, beide mit Geſchieben.
N. S. LS L LM K 0 1 2 3 4 5 Meter
des Eiſes herabſtürzende Schmelzwaſſer zuſtande, das im
Felsuntergrunde
mit Unterſtützung von mahlenden Geſchieben
Vertiefungen
aushöhlt.
Die alte, oder, wie wir noch andeuten werden, die beiden
alten
Grund-Moränen Norddeutſchlands ſind natürlich durch
Schmelzwaſſer
und ſpätere Waſſerläufe vielfach angegriffen
und
verändert worden:
Sande, Thone und Kalkmaterialien
ſind
ausgeſchlemmt und wo anders hin abgelagert
26864 ſodaß naturgemäß auch zur Eiszeit Waſſerablagerungen neben
den
Grundmoränen, unſerem Geſchiebemergel, vorkommen.
Die Eisdecke, welche Norddeutſchland bedeckte, muß im
Durchſchnitt
auf rund 100 m Dicke angenommen werden;
ſie
hat
ja aber auch ganz gewaltige Wirkungen hinterlaſſen, die
44[Figure 44]Fig. 30.
Geſchiebe
mit Gletſcherſchrammen.
RKATTER. X.A. BERLIN
ſich uns auf Schritt und Tritt zeigen.
Die Fig. 31 z. B.
bietet den Anblick aus einer Thongrube bei Lehnin, deren
Schichten
durch Eisdruck zu ſattelförmigen Bildungen aus ihrer
urſprünglich
horizontalen Lage zuſammengepreßt worden ſind.
Aus der Beſchaffenheit der Ablagerungen iſt anzunehmen,
daß
wenigſtens eine zweimalige, von einer Zwiſchenzeit (Inter-
glacialzeit
) getrennte Eiszeit hereingebrochen iſt, da wir
26965 Grund-Moränen, alſo einen unteren und einen oberen Ge-
45[Figure 45]Fig. 31. ſchiebemergel haben.
In den Schichten dieſer Zwiſcheneiszeit
ſind
eine Anzahl tieriſcher Reſte gefunden worden, die von
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
27066
Tieren herſtammen, welche ausgeſtorben ſind, wie das Mammut
(Fig.
32 u. 33), und ein Nashorn (Rhinoceros tichorhinus)
neben
Tieren, die heute nur noch im hohen Norden der Erde
46[Figure 46]Fig. 32.
Das
Mammut.
47[Figure 47]Fig. 33.
Ein
Backzahn des Mammut, von der
Kaufläche
geſehen.
leben, wie der Moſchusochſe und
das
Rentier.
Es ſeien noch ge-
nannt
der Elch, Rieſenhirſche
(Cervus euryceros, Fig.
34,
und
C.
Ruffii), unſer Edel-
hirſch
, der Ur- oder Wildſtier
(Fig.
35), der Auerochs
27167 priscus), das Wildpferd, der Wolf, der Bär, der Polarfuchs
und
der Biber.
Von beſonderer Wichtigkeit iſt für uns das Auftreten des
Menſchen
, von dem in der Braunkohlenzeit auch noch nicht
48[Figure 48]Fig. 34.
Skelett
des iriſchen Rieſenhirſches.
eine Spur gefunden wurde, während Reſte des Menſchen, wie
z
.
B. Zähne (Fig. 36), und Spuren ſeiner Thaten in eiszeit-
lichen
Ablagerungen, namentlich in den unmittelbar auf die
letzte
Eiszeit folgenden mehrfach beobachtet worden ſind.
Auch Pflanzenreſte ſind mehrfach gefunden; als
27268 geben wir eine Auswahl in unſerer Figur 37, die aus einem
zwiſcheneiszeitlichen
Torfmoor von Klinge bei Cottbus ſtammen.
Beim Rückgange der letzten Eisbedeckung, die nicht ſtetig,
ſondern
etappenweiſe ſtattgefunden hat, ſind dort, wo der ab-
49[Figure 49]Fig. 35.
Schädel
von Bos primigenius.
ſchmelzende Fuß, das Ende des Juland-
50[Figure 50]Fig. 36.
Ein
Menſchenzahn
aus
der Eiszeit, in
doppelter
, natürlicher
Größe
.
eiſes, längere Zeit verweilt hat, noch heute
auffällig
als Wälle ſichtbare End-Moränen
aufgehäuft
worden;
unſere Karte (Fig. 38)
giebt
ein Bild von 3 ſolchen Endmoränen
im
Gebiete der Provinz Brandenburg und
Vorpommerns
, und wir können den Ber-
linern
nur empfehlen, das bequem zu er-
reichende
Stück des auf der Karte als
1
.
Endmoräne bezeichneten Geſchiebe-Walles
in
der Gegend des beliebten Ausflugsortes
Chorin
hinter Eberswalde zu beſuchen,
27369 ſich dort ſinnend ein Bild der Vergangenheit vorzuzaubern.
Das Berliner Pflaſter iſt zum Teil aus den dort aufgehäuften
Geſchieben
hergeſtellt worden.
51[Figure 51]Fig. 37.
1
= Kiefer- Zapfen, 2 = Halbe Frucht des Feld-Ahorn, 3 u. 4 = Haſelnüſſe,
5
= ein Fichten-Same, 6 9 = Samen einer mit der Victoria regia verwandten
Seeroſe
, 10 = Frucht der Stechpalme, 11 14 = Früchte der Waſſerzinke (Cerato-
phyllum
), 15 17 = Früchte der Hainbuche, 18 26 = Samen der Waſſer-Aloë.
3 4 1 2 11 12 {2/1} 10 {2/1} 13 14 6 7 8 9 5 15 16 17 {3/1} {3/1} {3/4} 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Die gewaltigen abſchmelzenden Waſſermaſſen der letzten
Eiszeit
ſind von Oſten nach Weſten, den unteren Elblauf be-
nutzend
, in die Nordſee gefloſſen und haben mächtige von Oſt nach
Weſt
verlaufende Ströme gebildet, deren gewaltige Thäler
2747052[Figure 52]Fig. 38.
27571 heute unſer Flachland auszeichnen. Berlin liegt an einer engen
Stelle
eines dieſer gewaltigen Thäler (Fig.
39), wodurch ſich
wohl
die Lage und Entſtehung der nunmehrigen Rieſenſtadt
erklärt
, da hier auch noch nach dem Schwinden der großen
Ströme
ein guter Übergang von Süden nach Norden und
umgekehrt
vorhanden war.
Wir ſagen ausdrücklich auch noch
53[Figure 53]Fig. 39. nach dem Schwinden der Ströme, da ſich die Moore vor-
wiegend
in alten Thälern bilden und ſo die Paſſage doch
weſentlich
erſchweren.
Vielleicht iſt im Altertum der Weg über
das
jetzige Berlin auch für den Bernſteinhandel aus dem Sam-
lande
benutzt worden.
Zum Schluß unſerer Beſprechung über die Eiszeit wollen
wir
noch ausdrücklich darauf aufmerkſam machen, daß nicht
etwa
die ganze Erde zur Eiszeit vereiſt war, ſondern nur
2767254[Figure 54]Fig. 40.THEIL DES NORDAMERIK. GLACIALGEBIETES mit seinen ENDMORÄNEN
27773 weit größerer Teil der nördlichen Erdhalbkugel als heute. Wir
ſagten
ſchon, daß die Vereiſung bei uns etwa bis zu den
mitteldeutſchen
Gebirgen reichte und die Karte (Fig.
40) ver-
anſchaulicht
, wie weit die erſte und zweite Vereiſung zur Di-
luvialzeit
in Nord-Amerika nach Süden herabreichte.
Über die Urſache der Eiszeiten ſind mannichfache Ver-
mutungen
ausgeſprochen und zu begründen verſucht worden,
ohne
daß wir aber größere Sicherheit über dieſelbe gewonnen
hätten
.
Seit dem Ende der letzten Eiszeit mögen gegen 40 000
Jahre
verfloſſen ſein;
jedoch iſt dieſe Angabe nicht ſicher.
Gehen wir wieder einer Eiszeit entgegen, ſodaß wir uns
jetzt
in einer Zwiſcheneiszeit zwiſchen der zweiten und einer
dritten
Eiszeit befinden?
Die Antwort müſſen wir ſchuldig
bleiben
!
XV. Wie alt iſt der gegenwärtige Zuſtand
der Erde?
Nachdem wir ſo die Veränderungen der Erdoberfläche mit
beſonderer
Berückſichtigung der allerletzten Zeit der Braun-
kohlen-
und Eiszeit in flüchtigem Umriß dargelegt haben,
wollen
wir jetzt eine Frage beantworten, die ſicherlich ſchon
vielen
unſerer Leſer nahe getreten iſt.
Es iſt die Frage über
das
Alter der Erde oder mindeſtens über die Zeitdauer der
einzelnen
Zuſtände.
Die Antwort auf dieſe Frage iſt durchweg ſehr un-
beſtimmt
, gleichwohl wollen wir den kleinſten Teil der Frage
ſoweit
zu beantworten ſuchen, als Männer der ſtrengſten For-
ſchung
ſich Antworten hierauf erlaubt haben.
Es iſt eine Thatſache, von der ſich jeder ſelbſt über-
zeugen
kann, daß all’ die Unterſchiede, die wir zwiſchen
27874 flüſſigen und luftförmigen Körpern machen, nur wirklich exi-
ſtieren
bei einem beſtimmten Grad der Wärme, daß aber, ſo-
bald
die Wärme ſich ändert, auch der Zuſtand der Körper
ganz
anders wird.
Diejenigen Menſchen, die in heißen Ländern geboren ſind,
wo
es niemals friert, die können ſich keine Vorſtellung davon
machen
, daß aus Waſſer ein feſter Körper werden kann.
Sehr
lehrreich
iſt in dieſer Beziehung die Anekdote von dem euro-
päiſchen
Reiſenden am Hofe eines indiſchen Fürſten:
Der
Reiſende
war ein arger Prahlhans und band dem Fürſten die
ungeheuerlichſten
Abenteuer und Reiſegeſchichten auf, der Fürſt
aber
glaubte alles Wort für Wort.
Als jedoch eines Tages
der
Reiſende von ſeiner Heimat erzählte und berichtete, wie
dort
zuweilen das Waſſer in den Flüſſen ſo hart würde, daß
Wagen
darüber fahren könnten, da wandte ſich der Fürſt un-
willig
ab und erklärte, die Geſchichte ſei aufgeſchnitten, und
zum
Beſten halten ließe er ſich nicht.
Wir dagegen wiſſen aus Erfahrung, daß, wenn man dem
Waſſer
Wärme entzieht, es zu Eis wird, alſo zu einem harten
Körper
, der alle Eigenſchaften feſter Körper an ſich und alle
Eigenſchaften
flüſſiger Körper verloren hat.
Denken wir uns
wieder
Weſen, die nur in ſolchen Gegenden leben, wo es Jahr
aus
Jahr ein friert, ſo werden ſie, wenn ſie noch keine andere
Erfahrung
gemacht haben, es nicht begreifen, daß Eis, dieſer
ſtarre
, feſte Körper, jemals flüſſig ſein kann.
Waſſer iſt alſo
unter
dem Gefrierpunkt ein feſter Körper, über dem Gefrier-
punkt
ein flüſſiger Körper.
Erhitzt man aber gar Waſſer bis
zu
100 Grad, ſo wird daraus ein luftförmiger Körper, ein
Gas
, welches, ſo lange es in dem heißen Zuſtande verbleibt,
alle
Eigenſchaften der gasförmigen Körper beſitzt.
Man hat aber durch die Erfahrung erlernt, daß es mit
allen
Körpern ſo geht wie mit dem Waſſer.
Man kann Metalle
ſo
lange erhitzen, bis ſie flüſſig werden, und ſie bei
27975 Erhitzung ſogar in Dampf verwandeln. Es unterliegt ebenſo
gar
keinem Zweifel, daß man Gaſe durch Kälte oder Zu-
ſammenpreſſen
tropfbar-flüſſig machen und dieſe Flüſſigkeiten in
noch
höherer Kälte zum Gefrieren, das heißt zum Feſt- und
Hartwerden
bringen kann (ſiehe Teil II).
Wer dies einſieht, der wird ſich leicht die Vorſtellung
machen
können, daß alles Feſtwerden auf der Erde nur von
dem
langſam wachſenden Einfluß der Kälte herrührt, die im
Weltraume
herrſcht.
Würde die innere Wärme der Erde ein-
mal
durch irgend einen Umſtand ſich in hohem Maße ſteigern,
ſo
würden alle feſten Körper flüſſig, alle flüſſigen Körper
luftförmig
werden;
ja, die ganze Erde könnte ſich in Gas
verwandeln
und ſich dabei ausdehnen und einen viel tauſendmal
größeren
Raum einnehmend durch den Weltraum wandeln.
Alle Naturforſcher hegen die Vermutung, daß wirklich die
Erde
dereinſt ſolch ein ungeheurer luftförmiger Körper geweſen
ſei
, daß ſie erſt nach und nach durch Erkalten zu einem
feurigen
, flüſſigen Körper geworden ſei, und daß dann erſt
die
Zeit eintrat, wo durch weitere Abkühlung die obere Rinde
erſtarrte
und eine feſte Hülle über dem noch flüſſigen Kern
ſich
bildete, wie wir dies bereits ausgeführt haben.
Fragt man nun nach dem Alter der Erde, ſo hat man
auch
nicht den geringſten Maßſtab dafür, wie lange Zeit ſie
wohl
im gasförmigen Zuſtande exiſtiert haben mag.
Eben ſo
wenig
weiß man etwa anzugeben, wie lange die Erde in
feurig-flüſſigem
Zuſtande zugebracht habe;
dahingegen hat
man
ſchon einigen Anhalt über die Dauer der Zeit, welche
das
Erkalten und Erſtarren der Rinde gebraucht haben mag,
und
darf ſchon von einigen Vermutungen über die Zeit
ſprechen
, in welcher das Waſſer die Geſteine anſammelte,
feſte
Erdſchichten aufſchwemmte und ganze Landſtrecken an-
ſchwemmte
.
Alle dieſe Angaben ſind zwar außerordentlich unſicher
28076 haben nur das Recht, als entfernte Vermutungen angeſehen zu
werden
;
wir wollen ſie jedoch als ſolche unſeren Leſern nun-
mehr
vorführen.
XVI. Wie lange Zeit brauchte die Erdrinde,
um zu erkalten?
Man hat Verſuche über die Abkühlung großer Geſteins-
maſſen
gemacht, um einigermaßen die Zeit der Abkühlung zu
beſtimmen
, welche die Erde brauchte, um eine 25 Meilen dicke
Schicht
zu erhalten;
allein es ſchreitet die Abkühlung der
Maſſen
, je größer ſie ſind, deſto langſamer fort, und es hängt
die
Abkühlung ſo enge mit der Fähigkeit der Maſſen, die
Wärme
zu leiten, zuſammen, daß man jeden künſtlichen Ver-
ſuch
dieſer Art vergeblich nennen muß.
Indeſſen bietet die
Natur
ſelbſt die Gelegenheit dar, die außerordentlich langſame
Abkühlung
großer heißer Steinmaſſen zu beobachten.
Die Vulkane, wenn ſich in ihnen ein Weg gebahnt hat
aus
dem Innern der heißen Erde nach außen hin, ſpeien
unter
Krachen und Toſen Rauchſäulen, Flammen und Aſchen-
regen
aus, und das Ende dieſer furchtbaren Naturerſcheinung
iſt
gemeinhin, daß aus irgend einer Spalte des feuerſpeienden
Berges
oder über den niedrigſten Rand des Kraters ein
Strom
geſchmolzenen Geſteins ſich ergießt, der aus dem Innern
der
Erde emporquillt und in langer Strecke hin ins Thal
fließt
.
Wenn dieſer Glut-Strom erkaltet, ſo wird er zu Stein,
den
man Lava nennt, und eine Unterſuchung der Lava in
neuerer
Zeit hat ergeben, daß ſie aus denſelben Geſteinsarten
beſteht
, die die harte Rinde um die Erde bilden.
Die Ver-
ſchiedenheit
der Lava hängt von der Verſchiedenheit ihrer Er-
kaltung
ab.
So werden kleine Maſſen, die
28177 ſchnell erkalten, zu dem ſchwammartig gebauten Bimsſtein,
während
langſamer abkühlende Maſſen feſteres Gefüge annehmen.
Wo aber Lava in großen Strömen ſich ergoſſen hat, und
in
irgend einer Vertiefung des Thales in dicker Lage vor-
handen
iſt, da hat man gute Gelegenheit, die außerordentlich
lange
Zeit zu beobachten, die es dauert, bevor auch nur die
Lava
bis in eine Tiefe von einem halben Meter erſtarrt.
Der Reiſende, der dieſe Stätten lange Jahre nach dem
Ausbruche
des Veſuvs bei Neapel beſucht, wird durch den
kundigen
Führer überraſcht, der ſeinen Stock hineinbohrt in
die
Lava, auf welcher man herumwandelt und ihn nach einiger
Zeit
verkohlt wieder herauszieht.
Lava, die zehn Jahre lag,
von
oben vollkommen erſtarrt war und nicht im mindeſten ver-
riet
, daß ſie inwendig noch heiß iſt, fing zu fließen an, als
man
den Rand abſtach, ſo daß es ſich ergab, wie ſie in einer
Tiefe
von etwa 1 {1/2} Meter noch vollkommen flüſſig war.
Man
hat
ferner die Bemerkung gemacht, daß zwanzig Jahre nach dem
Austritt
aus dem Innern der Erde die Lava noch Dämpfe
verbreitet
, was offenbar von dem hohen Grad der Hitze zeugt,
die
im Innern der Lavalage herrſcht, ſelbſt wenn ſie von
außen
vollkommen die natürliche Wärme der Luft angenommen
hatte
.
Obwohl man nun noch nicht das Geſetz genauer hat be-
ſtimmen
können, wie langſam die Abkühlung ſolcher großen
Maſſen
vor ſich geht, ſo hat man doch den einen Schluß
daraus
gezogen, daß eine Lage von 25 Meilen eine ungeheuer
große
Reihe von Jahrmillionen gebraucht haben muß, um ſo
weit
zu erkalten, daß ſie von dem flüſſigen Zuſtande in den
feſten
übergehen konnte.
Dies iſt freilich eine ſehr unbeſtimmte Vorſtellung, die
man
ſich von der Zeit der Abkühlung der Erde zu machen
hat
, oder von der Zeit, in welcher ſich die feſte Rinde bildete
aus
den Geſteinen, die man die Feuerbildungen nennt.
28278 etwas beſtimmtere Zahl weiß man ſchon von der Zeit an-
zugeben
, wo ſich Geſteinsmaſſen unter dem Waſſer gebildet
haben
mögen.
Wir haben es bereits erwähnt, daß das Land, wo man
die
Anſchwemmung am längſten beobachtet hat, Ägypten iſt;
dieſes Land kennt man ſchon ſeit Jahrtauſenden, indem man
Schriften
beſitzt, die über dasſelbe Aufſchluß geben aus der
Zeit
des hohen Menſchenaltertums.
Zugleich beſitzt Ägypten
Baudenkmäler
, deren Erbauungszeit ziemlich ſicher anzugeben
iſt
, und es haben daher Naturforſcher zu ermitteln geſucht, um
wie
viel der Boden Ägyptens, durch die Ablagerungen von
Erdteilchen
, die der Nil alljährlich mit ſich führt, höher ge-
worden
iſt, ſeit jener Erbauungszeit der Denkmäler.
Die
Unterſuchung
hat ergeben, daß es mindeſtens vierzigtauſend
Jahre
dauert, bevor der Boden durch Waſſerablagerungen hier
nur
30 Meter höher wird, und wenn dies einen Schluß auf
die
Waſſergebilde, die eine Geſteinsſchale um die Erde bilden,
zuläßt
, ſo hat es an zehn Millionen Jahre gedauert, bis dieſe
zu
der Mächtigkeit von nur einer Meile anwuchſen.
Freilich
iſt
dabei zu berückſichtigen, daß natürlich in demſelben Zeit-
raum
an verſchiedenen Orten ganz verſchieden dicke Lagen ge-
bildet
werden.
XVII. Haben wir noch eine Umwälzung der Erde
zu erwarten?
Es ſteht feſt, daß nach und nach mit der Eniwickelung der
Erdſchichten
auch eine Entwickelung der Tier- und Pflanzen-
welt
ſtattgefunden hat, und zwar eine Entwickelung von nie-
drigen
Gattungen zu höhern.
In den Verſteinerungen, die
man
in der Erde auffindet, ſpricht ſich dies ſehr deutlich und
unumſtößlich
aus.
Die älteſten Überreſte von Pflanzen
28379 Tieren zeigen uns, daß zuerſt ſolche von einfacherem Bau
exiſtierten
.
Je jünger die Erdſchichten ſind, die man unter-
ſucht
, deſto entwickelter und vollkommener werden die Pflanzen
und
die Tiere, bis man endlich in der jüngſten Erdſchicht die
Spuren
findet, daß der Menſch, das vollkommenſte der lebenden
Geſchöpfe
, ein Bewohner der Erde wird.
Der fortſchreitende
Charakter
der Pflanzenwelt und Tierwelt ſeit der älteſten Zeit
bis
auf die Gegenwart iſt ſo unzweifelhaft in den Überreſten
ausgeprägt
, daß kein einſichtiger Menſch mehr zweifelt, daß
hier
wirklich ein Fortſchritt von einfachſten und unausgebildetſten
Organismen
zu vielfältigern und ausgebildetern ſtattgefunden
hat
.
Nun aber hält dieſer Fortſchritt genau mit den Ver-
änderungen
des Zuſtandes der Erde Schritt:
eine höhere
Pflanzengattung
, eine höhere Tiergattung tritt immer erſt auf,
nachdem
eine weitere Veränderung mit der Erde vor ſich ge-
gangen
iſt.
Man ſieht, daß die Erde mit jeder neuen Epoche
erſt
immer die Fähigkeit erhielt, neue und ausgebildetere lebende
Weſen
auf ſich zu erhalten.
Jedenfalls geht hieraus hervor, daß
die
Veränderungen der Erde mit dem Leben auf der Erde im
engſten
Zuſammenhange ſtehen und daß ein Fortſchreiten und
eine
immer höhere Ausbildung der Pflanzen- und Tierwelt
auch
genau mit einer Fortſchreitung und einer höheren Aus-
bildung
der Erde ſelber Hand in Hand geht.
Dies aber iſt
ganz
und gar der Charakter des Lebens, eine Veränderung,
die
zugleich eine Entwickelung iſt aus einem unausgebildeten
Zuſtand
in einen höhern und vollendeteren.
Freilich drängt ſich hiernach die Frage auf: wenn all’ die
bisherigen
Veränderungen der Erde eine ſtufenweiſe Ent-
wickelung
ihres Lebens waren, wird dieſe Entwickelung nicht
auch
weiter gehen?
Darf man annehmen, daß die jetzige Tier-
und
Pflanzenwelt die vollendetſte iſt, wenn man ſieht, daß ſie
erſt
nach und nach ſich entwickelt hat, und alſo gar nicht zu
vermuten
ſteht, daß ſie ſich nicht noch weiter entwickeln kann?
28480 Der Menſch iſt in jetziger Zeit das vollendetſte der Geſchöpfe
auf
Erden.
Es hat aber eine Zeit gegeben, wo noch keine
Menſchen
auf Erden lebten, und damals waren ohne Zweifel
die
Affen die geiſtig reichſten Geſchöpfe;
iſt es nicht wahr-
ſcheinlich
, daß dereinſt, wenn auch erſt nach Jahrtauſenden oder
Jahrmillionen
neue und zwar höhere Geſchöpfe auf Erden leben
werden
, gegen welche das
55[Figure 55]Fig. 41. Menſchengeſchlecht der
Jetztzeit
ſo tief ſteht, wie
etwa
das Affengeſchlecht
gegenüber
dem jetzigen
Menſchengeſchlecht
?
Auf dieſe, ſicherlich
ſehr
ernſte und wichtige
Frage
weiß die Natur-
wiſſenſchaft
keine ſichere
Antwort
.
Wir wiſſen nur zwei Dinge, die zu einem Schluß
über
dieſe Frage Berechtigung geben.
Erſtens haben ſich die Naturforſcher unendliche Mühe ge-
56[Figure 56]Fig. 42. geben, um auszuſpüren,
ob
die Erde noch jetzt
irgendwie
neue Geſchöpfe
hervorbringt
, und dies
iſt
durchaus nicht ge-
lungen
, nachzuweiſen.
Eine Zeitlang glaubte
man
, daß die Infuſorien (Fig.
41 u. 42), die außerordentlich
kleinen
Tierchen, die millionen- und millionenfach entſtehen,
wenn
man Pflanzen mit Waſſer übergießt und dieſen Aufguß
einige
Tage ſtehen läßt, neue Geſchöpfe ſind, die ohne Zeugung,
ohne
Eltern neu entſtehen, und wirklich nahm man dies als
einen
Beweis der noch exiſtierenden Schöpferkraft an.
In-
deſſen
hat ſich das als Irrtum erwieſen.
Es ſteht jetzt
28581 daß dieſe Geſchöpfe nicht neu aus faulenden Pflanzenſtoffen
entſtehen
, ſondern daß ſie ſich aus Keimen entwickeln, die auf
den
Pflanzen und in dem Waſſer in großer Zahl vorhanden
ſind
.
Jedenfalls iſt es eine unbeſtreitbare Thatſache, daß
irgend
eine noch jetzt thätige Schöpferkraft der Erde, die neue
Geſchöpfe
hervorbringt, nirgends hat nachgewieſen werden
können
, woraus freilich noch nicht folgt, daß ſie nicht vielleicht
doch
exiſtiert.
Entwickelt ſich aber dennoch die Erde und ſoll ſie dennoch
höhere
Gattungen von Geſchöpfen hervorbringen, als der
Menſch
jetzt iſt, ſo dürfen wir zweitens nicht vergeſſen, daß
der
Menſch ſelber noch unendlich höherer geiſtiger Ent-
wickelung
fähig iſt, und daß ſeine geiſtige Entwickelung fort-
ſchreitet
, daß es alſo nicht gerade neuer Geſchöpfe bedarf, um
höhere
Weſen zu erzeugen.
Bei dem natürlichen Triebe des
Menſchengeſchlechts
, ſich geiſtig weiter und weiter heranzubilden,
bei
dem unbeſiegbaren Streben, die Erkenntnis zu bereichern,
iſt
mindeſtens nicht notwendig anzunehmen, daß eine neue
Gattung
Geſchöpfe zu entſtehen braucht, die einen Fortſchritt
gegenüber
der Menſchheit bildet.
XVIII. Iſt eine einſtmalige Rückbildung der
Erde denkbar?
Wir haben noch eine der wichtigſten Fragen in Betreff
des
Erdlebens zu beantworten.
Wenn es ausgemacht iſt, daß die Erde ehedem einen ganz
anderen
Zuſtand hatte, wenn es wahr iſt, daß ſie dereinſt vor
vielen
Jahrmillionen nur eine ungeheure, gasförmige Kugel
war
, die nach und nach ſich verdichtete und feurig-flüſſig wurde,
bis
ihre Oberfläche ſich abkühlte und eine harte Geſteinsrinde
bildete
, auf welcher wir und mit uns die Tier- und Pflanzen-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
28682
welt die Wohnſtätte haben; ſo fragt es ſich, ob ſie nicht der-
einſt
wieder in jenen Urzuſtand zurückkehren wird.
Eine natürliche Logik ſagt uns, daß alles, was mit der
Zeit
entſteht, auch mit der Zeit vergeht, daß ein Ding,
welches
nicht von Ewigkeit her immer dieſelbe unveränderliche
Geſtalt
gehabt hat, auch nicht in die Ewigkeit hin ſeine
Geſtalt
unverändert beibehalten wird.
Aber wenn wir
auch
dieſer Logik nicht trauen wollten, ſo lehrt uns doch
die
Erfahrung, daß in allen Dingen des Daſeins ein Kreislauf
der
Veränderungen ſtattfindet, daß die Pflanzen aus Urſtoffen
entſtehen
, daß die Tierwelt den Stoff ihres Leibes aus den
Pflanzen
entnimmt, daß aber der Tierkörper wieder zerfällt
und
ſeine Stoffe wieder zu Urſtoffen und deren einfachen Ver-
bindungen
werden.
Hiernach alſo fragt es ſich mit Recht: wird
nicht
einſt die Erde, dieein Tropfen im Eimer”, eben nur
ein
geringes Glied in der unendlich großen Familie des Welt-
alls
iſt, wird ſie nicht einſt in den Urzuſtand zurückkehren, in
welchem
ſie dereinſt geweſen iſt?
Wird nicht wieder eine Rück-
bildung
der Erde ſtattfinden, wie einſt eine Entwickelung und
Bildung
derſelben ſtattgefunden hat?
Will man auf dieſe Frage eine Antwort geben und hierbei
ſich
nicht von Gefühlen und Phantaſien, ſondern von den
Spuren
leiten laſſen, die die bisherige Naturforſchung bietet,
ſo
muß man ſeinen Blick aufwärts zum Himmelsraum wenden,
woſelbſt
die anderen Weltkörper ihr Licht als ein Zeichen
ihres
Daſeins zu uns herabſenden.
Die Erde, ein kleines
Glied
dieſer unendlichen Weltfamilie, hat ſicherlich unter einer
ſo
unendlich großen Zahl von Himmelskörpern viele, die ein
gleiches
Schickſal mit ihr teilen, und da ſchwerlich alle Himmels-
körper
gleichen Alters mit ihr und untereinander ſind, ſo iſt
es
wohl möglich, daß wir unter den Sternen viele erblicken
werden
, die auf eine Rückbildung oder Auflöſung von Himmels-
körpern
ſchließen laſſen.
28783
Die nächſten Sterne, auf die wir hier zu blicken haben, ſind
ohne
Zweifel die Planeten, die, wie wir bereits angeführt haben,
in
der Bildung ihrer Oberfläche viel Ähnlichkeit mit der Erde
beſitzen
;
allein bisher ſind alle Unterſuchungen darüber, ob
ſchon
einmal Planeten vorhanden waren, die ſich wiederum
aufgelöſt
haben, oder ob die exiſtierenden Planeten Spuren
ihrer
Auflöſung zeigen, vergeblich geweſen.
Noch vor Kurzem
nahm
man meiſthin an, daß die kleinen Planeten, die zwiſchen
Mars
und Jupiter ihren Umkreis um die Sonne nehmen, nur
Bruchſtücke
eines zerſtörten großen Planeten ſeien, der durch
äußere
und innere Veranlaſſung zerſprengt worden iſt.
Man
hätte
alſo hier wohl ein Beiſpiel des Untergangs eines
Himmelskörpers
, welcher ohne Zerſtörung alles Lebens auf
demſelben
nicht vor ſich gehen konnte.
Allein in neuerer
Zeit
iſt man mit Recht von der ganzen Vorſtellung zurück-
gekommen
, daß die kleinen Planeten Bruchſtücke eines größeren
ſeien
.
Schon vor dem Jahre 1845, bis wohin man nur die
erſten
vier in dieſem Jahrhundert entdeckten kleinen Planeten
kannte
, vermochte man nicht einzuſehen, woher die große Ver-
ſchiedenheit
der Bahnen der kleinen Planeten ſtammen ſollte,
wenn
ſie die auseinander geſprengten Bruchſtücke Eines
Planeten
wären;
ſeit dieſer Zeit aber, alſo in den letzten fünfzig
Jahren
, wo noch Hunderte von neuen kleinen Planeten in
dieſer
Himmelsgegend entdeckt worden ſind, iſt die Möglichkeit,
daß
ſie Bruchſtücke eines einzigen Himmelskörpers ſeien, ganz
und
gar geſchwunden;
ihre Entfernungen von der Sonne weichen
ſo
außerordentlich ſtark von einander ab, daß man gegenwärtig
jeden
Gedanken aufgeben muß, in den kleinen Planeten Reſte
eines
zerſtörten größeren Planeten zu ſehen, und nur annehmen
kann
, daß ſich hier urſprünglich aus unbekannten Urſachen
ſtatt
eines großen Planeten eine große Reihe einzelner kleiner
Planeten
gebildet habe.
Außer dieſem Raum aber, wo die kleinen Planeten
28884 Vahnen haben, giebt es im Planetenſyſtem, vom Merkur, der
der
Sonne am nächſten iſt, bis zum Neptun, dem der Sonne
fernſten
Planeten, keinen Platz, wo man Spuren eines unter-
gegangenen
Planeten zu ſuchen hat, und man kann ſich daher
nur
in der Welt der Kometen und im Reich der Fixſterne um-
thun
, um zu ſehen, ob dort Spuren des Entſtehens und Ver-
gehens
vorhanden ſind.
Dies wollen wir in den nächſten Abſchnitten vornehmen.
XIX. Veränderungen, die man an den Kometen
beobachtet.
Wenn ſich irgend wie unter den Körpern des Himmels-
raumes
ſolche finden, die Veränderungen an ſich tragen, welche
man
für Zeichen des Entſtehens und Vergehens halten könnte,
ſo
ſind es die Kometen (Fig.
43 bis 47).
Ihre Maſſe iſt ſo wenig dicht, daß ſie vollkommen durch-
ſichtig
ſind;
man ſieht die ſchwächſten Sterne, vor denen Ko-
meten
vorübergehen, ganz ſo deutlich, als wären die Kometen
nicht
vorhanden (Fig.
47). Dabei verändert ſich die ganze
Geſtalt
des Kometen, je mehr er ſich der Sonne nähert.
Die
Maſſe
lockert ſich noch mehr auf und nimmt eine längliche
Geſtalt
an, wobei ſich oft Schweife von ungeheurer Länge aus-
bilden
(Fig.
46), von denen einer zuweilen nach der Sonne
hin
und der andere von der Sonne abgewandt ſich zeigt.
Ferner hat man in Kometen eine Art Aufflackern, ein Wallen
des
Lichtes, ein Strahlenſchießen bemerkt, das im Augenblick
viele
tauſend Meilen weit geht und die ganze Geſtalt des
Kometen
höchſt veränderlich zeigt.
Desgleichen hat man beob-
achtet
, daß periodiſch wiederkehrende Kometen von langer Um-
laufszeit
, wie der Halleyſche, der in fünfundſiebzig Jahren
ſeine
Bahn vollendet und der zuletzt im Jahre 1835
28985 bei ihrem Wiedererſcheinen kleiner geworden ſind, als ſie zuvor
erſchienen
ſind.
Dieſe Umſtände, zu denen noch andere hinzukommen, haben
viele
veranlaßt anzunehmen, daß die Kometen aus dem Stoffe
entſtehen
, den man den Urſtoff der Weltkörper nennt, der ſich
57[Figure 57]Fig. 43.
Komet
.
aber unter Umſtänden ver-
dichten
, und dabei flüſſig-
feurig
, und deſſen Oberfläche
ſodann
durch Erkalten hart
werden
und eine kalte Schale
erhalten
kann, gleich der,
welche
die Erde jetzt hat.
Von dieſer Vorausſetzung
ausgehend
, haben daher viele
in
den Veränderungen der
Kometen
die Zeichen eines
Dichterwerdens
, alſo den
Anfang
eines Entſtehens von
feſten
Himmelskörpern, viele
wieder
gerade ein Zeichen
der
Auflöſung von Himmels-
körpern
darin geſehen, ſo daß
die
Kometen zumeiſt die
Gegenſtände
wurden, mit
denen
die Phantaſie ihr viel-
geſtaltiges
Spiel am leich-
teſten
treiben konnte.
Nach den neueren Forſchungen iſt es durchaus wahr-
ſcheinlich
, daß die Kometen aus Haufen kleiner Himmels-
körperchen
zuſammengeſetzt ſind, die ſich in beſtimmten Bahnen
um
die Sonne bewegen und durch die Anziehung der Sonne
und
der Planeten, denen ſie nahe kommen, noch mehr zerſtreut
und
aufgelöſt werden.
Ausführliches über dieſe
29086 werden wir dem Leſer im zwanzigſten Teile unſerer Volks-
bücher
mitteilen, jetzt wollen wir nur drei Erſcheinungen an-
führen
, die wirklich die Möglichkeit teils einer Auflöſung von
58[Figure 58]Fig. 44.
Schweifbildung
eines Kometen.
Himmelskörpern, teils einer Veränderung ihres ganzen Weſens
wahrſcheinlich
machen.
Die eine dieſer Thatſachen iſt, daß ein Komet,
29187 Bahn der frühere Direktor der Berliner Sternwarte, Encke
(1791—1865), berechnet hat und der deshalb auch der Enckeſche
Komet
genannt wird, erweislich mit jedem Umlauf um die
Sonne
dieſer näher rückt, ſo daß ſeine Bahn eine Art Spirale
bildet
, die endlich bis in die Sonne hineinführen muß.
Der
Grund
dieſer Erſcheinung ſei welcher er wolle, ſo ſteht jeden-
falls
ſo viel feſt, daß dieſer Komet langſam ſeinem Untergange
entgegen
geht, indem er dereinſt in die Sonne ſtürzen wird.
Die zweite Thatſache iſt, daß im Jahre 1770 ein großer
59[Figure 59]Fig. 45.
Kerne
(Köpfe) von Kometen.
Komet dem Planeten Jupiter ſo nahe kam, daß die An-
ziehungskraft
Jupiters den Kometen vollſtändig von ſeiner
Bahn
ablenkte und ihm eine ganz andere Bahn gab, die er
bis
dahin nicht hatte.
Nachdem der Komet in ſeiner neuen
Bahn
zweimal um die Sonne gelaufen war, kam er dem
Jupiter
wieder zu nahe und erlitt durch deſſen Anziehungs-
kraft
wieder eine ſolche Ablenkung von der neuen Bahn, daß
er
dieſe wiederum verlaſſen und fortan in einer ganz anderen
Bahn
von ganz anderer Form die Sonne umkreiſen mußte.
Da aber dieſe Bahn eine ſo große Kurve bildet, daß der
29288 tauſende von Jahren braucht, um einmal ganz um die Sonne
herumzulaufen
, ſo iſt er unſerem Blick jetzt vollſtändig ent-
60[Figure 60]Fig. 46.
Der
Komet vom Jahre 1843.
ſchwunden;
die Aſtronomen nennen ihnLexell’s verlorenen
Kometen
.
Die dritte Thatſache iſt höchſt wunderbarer Art und
29389 ſich, man möchte ſagen, faſt unter den Augen der Aſtronomen
begeben
.
Im Jahre 1845 war der 1826 entdeckte Bielaſche
Komet
, der immer in circa ſechs Jahren einmal um die Sonne
läuft
, ſichtbar.
Der amerikaniſche Aſtronom Maury in
Waſhington machte
61[Figure 61]Fig. 47. nun am 29.
Dezember
1845
plötzlich die Ent-
deckung
, daß der Komet
dentlich
zwei Kerne
zeige
, daß dieſe ſich
von
einander trennten
und
alſo ans einem
Kometen
ſich zwei Ko-
meten
zu bilden ſchie-
nen
.
Anderweitige Be-
obachtungen
, die bis
zum
März 1846 fort-
geſetzt
werden konnten,
beſtätigten
nicht nur
die Wahrnehmung,
ſondern
ergaben ganz
unzweifelhaft, daß
wirklich
eine Teilung
eines
Himmelskörpers
dort
ſtattfinde.
Mit
der
größten Spannung
harrten
die Beobachter
auf
das Jahr 1852, wo
dieſes
Naturwunder wieder ſichtbar ſein ſollte.
Allein man
wußte
, daß die Stellung des Kometen für dieſes Mal der
Beobachtung
ſehr ungünſtig ſein würde und mußte es der an-
geſtrengteſten
Sorgfalt überlaſſen, hier noch Beobachtungen
anzuſtellen
.
Nur auf zwei Sternwarten, zu Rom und
29490 Pulkowa, gelang es, des Kometen in der Morgendämmerung
anſichtig
zu werden;
aber dieſe Beobachtungen genügten, um
zu
beweiſen, daß die Teilung in der Zwiſchenzeit weiter vor
ſich
gegangen und wirklich ein Kometenpaar ſtatt eines ein-
zelnen
nunmehr die Rundreiſe um die Sonne macht.
Ja, die Teilung des Kometen machte noch weitere Fort-
ſchritte
, denn nach dem Jahre 1852 gelang es nicht mehr, den
62[Figure 62]Fig. 48.
Sternſchnuppenfall
.
Kometen bei ſeiner noch mehrfach ernenten Wiederkehr auſzu-
finden
, trotzdem man ganz genau wußte, wo und wann man
ihn
jederzeit zu ſuchen hatte.
Dafür aber bereitete er den
Aſtronomen
und nicht minder allen anderen Menſchenkindern
einen
Überraſchung allermerkwürdigſter Art.
Am 27. No-
vember
1872 nämlich fand auf der ganzen Erde ein allge-
meiner
, ſtundenlanger Sternſchnuppenfall von einer Pracht
und
Schönheit ſtatt, wie er zu den größten Seltenheiten gehört.
29591 Dasſelbe Schauſpiel wiederholte ſich am gleichen Tage des
Jahres
1885.
Die anfangs ſehr überraſchten Aſtronomen
hatten
aber bald den Grund dieſes Naturwunders erkannt, und
heut
wiſſen wir ganz genau, daß alle jene Sternſchnuppen
(Fig.
48) und Meteore nur winzig kleine Bruchteile des einſtigen
Bielaſchen
Kometen waren, die auf ihrer Bahn um die Sonne
mit
der Erde in Kolliſion gerieten, ſich durch die Reibung in
unſerer
Atmoſphäre zur Feuerglut erhitzten und nun als prächtige
Meteore
und Sternſchnuppen in der Atmoſphäre verbrannten.
Das ſeit Jahrhunderten gefürchtete Unglück, der Zuſammenſtoß
der
Erde mit einem Kometen, hatte ſich alſo wirklich ereignet
und hatte ſich, wie man nachher merkte, ſchon unzählige
Male
zuvor ereiguet hatte aber nicht den vermuteten Welt-
untergang
, ſondern nur ein wunderbares Naturſchauſpiel zur
Folge
, eins der ſchönſten und erhabenſten, die man erleben
konnte
.
Wir können unſeren Leſern die erfreuliche Mitteilung
machen
, daß wir ſchon in alleruächſter Zeit, am 27.
November
1898
, wieder mit dem Bielaſchen Kometen und am 13.
No-
vember
1899 mit einem noch größeren, dem Enckeſchen Kometen,
zuſammenſtoßen
werden, und wir wollen wünſchen, daß es
uns
vergönnt ſein möge, das herrliche Schauſpiel dieſer Zu-
ſammenſtöße
bei recht klarem Himmel in vollſter Schönheit
bewunderu
zu können.
XX. Das Entſtehen und Vergehen der Fixſterne.
Das Entſtehen und Vergehen von Himmelskörpern hat
man
durch Beiſpiele auch aus der unendlichen Zahl der Fix-
ſterne
ſchon mit noch günſtigerem Erfolge zu beweiſen geſucht.
Freilich ſenden die Fixſterne nur ihr Licht zu uns, ohne
ſonſt
über ihre Natur und ihr Daſein etwas zu verraten.
Es
iſt
ſehr leicht möglich, daß ein Fixſtern nur für unſer
29692 verſchwindet, wenn er aufhört, Licht auszuſtrömen, ohne daß
er
wirklich aufhört zu exiſtieren, ohne daß er ſich auflöſt.
Man
hat
ſogar in neuerer Zeit ſicher nachgewieſen, daß es dunkle
Himmelskörper
giebt, die wir niemals ſehen, und es iſt auch
nicht
zweifelhaft, daß ein Fixſtern aus dem leuchtenden Zu-
ſtande
allmählich in einen nicht leuchtenden übergeht, ohne des-
halb
wirklich ſeinen Untergang dadurch zu finden.
Indeſſen
ſind
Beiſpiele derart immerhin ein Beweis einer außerordent-
lichen
Veränderlichkeit in der Natur einzelner Himmelskörper.
Am Abend des 11. November 1572 wurde Tycho Brahe
(1546—1601) durch einen Volksauflauf in Prag darauf auf-
63[Figure 63]Fig. 49. merkſam gemacht, daß am Himmel ein nie geſehener, ſehr hell-
leuchtender
Stern erſchienen ſei.
In der That war dem ſo.
Das Licht dieſes Sternes, der in dem allbekannten, W-förmigen
Sternbild
der Caſſiopeja (in Fig.
49 rechts) ſtand, übertraf
alle
anderen Sterne und war ſelbſt glänzender als das der
Venus
.
Man konnte ihn, da er heller wurde, endlich am
Tage
und Nachts ſelbſt bei leicht bewölktem Himmel ſehen.

Der
Stern blieb an ſeiner Stelle und war volle zwei Jahre
ſichtbar
, aber ſchon im Jahre 1573 nahm ſein Licht allmählich
ab
, und er verſchwand endlich im Jahre 1574 vollſtändig und
iſt
niemals wieder, ſelbſt nicht durch die ſtärkſten Fernröhre,
geſehen
worden.
29793
Dieſem außerordentlichen, einzig daſtehenden Falle reiht
ſich
eine ſehr große Zahl anderer von minderer Auffälligkeit
an
, wo Sterne nach und nach an Licht zunahmen und dann
wieder
ihren Glanz verloren und teils gar nicht mehr, teils
nur
als unbedeutende, ſchwache Sterne geſehen wurden.
Ein
Stern
dieſer Art muß es auch geweſen ſein, der zur Zeit von
Chriſti
Geburt die Welt in Staunen ſetzte und deſſen Er-
ſcheinen
in die Sage von den drei Weiſen aus dem Morgen-
lande
verwebt iſt.
Solche Thatſachen laſſen freilich auf großartige, vor
unſern
Augen vorgehende, ungeheure Veränderungen im Daſein
der
Himmelskörper ſchließen.
Bei vielen Erſcheinungen dieſer
Art
hat man Grund zu vermuten, daß dieſes Hellwerden und
Verdunkeln
der Sterne von Zeit zu Zeit in ganz beſtimmten
Perioden
wiederkehrt, und Urſachen hat, welche in der Natur
dieſes
Sternes begründet ſind, ohne daß er ſelber in ſeinem
Daſein
irgendwie neugeſchaffen oder vernichtet wird.
Man hat nämlich in neuerer Zeit eine große Reihe von
Fixſternen
gefunden, die zu beſtimmter Zeit heller zu leuchten
anfangen
, ihren höchſten Glanz ſodann erreichen und wieder
nach
beſtimmter oft ſehr kurzer Zeit an Glanz abnehmen,
um
wiederum nach Verlauf einer gewiſſen Periode an Glanz
zuzunehmen
.
Der bekannteſte dieſer Sterne iſt der Stern
Algol
im Schwan.
Die Lichtveränderung dieſer Sterne iſt
alſo
periodiſch und die Erſcheinungen kehren an ihnen zu
genau
beſtimmter Zeit regelmäßig wieder.
Dieſe Erſcheinung
läßt
ſich leicht dadurch erklären, daß der betreffende Stern von
einem
anderen dunkeln Himmelskörper, vielleicht einem großen
Planeten
, umkreiſt wird, der von Zeit zu Zeit vor den anderen
Stern
tritt und ſo einen Teil ſeines Lichtes auffängt.
Bei
anderen
Sternen, die nur einem einmaligen, dafür aber deſto
intenſiveren
Lichtwechſel unterlegen ſind, vor allem auch bei
dem
Braheſchen Stern, hat man aber vollen Grund zu
29894 Annahme, daß ihr Aufflammen bedingt wurde durch den
Zuſammenſtoß
zweier großer Himmelskörper, wodurch eine
ungeheure
Gluthitze entſtehen und alles vielleicht vorhandene
organiſche
Leben auf den Sternen in einer Minute vernichtet
werden
mußte.
So geben uns alſo dieſe neu aufleuchtenden
Sterne
Kunde von Kataſtrophen im Univerſum, welche ſich
ſchon
vor Hunderten von Jahren ereigneten und ungeheurer
waren
, als der menſchliche Geiſt ſie ſich auszudenken vermag.
Wir können uns aber zur Erörterung unſerer Frage, ob
am
Himmel ſich Spuren des Entſtehens und Vergehens von
Himmelskörpern
zeigen, auch noch zu andern Körpern unter
den
Fixſternen wenden.
XXI. Nebelflecke.
Unter den Fixſternen ſieht man Himmelskörper, die ſchon
dem
bloßen Auge nicht wie helleuchtende Sterne, ſondern wie
64[Figure 64]Fig. 50.
Einfachſte
Formen der Nebelflecke. (Letzte Stadien der Verdichtung.)
in einem matten Schimmer glänzend erſcheinen, ſo daß man ſie
eher
helle Flecke als wirkliche Sterne nennen mag (Fig.
50—52).
In der That werden ſieNebelflecke” genannt, und ſie
29995 dem Auge oft einen prachtvollen Anblick, wenn man ſie in
ſtarker
Vergrößerung ſieht.
65[Figure 65]Fig. 51.
Einfachſte
Form der Nebelflecke. (Letzte Stadien der Verdichtung.)
Obwohl nun ein großer Teil dieſer Nebelflecke, z. B. das
berühmte
Sternbild der Plejaden, bei ſtarker
30096 ſich als Sternenhaufen zu erkennen giebt, das heißt als An-
häufung
einer ungeheuer großen Anzahl von Sternen (Fig.
53),
66[Figure 66]Fig. 52. Einfachſte Form der Nebelflecke.
(Vor dem letzten Stadium der Verdichtung.)
die man durch Fern-
röhre
als von ein-
ander
geſondert er-
kennt
, hat man den-
noch
ähnliche Nebel-
flecke
, die ſelbſt.
bei
den
ſtärkſten Ver-
größerungen
nicht
als
Sternenhaufen
erſchienen
ſind, ſon-
dern
ihr nebliges
Anſehen
behielten,
für
wirkliche Nebel-
maſſen
erklärt und
in
dieſen Nebeln den
67[Figure 67]Fig. 53. Sternenhaufen.
30197 Urſtoff werdender Welten erblickt, ſo daß wir im Himmels-
raum
wirklich imſtande wären, die Weltbildung in ihren ver-
ſchiedenſten
Stadien zu belauſchen.
Schon längſt kannte man eine Reihe von Himmels-
erſcheinungen
, bei denen die Annahme weltbildender Nebel
wohl
berechtigt iſt.
Hierzu gehören dieplanetariſchen Nebel”.
Es ſind dies Flecke, die in ſchwachem Schimmer leuchten und
68[Figure 68]Fig. 54.
Spiraliſcher
Nebel im Sternbild derJagdhunde”.
in den verſchiedenartigſten Formen vorkommen, indem ein Teil
von
ihnen rund, ein Teil länglich, ſtreifenartig, und ein Teil
vollkommen
unregelmäßig erſcheint (Fig.
50—52). In dieſen
Gebilden
zeigten ſich Verſchiedenheiten, die am einfachſten
als
Verdichtungen der Nebelmaſſe aufgefaßt werden können.
Die runden Nebel laſſen nämlich deutlich eine hellere Mitte
(K in Fig.
56, wo ſich zwei Kerne bilden) und einen dunk-
leren
, verſchwommenen Rand erkennen, dort iſt alſo die
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
30298
Maſſe enger an einander getreten, hier noch loſer mit ein-
ander
verbunden.
Sie werden am ungezwungenſten als die
69[Figure 69]Fig. 55.
Nebelflecke
, aus denen ſich zwei Himmelskörper bilden.
(Siehe auch im Nebel in denJagdhunden” Fig. 54 den Körper links.)
erſten Epochen der Bildung eines Himmelskörpers aufgefaßt,
für
deren weitere Entwickelung die Erſcheinungen der Fixſterne
70[Figure 70]Fig. 56.a k c m β K d f b g die ſicherſten Beweiſe liefern.
Wir finden ſomit in den
unendlichen
Himmelsräumen
und
ſeinen Millionen von
Welten
Beiſpiele für die Ent-
wickelung
von Himmelskörpern,
wie
wir ſie in der Geſchichte
der
Entſtehung der Erde, aus
der
Betrachtung der Erde
ſelbſt
und ihres Baues für
dieſe
angenommen haben.
30399
Und hiermit wollen wir vorerſt unſer Thema beſchließen
und
zu einem andern Gegenſtand der Naturwiſſenſchaft über-
gehen
, in der Hoffnung, daß ſpätere Zeiten zuverläſſigere
Reſultate
über das Weſen und das Leben der Erde geben
werden
, als es bis jetzt der Fall iſt, wo ſich dieſer Zweig der
Wiſſenſchaft
erſt noch im Beginn ſeiner Entſtehung befindet.
304
Von der Umdrehung der Grde.
I. Die Uhr.
Unzählige Leute haben eine Uhr in der Taſche oder an
der
Wand oder über dem Sopha oder auf dem Nipptiſch
oder
gar an allen Orten zugleich, und wiſſen trotz alledem
nicht
, was ſie da eigentlich beſitzen.
Wie wenige ahnen was davon, daß ſie an der Uhr nichts
anderes
als einen halben Himmelglobus haben! Da zieht
jemand
die Uhr aus der Taſche und ruft aus:
Ei, es iſt
ſchon
Mittag! Was hat er denn im Grunde genommen
damit
geſagt?
Etwa daß er Appetit hat zum Mittagbrot?
Da hätte er beſſer ſeinen Magen ſtatt ſeine Uhr danach fragen
können
.
Er hat in Wahrheit nichts damit geſagt, als was er
vielleicht
gar nicht entfernt im Sinne hatte, oder was er gar
nicht
einmal verſteht, wenn man es ihm ſagt.
Er hat nichts
damit
geſagt, als:
Ei, die Sonne hat für heute den höchſten
Punkt
am Himmel ſchon überſchritten!
Bequemer kann man es wirklich dem Menſchen nicht mehr
machen
.
Er hat im eigentlichſten Sinne des Wortes ein Stück
Himmel
und Sonne und Erde in der Weſtentaſche, und er
braucht
nur einen Blick auf das Ding zu werfen, das man
Uhr
nennt, um ſich über andere hohe und wichtige Dinge zu
unterrichten
.
Ja, Vielen iſt dies noch nicht einmal bequem
genug
.
Sie halten ſich Repetir-Uhren, und wenn ſo eine Uhr
beſcheiden
ſich ſelber Schläge verſetzt, ſo ſagt ſie damit
305101 nichts als: Entſchuldigen Sie, mein Herr, ich ſchlage mich nur,
um
Ihnen unterthänigſt anzuzeigen, wo ſich draußen am Himmel
die
Sonne in dieſem Augenblick befindet.
Allein das geht einmal ſo. Wenn wir die Dinge recht
bequem
haben, denken wir gar nicht mehr daran, was wir an
ihnen
haben!
Als die alten Griechen ſich nicht anders Feuer zu ver-
ſchaffen
wußten wie durch unendliche Mühen und es ſich er-
halten
mußten durch fortglimmende Kohlen, zündeten ſie heilige,
ewige
Feuer in ihren Göttertempeln an und bildeten ſich eine
Fabel
davon, daß ein menſchenfreundlicher Gott das Feuer
einmal
vom Himmel geſtohlen habe, um es den unglücklichen
Menſchen
zu bringen, worüber die anderen Götter ſo erboſt
wurden
, daß ſie dieſen Volksfreund lebendig an einen Felſen
annagelten
.
Jetzt dagegen, wo wir uns von jedem vor-
übergehenden
Fremden Feuer ausbitten können, benutzen wir
gedankenlos
zahlloſe Zündhölzchen und ſind imſtande die
Bettelkinder
, die zu ſtark an unſerer Klingel ziehen, um uns
Feuerzeug
zum Verkauf anzubieten, wie eine Art Enkelkinder
jenes
volksfreundlichen Märtyrers, wenn auch nicht an Felſen
anzuſchmieden
, ſo doch mindeſtens die Treppe hinunter zu
komplimentieren
.
Aber wir wollten ja von Uhren ſprechen und es iſt wahr,
es
verdient die Uhr mindeſtens gekannt zu werden.
Denn ſie
macht
ihre Sache noch beſſer als der Himmel.
Dieſer zeigt
uns
höchſtens am Tage und nur, wenn er nicht in übler Laune
ſich
umwölkt hat, wo ſich die Sonne befindet.
Die Uhr aber
kümmert
ſich, wenn ſie gut iſt, ſo wenig um das Wetter, als
um
das Licht, und wenn wir in heiterer Abendgeſellſchaft aus-
rufen
:
Mein Gott, es iſt ſchon zwölf Uhr, ſo ſagen wir
damit
nichts als:
Meine Uhr teilt mir eben mit: die Sonne
befindet
ſich gegenwärtig am tiefſten Punkt unter unſerem
Horizont
und es wird nun noch ſo lange dauern, ehe
306102 wieder über unſeren Horizont kommt, als von Sonnenuntergang
bis
jetzt Zeit verfloſſen iſt.
Die Uhr iſt alſo in Wirklichkeit ein aſtronomiſches In-
ſtrument
, und wenn wir im bürgerlichen Leben nicht gut ohne
Uhr
mehr fertig werden können, ſo iſt es eigentlich wahr, daß
wir
ohne Aſtronomie nicht fertig würden.
Darum ſollten wir etwas mehr Reſpekt vor den Uhren
haben
und noch mehr vor der Aſtronomie, denn ſie iſt wahr
und
wahrhaftig der Stolz der menſchlichen Wiſſenſchaft, und
ohne
ſie tappten wir in geiſtiger und ſinnlicher Finſternis
herum
.
Die Uhr iſt ein Zeit-Meſſer. Da man jedoch Zeit nicht
meſſen
kann nach der Elle, ſo mißt man ſie an gleichmäßigen
Bewegungen
.
Daher iſt eine Uhr nur gut, wenn ſie ſich be-
wegt
, das heißt, wenn ſie geht.
Da man es aber einer Uhr
nicht
immer anſehen kann, ob ſie geht, ſo hat ſie noch eine
ganz
beſondere tröſtliche Sprache erlernt.
Sie ſagt, ſo oft
wir’s
hören wollen, ihr Tick-tack her, das heißt in der Uhr-
Sprache
ſo viel als:
Sei unbeſorgt, ich bin im beſten Gange.
Und
wirklich, wer auf ihr Tick-tack gut eingeübt iſt, der hört’s
an
dieſer Sprache ſo gut ab, wie ſich die Uhr befindet, wie
man
es einem Menſchen an der Sprache abhört, ob er ſich
wohl
fühlt.
Das Tick-tack iſt eine Art Puls der Uhr.
Die Uhr iſt in Wahrheit ein Abbild des Sonnenlaufes
oder
richtiger der Umdrehung der Erde um ihre Axe.
Es
findet
nur der eine Unterſchied ſtatt, daß die bürgerlichen
Uhren
gewöhnlich ſo eingerichtet ſind, daß ſie zweimal ihren
Umlauf
vollenden, während die Erde einen Umlauf macht.
Man hat nämlich ſchon vor ſehr alten Zeiten den vollen
Tag
, das heißt z.
B. die Zeit von einem Mittag zum andern
in
vier und zwanzig Teile eingeteilt, die man Stunden nennt.
Man ſagt daher mit Recht: die Erde dreht ſich in 24 Stunden
einmal
um die Axe;
die bürgerlichen Uhren haben aber
307103 Zifferblatt, worauf nur 12 Stunden verzeichnet ſind, und ſie
ſind
innerlich ſo eingerichtet, daß der Stundenzeiger zweimal
in
24 Stunden ſeinen Umlauf vollendet.
Die Erde macht ihre Umdrehung in jedem Tage voll-
kommen
gleichmäßig, und es iſt eine Thatſache, die durch die
Wiſſenſchaft
begründet iſt, daß ſie ſich ſeit Jahrtauſenden nicht
merklich
ſchneller oder langſamer um ihre Axe gedreht hat.
Wenn daher jeder Punkt auf der Erde einen Kreis in
24
Stunden beſchreibt, ſo geſchieht es ſo, daß in jeder Se-
kunde
ein gleich großes Stück dieſes Kreiſes durchlaufen wird.

Das
heißt, die Erde geht gleichmäßig.
Eine Uhr muß daher auch, wenn ſie gut ſein ſoll, gleich-
mäßig
gehen, das heißt, ſie darf nicht eine Stunde ſchneller
gehen
als die andere.
Wie aber wird ſolch ein Werk in Gang gebracht und ſo
zur
Gleichmäßigkeit geregelt?
Wenn wir das wiſſen wollen, müſſen wir in das Innere
einer
Uhr hineinblicken.
Wir wollen uns deshalb zuerſt eine
Wanduhr
, die durch ein Gewicht in Gang gehalten, und dann
eine
Taſchenuhr, die durch eine Federkraft getrieben wird, an-
ſehen
.
Wie man durch ein Gewicht ein Räderwerk in Gang
bringen
kann, iſt ſehr leicht einzuſehen.
Man legt eine
Schnur
um die Axe eines aufgehängten Rades und hängt
an
das eine Ende der Schnur ein ſchweres Gewicht.
Die
Erde
, die das Gewicht anzieht, zieht die Schnur, und wenn
die
Axe nicht ſo glatt iſt, daß die Schnur abrutſcht, ſo wird
ein
Zug nach einer Seite der Axe ausgeübt, wodurch das
Rad
in Drehung verſetzt wird.
Iſt nun das Rad mit anderen
Rädern
ſo in Verbindung geſetzt, daß es ein ganzes Uhrwerk
treibt
, ſo iſt leicht einzuſehen, daß man auch Zeiger in Be-
wegung
ſetzen kann, die man an den verlängerten Axen der
Räder
anbringt.
308104
Allein hierdurch wird man nur auf kurze Zeit eine Dre-
hung
der Räder und einen Umlauf der Zeiger bewirken können;
zu einem regelmäßigen, andauernden Gang iſt noch viel
anderes
nötig.
Es iſt ſchon an ſich ſinnreich, wenn der Menſch die Kraft
der
Erde, die Anziehungskraft, benutzt, um eine Bewegung
hervorzubringen
;
doch dies allein wird nicht viel helfen. Eine
Uhr
, nur durch ein Gewicht in Bewegung geſetzt, wird kaum
zehn
Minuten in Gang bleiben.
Das Gewicht wird auch das
Räderwerk
in immer ſchnelleren Gang hineinbringen, und es
wird
ſelbſt für eine ſo kurze Zeit ein ſchlechter Zeitmeſſer ſein,
da
der Gang nicht gleichmäßig iſt.
Es hat daher noch eine zweite Verwendung der Erdkraft
benutzt
werden müſſen, um die Wirkung der erſten Kraft zu
hemmen
und außerdem zu regeln;
und um dies zu thun, iſt
ein
Inſtrument erfunden worden, das eben ſo ſinnreich und
wichtig
, wie auch einfach iſt.
Dies Inſtrument iſt das Pendel.
II. Das Pendel.
Ein Pendel iſt ein ungemein einfaches Inſtrument; aber
ſo
einfach es iſt, ſo ſinnreich wird es benutzt und ſo wichtige
Dienſte
hat es bereits der Menſchheit geleiſtet.
Ein Pendel
kann
man ſich am leichteſten anfertigen, wenn man einen Faden
an
einem Ende aufhängt und am anderen Ende mit einem be-
liebigen
Gewicht belaſtet (Fig.
57). Schon ſolch’ ein Inſtrument,
das
nur wie zum Kinderſpiel eingerichtet erſcheint, iſt imſtande,
den
ſinnenden Menſchen die wichtigſten Dinge zu zeigen und
zu
lehren.
Wenn nämlich Faden und Gewicht ruhig hängen,
ohne
ſich hin und her zu bewegen, ſo wird durch die An-
ziehungskraft
der Erde der Faden eine Linie bilden, die genau
nach
dem Mittelpunkt der Erde gerichtet iſt.
Durch nichts
309105 der Welt würden wir die Lage dieſes Mittelpunktes oder rich-
tiger
des Schwerpunktes der Erde mit gleicher Sicherheit er-
mitteln
können, als mit ſolchem Faden und Gewicht.
Bringen
wir
es aber auch nur ein wenig aus ſeiner Ruhe, das heißt,
lenkt
man das Gewicht mit dem Faden nach rechts oder links
hin
ab, z.
B. an unſerer Figur nach 1, und überläßt es dann
ſich
ſelbſt, ſo gerät es bekanntlich in Schwingungen.
Es läuft
zuerſt
, von der Erde angezogen, zurück nach ſeiner Ruhelage@
nach
2;
allein hier angelangt, kann
71[Figure 71]Fig. 57.
Das
Pendel.
1 3 2
es nicht inne halten und läuft auf der
entgegengeſetzten
Seite weiter (Geſetz
der
Trägheit).
Auf dieſem Wege
nach
3, wo es ſich von der Erde ent-
fernt
, wird es in jedem Augenblick in
ſeinem
Lauf geſtört durch die An-
ziehung
der Erde, bis, endlich in 3
angelangt
, es im Lauf inne hält.
In
dieſer
Lage aber kann es auch nicht
ruhen
, denn es wird von der An-
ziehungskraft
der Erde wieder nach 2
hingezogen
;
allein es gelangt wiederum
in
2 mit einer Geſchwindigkeit an, die
ihm
nicht geſtattet inne zu halten, und es läuft wieder hin nach 1.
Das heißt, es ſchwingt hin und her, und es würde nie, nicht
in
Tauſenden von Jahren aufhören, ganz ſo hin und her zu
ſchwingen
, wenn es nicht durch die Reibung an der Luft, durch
welche
es ſich bewegt, wie durch die Reibung des Fadens oben
am
Aufhängepunkt fortwährend in ſeiner Bewegungskraft ge-
ſchwächt
würde.
Nur dieſes, nur die Reibung bewirkt nach
und
nach eine immer ſchwächere Bewegung des Pendels, bis
es
endlich ganz zur Ruhe kommt und wieder in 2 ſtille ſteht.
Wir können hier unmöglich die Wichtigkeit dieſes ſo ein-
fachen
Inſtrumentes ausführlich erörtern;
wir wollen
310106 nur einige weſentliche Punkte aufzählen, über welche das Pendel
die
Menſchheit belehrt hat.
Das Pendel belehrte die Menſchheit über die Natur der
Beharrlichkeit
der Bewegung, ferner über die Natur des Falles,
ſodann
über die Natur der Anziehungskraft der Erde, endlich
über
die Abplattung der Erde an ihren Polen und außerdem
über
noch unendlich viele Naturgeſetze.
Ja, erſt im Jahre
1850
hat eine ſinnreiche Anwendung der Pendelſchwingungen
den
Pariſer Gelehrten Foucault auf den glücklichen Ge-
danken
gebracht, die Umdrehung der Erde um ihre Axe durch
einen
wirklichen Verſuch zu beweiſen.
So hat denn, nachdem
bereits
vor vier Jahrhunderten Kopernicus lehrte, daß ſich die
Erde
um ihre Achſe drehe, und nachdem unzählige Gelehrte
hierfür
augenſcheinliche Beweiſe ſuchten, gerade das ſo einfache
Pendel
dieſe Aufgabe vollſtändig erfüllt.
Das Pendel aber iſt es auch, welches der Uhr ihre
Sicherheit
als Zeitmeſſer giebt.
Was man auch bisher an
Feinheit
und Fertigkeit in der Herſtellung der Taſchen-Uhren
für
Fortſchritte gemacht hat, man hat nie und wird nie eine
beſſere
Uhr als die Pendeluhr hervorbringen, weshalb denn
auch
die Hauptuhren auf allen Sternwarten einzig und allein
Pendeluhren
ſind.
Wir haben oben geſehen, daß es ein leichtes iſt, ein Trieb-
werk
durch ein Gewicht in Bewegung zu ſetzen, allein dieſe
Bewegung
dauernd zu machen und zu regulieren, und ſie als
Zeitmeſſer
, als Uhr zu gebrauchen, dazu iſt das Pendel ver-
wendet
worden.
Um zu zeigen, wie dieſes wirkt, bitten wir den Leſer den
Blick
auf folgende Figur 58 zu richten.
Wir ſehen hier ein Rad, das in ſeiner Achſe drehbar,
und
an welchem ein Faden mit einem Gewicht b derart be-
feſtigt
iſt, daß es das Rad in eine Umdrehung verſetzen würde.
Allein wenn wir uns ſolch ein Rad in der Stube
311107 würden, ſo würde es ſofort abgelaufen ſein, ſobald das Gewicht
den
Fußboden der Stube erreicht, und das würde ſehr ſchnell
geſchehen
, ſo daß das Rad keine zwei Minuten im Gange bliebe.
In Verbindung aber mit dem Pendel c ſtellt ſich die Sache
ganz
anders heraus.
Das Pendel iſt nicht aus einem biegſamen Faden, ſondern
aus
einer Stange von Stahl gebildet, an
72[Figure 72]Fig. 58.
Schema
einer Pendeluhr.
d f e a c b
deſſen unterem Ende ein Gewicht ange-
bracht
iſt.
Oben aber über dem Rad in d,
wo
das Pendel ſeinen Drehpunkt hat, iſt
eine
Art Sattel e f angebracht, der auf
dem
Rade gewiſſermaßen reitet.
Dieſer Sattel und das Rad ſind zu
ihrem
Zweck ganz beſonders eingerichtet.
Das Rad hat nicht wie die andern
Uhrräder
einen Kranz gerader Zähne,
ſondern
ſeine Zähne ſind, wie man in der
Zeichnung
ſieht, ſchief geſtellt.
In dieſe
ſchief
gelegenen Zähne des Rades paſſen
nun
die Ecken des Sattels ſo hinein, ſo daß
das
Rad ſich nicht drehen kann, wenn das
Pendel
ruhig herabhängt, ſobald es aber
nach
der einen Seite ſchwingt, ſo hebt ſich
immer
auch zugleich die Sattelſpitze auf
dieſer
Seite;
wenn nun das Pendel den
höchſten
Punkt ſeiner Schwingung erreicht hat und nach der
andern
Seite zu ſchwingen beginnt, beginnt ſich auch die
andere
Sattelſpitze zu heben, dadurch vermag das Rad dem
Zuge
des Gewichtes ein wenig zu folgen, und es dreht ſich
ein
klein wenig, ſo daß, wenn die erſte Sattelſpitze wieder in
das
Rad eingreift, es nicht mehr zwiſchen dieſelben zwei Zähne
des
Rades eingreifen kann, wo es früher eingriff, ſondern in
den
nächſten Zwiſchenraum.
Hierdurch iſt das Gewicht
312108 ſtande bei jeder vollen Schwingung des Pendels das Rad um
einen
Zahn weiter zu drehen;
aber auch nicht mehr als um
einen
Zahn.
Es iſt gewiſſermaßen ſo, als ob das Pendel oben am Sattel
zwei
Finger hätte, welche abwechſelnd das Rad berühren und
aufhalten
, aber ihm zwiſchen einer und der andern Berührung
Zeit
laſſen, ſich um ein Zahnrad weiter zu bewegen.
Wenn
man
ſich die vorhergehende Zeichnung etwas lebhaft vorſtellt
und
ſich dabei das Pendel in Bewegung denkt, ſo wird man
leicht
einſehen, wie das Pendel den Lauf des Rades zeitweiſe
hemmt
und wieder auf einen Moment frei läßt.
Man wird
aber
auch zugleich ſehen, daß das Rad in ſeinem Beſtreben
ſich
zu drehen jedesmal, wenn das Pendel nach links ſo ſteht,
wie
es in der Zeichnung zu ſehen iſt, die Sattelſpitze rechts
nach
oben drückt und ihr alſo einen kleinen Schwung giebt,
der
auf das Pendel wirkt und ſeine Schwingungen fördert.
Die Dienſte, die ſich Rad und Pendel leiſten, ſind daher
gegenſeitig
.
Das Pendel hemmt den zu ſchnellen Lauf des
Rades
und zwingt es, ſich in der Zeit einer Schwingung nur
immer
um einen Zahn weiter zu bewegen:
das Rad dagegen
verſetzt
dem Pendel immer einen kleinen Stoß und macht, daß
die
Reibung nicht die Schwingungen des Pendels aufhebe.
Das Rad unterhält alſo die fortwährende Pendelſchwingung.
Wir ſehen alſo, wie ein Pendel den Gang der Uhr ver-
langſamen
kann.
Wenn eine Uhr nur hoch aufgehängt wird,
ſo
kann man Schnur, Gewicht und Räder ſo einrichten, daß
man
ſie beliebig nur alle Tage, alle acht oder alle vierzehn
Tage
aufzuziehen braucht.
Was nun aber die Regelmäßigkeit
des
Ganges betrifft, ſo iſt nichts in der Welt geeigneter dieſe
herzuſtellen
, als das Pendel.
Ein Pendel iſt nämlich darum ein ſo merkwürdiges In-
ſtrument
, weil die Dauer ſeiner einmaligen Schwingung nicht
von
dem Stoß abhängt, den man ihm verſetzt, ſondern
313109 der Länge des Fadens oder der Stange, von der es gebildet
wird
.
Man kann einem Pendel einen ſtarken Stoß verſetzen,
ſo
wird es einen großen Bogen in ſeiner Schwingung machen;
man kann ihm einen ſehr ſchwachen Stoß verſetzen, und es
wird
dann nur in einem kleinen Bogen ſchwingen;
aber ſieht
man
genau, wie viel Zeit es braucht, um eine Schwingung zu
vollenden
, ſo wird man finden, daß es zum großen wie zum
kleinen
Bogen ganz gleiche Zeit braucht.
Ein Pendel von
etwas
über drei Fuß Länge ſchwingt in einer Stunde 3600 mal
hin
und zurück, der Bogen mag groß oder klein ſein.
Das
heißt
, ein Pendel braucht zur Vollendung einer Schwingung
genau
ebenſoviel Zeit wie zur andern.
Da nun das Rad ſich bei jeder Schwingung nur um
einen
Zahn weiter drehen kann, die Schwingung ſelbſt genau in
einer
beſtimmten Zeit erfolgt, ſo wird hiernach die Drehung
des
Rades ſehr regelmäßig und dadurch wird der Gang der
Uhr
ein gleichmäßiger, und es gelingt bei guter Einrichtung
ihn
ſo genau zu machen, daß es der beſte Zeitmeſſer wird.
Freilich hört die Regelmäßigkeit des Ganges auf, ſobald
die
Länge des Pendels ſich ändert.
Rechnung und Erfahrung
ſtimmen
genau darin überein, daß, je kleiner ein Pendel iſt,
deſto
ſchneller vollendet es ſeine Schwingung, je größer, deſto
langſamer
macht es dieſelbe.
Da nun die Wärme die Eigen-
ſchaft
hat, alle Gegenſtände auszudehnen, und die Kälte die
Eigenſchaft
beſitzt, ſie zuſammenzuziehen, ſo dehnen ſich die
Pendel
im Sommer aus, und die Uhren gehen daher langſamer,
im
Winter ziehen ſich die Pendel zuſammen, werden kürzer
und
gehen deshalb zu geſchwind.
Man hat daher eine ſinn-
reiche
Vorrichtung getroffen, die dieſem Übelſtand abhilft.
Bei unſeren gewöhnlichen Wanduhren jedoch muß man in der
That
das Gewicht am Pendel im Sommer ein wenig in die
Höhe
und im Winter etwas nach unten ſchrauben, wodurch
man
den Gang beliebig beſchleunigt oder verzögert.
314110
Wie ſichs von ſelbſt verſteht, kann es uns hier nur darum
zu
thun ſein, das Prinzip, worauf die Uhren beruhen, ver-
ſtändlich
zu machen und dies iſt hier geſchehen.
Die innere
Einrichtung
der Uhren, wie nämlich ein Rad ins andere ein-
greift
bis zu den Rädern, die Stunden-, Minuten- und auch
Sekunden-Zeiger
treiben, läßt ſich im einzelnen nur in einer
ausführlichen
Beſchreibung deutlich machen, zu der uns hier
der
Raum mangelt.
Für jetzt mag es uns genügen, die be-
wegende
und die regelnde Kraft, alſo die Hauptſachen näher
dargeſtellt
zu haben, die wir für die Wanduhren im Gewicht,
als
der bewegenden, und im Pendel als die regelnde Kraft
erkennen
.
III. Die Taſchenuhren.
Bei den Taſchenuhren läßt ſich weder Gewicht noch Pendel
anbringen
, man hat daher eine andere bewegende und eine
andere
regelnde Kraft benutzen müſſen, um gleichmäßigen Gang
hervorzubringen
.
Zu beiden hat man die Federkraft verwendet.
In einem hohlen, runden Kaſten, den man die Trommel
nennt
, weil er wie eine flache, breite Trommel ausſieht, be-
findet
ſich in der inneren Höhlung ein langer, ſehr dünner
Streifen
vom feinſten, elaſtiſchen Stahl.
Dieſer Stahlſtreifen
iſt
an einem Ende an einem ſtählernen Stabe befeſtigt, der
aufrecht
in der Trommel ſteht, während der übrige Teil des
Stahlſtreifens
rings um den Stab in die Höhlung der Trommel
hineingezwängt
iſt, wo er eine Spirale bildet.
Es läßt ſich leicht einſehen, daß dieſe Spirale, ſobald ſie
kann
, ſich möglichſt weit ausdehnt, da es die Eigenſchaft
elaſtiſcher
Körper iſt, zwar dem Druck, der auf ſie ausgeübt
wird
, nachzugeben, aber ſofort wieder die frühere Lage und
Geſtalt
anzunehmen.
315111
Wird nun der Stahlſtab, oder richtiger die Feder, die
ohnehin
ſchon gewaltſam in die Trommel eingeſperrt iſt, noch
ſtärker
dadurch gebogen, daß man ſie eng um den Zapfen
umlegt
;
ſo wird ſie ſich mit großer Kraft auszudehnen ſtreben;
und dieſe Kraft wird bei der Taſchenuhr auf folgende Weiſe
benutzt
.
Mau ſetzt einen Schlüſſel, den gewöhnlichen Uhrſchlüſſel,
auf
den Zapfen und dreht den Zapfen.
Dadurch zwingt man
die
Feder, ſich um den Zapfen eng aufzuwickeln.
Es verſteht
ſich
von ſelbſt, daß ſofort, wenn man den Schlüſſel fortnimmt,
die
Feder den Zapfen entweder wieder zurückdrehen würde,
oder
ſie würde die ganze Trommel, an welcher ihr zweites
Ende
befeſtigt iſt, ſo lange drehen, bis die Feder wieder an
den
Wänden der Trommel anliegt und ihre enge Lage um den
Zapfen
herum aufgehört hat.
Nun iſt der Zapfen ſo befeſtigt,
daß
er zwar durch den Uhrſchlüſſel rechts gedreht, aber niemals
zurückgedreht
werden kann.
Die Feder wird alſo, wenn man
ſie
durch den Uhrſchlüſſel um den Zapfen eng herumgelegt hat,
was
man das Aufziehen nennt, nur die Trommel umdrehen
können
.
Dieſe Trommel aber iſt von außen entweder mit
einer
Kette umwunden, wie bei den alten Uhren, oder ſie hat
einen
gezahnten Rand unten.
Die Trommel, die ſich nun
drehen
muß, wird alſo entweder durch die Kette oder durch
ihren
Rand andere Räder in Bewegung verſetzen können,
welche
ſo eingerichtet werden, daß ſie beliebige Zeiger treiben.
Allein es iſt leicht begreiflich, daß ſolch ein Werk ſehr
ſchnell
ablaufen wird, denn die Kraft der geſpannten und ein-
gezwängten
Feder wird alle Räder mit großer Schnelligkeit
bewegen
, und es wird nur das eintreten, was wohl jeder ſchon
öfter
erlebt hat, die Uhr wird nicht gehen, ſondern, wie man
ſich
auszudrücken pflegt:
ſie wird abſchnurren.
Es mußte daher auch hier ganz wie bei der Gewichtsuhr
eine
Hemmungsvorrichtung erfunden werden, welche die
316112 des Pendels vertritt, und zu dieſem Zweck dient dieSpindel”
oder
dieUnruh”.
Die Spindel oder die Uuruh liegt in den gewöhnlichen
Taſchenuhren
ziemlich offen und wird wohl von jedem ge-
kannt
ſein als das Rad, das ſich nicht nach einer Richtung
dreht
, ſondern hin und her ſchwingt und das Tick-Tack der
Uhr
veranlaßt.
Einrichtung und Zweck desſelben ſind folgende.
Das Rad dreht ſich um eine Achſe, die hinunter in das
Werk
der Uhr geht.
Hier beſindet ſich mit dem Werk in
Verbindung
ein kleines Rad, das ſchieſe Zähne hat.
Dieſe
Zähne
geben nun der Achſe ganz eigentümliche Stöße.
Die
Achſe
hat nämlich zwei hervorragende Zapfen, die jedoch nicht
nach
einer Richtung hinzeigen, ſondern von denen der oberſte
nach
einer andern Gegend hinzeigt als der unterſte.
Das
kleine
Rad, das man das Steigrad nennt, wird nun von der
Uhr
getrieben und trifft bald mit dem oberen Zahn auf den
oberen
Zapfen, wodurch das Spindelrad zu einer Drehung
bewegt
wird.
Alsbald aber kommt durch dieſe Drehung der
untere
Zapfen mit einem unteren Zahn des Steigrades in
Berührung
;
dadurch erhält der Zapfen einen Stoß, durch
welchen
das Spindelrad gerade nach der entgegengeſetzten
Seite
gedreht wird, als vorher.
So ſtößt denn das Steigrad
mit
jedem oberen Zahn das Spindelrad hin und mit jedem
unteren
Zahn das Rad her.
Durch dieſe Stöße wird das
Steigrad
ſelber in ſeinem Lauf fortwährend gehemmt und
kann
nicht früher um einen Zahn weiter kommen, bevor nicht
das
Spindelrad hin und her geſprungen iſt.
Dadurch iſt die
ganze
Uhr gezwungen, außerordentlich langſam zu gehen, ſo
daß
ſie gewöhnlich auf faſt 36 Stunden in Gang erhalten
werden
kann.
Allein dieſe Hemmung würde immer noch nicht ausreichen,
den
Gang der Uhr regelmäßig zu machen, wenn nicht das
Hin-
und Herſchwingen des Spindelrades reguliert würde,
317113 daß es immer gleichviel Zeit braucht für die jedesmalige
Schwingung
.
Und dieſes Regulieren wird durch eine feine
Spirale
bewerkſtelligt, welche man wie ein gekrümmtes, feines
Haar
in der Unruh jeder Uhr ſieht, wie es ſich bald etwas
auf-
bald etwas zurückwickelt während des Hin- und Her-
ſchwingens
der Spindel.
Dieſe Spirale iſt von einem feinen
Streifchen
Stahl gebildet, welches ſehr elaſtiſch iſt, und das,
je
nachdem es länger oder kürzer iſt, die Schwingung verzögert
oder
beſchleunigt.
Indem nun neben der Unruh eine Stell-
ſcheibe
angebracht iſt, durch welche man beliebig dieſe Spirale
verkürzen
oder verlängern kann, kann man durch dieſe Stell-
ſcheibe
den Gang der Uhr beſchleunigen oder verzögern, alſo
den
Gang der Uhr regulieren, ganz ſo wie man es mit dem
Verlängern
oder Verkürzen des Pendels vermag.
Dies iſt nun das Prinzip der Uhren, und es beſteht, um
es
in Kürze zu ſagen, darin, daß auf der einen Seite eine
treibende
Kraft, auf der andern eine von Zeit zu Zeit hem-
mende
und regulierende Kraft da iſt, die der erſten Kraft
entgegen
wirkt, und beide zuſammen bringen eine gleichmäßige
Bewegung
hervor, durch welche der Menſch das unfaßbare
Ding
Zeit meſſen kann, wie man ein Stück Zeug mit der
Elle
mißt.
Wir haben es ſchon oben geſagt, wer eine gute Uhr in
der
Taſche hat, der hat eigentlich ein Stück Himmel und
Sonne
in der Taſche.
Hätten wir nämlich nicht die Uhren,
ſo
würden wir genötigt ſein, unſere Zeit nach dem Stand
der
Sonne am Himmel zu meſſen, eine Schwierigkeit, die
namentlich
in unſern Gegenden wegen der vielen trüben Tage
ſehr
groß iſt;
abgeſehen davon, daß es einer ſehr genauen
Meſſung
bedarf, um aus dem Stand der Sonne mit Sicherheit
auf
die Minute genau die Zeit zu treffen.
Haben wir dem Leſer gezeigt, welch ein Aufwand von
geiſtiger
Kraft nötig war, um eine Uhr zu konſtruieren, welche
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
318114
uns jeder Zeit angiebt, wieweit ſich unſere Erde in ihrer
Umdrehung
vom Mittagspunkt entfernt hat, ſo wollen wir ihn
nun
auch einweihen in die tiefere Geiſtesarbeit, durch welche
die
Wiſſenſchaft dieſe Umdrehung ſelbſt geprüft, und die den
Namen
des franzöſiſchen Aſtronomen Delaunay (1816—1872)
mit
unſterblichem Ruhme bedeckt hat.
IV. Rotiert die Erde gleichmäßig?
Um dem verwickelt ſcheinenden Thema der Aſtronomie,
das
wir hiermit zu behandeln haben, die leichteſte Seite ab-
zugewinnen
, wollen wir mit einem Beiſpiel aus dem ge-
wöhnlichen
Leben beginnen.
Ein Reiter, der häufig über eine wegloſe Steppe von einer
Stadt
zur andern dahineilt, wird nach und nach zur richtigen
Abſchätzung
des zurückgelegten Weges gelangen, auch wenn er
keine
Gelegenheit hat, die Länge der durcheilten Strecke mit
Hilfe
eines Meß-Inſtrumentes genau feſtzuſtellen.
Es läßt
ſich
leicht einſehen, daß es zwei Dinge ſind, welche ſein Urteil
leiten
;
erſtens die Schnelligkeit ſeines Pferdes und zweitens
ſeine
Uhr.
Vorausgeſetzt, daß er den Lauf ſeines Tieres
genau
zu regeln weiß und ſeine Uhr richtig geht, wird ſein
Urteil
über die Länge des Weges auch nahezu ein richtiges
und
ſicheres ſein.
In ſolchem Falle wird er ſeine Abſchätzung
darauf
gründen, daß er jedesmal nach zurückgelegter Strecke
den
Lauf des Pferdes mit dem Laufe des Zeigers ſeiner Uhr
vergleicht
.
Er urteilt hiernach über den Raum durch eine genaue
Kontrolle
der zurückgelegten Zeit.
Anders wird es ſich verhalten, wenn entweder ſein Pferd
nicht
regelmäßig rennt oder ſeine Uhr nicht richtig geht.
Sein
Urteil
wird in jedem der beiden Fälle ſehr unſicher werden,
und
noch unſicherer, wenn Beides zugleich der Fall iſt,
319115 er ein unbekanntes Pferd reitet und eine fremde Uhr in der
Taſche
hat.
Der Zweifel über die Schnelligkeit ſeines Pferdes
und
den Gang der Uhr wird ihm einen Schluß über den zurück-
gelegten
Raum gar nicht mehr geſtatten.
Die Aſtronomie, welche ſich mit der genauen Kenntnis der
Bewegungen
der Himmelsgeſtirne befaßt, befindet ſich bei
gründlicher
Löſung ihrer Aufgabe in einer gleichen Lage mit
unſerem
Reiter.
Bewegungen ſind ja eben nichts anderes als
Ortsveränderungen
unter gewiſſen Geſchwindigkeiten, oder ex-
acter
ausgedrückt:
das Verhältnis zwiſchen einem zurückgelegten
Raume
zu einer zurückgelegten Zeit.
Sollen Bewegungen ge-
meſſen
, ſollen Himmelserſcheinungen vergangener Zeiten nach-
gerechnet
oder künftiger Zeiten vorausberechnet werden, ſo gilt
es
die Geſchwindigkeit der Himmelsrenner genau nach zurück-
gelegten
Zeiten zu erkennen.
Da wird man wohl zugeben, daß
der
Aſtronom, der den Rundlauf eines Sternes mit ſeinem
geiſtigen
Ritte begleitet, entweder der vollſten Regelmäßigkeit
des
Renners ſicher ſein oder mindeſtens einen zuverläſſigen
Zeitmeſſer
beſitzen muß, um deſſen Bewegungsgeſetz richtig zu
beurteilen
.
Was nun die Regelmäßigkeit irgend eines in Bewegung
begriffenen
Himmelsgeſtirnes betrifft, ſo iſt dieſe notoriſch nicht
vorhanden
.
Vor den Fixſternen, deren Eigenbewegungen erſt
in
unſerem Jahrhundert beobachtet worden ſind, ſteht die
aſtronomiſche
Wiſſenſchaft noch ſo ganz am Beginne ihrer
großen
Aufgabe, daß wir ſie für unſeren Zweck völlig außer
acht
laſſen müſſen.
Die Bewegungen der Planeten, der Erde,
des
Mondes und der anderen Trabanten ſind freilich, in
höherem
Sinne betrachtet, “regelmäßig”, und zwar ſehr regel-
mäßig
, das heißt:
dieſe Bewegungen gehen nach ganz be-
ſtimmten
Regeln und Geſetzen vor ſich, mit deren Erforſchung
die
Wiſſenſchaft unausgeſetzt beſchäftigt iſt;
allein wenn man
unter
regelmäßig” eine Bewegung verſteht, wo in
320116 Zeiten gleiche Räume zurückgelegt werden, ſo iſt dies bei keinem
einzigen
Himmelskörper der Fall.
Die Bahnen ſind nicht nur
keine
Kreiſe, ſondern die Bewegungen in den elliptiſchen Bahnen
werden
alle ſamt und ſonders durch gegenſeitige Anziehungen
der
Geſtirnegeſtört”, d.
h. bald verlangſamt, bald beſchleunigt.
Der Aſtronom hat hier Renner vor ſich, die einen unregel-
mäßigen
Lauf durch den Weltraum machen.
Welchen dieſer
Renner
er auch in Bezug auf ſeine Raumveränderungen genau
kennen
lernen will, er bedarf eines erſten Erforderniſſes, eines
zuverläſſigen
Zeitmeſſers oder, ſchlichter ausgedrückt, einer voll-
kommen
richtig gehenden Uhr, welche die Bürgſchaft gewährt,
daß
ſie vor Tauſenden von Jahren ebenſo exact richtig ge-
gangen
iſt, wie ſie nach Jahrtauſenden immer noch richtig
gehen
werde.
Wo aber giebt es ſolch ein Kunſtwerk?
Menſchenhände haben dergleichen nie angefertigt und wer-
den
dergleichen nie verfertigen.
Kein Pendel-, kein Feder- und
kein
Räderwerk vermag ſo unveränderlich hergeſtellt zu werden,
daß
es auch nur für ein einziges Jahr die Bürgſchaft des völlig
regelmäßigen
Ganges gewährt.
Die Uhr des Aſtronomen be-
darf
auch der unausgeſetzten Korrektur durch die Aſtronomie.
Die Umdrehung der Erde um ihre Axe iſt das eigentliche Ur-
Uhrwerk
, nach welchem die Uhrmacher ſämtliche Uhrwerke in
Ordnung
halten.
Geht denn aber dieſe Ur-Uhr richtig? Haben wir eine
Bürgſchaft
, daß die Umdrehung der Erde um ihre Axe ſich
nicht
verändert hat oder noch verändert?
Der größte Gründer der Mechanik des Himmels, der un-
ſterbliche
Forſcher Laplace (1749—1827), hat mit Recht auf
dieſe
wahre Kardinalfrage der Zeit und der Zeiten außerordent-
liche
Sorgfalt verwendet.
Er hat Himmelserſcheinungen aus
den
Zeiten Hipparchs mit den neuen verglichen und iſt zu dem
Reſultate
gelangt, daß mindeſtens ſeit zwei Jahrtauſenden
321117 Ur-Uhr in ihrem Gange gleich geblieben ſei. Hiermit erhielt die
Wiſſenſchaft
ihren regelrechten Zeitmeſſer, und nach dieſem ver-
mochte
ſie bisher mit Zuverſicht die Geſchwindigkeiten der
Renner
zu meſſen, welche den Raum des Himmels durcheilen.
So ſtanden die Dinge bis auf unſere Tage, wo von einer
ganz
anderen Seite her die wahreZeitfrage” eine neue Wen-
dung
erhalten hat.
Und dieſer wollen wir nunmehr zu folgen
ſuchen
.
V. Der Umlauf des Mondes.
Wir verlaſſen für einen Augenblick die Betrachtung der
Umdrehung
der Erde um ihre Axe, welche die Uhr aller Uhr-
werke
iſt, und wenden uns zu dem getreuen Himmelsbegleiter
unſerer
Erde, dem guten Monde, der im ſtillen Einherwandern
einen
wichtigen Poſten als untrüglicher Himmelskontrolleur zu
verſehen
hat.
Der Lauf des Mondes um die Erde iſt urſprünglich ein
ſo
einfaches Phänomen, daß man wohl meinen könnte, es ſei
ſeine
Bewegung nicht ſchwieriger zu berechnen, als der Rund-
lauf
eines Zeigers an der Uhr.
Aber in Wirklichkeit gehört
die
genaue Berechnung ſeiner Bahn zu den ſchwierigſten Auf-
gaben
der Aſtronomie, und zwar zu den Aufgaben, an welchen
ſeit
einem Jahrhunderte die feinſten Erforſcher der Himmels-
mechanik
all ihren Scharfſinn aufgewendet haben, ohne ſie voll-
ſtändig
zu löſen.
Sie laſſen wie wir aus unſerem Thema
erſehen
werden den kommenden Forſchern noch reiche Aus-
beute
auf dieſem Felde übrig.
Der Lauf des Mondes am Himmelsraum ſpielt für die
forſchende
Aſtronomie eine Rolle ähnlich der des Pulſes unter
dem
Fingerdruck des unterſuchenden Arztes.
Wie die Pulswelle nicht etwa bloß die Bewegung
322118 Blutes in der Hand des Patienten, ſondern die Thätigkeit des
Herzens
, den wirkenden Impuls der Nerven, die Spannung
des
Gefäßſyſtems, den Wärmegrad des geſamten Körpers, wie
den
phyſikaliſchen und phyſiologiſchen Zuſtand des ganzen
Organismus
verrät, ſo iſt der Lauf des Mondes für die for-
ſchende
Aſtronomie nicht bloß ein Verkünder ſeines mechaniſchen
Verhältniſſes
zur Erde, ſondern auch ein Hauptkontrolleur des
mechaniſchen
Gleichgewichtes des ganzen Sonnenſyſtems.
Wohl ſprechen wir in der gewöhnlichen Betrachtung der
Aſtronomie
vonBahnen” der Himmelskörper, als ob ſolche
in
Wirklichkeit exiſtierten und für immer erforſcht und feſt-
geſtellt
wären;
allein in Wahrheit exiſtieren dieſe Bahnen
ebenſo
wenig, wie die Bahn eines durch die Luft geſchleuderten
Steines
exiſtiert.
Die Bahn eines Himmelskörpers iſt nichts
als
der Weg, den er im Raume macht, infolge des Gleich-
gewichtes
ſeiner Fluggeſchwindigkeit und der aller Anziehungen,
welche
auf ihn wirken.
Ändern ſich die anziehenden Kräfte,
ſo
ändert ſich die Bahn unausgeſetzt.
Iſt dieſe Änderung eine
dauernde
, ſo wird die Bahn eines Himmelskörpers niemals
wieder
ſo ausſehen, wie ſie früher ausgeſehen.
Hat die Ände-
rung
eine beſtimmte Epoche, ſo wird je nach der Dauer der-
ſelben
auch die Bahn wiederum in ihre erſte Lage zurückkehren
und
nach ferneren gleichen Epochen gleiche Erſcheinungen dar-
bieten
.
Man bezeichnet in der Wiſſenſchaft jede Veränderung dieſer
Bahnen
, welche infolge der verſchiedenen Nähe und Richtungen
der
anziehenden Körper den Lauf eines Himmelskörpers ver-
ſtärkt
oder ſchwächt, mit dem NamenStörung”.
Nicht etwa
als
ob in der Natur wirklich etwas Störendes vorginge, ſon-
dern
bloß darum, weil es unſer bißchen Verſtand ſtört, wenn
wir
eine Bahn nach den einfachſten Geſetzen berechnet haben
und
nunmehr finden, daß ein Nachbarplanet durch ſein Vorüber-
wandern
einen Strich durch unſere Rechnung macht.
Nun
323119 wandern die Planeten ſamt und ſonders immer fort durch den
Raum
, und Nachbarn ſind ſie alle, wenngleich ſie Millionen
Meilen
von einander entfernt ſind.
Jeder Planet ſtört in
dieſem
Sinne alle anderen und wird in gleicher Weiſe von
ihnen
geſtört.
Dieſe Störungen, der Krieg aller gegen alle,
wären
für unſer ſchwaches Faſſungsvermögen eine wahre
Anarchie
, welche alle Berechnungen unmöglich machte, wenn
ſie
nicht in den aller-allermeiſten Fällen verſchwindend klein
für
unſere Beobachtungen blieben.
Wir dürfen uns in dieſem
Sinne
wegen unſeres ſchwachen Verſtandes mit der Schwäche
unſerer
Beobachtungskunſt tröſten, die uns unendlich viel un-
lösbare
Rätſel glücklicherweiſe unſichtbar macht.
Dieſer beſchämende Troſt gilt indeſſen nur in der Be-
rechnung
des Laufes der Planeten.
Dieſe, die Planeten, ſind
von
einander ſo entfernt, daß ihre gegenſeitigen Störungen in
den
allermeiſten Fällen nur ſehr oberflächlich behandelt zu
werden
brauchen, und ſie ſind auch von uns ſo entfernt, daß
wir
nur die gröberen Einwirkungen merken.
Anders jedoch
verhält
es ſich mit dem Lauf unſeres Mondes.
Der Mond iſt
der
Erde nahe genug, um kleinere Beeinfluſſungen ſeines Laufes,
die
wir Störungen nennen, merklich zu machen.
Außerdem iſt
ſeine
Umlaufszeit ſo kurz, daß ſich anwachſende Störungen
nach
und nach ſchnell verraten.
Endlich iſt die Reihe der
Jahre
, durch welche der Mondlauf in verwichenen Zeiten be-
obachtet
worden iſt, eine viel größere als die irgend eines
anderen
Himmelskörpers.
Es liegen uns Beobachtungen an
Mond-
und Sonnenfinſterniſſen aus faſt drei Jahrtauſenden
vor
und verraten ſomit Erſcheinungen des Mondumlaufes in
einer
Genauigkeit, wie ſie bei anderen Himmelskörpern nicht
exiſtiert
.
Alles in Allem bewirkt nun, daß, wenn man die Bahn
des
Mondes in ihrer einfachſten Geſtalt ſo betrachtet, wie ſie
wäre
und bliebe, wenn im Weltraum nur die Erde und
324120 Mond exiſtierten, wenn man ferner alle Urſachen der Abweichung
von
dieſer einfachſten Bahn alsStörungen” bezeichnete, die
Zahl
der Störungen in die Hunderte wächſt.
Jede dieſer
Störungen
bewirkt für ſich bald ein Beſchleunigen, bald ein
Zurückbleiben
des Mondlaufes, bald ein Ausweichen von der
Bahn
nach dieſer, bald nach jener Seite.
Eine jede ſolche
Störung
und Abweichung fordert uns auf, ihre Urſachen zu er-
forſchen
, ihre Größe zu beſtimmen und für die Folge in Rech-
nung
zu bringen.
Die Ausarbeitung von Mondtafeln, oder
deutlicher
ausgedrückt:
die Vorausberechnung des Mondlaufes
auf
Jahrhunderte iſt eine Aufgabe, welche durchaus noch nicht
abgeſchloſſen
iſt.
Sie beſchäftigt noch immer die exacteſten
Forſcher
und Rechner und ſtellt in ihren Reſultaten immer
neue
Rätſel auf, welche der Unterſuchung neue Gebiete eröffnen.
Der gründlichſte und genialſte Forſcher und Rechner auf
dieſem
Gebiete war Hanſen in Gotha.
Seine Arbeiten in
dieſem
Fache bilden gegenwärtig die Grundlage aller Berech-
nungen
der Aſtronomen aller Länder.
Da hat denn gerade Hanſens Arbeit eine Frage angefacht,
welche
man bisher als völlig gelöſt betrachtet hatte, und Anlaß
zu
neuen Unterſuchungen gegeben, die wir nunmehr betrachten
wollen
.
VI. Scheinbare Beſchleunigung des Mondes.
Aus Hanſens Berechnungen des Mondlaufes ergab ſich
das
für alle Aſtronomen überraſchende Reſultat, daß unſer
guter
Himmelsbegleiter ſeit dreitauſend Jahren in einem immer
ſchneller
werdenden Tempo um die Mutter Erde läuft.
Ein
Mond-Monat
, ein voller Umlauf dieſes Himmelskörpers im
jetzigen
Zeitalter, iſt kleiner, als er vor drei Jahrtauſenden ge-
weſen
iſt.
Der Mond, anſtatt mit dem Alter zu ermüden
325121 langſamer einherzuwandern, iſt flinker geworden; und die Zu-
nahme
dieſer Geſchwindigkeit ſeines Laufes hat noch gar nicht
aufgehört
, ſondern wächſt regelrecht immer mehr.
Die Be-
ſchleunigung
rührt alſo nicht von einer vorübergehenden Ein-
wirkung
her, die ſich dann etwa in ihr Gegenteil verwandelt,
ſondern
iſt die Folge einer unbekannten Urſache, die fort und
fort
weiterwirkt.
Hiernach müßte dann auch eine Zeit kommen,
wo
der gute Mond, der ſo ſtille geht”, mit raſender Ge-
ſchwindigkeit
durch den Himmelsraum ſtürmt.
Freilich liegt dieſe Zeit ſehr, ſehr weit hinaus in die fernſte
Zukunft
kommender Jahr-Millionen oder um uns einer mo-
derneren
Ausdruckſweiſe auch in der Wiſſenſchaft zu bedienen
der
Jahr-Milliarden.
Es beträgt nämlich dieſe berechnete Beſchleunigung ſeit der erſten gut beobachteten Sonnenfinſternis
vor
dritthalbtauſend Jahren Alles in Allem circa acht Stunden.
Da der Mond in dieſen dritthalbtauſend Jahren an dreißig-
tauſendmal
um die Erde herumgelaufen iſt, ſo macht ſeine Be-
ſchleunigung
auf einen einzigen Umlauf durchſchnittlich kaum
eine
Sekunde aus.
Die Verliebten, die einzigen Weſen, welche
ſich
außer den Aſtronomen noch immer ſehr für den
guten
Mond intereſſieren, werden daher noch gar viele Jahr-
tauſende
zu dem lieben Himmelsgeſtirne ſeufzend aufblicken
können
, ohne etwas von ſeiner ſtets wachſenden Laufkraft zu
merken
.
Aber unter den Aſtronomen, die ſehr proſaiſch die
Himmelskontrolle
führen und um eine Sekunde Verfrühung
oder
Verſpätung einer Erſcheinung ganze Jahrzehnte des Nach-
denkens
nicht ſcheuen, um die geheime Urſache zu ermitteln
unter
den Aſtronomen machten Hanſens Berechnungen ganz
ungemeines
Auſſehen.
Ein beſchleunigter Umlauf, und gar ein
dauernd
beſchleunigter Umlauf eines Himmelskörpers kann nur
von
einer fortdauernd wirkenden, und alſo mit der Zeit
1
11 Eine Milliarde iſt gleich 1000 Millionen.
326122 wachſenden Urſache herrühren. Dieſe aufzufinden, iſt eine
Herausforderung
, der ſich kein Denker und kein Rechner ent-
ziehen
mag.
Es giebt nun freilich einige Thatſachen, welche einen An-
halt
zur Löſung des Rätſels darbieten.
Wenn der Mond
ſeinen
Umlauf beſchleunigt, ſo kann es daher rühren, daß die
Anziehungskraft
der Erde ſich verſtärkt hat.
Da dieſe An-
ziehungskraft
von der Maſſe der Erde abhängt, ſo wäre dies
gleichbedeutend
mit der Vorausſetzung, daß die Erde an Maſſe
zugenommen
habe.
Dergleichen iſt aber ſehr wohl denkbar,
ſeitdem
man weiß, daß die Meteormaſſen, welche man auf-
findet
, aus den Himmelsräumen herſtammen, wo ſie herum-
ſchwärmen
, bis ſie in die Atmoſphäre der Erde geraten und,
gehemmt
in ihrem Laufe, unter Donner und Flammen auf die
Erde
niederſtürzen.
Ein Wachſen der Erdmaſſe iſt demnach
nicht
in Abrede zu ſtellen, und hiernach iſt eine verſtärkte An-
ziehungskraft
und eine Beſchleunigung des Mondlaufes, als
Folge
, nicht zu beſtreiten.
Allein wenn man bedenkt, daß ſelbſt
die
allermächtigſten Meteormaſſen, die man aufgefunden hat,
ganz
und gar verſchwindend klein ſind gegen die Erdmaſſe,
daß
ferner von einem regelmäßigen und fortdauernden Falle
ſolcher
mächtigen Meteormaſſen gar nicht die Rede ſein kann,
während
die Beſchleunigung des Mondlaufes regelmäßig wächſt
und
auf einer dauernd fortwirkenden Urſache beruhen muß, ſo
könnte
man dieſer Erklärung des Rätſels keinen wiſſenſchaft-
lichen
Wert beimeſſen.
Da trat denn Delaunay im Jahre 1865 mit einer Theorie
auf
, durch welche das unlösbare Phänomen der Mondbeſchleu-
nigung
auf ein ganz anderes Gebiet der Naturgeſetze hinüber-
getragen
wurde.
Nach dieſer ſcharſſinnig erdachten Theorie iſt
die
Beſchleunigung des Mondlaufes nicht eine wirkliche That-
ſache
, ſondern nur ein bloßer Schein, welchem eine
327123 andere, zwar überraſchende, aber durchaus erklärbare Urſache
zu
Grunde liegt.
Dieſe Theorie lautet: Nicht die Umlaufsgeſchwindigkeit
des
Mondes iſt fortdauernd im Wachſen, ſondern die Um-
drehungszeit
der Erde um ihre Axe verlangſamt ſich fort-
dauernd
.
Um den Zuſammenhang zwiſchen der Laufgeſchwindigkeit
des
Mondes und der Umdrehungszeit der Erde richtig zu
faſſen
, brauchen wir uns nur an unſeren Reiter zu erinnern,
der
die Laufgeſchwindigkeit ſeines Pferdes im Raum am Zeiger
ſeiner
Uhr, nach der Zeit, abſchätzt.
Wir wiſſen, daß, wenn
ſeine
Uhr zu ſchnell geht, ſein Pferd ihm langſam zu gehen
ſcheint
, und umgekehrt, wenn ſeine Uhr zu langſam geht, ſein
Pferd
ihm ſchnellfüßiger erſcheinen wird.
Delaunays Theorie
lautet
alſo, dem Beiſpiele entſprechend, dahin:
Ihr braven
Aſtronomen
meint, aus Hanſens Berechnungen zu ſchließen,
daß
der Mond ſich ſeit dritthalbtauſend Jahren einen ſchnelleren
Gang
angewöhnt hat.
Das iſt ein Irrtum! Der Mond geht
nicht
ſchneller und nicht langſamer als ehedem.
Er ſcheint nur
jetzt
früher ſeinen Umlauf zu vollenden, weil eure Uhr nach-
geht
.
Die Umdrehung der Erde um ihre Axe, welche unſer
Zeitmeſſer
, unſere Ur-Uhr iſt, verlangſamt ſich nach und nach,
ohne
daß wir es merken.
Unſere Tage, Stunden, Minuten,
Sekunden
werden länger, deshalb ſcheint uns der Mond-
Monat
kürzer geworden zu ſein.
VII. Wie der Mond unſere Tage länger macht.
So überraſchend Delaunays Behauptung anfangs war, ſo
bald
überzeugte man ſich doch, daß der Grundgedanke bereits
von
dem großen Aſtronomen und Rechner Laplace vor hundert
Jahren
angedeutet worden iſt.
Laplace hat in ſeiner
328124 des Himmels” die Frage aufgeworfen, ob wir Menſchenkinder
überhaupt
imſtande ſeien, die Zeit zu meſſen.
Wenn wir dies
nach
Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden thun, ſo ge-
ſchieht
es doch immer nur in der Vorausſetzung, daß die Erde
in
ihrer Umdrehungs-Geſchwindigkeit ſich ſtets gleich bleibe.
Welche Bürgſchaft aber haben wir, daß dem ſo ſei? Um dieſe
Frage
zu beantworten, hat Laplace auch die Sonnenfinſterniſſe
im
Altertum einer Berechnung unterworfen und fand ſie ſo
weit
ſtimmend, daß er die Behauptung aufſtellte, es habe
ſich
die Tageslänge nicht verändert.
Seine Berechnung indeſſen
war
nicht ſo vollſtändig wie die von Hanſen;
hätte Laplace
die
Differenz von acht Stunden herausgefunden, wie Hanſen,
ſo
hätte er ganz gewiß nicht die Gleichmäßigkeit der Tages-
länge
behauptet.
Er hätte nicht bloß die Grundgedanken De-
launays
ſeiner Erwägung unterzogen, ſondern vielleicht auch
gar
die wahre Urſache dieſer überraſchenden Erſcheinung heraus-
gefunden
.
Wo aber liegt die wahre Urſache? Weshalb verlangſam@
ſich
die Umdrehung der Erde?
Delaunay giebt hierüber einen ſehr zutreffenden Auf-
ſchluß
;
aber auch in dieſem Punkte trifft man auf die über-
raſchende
Wahrnehmung, die man bei allen großen, höheren
Gedanken
macht, daß die Wahrheit bereits ſeit längerer Zeit
anderweitig
angedeutet, ja ſogar direkt ausgeſprochen worden
iſt
, aber ſo lange unbeachtet blieb, bis ſie von einem fach-
männiſchen
Denker ſelbſtändig aufgefunden und in Zuſammen-
hang
mit dem ganzen Bereich der Wiſſenſchaft gebracht wurde.
Es war im Jahre 1842, als ein deutſcher Arzt,
Robert Mayer in Heilbronn, einen großen Grundgedanken
der
Phyſik ausſprach, der nach und nach zum Gemeingut
der
Wiſſenſchaft und zur Quelle weſentlicher Fortſchritte der-
ſelben
wurde.
Man nennt dieſen Grundgedankendas Geſetz
von
der Erhaltung der Energie” und verſteht
329125 die merkwürdige und durch alle Forſchungen immer aufs neue
beſtätigte
Wahrheit, daß in der Natur nirgends eine Kraft ge-
ſchaffen
oder vertilgt wird, ſondern immer nur in einer Um-
wandlung
ihrer Erſcheinungen begriffen iſt (ſieheEinleitung”).
Dieſes von Mayer entdeckte Geſetz wurde namentlich von
engliſchen
Phyſikern weiter durchforſcht und hat auf vorzüg-
liche
Ermittlungen und Erklärungen im Bereiche der Wiſſen-
ſchaft
geführt.
Im Jahre 1847 entdeckte auch Helmholtz un-
abhängig
von Mayer dasſelbe Geſetz und wies hin auf den ge-
waltigen
Einfluß dieſes Geſetzes im ganzen Bereiche der Natur.
Bei dieſer Gelegenheit ſprach Helmholtz den Gedanken aus,
daß
die Wirkung des Mondes auf die Gewäſſer der Erde,
welche
ſich als Ebbe und Flut äußert, von einem ſtörenden
Einfluſſe
auf die Umdrehungszeit der Erde um ihre Axe ſein
und
die Geſchwindigkeit der Umdrehung nach und nach ver-
mindern
müſſe.
Die Aſtronomie hat von dieſer Behauptung lange Zeit
keine
Notiz genommen.
Die Laplace’ſche Behauptung, daß die
Erdumdrehung
ſich gleichgeblieben ſei ſeit Jahrtauſenden, wurde
wie
ein unumſtößliches Axiom betrachtet.
Erſt im Jahre 1865
kam
Delaunay wahrſcheinlich ohne zu wiſſen, daß ſie be-
reits
von deutſchen Denkern ausgeſprochen wurde auf die-
ſelbe
zurück und erklärte damit, wie bereits erwähnt, die rätſel-
hafte
Beſchleunigung des Mondlaufes.
Was Helmholtz nur vorübergehend behauptete, führt De-
launays
Arbeit in umfaſſender Berechnung aus.
Der Mond
verurſacht
durch ſeine Anziehungskraft Flutwellen von gewal-
tigen
Maſſen in unſeren Weltmeeren.
Wenn die Erde ſich
ſamt
ihren Gewäſſern um die Axe dreht, ſind es immer neue
und
wieder neue Flutmaſſen, welche ſich erheben und aufſtauen.
Wo ſie an Ufer treffen, überfluten ſie dieſelben mit gewaltiger
Kraft
und drängen Ströme zurück landeinwärts, die ins Meer
ſließen
.
Da dieſe Flutwellen in entgegengeſetzter Richtung
330126 Erdumdrehung ſich aufſtauen und an die Ufer und alle ihre
Flußmündungen
anprallen, ſo kann die Kraft nicht unwirkſam
bleiben
.
Die Umdrehung der Erde erleidet hier einen Wider-
ſtand
, und bei der immer und ewig fortdauernden Wirkung
derſelben
muß ſich auch fortdauernd die Umdrehungszeit der
Erde
verlangſamen.
Dies iſt die Urſache, daß das Haupt-
Uhrwerk
der Aſtronomie einen langſameren Gang annimmt
und
den Schein hervorruft, als ob die Geſtirne, und nament-
lich
der Mond, einen ſchnelleren Lauf als früher innehalten.
Nach Delaunays Berechnungen iſt der Tag, das heißt die
volle
Umdrehungszeit der Erde, gegenwärtig länger als vor
dritthalbtauſend
Jahren.
Der Unterſchied beträgt freilich nur
den
fünfzigtauſendſten Teil einer Sekunde, und das iſt ein
Minimum
, für welches wir nicht die leiſeſte Empfindung haben.
Auch aſtronomiſch würde ſolch eine Verzögerung unentdeckt
bleiben
, wenn ſich nicht die Wirkung fortdauernd erneuerte
und
ſomit tagtäglich ſteigerte, und wenn man nicht Himmels-
erſcheinungen
mit in Rechnung ziehen könnte, welche vor Jahr-
tauſenden
ſtattgefunden haben.
Dieſe im einzelnen ganz un-
merkliche
Verzögerung der Erdumdrehung hat ſich nun in
einem
ſich ſtets verſtärkenden Grade durch dritthalbtauſend
Jahre
angeſammelt und beträgt nunmehr in Summa circa die
acht
Stunden, welche man nach Hanſen der verſtärkten Lauf-
geſchwindigkeit
des Mondes auf Rechnung geſetzt hat.
Delaunays Rechnungen ſind noch immer der Gegenſtand
näherer
Unterſuchungen.
Es hat der Tod den kühnen Denker
ereilt
, ehe noch die Forſchung das erſte Stadium ihrer Er-
örterungen
durchgemacht hat.
Aber wer gleich ihm ſo tief in
die
Vergangenheit und ſo weit in die Zukunft hinaus den
Blick
gerichtet, der mißt das Menſchenleben nicht nach ſeiner
Dauer
, ſondern wiegt es nach dem Gewichte der unſterblichen
Denkerkraft
, die neue Geiſtesoffenbarungen anregt und aufſchließt,
welche
in der Ewigkeit und Unendlichkeit der Zeiten wurzeln.
331127
Die Umdrehungszeit der Erde wächſt, das iſt ſicher! Wie
lang
wird die letzte ſein, wie kurz war die erſte?
Von letzten und erſten Naturerſcheinungen zu erzählen,
das
überläßt die Wiſſenſchaft gerne der Glaubensphantaſie der
Träumer
, die über Zeit und Raum ihren gefügigen Speku-
lationen
folgen.
So weit man indeſſen unſer bisheriges Wiſſen
als
Leitſtern in dunkle Zeitläufte benützen mag, läßt ſich über
ſolche
Fragen nur Folgendes ausſagen:
Es iſt eine erwieſene Thatſache, daß ein Himmelskörper,
der
ſich um ſeine Axe bewegt, ſeine Umdrehungsgeſchwindigkeit
beſchleunigt
, wenn er ſich zuſammenzieht und kleiner im Um-
fange
wird.
Es iſt ferner eine wohlverbürgte Theorie, daß
die
Erde einſt einen viel größeren Umfang hatte als jetzt, und
es
iſt ſehr wahrſcheinlich, daß ſie an Eigenwärme ihres Innern
verliert
, und ſomit auch nach und nach ſich verdichtet und an
Umfang
fortdauernd abnimmt.
Wenn ſich infolge der Flutungskraft des Mondes der
Tag
verlängert, ſo läßt ſich vermuten, daß infolge der Zu-
ſammenziehung
des Erdballs der Tag ſich wiederum auch ver-
kürzt
und ſich ein Gleichgewicht der beiden Wirkungen wohl
einmal
einſtellen muß.
Dies möge denen zum Troſte geſagt ſein, die in ihren
Sorgen
um die Mutter Erde und ihre Bewohner gern über
Jahr-Millionen
hinausſchweifen.
332
Von der Geſchwindigkeit des Lichtes.
I. Vom Licht.
Das Licht bewegt ſich vierzigtauſend Meilen in einer
Sekunde
!
Dieſe Wahrheit, dieſes Ergebnis ganz getreuer Forſchung
hört
man oft genug ausſprechen, lieſt man oft genug in
Schriften
und ſieht man oft genug als Beweis der unendlichen
Schnelligkeit
angeführt, mit welcher Kräfte der Natur den
Raum
durcheilen.
Man muß geſtehen: dieſen Ausſpruch
kennt
wohl jeder Gebildete und Ungebildete, jeder ſogenannte
Gelehrte
und Ungelehrte;
ja jedermann hat wohl an dieſe
Wahrheit
ſo manche erbauliche und erhebende, dichteriſche oder
religiöſe
Betrachtung angeknüpft.
Wie aber ſteht es mit dem Beweis für dieſe Wahrheit?
Iſt es auch nur dem Hundertſten von all’ denen, die von der
Geſchwindigkeit
des Lichtes ſprechen, klar geworden, wie und
auf
welchem Wege man zu der Erkenntnis gelangt iſt?
Wir glauben aus eigener Erfahrung verſichern zu können,
daß
es im Publikum um die feſte und ſichere Überzeugung
von
dieſer Wahrheit recht ſchlimm ſteht.
Es ſteht ſchon darum
ſchlimm
damit, weil dieſe Wahrheit eine allgemein bekannte
Wahrheit
iſt und ſie deshalb wie eine vollgiltige Münze zirku-
liert
, von der viele ſich ſchämen, ihr zu mißtrauen und ihr
Gepräge
zu unterſuchen und zu erforſchen.
Wir wollen daher in wenigen Abſchnitten von dieſer
Wahrheit
und dem Wege, wie man dahinter gekommen iſt,
ſprechen
, und hoffen, hieran einige Betrachtungen zu knüpfen,
welche
ſelbſt denen nicht überflüſſig erſcheinen werden, die
333129 dieſer Wahrheit die richtige Anſchauung ſamt ihren vollen Be-
weiſen
beſitzen.
Das Licht bewegt ſich vierzigtauſend Meilen in jeder
Sekunde
!
Das heißt, deutlicher ausgedrückt, wie folgt:
Jedes Licht kann von der Ferne aus geſehen werden;
aber man ſieht das Licht nicht ſofort in demſelben Augen-
blicke
, wie es entſteht, in allen Entfernungen, ſondern es
dauert
eine Zeit, bis, ſo zu ſagen, das Licht nach den Ent-
fernungen
ſeine Strahlen hinſendet.
Fragt man nun: wie
ſchnell
läuft denn der Sendbote des Lichtes, wie ſchnell läuft
der
Strahl?
ſo iſt eben die richtige Antwort darauf, daß der
Strahl
in jeder Sekunde vierzigtauſend Meilen läuft.
Woher weiß man das? Wer hat dieſe Strecke und dieſen
Lauf
ausgemeſſen?
Hierauf iſt die Antwort, wenn man ſich nicht mit einer
oberflächlichen
Redensart begnügen will, nicht ſo ganz und gar
leicht
, ſondern man muß hierzu ſich erſt einen Begriff von dem
Sehen
unſeres Auges machen und ſich über die Art, wie wir
ferne
Gegenſtände wahrnehmen, mindeſtens eine allgemeine
Vorſtellung
verſchaffen.
Durch die Gewohnheit verleitet, glaubt man im allge-
meinen
, als ob unſer Auge imſtande wäre, den Blick in die
Ferne
zu richten, als wäre es gewiſſermaßen eine Kraft, eine
Gabe
des Auges, welche nach entfernten Gegenſtänden hin-
dringt
und dieſelben dort wahrnimmt.
Dies iſt aber ein Irrtum.
Unſer Auge beſitzt keine Kraft, welche nach außen wirkt,
ſondern
es empfindet nur den Eindruck der Lichtſtrahlen, welche
entfernte
Gegenſtände nach allen Richtungen hin ausſtreuen.
Es iſt nicht eine Kraft des Auges, des Blickes, welche hinauf-
dringt
in die Räume des Himmels, um bis zu den Sternen
zu
gelangen und dieſelben wahrzunehmen, ſondern die Sterne
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
334130
ſind es, welche die Strahlen ihres Lichtes herabſenden, gleich-
giltig
, ob wir das Auge aufthun, um ſie zu empfangen oder
nicht
.
Dieſe Strahlen, die unausgeſetzt ausſtrömen, gehen
völlig
ſpurlos an uns verloren, wenn ſie nicht in gewiſſer
Richtung
ins Auge fallen;
nur wenn wir das Auge ſo ge-
richtet
halten, daß dieſe Strahlen durch dasſelbe gehen, nur
dann
empfinden wir die Strahlen und bekommen, durch Er-
fahrungen
belehrt, Kenntnis davon, daß außer uns Dinge
ſind
, welche dieſe Empfindung in uns anregen.
Dieſes
Empfinden
der Lichtſtrahlen ferner Gegenſtände mit unſerm
Auge
nennen wir das Sehen der Gegenſtände, obgleich
wir
weder mit dem Auge zu den Gegenſtänden noch die
Gegenſtände
ſelber zum Auge kommen, ſondern es nur eine
Empfindung
iſt, die von dem Licht der fernen Gegenſtände ver-
anlaßt
und von unſerem Auge aufgenommen wird.
II. Der Poſtenlauf des Lichtes.
Die Thatſache, daß nicht unſer Auge in die Fernen hinein-
dringt
, ſondern nur von der Ferne her einen Eindruck empfängt
und
empfindet, den wir Licht nennen, dieſe Thatſache muß
man
vor allem feſthalten, um einzuſehen, woher es kommt,
daß
wir z.
B. ſofort Sterne ſehen, wenn wir die geſchloſſenen
Augen
öffnen.
Wäre es eine Kraft unſeres Auges, die in
die
Ferne dringt zu den geſehenen Gegenſtänden, ſo würde es
jedenfalls
einer Zeit bedürfen, bevor dieſe Kraft hinauf zu den
Sternen
dringt.
Da dies nicht der Fall iſt, da wir nahe und
ferne
Gegenſtände in Einem Blick wahrnehmen, ſo kann dies,
wie
es in Wahrheit iſt, nur daher rühren, daß die Lichtſtrahlen
aller
Gegenſtände bereits bis zu uns und auch zu unſerm
Auge
gedrungen ſind, und wir alſo das Auge nur zu öffnen
brauchen
, um ſofort den Eindruck des Lichtes zu empfangen.
335131
Sind es aber wirklich uicht die Gegenſtände ſelber, die
wir
ſehen, ſondern ſind es nur die Boten der Gegenſtände,
die
Lichtſtrahlen, welche von den Gegenſtänden ausgegangen
ſind
, und die unſer Auge treffen, ſo iſt der Fall ſehr gut
denkbar
, daß wir etwas ſehen, was in Wirklichkeit ſchon zu
exiſtieren
aufgehört hat.
Wenn wir z. B. einen Blitz ſehen,
der
viele Meilen weit von uns in einem Augenblick entſteht
und
vergeht, ſo geſchieht dies ebenfalls nur durch die Licht-
ſtrahlen
, welche von dem Ort des Blitzes ausgehen und nach
allen
Richtungen hin, alſo auch bis zu unſerem Auge dringen.
Die Lichtſtrahlen, dieſe Boten des Blitzes, brauchen aber eine
gewiſſe
Zeit, um mehrere Meilen weit hinzufliegen.
Wenn ſie
bei
uns ankommen, kann alſo der Blitz am Orte ſeiner Ent-
ſtehung
ſchon erloſchen ſein;
wir ſehen ihn alſo erſt zu einer
Zeit
, wo er bereits vergangen iſt.
In Wahrheit iſt es nicht nur mit dem Blitz, ſondern mit
allen
Dingen ſo, ſie mögen nahe oder entfernt ſein.
Wir ſehen
nicht
die Gegenſtände ſelber, ſondern wir empfinden nur die
Lichtſtrahlen
, die ſie uns ſenden;
wir ſehen nicht das, was
wirklich
im jetzigen Augenblicke da iſt oder geſchieht, ſondern
nur
das, was da war und geſchah, als die Lichtſtrahlen, welche
jetzt
unſer Auge treffen, von den Dingen ausgingen.
Wir ſehen in dieſem Sinne immer nur die Vergangenheit
und
niemals die Gegenwart.
Macht man ſich mit dieſem Gedanken erſt vollkommen ver-
traut
, und das iſt eben gar nicht ſo leicht, wie das die-
jenigen
meinen, die dies alles ſchon längſt wiſſen, ſo ſtellt ſich
freilich
die Frage heraus:
Um wie viel ſpäter ſehen wir denn
eigentlich
die Dinge, als ſie in Wirklichkeit ſind?
Ein Blitz, den wir ſehen, exiſtiert im Augenblick, wo ſein
Strahl
bis zu uns ins Auge dringt, vielleicht gar nicht mehr.
Eine Wolke am Himmel, die fortwährend ihre Geſtalt und ihren
Ort
verändert, wird von uns immer nur in einer Geſtalt
336132 an einem Orte geſehen, wie und wo ſie in Wahrheit vielleicht
gar
nicht mehr iſt.
Die Sonne, die am Himmel dahin wandert,
ſteht
nie mehr genau an der Stelle, wo wir ſie ſehen, weil die
Lichtſtrahlen
, die an unſer Auge gelangen, noch aus der Zeit
herrühren
, wo ſie vor 8 Minuten von der Sonne ausgingen.
In der Zwiſchenzeit, daß die Strahlen bis zu uns kamen, iſt
offenbar
die Sonne ein Stück weiter gegangen, ohne daß wir
davon
etwas merken können.
Die noch weit, weit entfern-
teren
Sterne, die Fixſterne, können möglicherweiſe ſchon lange
Zeit
erloſchen ſein, während ihre Strahlen erſt zu uns kommen,
und
wir erhalten das Licht, ihre Boten, vielleicht zu einer Zeit,
in
der die Sterne ſelber gar nicht mehr vorhanden ſind, ähnlich,
wie
wir zuweilen einen Brief von Freundeshand erhalten, der
während
der Zeit des Poſtenlaufes geſtorben iſt.
Wie lange aber dauert der Poſtenlauf des Lichtes? Das
iſt
die Frage.
Und hierauf lautet die Antwort: Der Licht-
ſtrahl
iſt eine ungeheuer ſchnelle Poſt, ſie bringt die Nachricht
von
vierzigtauſend Meilen her in einer einzigen Sekunde.
Wer ſich’s überdenkt, was eine Sekunde für eine gar kleine
Zeit
und was vierzigtauſend Meilen für eine gar lange Strecke
iſt
, der darf es niemandem verargen, wenn er mit Mißtrauen
dieſe
Antwort aufnimmt.
Ja, wir geſtehen offen, wer dieſe
Antwort
gleichgültig und gläubig aufnimmt, ohne zu fragen:
Woher weiß man das? dem trauen wir entweder wenig
Geiſt
oder wenig Intereſſe für Natur-Wahrheiten zu, und
wir
fürchten, daß er eben ſo leichtſinnig bereit ſein wird, dem
thörichtſten
Aberglauben zu huldigen, wenn man ihm dieſen
nur
mit dem ernſten Geſicht der Wahrhaftigkeit verſichert.
Darum aber wollen wir die Frage beantworten: Woher
weiß
man das?
Wer hat den Weg gemeſſen? Wer iſt imſtande
geweſen
, den Poſtenlauf des Lichtes zu kontrollieren?

Dieſe
Antwort ſoll uns im nächſten Abſchnitt beſchäftigen.
337133
III. Was uns der Planet Jupiter angeht.
Um zu zeigen, wie es möglich iſt, die Geſchwindigkeit des
Lichtes
zu meſſen, ſind wir genötigt, unſere Leſer wieder auf das
Gebiet
der Naturwiſſenſchaft zu führen, das man das erhabenſte
nennt
, obwohl das Erhabene nicht minder im unendlich
Kleinen
, wie im unendlich Großen liegt.
Wir müſſen unſere
Leſer
auf das Gebiet der Aſtronomie führen, wo man mit
Millionen
von Meilen umgeht wie im gewöhnlichen Leben
mit
Metern, und wo die Erſcheinungen mit ſolcher Genauig-
keit
vorher berechnet werden können, daß ſchon eine Sekunde
kein
kleiner, unmerklicher Zeitabſchnitt iſt.
Unter die Erſcheinungen des Himmels, die man mit größter
Genauigkeit
berechnen kann und auch berechnet, gehören die
Mond-
und Sonnenfinſterniſſe auf dem Planeten Jupiter.
Man ſollte kaum glauben. daß uns das, was auf dem
Jupiter
geſchieht, ſo viel angeht.
Der Planet Jupiter iſt
circa
103 Millionen Meilen von der Sonne entfernt, und da
er
ſich ebenſo im Kreiſe um die Sonne bewegt, wie die Erde,
welche
gegen 20 Millionen Meilen von der Sonne entfernt
iſt
, ſo kommt es, daß Jupiter zuweilen der Erde um 20 Mil-
lionen
Meilen näher und zuweilen um 20 Millionen entfernter
iſt
, als der Sonne.
Jedenfalls iſt die größte Nähe Jupiters
zur
Erde immer noch eine Strecke von 83 Millionen Meilen, und
es
läßt ſich gar nicht ſo leicht abſehen, was nur dabei her-
auskommt
, ob wir die Sonnen- und Mondfinſterniſſe, die ſie
dort
auf dem Jupiter haben, genau kennen oder nicht.
Eine
nähere
Betrachtung indeſſen lehrt uns, daß uns das Ding doch
mehr
angeht, ja, daß jene Finſterniſſe und deren genaue Vor-
ausberechnung
für uns von größerem praktiſchen Nutzen ſind,
als
die Kenntnis vieler unſerer eignen Sonnen- und Mond-
finſterniſſe
.
Die größte Schwierigkeit der Schiffahrt beſteht
338134 darin, daß der Seefahrer, wenn er nur Waſſer und Himmel
um
ſich her ſieht, nicht wiſſen kann, wo er ſich befindet, und
mit
Hilfe aller Land- und Waſſerkarten ſeinen Weg nicht fort-
zuſetzen
imſtande iſt, ſobald ihm nicht die Aſtronomie zu Hilfe
kommt
.
Wie ſichs von ſelbſt verſteht, muß der Kapitän zu
jeder
Stunde genau wiſſen, wie weit er ſich im Norden oder
Süden
, im Oſten oder im Weſten auf der Erdkugel befindet.
Was nun Norden oder Süden anbetrifft, da hat es der
Schiffskapitän
ſehr leicht.
Er braucht nur die Höhe der Sonne
um
Mittag, die Höhe einzelner Sterne des Nachts zu beob-
achten
, um ſofort zu wiſſen, auf welchem Strich er ſich von
Nord
oder Süd befindet.
Die Sterne des Himmels ſtehen in
Bezug
auf Norden und Süden feſt.
Der Sternenhimmel ſieht
im
Norden anders aus als im Süden, und hieraus, aus dem
Anblick
des Himmels, kann ſich der Führer des Schiffes recht
gut
zurecht finden.
Aber was Oſt und Weſt betrifft, da iſt
er
ſchlimm dran.
Die Erde nämlich dreht ſich in einem fort
von
Weſten nach Oſten.
Alles, was im Oſten am Himmel zu
ſehen
iſt, wird nach einigen Stunden auch im Weſten zu ſehen
ſein
, wenn ſich die Erde erſt ſoweit gedreht haben wird.
Der
Schiffsführer
kann nun der geſcheiteſte Aſtronom ſein, er wird
trotzdem
nicht wiſſen können, ob er ſich ſeit ſeiner Abfahrt aus
der
Heimat nach Oſten oder nach Weſten bewegt hat.
Aus dieſer Verlegenheit kann ihn nur Eins retten, und
das
iſt, wenn ihm jemand genau ſagen kann, wie ſpät es
augenblicklich
in der Heimat iſt.
Blickt er z. B. auf ſeine Uhr
oder
mißt er die Höhe der Sonne und ſieht, daß es gerade
Mittag
iſt, ſo iſt er aus aller Verlegenheit, ſobald er nur weiß,
ob
in dieſem Augenblick in ſeiner Heimat Vor- oder Nachmittag
iſt
.
Iſt es in der Heimat noch vor dem Mittag, ſo weiß er,
daß
die Heimat im Weſten liegt, er alſo nach Oſten gefahren iſt;
iſt es in der Heimat ſchon Nachmittag, ſo iſt es klar, daß ſie im
Oſten
liegt und er alſo weſtlich gefahren ſein muß.
Hat
339135 der Kapitän eine gute Schiffs-Uhr aus der Heimat mitgenommen,
die
ihm jederzeit zeigt, was die Glocke in der Heimat ge-
ſchlagen
hat, ſo kann er aus dem Unterſchiede dieſer Uhr und der
ſeinigen
, die er täglich nach der Sonne ſtellt, ſehr genau wiſſen,
wie
viel er öſtlich oder weſtlich von der Heimat entfernt iſt.
Was aber macht ein Schiffsführer, der monatelang auf
dem
Meere iſt und die ganze Zeit alſo nicht imſtande war,
ſeine
Heimats-Uhr zu regulieren, die unmöglich mehr genau
richtig
gehen kann, weil Kälte und Wärme und Schiffs-Er-
ſchütterungen
niemals ohne Einfluß auf den Gang derſelben
ſind
?
Was macht er gar, wenn er einmal vergeſſen hat, die
Uhr
aufzuziehen und dieſe ſtehen geblieben iſt?
Woher ſoll
er
wiſſen, wie ſpät es in der Heimat iſt, und wie ſoll er ſich
auf
dem Meere zurecht finden?
In dieſen und ähnlichen Fällen, die gar häufig vor-
kommen
, hilft ihm, wie wir im nächſten Abſchnitt zeigen werden,
am
leichteſten eine Mond- oder Sonnenfinſternis auf dem
Planeten
Jupiter aus der Not.
IV. Wie die Geſchwindigkeit des Lichtes gemeſſen
wurde.
Jupiter nämlich hat vier Monde, die ſich um ihn herum
im
Kreiſe bewegen, und die ſchon mit einem guten Taſchen-
fernrohr
geſehen werden können.
Von dieſen vier Monden
ſteht
bald der eine oder der andere ſo, daß ſein Schatten auf
Jupiter
fällt, oder es tritt der eine oder der andere in den
Schatten
Jupiters ſo, daß er plötzlich unſichtbar wird.
Schau-
ſpiele
dieſer Art, die man alle ſehr bequem beobachten kann,
kommen
im Jahre außerordentlich häufig vor;
und dieſe
Schauſpiele
werden ganz genau jahrelang vorausberechnet und
in
Büchern notiert, wann dieſe und jene Erſcheinung
340136 wird. Der Schiffskapitän, der ſich ſolch ein Buch mit Vor-
ausberechnungen
mit auf die Reiſe nimmt, findet in demſelben
genau
Stunde, Minute und Sekunde angegeben, wann jedesmal
dergleichen
am Himmel paſſiert, und zwar iſt die Zeit aufs
allergenaueſte
nach dem Heimats-Ort berechnet.
Iſt nun die Heimats-Uhr des Schiffes abgelaufen oder
fürchtet
der Seefahrer, daß ſie nicht genau richtig geht, ſo
braucht
er nur ſein Fernrohr zur Hand zu nehmen und irgend
eine
Finſternis auf dem Jupiter abzuwarten.
Sobald er dieſe
ſieht
und ſolche iſt immer ſehr leicht zu bemerken ſchlägt
er
ſein Buch nach und findet, wie ſpät es daheim in dieſem
Augenblick
iſt, und ſomit iſt er imſtande, die ihm ſo notwendige
Heimats-Uhr
in Ordnung zu bringen.
Zwar giebt es noch einige Himmelserſcheinungen, die dem
Schiffsführer
aus gleicher Verlegenheit helfen können, keine
jedoch
iſt ſo leicht und einfach und genau, wie die Beobachtung
der
Verfinſterungen auf dem Planeten Jupiter, und es wird
jedermann
nunmehr einſehen, daß die Verfinſterungen uns
wohl
etwas angehen und deren Berechnungen für uns vom
größten
praktiſchen Nutzen ſind.
Wer dieſe Zeilen beim Genuß ſeines Kaffees oder Thees
lieſt
, ohne viel an den Nutzen der Schiffahrt zu denken, der
möge
wohl überlegen, daß ſein Lieblingsgetränk wahrſcheinlich
noch
einmal ſo teuer ſein würde, wenn nicht die Fahrten auf
dem
Meere durch die Verfinſterungen auf dem Jupiter leicht
zu
regeln wären, und er wird zugeben müſſen, daß uns die
Aſtronomie
ſelbſt dann ſehr zu Nutzen kommt, wenn wir, im
Trocknen
ſitzend, ihrer am allerwenigſten gedenken.
Was aber hat das alles mit der Geſchwindigkeit des
Lichtes
zu thun?
Das wollen wir ſogleich ſehen.
Die Verfinſterungen der Jupitermonde waren recht eigentlich
die
Urſache, hinter den Gedanken zu kommen, daß das
341137 eine Zeit braucht, um durch den Raum zu fliegen, und das
weitere
Nachdenken brachte es heraus, wie ſchnell dieſer Flug
iſt
oder wie weit das Licht in jeder Sekunde ſich fortbewegt.
Wie bereits geſagt, iſt es von großer praktiſcher Wichtigkeit,
die
Verfinſterungen auf dem Planeten Jupiter recht genau auf
Minute
und Sekunde zu berechnen, und hierzu war eine ge-
raume
Zeit nötig, um die Umläufe und Verfinſterungen jedes
einzelnen
der vier Monde recht genau zu beobachten.
Allein hierbei fand ſich ein merkwürdiger, für den erſten
Augenblick
ſehr auffallender Umſtand.
Wir haben es bereits geſagt, daß der Planet Jupiter zu-
weilen
der Erde 20 Millionen Meilen näher ſteht, als der
Sonne
und zuweilen von der Erde 20 Millionen Meilen ent-
fernter
iſt, als von der Sonne.
Kommt nämlich die Erde bei
ihrem
Umlauf um die Sonne zwiſchen Jupiter und Sonne zu
ſtehen
, ſo iſt ihr Jupiter um dieſe Strecke näher;
ungefähr
nach
ſechs Monaten aber hat die Erde ihren halben Lauf
vollendet
und ſteht dann auf der entgegengeſetzten Seite;
ſie iſt
alſo
von Jupiter um 40 Millionen Meilen entfernter, als vor
einem
halben Jahre.
Nun aber zeigt ſich der Umſtand, daß
die
einfache Vorausberechnung der Finſterniſſe auf Jupiter
niemals
ſtimmt.
Iſt nämlich der Jupiter der Erde am nächſten,
ſo
kommt die Verfinſterung um acht Minuten zu früh;
iſt Jupiter
der
Erde am entfernteſten, ſo tritt die berechnete Erſcheinung
um
acht Minuten ſpäter, als die mittlere berechnete Zeit ein.
Dies hat man nicht einmal, ſondern an die hundert Male
beobachtet
und den Grund davon auch ganz richtig heraus-
gefunden
.
Er liegt darin, daß wenn wir Jupiter 20 Millionen
Meilen
näher ſind, als in der mittleren Entfernung, das Licht
nicht
nötig hat, dieſe 20 Millionen Meilen zu laufen, um die
Erſcheinung
uns zu zeigen;
befindet ſich die Erde aber nach
ſechs
Monaten 40 Millionen Meilen weiter ab vom Jupiter,
ſo
ſehen wir die Finſternis erſt, wenn das Licht auch
342138 Strecke durchlaufen hat. Hieraus aber ergiebt ſich mit Leichtig-
keit
, daß das Licht 20 Millionen Meilen in acht Minuten
durchläuft
, und das macht auf die Sekunde circa vierzig-
tauſend
Meilen.
Und dies Reſultat hat ſich aufs glänzendſte durch eine
andere
erhabene Entdeckung beſtätigt.
V. Die weiteren Beſtätigungen.
Es war im Jahre 1676, als der däniſche Naturforſcher
Olaw
Römer die herrliche Entdeckung machte, daß die Ver-
zögerungen
, welche ſich an den Verfinſterungen der Jupiter-
Monde
zeigten, ſo oft die Erde ſich von dieſem Planeten ent-
fernte
, nur daher rühren, daß das Licht, der Bote, der uns
von
dem, was in der Ferne vorgeht, Beſcheid bringt, ſich durch
vergrößerte
Entfernung verzögert, und alſo ſeine Botſchaft
ſpäter
ausrichtet, als es in der Nähe der Fall wäre.
Derſelbe
geiſtvolle
Aſtronom berechnete auch gleich die größer werdende
Entfernung
und die ſtattgehabte Verzögerung des Lichts und
zeigte
, daß ſich das Licht in jeder Sekunde an 40 000 Meilen
im
Raum fortbewegt.
Wie es mit allen erhabenen Erfindungen und Entdeckungen
geht
, ging es auch hier.
Es trat dieſer Entdeckung der große
Zweifel
entgegen, ob denn überhaupt aus dem einen Beiſpiel
des
Jupiters ein allgemeiner Schluß gezogen werden dürfe.
Es wäre möglich, daß jede Art von Licht, daß das Licht jedes
Sternes
etwa eben ſo eine verſchiedene Geſchwindigkeit beſitze,
wie
es eine verſchiedene Helligkeit der Farbe beſitzt.
Aus dem
einen
Fall, aus dem, was in dem Mondſyſtem des Planeten
Jupiter
vorgeht, und aus den Erſcheinungen, die ſich an
demſelben
für uns zeigen, läßt ſich in der That nicht viel auf
die
Natur des Lichtes ſchließen;
es wäre ja möglich, daß
343139 nur das Licht dieſes Planeten jene Geſchwindigkeit hätte,
während
es bei anderem Lichte ganz anders iſt.
Indeſſen folgte dem Zweifel, wie das immer bei größeren
Entdeckungen
zu geſchehen pflegt, die Beobachtung neuer That-
ſachen
, und es zeigte ſich bald eine Beſtätigung der Wahrheit,
die
nicht leicht glänzender möglich iſt.
Schon bei den Erſcheinungen, die ſich am Jupiter zeigen,
darf
man nicht außer acht laſſen, daß es nicht Jupiters und
ſeiner
Monde eigenes Licht iſt, welches wir überhaupt ſehen.
Jupiter iſt ein an ſich dunkler Planet, der erſt von der Sonne
erleuchtet
wird, und ſeinen Monden geht es ebenſo.
Gerade
daß
die Verfinſterungen Jupiters und der Monde ſtattfinden,
ſo
oft ſie ſich gegenſeitig das Sonnenlicht entziehen, gerade
das
giebt an ſich ſchon den ſchlagendſten Beweis, daß wir
am
Jupiterſyſtem die Natur des Sonnenlichts kennen lernen,
welches
auf den Jupiter hingelangt und von dort erſt zurück-
geſtrahlt
wird nach allen Richtungen.
Die gefundene Ge-
ſchwindigkeit
des Lichtes iſt alſo eigentlich die des Sonnenlichts,
und
da das ganze Sonnenſyſtem, da ſämtliche Planeten ſamt
ihren
Monden vom Sonnenlicht erleuchtet werden und nur
durch
dieſes für unſere Augen wahrnehmbar ſind, ſo hätte man
wohl
das Recht, das, was beim Jupiter ſich zeigte, als ein
Geſetz
anzuerkennen, das dem Sonnenlicht eigen iſt und alſo
im
ganzen Sonnenſyſtem gilt.
Indeſſen ließ ſich noch immer
der
Einwand erheben, daß es vielleicht nur der Planet Jupiter
und
ſeine Monde ſein könnten, die das Sonnenlicht in ſolcher
Geſchwindigkeit
zurückſtrahlen, ohne daß es notwendig iſt, daß
ein
gleiches allenthalben geſchieht.
Durch die Entdeckung der Monde des noch entfernteren
Planeten
Saturn und durch die Berechnung und Beobachtung
der
auch bei dieſen ſtattgehabten Verfinſterungen hat ſich aber
gezeigt
, daß das, was für Jupiter gilt, auch für die übrigen
Planeten
der Fall iſt.
Auch dieſe Verfinſterungen
344140 ſich ſcheinbar, ſo oft die Erde ſich von dem Planeten entfernt;
und auch hier iſt die Verſpätung genau dieſelbe wie beim
Jupiter
, ſo daß es klar iſt, daß die am Jupiter entdeckte Ge-
ſchwindigkeit
des Lichtes nicht von beſonderer Eigenſchaft des
Jupiterſyſtems
, ſondern von der Natur des Sonnenlichtes ab-
hängig
iſt.
Aber die Entdeckung ſollte nicht nur innerhalb des Sonnen-
ſyſtems
, ſondern in die Unendlichkeit weit hinaus ihre Beſtätigung
finden
und durch das ganze unendliche Bereich des Welt-
raumes
bewahrheitet werden.
Es ſteht durch eine glänzende Entdeckung des engliſchen
Aſtronomen
Bradley feſt, daß nicht nur das Licht der Sonne
dieſe
Geſchwindigkeit hat, ſondern daß das Licht ſämtlicher
Fixſterne
ohne Ausnahme mit gleicher Geſchwindigkeit den
Raum
durcheilt.
Die Entdeckung Bradleys iſt unter dem Namen die Ab-
Irrung
des Lichtes, “die Aberration”, in der Wiſſenſchaft
bekannt
, und wir wollen es im nächſten Abſchnitt verſuchen,
dieſelbe
, wenigſtens im allgemeinen, unſeren Leſern vorzuführen.
VI. Die Entdeckung Bradleys.
Die herrliche Entdeckung Bradleys, die den Beweis führte,
daß
es wirklich dem Menſchengeiſt gelungen iſt, ein Geſetz zu
erforſchen
, welches nicht nur in dem großen Raum des Sonnen-
ſyſtems
Geltung hat, ſondern auch weit in die Unendlichkeit
hinaus
und über alle Räume hinweg, zu welchem ſich kaum
mehr
die Phantaſie zu erheben vermag, dieſe Entdeckung
Bradleys
beruht auf folgendem Lehrſatz:
Die Geſchwindigkeit des Lichtes der Sterne durch den Welt-
raum
, verbunden mit der Bewegung der Erde in ihrer Bahn,
bringt
es zu Wege, daß wir die Sterne nicht an dem
345141 ſehen, wo ſie wirklich ſtehen, ſondern ein klein wenig nach der
Seite
hin geſchoben, nach welcher hin ſich die Erde bewegt.
Um dieſen Zuſtand möglichſt einfach zu erklären, müſſen
wir
uns an ein Beiſpiel halten, das im gewöhnlichen Leben
recht
gut denkbar iſt.
Stellen wir uns vor, daß ein mutwilliger Verbrecher eine
Kugel
abſchießt auf einen im vollen Zug ihm vorüberfahrenden
Eiſenbahn-Wagen
, und daß die Kugel ſtark genug iſt, durch
die
beiden Wände des Wagens zu gehen, ſo daß ſie auf der
einen
Seite in den Wagen eintritt und zur gegenüberſtehenden
Wand
wieder hinausfliegt.
Es läßt ſich denken, daß man, um genau zu wiſſen, wie
es
bei dieſer Miſſethat zugegangen iſt, den Wagen oder rich-
tiger
die Löcher in beiden Wänden unterſuchen wird, und
wenn
dies geſchieht, ſo findet man, daß die Kugel einen ganz
eigentümlichen
Lauf durch den Wagen genommen hat.
Nehmen
wir
an, der Thäter habe ſein Gewehr ſo gerichtet gehabt, daß
der
Schuß genau quer durch den Wagen hätte gehen müſſen,
ſo
wird die Unterſuchung ergeben, daß dies durchaus nicht
der
Fall iſt.
Die beiden Löcher in den gegenüberſtehenden
Wänden
werden nicht ſo gerichtet ſein, daß ſie ſich gegenüber-
ſtehen
, ſondern das Loch, das die Kugel beim Eintritt in den
Wagen
macht, wird ein wenig nach vorn, das Loch, das die
Kugel
beim Austritt aus dem Wagen macht, wird ein wenig
weiter
nach hinten liegen.
Wollte man eine Stange durch
beide
Löcher ſtecken, ſo würde die Stange nicht, wie man er-
warten
ſollte, in gerader Richtung mit den Bänken des Wagens,
ſondern
ſie würde ſchräg zu liegen kommen, und jemand, der
dies
ſieht, würde behaupten, der Schuß kann unmöglich gerade
gezielt
geweſen, ſondern müſſe ſchräg von vorne hergekommen
ſein
.
Und doch iſt der Schuß ganz gerade gerichtet geweſen und
die
Kugel iſt auch ganz gerade, d.
h. ſenkrecht durch die
346142 gelaufen, obgleich ſie durch den Wagen in ſchiefer Richtung
gelaufen
zu ſein ſcheint.
Woher aber kommt das?
Ein wenig Nachdenken wird dies leicht erklärlich machen.
Der Wagen war im vollen Lauf begriffen. Als die Kugel
die
erſte Wand durchbohrt hatte und nach der zweiten hinflog,
mußte
ſie durch die Breite des Wagens ihren Weg nehmen.
In der Zeit aber, daß die Kugel dieſen kleinen Weg von einer
Wand
zur andern machte, lief der Wagen ein Stück vorwärts.

Als
die andere Wand wirklich von der Kugel durchſchoſſen
wurde
, konnte dies nicht mehr an der Stelle ſtattfinden, wo
es
der Fall geweſen wäre, wenn der Wagen ruhig geſtanden
hätte
, ſondern es geſchah um ein ſo großes Stück hinter dieſer
Stelle
, als der Wagen in der Zeit vorwärts lief.
Ganz dasſelbe aber findet bei dem Lichtſtrahl ſtatt, der von
irgend
einem Sterne her auf die ſich fortbewegende Erde fällt.
Denken wir uns einen Aſtronomen, der durch ein Fernrohr nach
einem
Stern blickt, ſo befindet ſich der Aſtronom ſamt dem Fern-
rohr
, durch das er blickt, und mit der Erde, auf der er und
ſein
Inſtrument ſteht, im vollſten Lauf auf der Bahn um die
Sonne
.
Der Lichtſtrahl braucht offenbar eine Zeit, um von dem
vorderen
Glaſe des Fernrohrs bis zum hinteren Glaſe, wo das
Auge
des Aſtronomen ruht, zu gelangen, während dieſer Zeit
aber
geht die Erde ein Stück in ihrer Bahn vorwärts.
Der
Lichtſtrahl
würde alſo das Fernrohr gleich unſerer Kugel ſchräg
durchſchießen
, d.
h. der Stern würde nicht gerade durch die
Mittellinie
des Fernrohrs gehen, wenn wirklich das Fernrohr
nach
der Stelle gerichtet wäre, wo der Stern ſteht.
Will aber
der
Aſtronom den Stern in dieſer Mittellinie haben, ſo muß
er
das Fernrohr ein wenig nach vorn richten, d.
h. dahin
neigen
, wohin die Erde in ihrem Lauf ſich befindet, das heißt
aber
nichts anderes, als:
der Stern iſt an einer Stelle am
Himmel
ſichtbar, wo er in Wahrheit gar nicht ſteht!
347143
Ganz aber wie es mit dem Fernrohr der Fall iſt, ganz
ſo
iſt es mit dem bloßen Auge der Fall.
Auch unſer Auge iſt
eine
Art Fernrohr.
Der Lichtſtrahl eines Sternes, der ge-
ſehen
werden ſoll, muß durch die Vorderwand des Auges ein-
treten
, um bis zur Netzhaut zu gelangen, woſelbſt der Nerv
ſich
ausbreitet, der das Licht empfindet.
Aber ſelbſt zu dieſem
kleinen
Stückchen Raum braucht das Licht, das ſo ſchnelle, un-
glaublich
ſchnelle Licht eine Zeit, und während dieſer ſo ſehr
unglaublich
kleinen Zeit iſt die Erde ein Stück vorwärts ge-
rückt
;
der Lichtſtrahl geht alſo auch hier ſchräg, und wir er-
halten
den Eindruck desſelben von einer Stelle des Himmels
her
, wo in Wahrheit gar kein Stern ſteht!
Dieſe Erſcheinung nennt man die Aberration oder die Ab-
Irrung
des Lichtes, und die Bedeutung dieſer höchſt merk-
würdigen
Entdeckung wollen wir nunmehr in Kurzem unſeren
Leſern
vorführen.
VII. Wie Bradley die Ab-Irrung des Lichtes
entdeckte.
Schon die Art und Weiſe, wie die Ab-Irrung des Lichtes
entdeckt
wurde, iſt ebenſo merkwürdig wie intereſſant.
Wie in vielen Zweigen der Wiſſenſchaft ging es auch
hierbei
, daß der Entdecker eigentlich etwas ganz anderes ſuchte
und
bei dieſer Gelegenheit auf Erſcheinungen ſtieß, die ihm
als
unerklärlich auffielen, und während das Geſuchte nicht ge-
funden
werden konnte, gab das Suchen die Veranlaſſung zu
einer
neuen, nicht vermuteten Entdeckung.
Bradley, der Entdecker der Aberration des Lichts, wollte
eigentlich
die ſchon von allen Aſtronomen vergeblich angeſtellten
Beobachtungen
wiederholen, um die Entfernung eines Fixſterns
von
der Erde zu erforſchen.
Er wußte freilich, daß dieſe
348144 fernung außerordentlich groß ſein müſſe, daß ſelbſt der nächſte
Fixſtern
wohl millionenmal entfernter von uns ſein müſſe, als
die
Sonne;
allein er hoffte dennoch durch getreue Beob-
achtungen
eines Sternes während eines ganzen Jahres hinter
dies
Geheimnis zu kommen.
Er ſtellte ſich vor, wenn er ſein Fernrohr auf einen
Stern
richten würde, der genau ſeitwärts von der Bahn liegt,
in
welcher die Erde um die Sonne läuft, ſo müßte es ſich
doch
wohl im Laufe des Jahres zeigen, daß der Stern ſchein-
bar
ſeinen Ort verändere, und dies wäre ihm genügend ge-
weſen
, um dadurch die Entfernung dieſes einen Sterns von
der
Erde zu erkennen.
Nach ſeiner Vorſtellung müßte der Stern zur Zeit, wo
die
Erde demſelben nach rechts vorüberläuft, ein wenig auf-
wärts
zu ſteigen ſcheinen;
zur Zeit, wo die Erde in ihrer
Bahn
wieder zurück nach links läuft, müßte der Stern eine
ſcheinbare
Bewegung nach rechts machen;
und wenn die Erde
ſich
wieder in ihrer Bahn aufwärts bewegt, müßte der Stern
ſcheinbar
eine Bewegung abwärts zeigen.
Bradley hoffte, daß
es
ihm ſo gelingen würde, im Laufe eines Jahres, wo die
Erde
einen großen Kreis um die Sonne beſchreibt, am Stern
einen
entgegengeſetzten, kleinen, ſcheinbaren Kreislauf zu be-
merken
, und aus dem Verhältnis des großen Kreiſes der Erde
zu
dem kleinen, den der Stern ſcheinbar machen würde, wollte
er
die Entfernung des Sternes von der Erde berechnen.
Sein Plan war vollkommen wiſſenſchaftlich richtig; nur
war
zur damaligen Zeit noch nicht das Fernrohr zu ſolchen
feinen
Beobachtungen ausreichend genau gearbeitet, und es ge-
lang
derſelbe Plan erſt in unſeren Zeiten dem großen Aſtro-
nomen
Beſſel, deſſen Scharfſinn und Beobachtungsgabe noch
die
Verbeſſerung des Fernrohrs zu Hilfe gekommen war.
Bradley ſah das, was er ſuchte, nicht. Der Stern machte
nicht
jene Scheinbewegung, die er zu ſehen hoffte;
aber
349145 ſah er etwas anderes und zwar, daß der Stern nicht immer
an
demſelben Orte zu ſtehen ſcheine, ſobald die Erde eine
andere
Richtung in ihrem Laufe annahm.
Genaue, ſcharfe,
jahrelange
Beobachtungen zeigten ihm, daß der Stern, ſtatt
zurückzuweichen
, wenn die Erde ſich bei ihm vorüber bewegt,
ſich
gerade umgekehrt nach vorwärts zu bewegen ſcheint, und
dieſe
ſeinen Vermutungen faſt ganz entgegengeſetzten Erſchei-
nungen
führten ihn auf den wahren Gedanken, den wir be-
reits
angegeben haben, auf den Gedanken, daß der Lichtſtrahl
ſowohl
in ſeinem Lauf durch das Fernrohr wie durch unſer
Auge
wegen der gleichzeitig ſtattfindenden Bewegung der Erde
von
ſeiner Richtung abweichend erſcheinen muß.
Was Bradley nur an dem einen Stern bemerkte, daß
nämlich
ſein abirrender Strahl ihn uns an einer Stelle zeigt,
wo
er in Wahrheit nicht ſteht, das hat ſich bei allen Sternen
beſtätigt
gefunden, und aus dem Umſtand, daß dieſe Abirrung
des
Lichtſtrahls an allen Fixſternen gleich groß iſt, iſt der
Beweis
geführt, daß alles Licht, es möge herkommen, von
welchem
Weltkörper es wolle, und herrühren, von welcher
Weltgegend
es ſei, immer mit derſelben Geſchwindigkeit von
40
000 Meilen in der Sekunde ſich bewege.
Bedenken wir aber, daß es eben ſo kleine wie große, hell-
leuchtende
wie ſchwachleuchtende Sterne giebt, ebenſo das Licht
der
fernſten wie der nahen Sterne zu uns gelangt, und daß
trotzdem
jeder Lichtſtrahl dem gleichen Geſetz unterworfen iſt
und
alſo immer dieſelbe Geſchwindigkeit beſitzt, ſo haben wir
in
dieſem Geſetz des Lichtes nicht nur ein ſolches, das durch
alle
Räume des Weltalls gültig iſt, ſondern auch eins, das
für
jede Art von Licht gilt, es ſei fern oder nah, es ſei groß
oder
klein.
Ja, die Wahrheit dieſes Geſetzes von der Ge-
ſchwindigkeit
des Lichtes gilt auch für alles Licht irdiſcher
Flammen
, für alle vergangenen Zeiten, denn wir werden ſo-
fort
ſehen, daß man das Recht hat zu ſchließen, es ſei das
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher VIII.
350146
Licht vor Millionen von Jahren auch nicht anders und deſſen
Geſchwindigkeit
dem jetzigen ganz gleich geweſen.
VIII. Ein Blick in die Unendlichkeit.
Man darf die Behauptung aufſtellen, daß es erſt, ſeitdem
die
Geſchwindigkeit des Lichtes erforſcht worden, dem Menſchen-
geiſt
gelungen iſt, ſich einen großartigen Maßſtab für das Be-
greifen
unendlicher Zeiten und unendlicher Räume zu ſchaffen.
Eine Sekunde iſt eine ſo kleine Zeit, und 40 000 Meilen
ſind
dagegen ein ſo ungeheurer Raum, daß hierzu eine Kühn-
heit
des Gedankens gehört, dieſen ungeheuren Raum einer ſo
geringen
Zeit gleich zu ſetzen.
Nun läßt es ſich zwar nicht
leugnen
, daß die Philoſophen aller Zeiten mit dem Gedanken
der
Unendlichkeit ſtets ein ſehr kühnes Spiel getrieben und daß
es
an Vorſtellungen von unendlichen Zeiten und unendlichen
Räumen
nicht gefehlt hat.
Allein es iſt ganz etwas anderes,
wenn
Gedanken dieſer Art nur ein Ausfluß abſtrakter Ideen,
oder
wenn ſie aus den Beobachtungen einer Welt der Wirk-
lichkeit
entnommen ſind.
Es iſt ganz etwas anderes, wenn
der
menſchliche Geiſt ſich nur mit leeren Zahlen beſchäftigt und
unendliche
Summen in Ziffern ausdrückt, als wenn er ſich ſagt,
daß
in der wirklichen Welt eine Geſchwindigkeit vorhanden
und
wirkſam iſt, von der ſich jeder überzeugen kann, daß in
dieſer
Geſchwindigkeit eine kleine Sekunde einen für unſere
Begriffe
unendlich großen Raum von 40 000 Meilen umfaßt.
In der That hat die Vorſtellungskraft der Menſchen durch
dieſe
Entdeckung einen höheren Aufſchwung genommen und zu-
gleich
eine feſtere Grundlage in der Wirklichkeit erhalten.
Aus
der
erkannten Geſchwindigkeit des Lichtes, im Verein mit der
weiter
fortgeſchrittenen Forſchung, welcher es in neuerer Zeit
wirklich
gelungen iſt, die Entfernung einiger Fixſterne
351147 meſſen, erſchließen ſich dem menſchlichen Geiſt ſichere und feſte,
auf
Natur-Wahrheiten gegründete Annahmen über das Weltall,
die
ſonſt nur zu den leeren Phantaſien gehörten, mit welchen
man
ein um ſo harmloſeres Spiel zu treiben imſtande iſt, je
weniger
Naturwahrheit dahinter ſteckt.
Was Bradley vergebens geſucht hatte, gelang nämlich in den
letzten
Jahrzehnten mehrfach.
Der unſterbliche Aſtronom Beſſel
vermochte
die Entfernung eines kleinen Sternes im Sternbild
des
Schwans zu meſſen, welcher dem Auge keine beſondere
Merkwürdigkeit
darbietet, der aber durch ſeine ſehr merklichen
Ortsveränderungen
die Aufmerkſamkeit der Aſtronomen auf ſich
gezogen
hatte.
Beſſels unvergleichlich genaue Meſſungen und
Beobachtungen
entdeckten, daß wirklich an dieſem Stern die
jährliche
ſcheinbare Bewegung zu merken iſt, welche durch den
Umlauf
der Erde um die Sonne hervorgebracht wird.
Der
Stern
beſchreibt ſcheinbar einen äußerſt kleinen, der Umlaufs-
bahn
der Erde entgegengeſetzten Kreis, und aus der genauen
Meſſung
dieſes Kreiſes ergab ſich, daß der Stern in einer
Entfernung
von etwa elf und ein halb Billionen Meilen von der Sonne ſich befindet.
Eine Entfernung dieſer Art iſt für die menſchliche Vor-
ſtellungsgabe
vollkommen unerfaßlich.
. Ein Dampfwagen, der
täglich
200 Meilen zurücklegt, würde nicht weniger als 160 Mil-
lionen
Jahre brauchen, um zu dieſem Stern zu gelangen.
Nur
durch
die Geſchwindigkeit des Lichts vermag man ſich einen
näheren
Maßſtab für dieſe Entfernung zu verſchaffen.
Das
Licht
dieſes Sternes braucht eine Zeit von acht Jahren und
acht
Monaten, um zu uns zu gelangen.
Den Aſtronomen Struve und Argelander und anderen
ſind
noch einige Meſſungen gelungen, aus welchen ſich die
Entfernungen
anderer Fixſterne mit gleicher Sicherheit ergeben.
1
111 Billion iſt 1 Million mal 1 Million (1 000 000 000 000).
352148
Die Reſultate ſind denen Beſſels ähnlich, und man hat Ur-
ſache
, die ungefähre Entfernung eines Fixſterns vom anderen
ſo
anzunehmen, daß das Licht einen Zeitraum von mehreren
Jahren
braucht, um von einem zum anderen zu gelangen.
Iſt dem aber ſo, ſo iſt dem menſchlichen Geiſte ein ver-
ſtändlicherer
Blick in die Unendlichkeit der Räume und ſomit
auch
in die Unendlichkeit der Zeiten eröffnet.
Nehmen wir an, daß durchſchnittlich ein Fixſtern vom
anderen
eben ſo entfernt iſt, wie die Sonne von dem Fixſtern
im
Schwan, ſo iſt es klar, daß von zehn Sternen, die ſchein-
bar
neben einander am Sternenhimmel ſtehen, einer zehnmal
entfernter
von uns iſt, als der nächſte.
Sein Licht braucht
alſo
ſiebenundachtzig Jahre, um zu uns zu gelangen.
Nun aber giebt es Stellen am Himmel, wo das Fernrohr
Hunderte
, ja ſogar Tauſende von Sternen in einer Richtung
ſtehend
zeigt.
Unter dieſen Hunderten iſt ohne Zweifel einer,
der
hundertmal weiter entfernt iſt, als der uns nächſte.
Sein
Licht
braucht alſo faſt ein Jahrtauſend, um bis zu uns zu
kommen
.
Wo man Tauſende beiſammen ſieht, iſt ohne Zweifel
auch
ein Stern darunter, deſſen Licht, das jetzt in unſer Auge
fällt
, bereits zehntauſend Jahre unterwegs iſt.
Das Licht der
allbekannten
Milchſtraße” z.
B. braucht ca. 2000 Jahre, um
zu
uns zu gelangen.
Beweiſt aber das Geſetz der Ab-
irrung
des Lichtes, daß auch deſſen Licht dieſelbe Geſchwin-
digkeit
hat, die wir am Lichte überhaupt beobachten, ſo ſehen
wir
, daß wir hier in der erforſchten Geſchwindigkeit des
Lichtes
ein Naturgeſetz haben, deſſen Wahrheit zurückgreift in
zehntauſend
Jahre, in eine Zeit, von welcher unſere Voreltern
glaubten
, daß da die Welt noch gar nicht geſchaffen geweſen ſei!
All’ das ſind jetzt nicht mehr Phantaſien, geiſtreiche Einfälle,
ſondern
wirkliche, auf Naturwahrheiten gegründete Schlüſſe.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
353
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. @otonié und R. Hennig.
Neunter Teil.
73[Figure 73]
Berſin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
354
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
355
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Bon der Eniwickelung des tieriſchen Lebens.
I
. # Vom Ei und vom Leben . . . . . . . . . . # 1
II
. # Von dem Studium der Entwickelung des Lebens . . . # 4
III
. # Die Brütung des Eies . . . . . . . . . . . # 8
IV
. # Was ſteckt eigentlich im Ei? . . . . . . . . . # 11
V
. # Beſehen wir uns das Ei . . . . . . . . . . # 14
VI
. # Wie die Rechnung genau ſtimmt . . . . . . . . # 18
VII
. # Wie ein Ei zur Welt kommt . . . . . . . . . # 21
VIII
. # Das Ei in der Bildungsanſtalt . . . . . . . . # 25
IX
. # Was man ſieht und was man nicht ſieht . . . . . # 28
X
. # Nach der Brütung von ſechs und von zwölf Stunden . # 35
XI
. # Inwiefern das Hühnchen durch die Art ſeiner Ent-
# wickelung auf ſeine Ur-Vorfahren weiſt . . . . . # 38
XII
. # Wir ſehen etwas vom Hühnchen . . . . . . . . # 41
XIII
. # Das Hühnchen iſt einen Tag alt . . . . . . . . # 44
XIV
. # Ein Blick in die Hühnerfabrik . . . . . . . . . # 47
XV
. # Wie Einem Hören, Sehen und Denken vergehen kann . # 51
XVI
. # Ein Weſen von Kopf und Herz . . . . . . . . # 54
XVII
. # Das lebendige Drei-Blatt . . . . . . . . . . . # 57
XVIII
. # Wie viel das Hühnchen am dritten Tage zu thun hat . # 60
XIX
. # Drei neue Lebenstage . . . . . . . . . . . . # 63
XX
. # Wie das Hühnchen anfängt, Tauſchgeſchäfte zu machen . # 67
XXI
. # Das Rommiſſionsgeſchäft für ungeborene Weſen . . . # 70
XXII
. # Das Hühnchen wird ſeinen Eltern immer ähnlicher . . # 73
XXIII
. # Bis zum Auskriechen . . . . . . . . . . . . # 76
XXIV
. # Wie das Hühnchen ſich reiſefertig für das Leben macht . # 79
XXV
. # Ein gedankenſchwerer Abſchied vom Hühnchen . . . . # 82
356IV11
# # Seite
## Vom Hypnotismus.
I
. # Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . # 86
II
. # Das Weſen der Suggeſtion . . . . . . . . . # 87
III
. # Von denWachſuggeſtionen” . . . . . . . . . # 89
IV
. # Eine Hinrichtung durch Suggeſtion . . . . . . . . # 92
V
. Die Suggeſtionen im gewöhnlichen Schlaf . . . . . # 93
VI
. # Das Nach@wandeln . . . . . . . . . . . . # 95
VII
. # Die Herbeiführung des hypnotiſchen Schlafes . . . . # 97
VIII
. # Die Erſcheinungen während des leichteren hypnotiſchen
# # Schlafes . . . . . . . . . . . . . . . . # 100
IX
. # Die Erſcheinungen während des hypnotiſchen Tiefſchlafes # 102
X
. # Die ſogenannte Poſthypnoſe . . . . . . . . . # 109
XI
. # Vom verbrecheriſchen Mißbrauch des Hypnotismus . . # 113
XII
. Iſt die Hypnoſe nicht ſchädlich? . . . . . . . . # 117
XIII
. # Der Nutzen des Hypnotismus . . . . . . . . . # 120
357
Von der Entwickelung des tieriſchen Lebens.
I. Vom Ei und vom Leben.
Wir wollen heute in dem Reiche der Naturwiſſenſchaft ein
für
unſere Betrachtung neues Gebiet betreten:
müſſen aber mit
einem
Ausſpruch beginnen, der alt, ſehr alt iſt, einem Aus-
ſpruch
, der ſich ſchon bewährt hat, noch ehe ein menſchliches
Weſen
auf der Erde lebte.
Der Ausſpruch heißt: Die Vögel kriechen aus den Eiern
heraus
.
Es iſt eine eigentümliche Art geboren zu werden als Ei;
Zur Welt zu kommen in einem völlig von allen Seiten ver-
ſchloſſenen
Gefängnis.
Noch eigentümlicher iſt es, innerhalb
dieſes
Gefängniſſes erſt geformt und was man ſo nennt
belebt
zu werden.
Am kurioſeſten aber iſt es, nicht früher die
weite
Welt betreten zu können, bis man die Mauer des Ge-
fängniſſes
ſelber durchbrochen hat, um ſo zu ſagen noch vor
dem
erſten Schritt ins Leben ein ganz gehöriger Ausbrecher
werden
zu müſſen.
Daß dem ſo iſt, weiß freilich alle Welt. Das aber iſt
nicht
Allen bekannt, daß nicht nur Alles, was Federn hat, in
ſolcher
Weiſe verurteilt iſt, zur Welt zu kommen, ſondern daß
alle
Lebeweſen in ähnlicher Art ihren Ausflug in die Welt
machen
.
Die Vögel bringen Eier zur Welt, aus welchen ſich junge
Vögel
entwickeln;
aber darum ſind alle anderen Tiere und auch
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
3582
der Menſch, der ſich erhaben dünkt über die Tiere, doch nicht
beſſer
daran;
denn alles Leben entwickelt ſich erſt in dem Ei.
Selbſt diejenigen Geſchöpfe, die lebendig zur Welt kommen,
haben
im Schoß der Mutter in einem Ei ſich erſt gebildet und
genießen
nur den einen Vorzug, in ungelegten Eiern entſtanden
zu
ſein.
Viele Muttertiere bringen die Eier zur Welt, und geben
ihnen
dann nichts mehr als Zeit und höchſtens Wärme, um
die
Entwickelung der Jungen in den Eiern zu befördern;
alle
übrigen
Muttertiere aber und der Menſch macht keine Aus-
nahme
tragen die Jungen in Eihäute gehüllt mit ſich herum,
bis
ſie im Mutterleibe lebendig und lebensfähig für die Welt
werden
, und entledigen ſich dann ſowohl der Jungen wie auch
der
Eihäute, in welchen dieſe gelegen haben.
Vögel, Fiſche, Inſekten u. ſ. w. werden in Eiern gebildet,
die
vor ihnen zur Welt kommen;
die andern Tiere, die man
gewöhnlich
Säugetiere nennt, bilden ſich in Eihäuten aus, die
nach
ihnen aus dem Mutterleibe entfernt werden.
Und wenn
die
erſteren Tiere nicht früher ins freie Leben treten, bevor ſie
nicht
die Wände ihres Kerkers durchbrochen haben, ſo unter-
ſcheiden
ſich die Tiere letzterer Art nur dadurch von ihnen, daß
ſie
durch einen doppelten Kerker durchbrechen müſſen, um an die
Luft
zu kommen:
die Kerkerwand ihres Eies und die Pforte
des
Mutterſchoßes.
Alles Leben entwickelt ſich aus dem Ei! Oder wie
die
heutige Naturforſchung genauer ſagt Alle lebenden
Weſen
ſind in ihrem erſten Stadium nur eine Zelle geweſen,
die
man bei den höheren Tieren als Eizelle bezeichnet.

Dies
iſt ein Lehrſatz, der zwar alt iſt, der aber in neuerer
Zeit
erſt recht durch Forſchungen bewahrheitet worden iſt.
Im Ganzen und Großen hat man zwar ſchon ſeit langer
Zeit
gewußt, daß jedes Tier erſt in einem Ei entſteht, welches
im
Mutterſchoß des Leben erweckenden Momentes harrt,
3593 ſich zu entwickeln und ſpäter in die Welt hinauszutreten. Von
ſelbſt
verſtand es ſich alſo, daß kein Tier geſchaffen werden
konnte
, ohne Eltern, ohne Mutter mindeſtens, in welcher die
Eier
des jungen Tieres entſtehen.
Als jedoch die Infuſorien
entdeckt
wurden, als man mit außerordentlichen Vergrößerungs-
gläſern
ſah (ſiehe Teil VIII, S.
80), wie eine Unzahl von
Tierchen
in einem wenig Waſſer entſteht, welches man auf
faulende
Pflanzenreſte gegoſſen:
da glaubte man gefunden zu
haben
, daß Tiere auch ohne Eier eines Muttertieres ins Daſein
treten
könnten, und man wähnte
74[Figure 74]Fig. 1.
Ein
Infuſor in 3 verſchiedenen
Stadien
der Teilung.
ſogar hinter das Geheimnis der
erſten
Entſtehung der belebten Tier-
welt
gekommen zu ſein, von welcher
man
annahm, daß ſie aus zer-
fallenen
Pflanzenſtoffen hervorge-
krochen
ſein könnte.
Hierdurch aber
war
der Lehrſatz, daß alles Leben
ſich
im Ei entwickele oder ſich doch
ſtets
nur in Anknüpfung an bereits
vorhandene
Lebeweſen entwickele,
erſchüttert
, denn die Infuſorien, ſo behauptete man, entſtänden
ohne
Zuthun bereits vorhandener Infuſorien.
So ſchmeichelhaft dieſer Gedanke auch für die Infuſorien
und
für die erſten lebenden Weſen auf der Welt und nament-
lich
für diejenigen Gelehrten war, die hierdurch ſchon glaubten,
von
den Geheimniſſen der erſten Schöpfung den Schleier hin-
weggehoben
zu haben, ſo wenig bewährte ſich dies durch die
Beobachtung
, da ſich die Infuſorien, indem ſie ſich der Quere
nach
teilen und ſo zwei Individuen bilden (Fig.
1), ebenfalls
fortpflanzen
.
Bei dieſer Fortpflanzungsart degenerieren die
Individuen
jedoch nach und nach, und es wird das gänzliche
Abſterben
dadurch verhindert, daß die ſchädlichen, zum Tode
führenden
Eigenheiten dadurch wieder ausgeglichen
3604 daß zwei Individuen teilweiſe miteinander verwachſen, ihre
Inhaltsbeſtandteile
miteinander miſchen (Fig.
2) und ſich dann
wieder
voneinander trennen.
So vorbereitete Individuen
erzeugen
durch die ſchon erwähnte Teilung dann wieder gut
lebensfähige
Individuen-Reihen.
Da aus einem Tier zwei,
aus
dieſen beiden 4, aus dieſen 8, aus dieſen 16, dann 32,
75[Figure 75]Fig. 2. dann 64 u.
ſ. w. werden können, alſo die
Fortpflanzung
außerordentlich ſchnell zu
hohen
Individuen-Zahlen kommt, ſo iſt es
begreiflich
, daß, wenn Waſſer über die
Pflanzen
gegoſſen wird, es oft nur wenige
Stunden
währt, um Millionen von Tierchen
entſtehen
zu laſſen, die dann freilich wie
neue
, elternloſe Geſchöpfe erſcheinen.
Durch dieſe Beobachtungen, welche ſich
bisher
immer mehr beſtätigt haben, iſt der
Lehrſatz
nunmehr feſtgeſtellt worden, daß
kein
tieriſches Leben möglich ſei ohne deſſen
Entwickelung
im Ei oder doch ohne Herkunft von bereits vor-
handenen
Organismen.
Wie aber entſteht das Leben im Ei?
Dieſe Frage iſt ſicherlich die wichtigſte Lebensfrage, und
wir
wollen uns hier in ſchlichter Belehrung ein wenig von dem
Ei
und dem Leben zu unterhalten ſuchen, von einem Thema,
das
zu den bedeutſamſten im Bereich der Naturwiſſenſchaft
gehört
.
II. Von dem Studium der Entwickelung des Lebens.
Ein äußerſt wichtiger Teil der Wiſſenſchaft von den Lebe-
weſen
, der Biologie, iſt die Lehre von der Entwickelung der
Lebeweſen
, oder genauer, die Lehre darüber, wie ſich
3615 lebendes Weſen aus dem Ei, jedenfalls von Anbeginn ſeiner
Entſtehung
ab entwickelt, bis es ein Geſchöpf wird, das ſelb-
ſtändig
ſein Leben in der großen Welt antritt.
Die Unterſuchung und genaue Beobachtung der Eier,
welche
außerhalb des mütterlichen Leibes lebendige Weſen in
ſich
entwickeln, iſt ſchon mit großer Schwierigkeit verbunden.
Größere Schwierigkeiten noch bietet die Entwickelung der
Tiere
, die lebendig zur Welt kommen, die alſo ihr Werden
und
Leben im Ei noch im verſchloſſenen Mutterleibe erhalten.
Es iſt ſehr leicht, ſich Froſch-Laich zu verſchaffen, das ſind
die
Eier der Fröſche, die in großer Zahl im Frühjahr in einer
ſchleimigen
Maſſe auf jedem Sumpfwaſſer ſchwimmen, und
man
braucht nicht viel Kunſt darauf zu verwenden, um die
jungen
Fröſche daraus hervorgehen zu ſehen.
Man braucht
den
Laich nur in einem Glaſe Waſſer ruhig ſtehen zu laſſen
und
kann das intereſſante Schauſpiel in ſeiner Stube genießen.
Ja, wenn man nur ausharrt, kann man noch mehr ſehen, denn
man
wird dann wahrnehmen, wie der junge Froſch eine Art
Fiſch
mit Vorderfüßen (Kaulquappe) iſt;
wie er aber, ſobald
er
aus den Flegeltagen hinaus iſt, ſich vor den Augen des
Beobachters
nach und nach verwandelt, wie der Schwanz des
jungen
Froſches verdorrt, trotzdem er im Waſſer lebt, und ſich
neben
dem Schwanz zwei Hinterbeine entwickeln, die noch mehr
als
gehen, nämlich ganz gewaltige Sprünge machen können.

Unſere
Figur 3 giebt eine Anſchauung von dieſer Entwickelung.
Die Eier von Fiſchen, der Rogen, die Eier von See-Igeln
und
anderen Waſſertieren ſind ebenfalls ſehr leicht herbei-
zuſchaffen
und im ganzen iſt es auch leicht, ſehr unterhaltende
Beobachtungen
an der Entwickelung derſelben zu machen.
Allein diejenigen, die dies nicht als bloß intereſſante Unter-
haltung
betrachten, ſondern ſich die Aufgabe ſtellen, die Ent-
wickelung
des lebenden Weſens aus oder richtiger noch in dem
Ei
zum ernſten Studium zu machen, die dürfen ſich nicht
3626 leichten Blicken auf die Wunder der Natur begnügen, ſondern
müſſen
mit unermüdlicher Sorgfalt und Ausdauer Schritt für
76[Figure 76]Fig. 3.1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Schritt die Entwickelung belauſchen und haben größere Mühe
mit
einem kaum ſichtbaren, kleinen Fröſchchen, als mancher
Vater
mit der Erziehung ſeiner leiblichen Kinder.
3637
Wie aber fängt man es an, um die Entwickelung ſolcher
lebenden
Weſen kennen zu lernen, die ihre Entwickelung in
einem
vom Mutterleibe umſchloſſenen Ei vollbringen?
Der
Wiſſensdurſt
der Naturforſcher hilft ſich freilich durch Töten
ſchwangerer
Muttertiere, und nicht wenige Hunde, Kaninchen
und
Schweine müſſen in den Tod gehen, um dem Menſchen
die
Lehre von der Entwickelung der Lebeweſen enträtſeln zu
helfen
.
Es mag dies grauſam ſein; allein da Millionen
von
Tieren einmal das Schickſal haben, den Appetit des
menſchlichen
Magens zu ſtillen, ſo dürften diejenigen Tiere
noch
zu beneiden ſein, die nur ſterben, um den Appetit des
menſchlichen
Geiſtes, den Wiſſensdrang zu befriedigen.
Es
reicht
indeſſen ſelbſt die nicht kleine Zahl der Tiere, die in
ſolcher
Weiſe unter den Händen der Naturforſcher ihr Leben
aushauchen
, bei weitem nicht aus, um befriedigende Reſultate
verſprechen
zu können, und man iſt bei der Erforſchung der
Entwickelung
ſolcher Tiere, die lebendig zur Welt kommen, auf
die
Vergleichung hingewieſen, welche ſich in den Erſcheinungen
derjenigen
Tiere darbieten, deren Eier außerhalb des Mutter-
leibes
ſich zu lebenden Weſen ausbilden.
Nennt man ſolche Eier die gelegten und die andern, die
nicht
aus dem Mutterleibe treten, die ungelegten, ſo kann man
von
der Wiſſenſchaft ſagen:
ſie beſchäftige ſich ſehr fleißig mit
gelegten
Eiern, um ſich nicht ſo eifrig um die ungelegten Eier
kümmern
zu müſſen.
Durch Vergleichung der Beobachtungen bei ſolchen gelegten
und
anderen im Muttertier ſich entwickelnden Eiern hat ſich die
Wiſſenſchaft
von der Entwickelung der lebenden Weſen erſt recht
Bahn
gebrochen, wie man denn überhaupt durch Vergleichung
der
körperlichen Beſchaffenheit der Tiere und ihres Lebens mit
der
körperlichen Beſchaffenheit des Menſchen und ſeiner Lebens-
Thätigkeit
erſt in neuerer Zeit imſtande geweſen iſt,
3648 Aufſchlüſſe zu liefern, die einſt die Grundlage einer tüchtigen
wiſſenſchaftlichen
Heilkunde bilden werden.
Von allen Eiern jedoch, die in ſolcher Weiſe der wiſſen-
ſchaftlichen
Beobachtung gedient haben, iſt keines ſo fleißig in
ſeiner
Entwickelung ſtudiert worden, als das Hühner-Ei.
Und ſo wollen auch wir die Entwickelung eines Hühnchens
im
Ei zum Gegenſtand unſerer Unterhaltung machen, und es
verſuchen
, unſern Leſern ſo deutlich, als es bei einem ſo ſchwie-
rigen
Thema möglich iſt, zu zeigen, ob und wo und wie im
Ei
ein Hühnchen ſteckt, woraus es ſich entwickelt, wie es ſich
aufbaut
, und auf welche Weiſe ein Ding, das nur geſchaffen
ſcheint
, um Eierkuchen daraus zu machen, eigentlich den Beruf
hat
, ein lebendiges Weſen zu werden und auch ein lebendiges
Weſen
wird, wenn man ihm zwei Dinge gewährt, nämlich
37
Grad Wärme und einundzwanzig Tage Zeit.
Denn ſo kurios der Gedanke auch klingen mag, ſo iſt er
doch
ganz und gar wahr und wahrhaftig:
Ein Hühner-Ei
nebſt
37 Grad Wärme und einundzwanzig Tagen Zeit iſt
ein
lebendiges Hühnchen.
III. Die Brütung des Eies.
Was ein Hühner-Ei iſt, weiß jede Hausfrau oder glaubt
wenigſtens
, es zu wiſſen.
Was 37 Grad Wärme ſind, davon
kann
man ſich leicht einen Begriff verſchaffen, wenn man ſich
den
Finger in den Mund ſteckt, woſelbſt dieſer Grad von Wärme
herrſcht
, und was einundzwanzig Tage beſagen, kann jeder in
genau
drei Wochen beliebig kennen lernen.
Obwohl nun jedes dieſer drei Dinge nicht die mindeſte
Ähnlichkeit
mit einem lebenden Hühnchen hat, iſt dennoch nichts
weiter
nötig, um ein lebendes Hühnchen herzuſtellen, als eben
einem
Ei durch einundzwanzig Tage 37 Grad Wärme zuzuführen.
3659
Schon im hohen Altertum wußten dies die Menſchen.
Die Ägypter hatten ſchon die richtige Vorſtellung davon, daß
das
Huhn, welches Eier ausbrütet, eben nichts thut, als daß
es
demſelben die Wärme des eigenen Leibes verleiht, die un-
gefähr
37 Grad beträgt.
Mit richtigem Blicke erkannten ſie,
daß
man die Thätigkeit des Brüthuhnes bequem erſetzen kann
durch
Brütöfen, in welchem man einundzwanzig Tage lang eine
Wärme
von 37 Grad künſtlich unterhält.
In neuerer Zeit ſind die Brütöfen auch bei uns einge-
führt
worden, und man hat bereits begonnen, ſolche Hühner-
Fabriken
in großartigem Maßſtabe anzulegen.
Für wiſſen-
ſchaftliche
Zwecke aber ſind gegenwärtig Brütmaſchinen von
beliebiger
Größe zu haben, und ein Liebhaber ſolcher intereſ-
ſanten
Verſuche kann für ein paar Thaler ſchon eine ſolche er-
ſtehen
und ſelbſt in ſeiner Putzſtube das Vergnügen genießen,
ſich
lebendige Hühnchen zu bereiten.
Eine Brütmaſchine iſt ſehr einfach eingerichtet; wenn auch
nicht
ſo einfach, wie die Einrichtung, die die Natur ſelbſt ver-
anſtaltet
.
Die Brüthenne, das wird wohl ſchon Jeder beobachtet
haben
baut ſich behufs der Brütung ein Neſt aus dürren
Zweigen
, Strohhalmen und erdigen Beſtandteilen.
Sie weiß
dies
Material vortrefflich zu wählen, und nimmt nur ſolches
dazu
, das, wenn es einmal erwärmt iſt, die Wärme hält, oder
wie
man dies wiſſenſchaftlich ausdrückt:
das Huhn macht ſein
Neſt
aus Materialien, die ſchlechte Wärme-Leiter ſind;
dazu
verſorgt
die Natur die Brüthenne mit ganz beſonders reich-
haltigen
Federn auf der ganzen unteren Hälfte ihres Leibes.
Liegen nun die Eier im Neſte, ſo ſtopft die Mutterhenne auch
wohl
noch Federn zwiſchen und um dieſelben, um ſie noch
beſſer
vor dem Erkalten zu ſchützen, ſetzt ſich darauf und deckt
mit
ihrer Bruſt, ihrem Leib und ihren Flügeln die künftigen
Geſchlechter
, die als Eier unter ihr ruhen.
36610
Freilich ſind die Eier, die am Rand liegen, nicht ſo gut
gegen
das Erkalten geſchützt als die, die unter der Bruſt der
Henne
in der Mitte des Neſtes ruhen.
Allein das Huhn weiß
ſeine
Sorgfalt ſehr gleichmäßig zu verteilen, und wenn die
Eier
in der Mitte weiter in der Brütung vorgeſchritten ſind,
ſchiebt
es dieſelben an den Rand und legt die bisher dort ge-
legenen
in die wärmere Mitte.
Da all’ dies ohne viel Kopfzerbrechens geſchieht und der
Henne
nicht ein bißchen Nachdenken koſtet, ſo ſteht es wohl feſt,
daß
dies, wie Alles, was die Natur macht, höchſt natürlich,
das
heißt höchſt einfach iſt, obgleich wir, die klugen Menſchen,
uns
vergebens das bißchen Verſtand zerſinnen, um es heraus-
zukriegen
, wie das Huhn zu all’ der Sorgfalt kommt.
Ja, das Huhn verſteht ſich auch auf die Eier beſſer als
die
klugen Menſchen.
Unbefruchtete Eier entwickeln keine
Hühnchen
.
Mit all’ unſerm Scharfſinn und all’ unſern Be-
obachtungswerkzeugen
und all’ unſern Mikroſkopen wiſſen wir’s
den
Eiern nicht abzuſehen, ob aus ihnen ein lebendiges Tier-
chen
hervorkommen wird.
Das aber ſteht feſt, daß das Huhn
ſchon
nach kurzer Brützeit dies ſehr wohl merkt, und die
lebensunfähigen
Eier aus dem Neſte wirft oder das Neſt ver-
läßt
, wenn ſich darin kein lebensfähiges Ei beſindet.
So einfach, ſo ganz ohne nachzudenken, man möchte ſagen
ſo
ſimpel, iſt freilich das künſtliche Ausbrüten nicht, und es
bedurfte
mannigfacher Verbeſſerungen, um ſogenannte einfache
Brütmaſchinen
herzuſtellen.
Gleichwohl iſt deren Einrichtung
für
den klugen Menſchen einfach genug.
Ein kleinerer Blechkaſten wird ſo in einen größern hinein-
geſtellt
, daß rings um den kleinern ein mäßiger Raum bleibt.
In dieſe Zwiſchenräume wird Waſſer hineingegoſſen und ein
Thermometer
hineingeſtellt, und unter dem großen Blechkaſten
iſt
eine Petroleum-Lampe angebracht, durch die man das Waſſer
immer
in einer Wärme von 37 Grad erhalten kann.
36711 warme Waſſer erwärmt nun den in ihm ſtehenden kleinern
Kaſten
, deſſen Raum nun einen gleichen Grad Wärme erhält,
und
legt man dann auf den Boden dieſes kleinern Kaſtens ein
Stück
Filz und auf dieſes eine Anzahl friſcher Eier, ſo braucht
man
nur einundzwanzig Tage zu warten, und aus den Eiern
ſind
wenn ſie eben gut ſind eben ſo viele Hühnchen ge-
worden
.
Aber wie wird das?
Nun das werden wir nach einiger Vorbereitung ſchon
näher
betrachten.
IV. Was ſteckt eigentlich im Ei?
Wenn die Erfahrung nicht den unumſtößlichen Beweis
lieferte
, daß ſich aus einem Ding, wie ein Hühner-Ei iſt, ein
Hühnchen
entwickelt, es würde der Verſtand der verſtändigſten
Menſchen
nicht die leiſeſte Ahnung davon haben.
Es hat eine Zeit gegeben, wo man ſich einbildete, daß in
einem
Ei irgendwo an einer Stelle ein kleines, ſehr kleines,
unſeren
Augen unſichtbares Hühnchen ſchlummere, welches eben
nur
unter dem Einfluß von Wärme und Zeit zu wachſen und
aufzuwachen
brauche, um ſichtbar zu leben.
In jener Zeit
machte
man ſich auch von den Pflanzen eine ähnliche Vor-
ſtellung
.
In einem Apfelkern, ſo ſagte man, ſtecke ein unſicht-
barer
, unendlich kleiner Apfelbaum, der eingepflanzt zu einem
ſichtbaren
, großen Baume heranwächſt;
und man glaubte in
ſolcher
Weiſe das Rätſel des Wachstums erklärt.
Ja, man
ging
noch weiter.
Wenn in dem Apfelkern der künftige ganze
Baum
ſtecke, ſo müſſen auch die künftigen Äpfel ſchon in ihm
vorhanden
ſein, und da in jedem dieſer Äpfel wieder Äpfel-
kerne
ſind, die ebenfalls ganze Bäume in ſich tragen, ſo ſei
eigentlich
in jedem Apfelkernchen eine unendliche Reihe
36812 Baumgeſchlechtern eingeſchachtelt. Man dehnte dieſe kurioſe
Vorſtellung
auf alles in der Welt aus und ſah in jedem Ding,
das
ſich entwickeln kann, immer eine Art Einſchachtelung, in
welcher
die ganze Zukunft ſchlummerte.
Dieſe kurioſe Vor-
ſtellung
wurde die Einſchachtelungstheorie genannt, die
nicht
wenig Anhänger unter den Natur-Philoſophen zählte.
Allein eine richtigere Einſicht in die Zuſtände der Natur
hat
philoſophiſche Weisheiten, oder richtiger:
Thorheiten dieſer
Art
vollſtändig verwerfen gelehrt.
Es iſt nicht ſo, wie ſich’s
die
ehemalige Weisheit der Menſchen einbildete.
In einem
Apfelkern
ſteckt kein kleiner, unſichtbarer Apfelbaum, ſondern
etwas
anderes, was wir noch ſpäter näher kennen lernen
werden
, und ebenſowenig ſteckt in einem Ei ein kleines Hühn-
chen
, oder gar ein ganzes Hühnergeſchlecht, das bis ans Ende
der
Welt reicht.
Wenn man ſich ein Ei mit bloßem Auge anſieht, ſo findet
man
ſchon Merkwürdiges genug.
Durch Vergrößerungsgläſer
entdeckt
man des Merkwürdigen noch mehr:
aber wir dürfen
verſichern
, daß auch nicht einmal die Spur eines kleinen
Hühnchens
darin zu finden iſt, ſondern nur einKeim”, der
die
Fähigkeit hat, ſich zu einem Hühnchen zu entwickeln, ſo-
bald
die Umſtände dieſe Entwickelung begünſtigen.
Freilich könnte man uns die Frage zurufen: Ein Keim?
Was iſt denn eigentlich ein Keim? Gieb uns für dieſes Wort
einmal
eine richtige, genaue Erklärung!
Hierauf aber antworten wir: Es kommt uns nicht auf ein
Wort
und auf eine genaue Erklärung eines Wortes an;
ſondern
wir
halten es unſererſeits für richtiger, durch die Darſtellung
thatſächlich
zu zeigen, was man in der Wiſſenſchaft einen Keim
nennt
, oder beſſer noch, das Ding, woran im Ei die eigent-
liche
Bildung des Hühnchens vor ſich geht, und wollen gar
nicht
böſe ſein, wenn man dann einen paſſenderen Namen für
dies
Ding finden wollte.
36913
Wir wollen daher ganz ohne zu philoſophieren auf die
Sache
eingehen, denn aufrichtig geſtanden, in der Naturwiſſen-
ſchaft
fängt die Philoſophie dort an, wo das Wiſſen aufhört,
und
das iſt meiſthin gerade an der Grenze, wo die Unwiſſen-
heit
beginnt.
Sehen wir uns lieber ein Ei an, wie es auswendig und
77[Figure 77]Fig. 4.
Längsſchnitt
durch ein Hühnerei.
e
1 = ſchleimiges, e2 = wäſſeriges Eiweiß; l = Luft-
kammer
; h = Hagelſchnüre; n = Nahrungsdotter;
b
= Bildungsdotter; k = Keimfleck mit dem Zellkern.
k h l b e1 n e2
inwendig beſchaffen
iſt
;
wir werden
hieraus
ſo manches
Eigentümliche
lernen
.
Ein Ei iſt be-
kanntlich
länglich
gebaut
, und hat ein
breiteres
und ein
ſpitzeres Ende
(Fig.
4). Gar viele
werden
ſchon die
Probe
gemacht ha-
ben
, daß, wenn
man
die Zunge an
das
ſpitze Ende
legt
, man eine ge-
wiſſe
Kälte des Eies ſpürt, während das breite Ende ſich mit
der
Zunge verhältnismäßig warm anfühlt.
Wenn man hier-
aus
ſchließen wollte, daß das Ei am ſpitzen Ende kälter ſei,
als
am breiten, ſo würde man irren.
Der Grund hiervon
iſt
vielmehr folgender.
Am ſpitzen Ende liegt das Eiweiß e
dicht
hinter der Schale.
Legt man nun die Zunge daran,
ſo
giebt die Zunge Wärme ab an die Eiſchale, und die
Eiſchale
giebt die Wärme an das Eiweiß.
Da hierdurch die
Zunge
viel Wärme verliert, ſo entſteht in uns das Gefühl,
als
ob die ſpitze Seite des Eies kalt wäre.
Am breiten
37014 dagegen iſt zwiſchen der Eiſchale und dem Eiweiß ein mit Luft
gefüllter
Raum, den man Luftraum (l) nennt, und den wohl
jedermann
ſchon, wenn er harte Eier gegeſſen, bemerkt hat.
Hält man nun die Zunge an die breite Seite, ſo erwärmt ſich
die
dünne Eiſchale ſehr ſchnell;
die dahinter liegende Luft aber
leitet
die Wärme nicht fort, weil Luft ein ſehr ſchlechter
Wärme-Leiter
iſt, die Eiſchale nimmt alſo ſehr bald die Wärme
der
Zunge an und darum fühlt es ſich ſo an, als ob die breite
Seite
wärmer wäre als die ſpitze.
Der Luftraum an der breiten Seite des Eies ſpielt aber
eine
weſentliche Rolle, denn das Hühnchen wird, wie wir ſehen
werden
, mit ſeinem Schnäbelchen an dem Luftraum liegen und
die
dort befindliche Luft zuerſt einatmen, ja ſogar das erſte
Piepſen
des Hühnchens geſchieht mit Hilfe dieſer Luft, denn es
iſt
von gewiſſenhaften Beobachtern feſtgeſtellt, daß die Hühnchen,
noch
in der verſchloſſenen Schale liegend, ſchon piepſen können.
Wenn wir hinzufügen, daß der an der breiten Seite des
Eies
liegende Schnabel des Hühnchens den eigentlichen Bruch
der
Schale macht, ſo wird man den Unterſchied der ſpitzen
und
der breiten Seite des Eies wohl einſehen, denn die breite
Seite
iſt für das Hühnchen gewiſſermaßen die Pforte, die aus
dem
Gefängnis führt.
Wir wollen uns aber das Ei noch genauer anſehen!
V. Beſehen wir uns das Ei.
Ein Ei hat, wie jedermann weiß, eine Kalkſchale um ſich.
Dieſe Kalkſchale hat allenthalben außerordentlich feine Löcher,
welche
man Poren nennt, und durch dieſe Löcher kann die
Luft
aus- und eintreten.
Daß in einem Ei Luft enthalten iſt, und zwar recht
37115 Luft, das kann man am beſten beobachten, wenn man es in
ein
hohes Glas Waſſer legt und das Glas unter die Glas-
glocke
einer Luftpumpe ſetzt.
Sobald die Luft aus der Glas-
glocke
aufgepumpt wird, tritt die Luft aus dem Ei heraus und
ſteigt
in immer größer und größer werdenden Blaſen im Waſſer
auf
, ſo daß es ausſieht, als ob das Waſſer im heftigſten
Kochen
wäre.
Auch dieſe Luft im Ei ſpielt eine wichtige Rolle bei der
Entwickelung
des Hühnchens.
Es ſteht feſt, daß Eier, welche
man
luftdicht verkittet hatte, nicht zum Ausbrüten gebracht
werden
konnten, trotzdem ſonſt alle Bedingungen erfüllt waren,
die
zur Brütung nötig ſind.
Bricht man ein Stückchen von der Kalkſchale ab, ſo be-
merkt
man eine Eihaut, und giebt man genau acht, ſo findet
man
, daß dieſe Eihaut doppelt iſt.
Aus dem vorigen Ab-
ſchnitt
wiſſen wir bereits, daß auf dem breiten Ende ein Luft-
raum
vorhanden iſt;
bricht man an der Stelle des Luftraumes
die
Schale ein wenig ab, ſo ſieht man recht deutlich, daß es
zwei
Häute zwiſchen dem Eiweiß und der Schale giebt, wovon
die
eine Haut an der Schale ſitzt, während die andere das Ei-
weiß
bedeckt.
Der Luftraum alſo wird oben an dem breiten
Ende
des Eies von den zwei Häuten gebildet, die ſich hier
trennen
, während ſie ſonſt allenthalben dicht anliegen.
Durchreißt man nun auch dieſe Häute, ſo kommt man auf
das
Eiweiß.
Aber auch das Eiweiß, das wie eine einzige
gallertartige
Schicht ausſieht, iſt keineswegs eine einzige gleiche
Maſſe
, ſondern es beſteht aus einem feinen Fächerwerk, in
dem
eine klare, dünne Flüſſigkeit eingeſchloſſen iſt.
Die Fächer
durchziehen
den ganzen Raum zwiſchen der Kalkſchale und dem
Kern
des Eies, den wir ſogleich näher kennen lernen werden;
in den einzelnen Fächern liegt das eigentliche, flüſſige Eiweiß.
Daher kommt es, daß beim Aufbrechen der Eier zuerſt
eine
klare, dünnflüſſige Maſſe ausfließt.
Es iſt dies
37216 Eiweiß, das in den äußerſten Fächern eingeſchloſſen war.
Später wird das Eiweiß zäher, es zieht ſich nicht mehr in ſo
feine
Fäden, wie die erſte Menge, weil nun ſchon viele Häute
von
dem Fächerwerk im Eiweiß enthalten ſind.
Noch feſter iſt
die
letzte Portion Eiweiß, welche ordentlich klumpenartig herab-
fällt
, wenn die Hausfrauen abwechſelnd den Dotter und das
Eigelb
aus einer halben Eiſchale in die andere halbe Eiſchale
werfen
, um dasſelbe ganz vom Eiweiß zu trennen.
Mit dieſer
Menge
wird nämlich das ganze häutige, am Dotter befeſtigte
Zellengerüſt
des Eiweißes mit entfernt.
Abgeſehen davon aber
iſt
auch das Eiweiß ſelbſt in zwei Zonen geordnet, wie es
unſere
Figur 4 andeutet;
als e1 iſt die Zone des zäheren,
gummiartigen
Eiweißes bezeichnet, als e2 die mehr wäſſerige,
äußere
Zone.
Obwohl die Hand der Hausfrau hierin oft geſchickter iſt
als
die manches Naturforſchers, ſo gelingt ihnen das Kunſt-
ſtück
doch nie vollkommen.
Es haftet nämlich eine Art dicker
gedrehter
Eiweißfaden, die Innenhaut des Eiweißes, an zwei
Seiten
an dem eigentlichen Kern des Eies, dem Dotter, feſt,
und
dieſe Fäden, die am Dotter in zwei Knoten anliegen,
welche
die Frauendie Augen” nennen, müſſen erſt gewaltſam
von
dem Dotter abgeriſſen werden, wenn man dasſelbe ganz
vom
Eiweiß befreien will.
In unſerer Figur haben wir dieſe
Fäden
mit h angegeben, da ſie unter dem Namen Hagelſchnüre
bekannt
ſind.
Nehmen wir an, man hätte dieſeSchnüre” entfernt, und
es
läge jetzt der Dotter ganz zu unſerer Betrachtung vor uns,
ſo
gewahren wir vor allem, daß auch der Dotter ſeine beſondere
Haut
hat, die ſeinen Inhalt zuſammenhält, wenn man ihn be-
hutſam
auf einen Teller legt;
ſobald aber die Haut zerreißt,
ſo
fließt der Dotter aus und zeigt ſich noch leichtflüſſiger als
der
feſtere Teil des Eiweißes.
Legt man den Dotter ſo vor ſich hin, daß die zwei
37317 nanntenAugen”, die Eiweißknoten, zu beiden Seiten ſichtbar
ſind
, ſo vermag man es, den Dotter mit Hilfe eines Löffels
in
geſchickter Hand nach allen Seiten zu wenden, ſo daß man
ihn
auch auf der Seite beſehen kann, mit welcher er auf dem
Teller
aufliegt.
Dreht man ihn ſo nach allen Seiten hin, ſo
wird
man bald gerade in der Mitte der Dotterkugel ein Fleck-
chen
entdecken, ſo groß ungefähr wie ein plattgedrücktes Senfkorn.
Und dieſes Fleckchen, meine verehrten Leſer, wollen wir
uns
vorerſt genau anſehen, denn gerade dieſer Flecken iſt es,
den
man den Keimflecken, die Keimſcheibe, nennt, weshalb
wir
ihn in der Abbildung 4 mit k vermerkt haben.
Er iſt
ſo
eigentlich das, was ſich höchſt merkwürdig umwandeln wird.
Er iſt es auch, der das ganze Ei zur Umwandlung mit ſich
zieht
, und wenn man überhaupt ſagen kann, es ſtecke in einem
Ei
ein Hühnchen, ſo muß man auch ſagen, das Hühnchen ſtecke
eigentlich
in dieſem unſcheinbaren Fleckchen.
Wir werden im Verlauf unſerer Darſtellung noch recht
ausführlich
auf dieſen Flecken zurückkommen müſſen, deshalb
wollen
wir für jetzt den Flecken Flecken ſein laſſen und einmal
ſehen
, ob am Ei noch etwas Merkwürdiges zu ſehen iſt.
Es wird wohl ſchon manchem unſerer Leſer paſſiert ſein,
daß
, wenn er ein recht hart geſottenes Ei mit einem ſcharfen
Meſſer
durchſchnitten, woran das Eigelb nicht anklebt, es ihm
ſo
ſcheint, als ob er betrogen worden wäre, denn es kommt
ihm
ſo vor, als ob in der Mitte des Dotters ein Stückchen
fehle
.
Aber er iſt im Irrtum. In jedem rechtſchaffenen Ei
und
die Natur iſt immer ſehr rechtſchaffen in dem, was ſie
macht
fehlt ſcheinbar ein wenig in der Mitte, oder richtiger,
befindet
ſich eine kleine Höhle, und von dieſer Höhle aus führt
ein
Kanal bis hin zu dem Keimfleck.
In dieſer Höhle befindet
ſich
ein zähflüſſiger, weißlicher Dotter, der Bildungsdotter b,
während
der umgebende gelbe Dotter derNahrungs-
dotter
n iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volfsbücher IX.
37418
Das iſt es, was man von einem Ei ſo ungefähr mehr
oder
weniger genau mit bloßem Auge ſehen kann.
Nimmt
man
aber Vergrößerungsgläſer zu Hilfe, ſo gewahrt man noch
andere
Dinge.
Von den wichtigſten, die zur Entwickelungs-
geſchichte
des Hühnchens gehören, werden wir noch ſpäter
Einiges
mitteilen;
jetzt wollen wir nur vom Ei berichten, daß
man
mit dem Mikroſkop bemerken kann, wie der Dotter eigent-
lich
eine breiartige Maſſe iſt, welche aus lauter ſehr kleinen
Körnchen
beſteht, und zwiſchen dieſen Körnchen ſchwimmen
gelbliche
Kügelchen und Fetttröpfchen.
Hiernach wiſſen wir ſo ungefähr, wie ein Ei ausſieht,
und
können verſichern, daß es nicht die geringſte Ähnlichkeit
mit
einem Hühnchen beſitzt;
nunmehr aber müſſen wir uns
das
Material anſehen, woraus das Ei gebaut iſt, denn wenn
ein
Ei wirklich kein Hühnchen iſt, ſo enthält es doch ganz
ſicher
die Bauſteine, woraus Hühner gemacht werden.
VI. Wie die Rechnung genau ſtimmt.
Wenn wir auch im vorhergehenden Abſchnitt angegeben
haben
, was man alles in und an dem Ei mit dem Auge ſehen
kann
, ſo müſſen wir doch noch einen Schritt weiter gehen und
einmal
betrachten, aus welchen Materialien ſolch ein Ei und
was
man daran ſieht, geſchaffen iſt.
Aus dem Ei, das können uns unſere Leſer aufs Wort
glauben
, wird ein Hühnchen werden, und das Hühnchen wird
ganz
zuverläſſig Blut, Gehirn, Muskeln, Nerven, Knochen,
Schnabel
, Nägel, Federn und noch eine ganze Maſſe Dinge
haben
, die wir alle hier gar nicht aufführen mögen.
Es
werden
unſere Leſer nun ſicherlich einſehen, daß man ſich
vor
allem die Überzeugung verſchaffen muß, ob in dem
37519 dieſem noch ungebauten Hühnchen, auch alles Baumaterial
richtig
vorhanden iſt für Alles, was das Hühnchen zu haben
braucht
, denn es wäre ja wirklich ein Mißgeſchick, wenn wir
gerade
das Unglück hätten, ein Ei vor uns zu haben, in
welchem
das Baumaterial für eines der Augen oder für einen
Flügel
, oder einen Fuß oder ſonſt irgend etwas, das dem
Hühnchen
gebührt, fehlen ſollte!
Indeſſen wollen wir unſere Leſer nur von vornherein gleich
beruhigen
und ihnen vorweg ſagen, daß die Rechnung ſtimmt,
daß
ſie beſſer ſtimmt, als alle Baupläne aller Baumeiſter in der
Welt
.
Wenn das Ei das Rohmaterial iſt, woraus die Natur
das
Hühnchen baut, ſo muß man ſagen, daß die Natur außer-
ordentlich
pünktlich iſt, denn wenn das Hühnchen fertig iſt,
wird
nicht ein Bischen daran fehlen und auch nicht ein
Krümelchen
Ei überflüſſig ſein, es wird vielmehr nichts da
ſein
, als Schale und Hühnchen.
Wo aber in aller Welt liegen denn im Ei die Nägel,
die
Federn, die Knochen, der Schnabel, die Galle und der-
gleichen
?
Es wird uns doch niemand einreden wollen, daß
man
in einem Rühr-Ei eine Partie Federn oder gar bittere
Galle
verſpeiſt.
Keineswegs! Rühr-Ei iſt Rühr-Ei und iſt mit Galle
und
Federn durchaus nicht zu verwechſeln;
aber dennoch ſtimmt
die
Rechnung.
Federn ſind freilich nicht im Ei, aber es iſt
das
Baumaterial darin, woraus Federn werden und noch
viele
andere Dinge, die zum Hühnchen gehören.
Darum alſo thun wir gut, uns von einem Chemiker be-
lehren
zu laſſen, was an Baumaterialien in dem Ei vorhanden
iſt
und vorhanden ſein muß, wenn wir nicht damit angeführt
ſein
wollen.
Schon das Eiweiß enthält ganz kurioſe Dinge, die man
gar
nicht in ihm ſuchen ſollte;
aber die Chemie, die ganz
darauf
verſeſſen iſt, alles zu unterſuchen und die Stoffe
37620 ihren Beſtandteilen herauszufinden, lehrt uns und überzeugt
jeden
Ungläubigen durch die Thatſachen, daß im Eiweiß Fett
und
Traubenzucker vorhanden iſt, und daß ein Teil des Ei-
weißes
aus Natrium, aus Chlor-Kalium, aus gewöhnlichem
Kochſalz
und aus Phosphorſäure in Verbindung mit mehreren
Erdarten
beſteht.
Aus dem Dotter vermag der Chemiker gar
noch
wunderbarere Dinge herauszuziehen, denn außer den ge-
nannten
Dingen, die im Eiweiß vorhanden ſind, iſt hier noch
ein
Stoff, der Käſeſtoff heißt und wirklich derſelbe iſt, der das
Weſentlichſte
im Käſe ausmacht;
ſodann beſitzt er ganz eigen-
tümliche
Fettarten, die Margarin, Elain und Choleſterin heißen;
ſodann iſt gar noch Schwefel und Eiſen, Kalk und anderes
darin
, ſo daß man ſagen kann, daß ein Ei eine halbe chemiſche
Küche
enthält.
Nimmt man aber alle dieſe Stoffe ſamt und ſonders zu-
ſammen
, ſo bilden ſie doch nur den kleineren Teil des Eies
und
zerlegt man ein ſolches chemiſch in ſeine Urſtoffe, ſo findet
man
, daß es überwiegend aus Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff
und
Kohlenſtoff beſteht, aus dieſen vier Stoffen, aus welchen,
wie
unſere Leſer ſchon wiſſen, ſo zu ſagen die ganze lebende
Welt
hauptſächlich beſteht.
Wem dies etwas zu viel für ein einfaches Ei ſcheint, dem
wollen
wir nochmals zur Beruhigung ſagen, daß die Rechnung
aufs
Haar genau ſtimmt, denn das Ei iſt wahrhaftig nicht
geſchaffen
zum Eierkuchen, wo man ihm die Portion Phosphor
oder
Eiſen oder Schwefel oder Kalk ganz und gar erlaſſen
könnte
;
es iſt wirklich geſchaffen, um ein Hühnchen zu werden,
und
da ſind alle die Dinge nötig, ſehr nötig.
Im Gehirn jedes Menſchen findet ſich Schwefel und
namentlich
Phosphor, und im Gehirn eines Hühnchens, ſelbſt
des
neugeborenen Hühnchens, ebenfalls.
Wir dürfen ganz zu-
verläſſig
annehmen, daß ſein Gehirn gar nicht zuſtande käme
ohne
Schwefel, und es ſicherlich ſein Kikriki nicht in die
37721 hinauszurufen imſtande wäre, wenn es nicht die nötige Portion
Phosphor
im Gehirn hätte.
Wenn wir des Abends weichgeſottene Eier zum Thee
genießen
, ſo mag uns der Kalk in den Eiern ein ganz unnötiger
Luxusartikel
erſcheinen:
wenn wir aber bedenken, daß unſere
Knochen
ohne Kalk gar nicht exiſtieren würden, da ſie eben
aus
phosphorſaurem Kalk beſtehen, ſo müſſen wir ſchon dem
Ei
geſtatten, ſeine Portion Kalk für die Knochen des Hühnchens
zu
beſitzen, das eigentlich aus dem Ei hervorgehen ſollte.
Wir könnten ohne Kochſalz nicht leben, und am zuver-
läſſigſten
würden wir weder Haare noch Nägel ohne dieſes
Salz
haben;
wir müſſen es alſo auch dem Ei ſchon erlauben,
Kochſalz
zu enthalten, da das junge Hühnchen, zumal wenn
es
erſt in der Eierſchale entſteht, nicht wie wir zum Salz-
mäßchen
greifen kann.
Und wie mit dieſen Dingen, die uns ſehr nebenſächlich
am
Ei erſcheinen, iſt es mit allen übrigen der Fall.
Sie
ſind
fürs Hühnchen durchaus nicht nebenſächlich, ſondern
wichtige
Hauptſachen.
Denn mit einem Wort: das Ei iſt das
Baumaterial
für ein Hühnchen, und ein ſehr genau gemeſſenes,
höchſt
pünktlich zugeteiltes Material, das alles enthält, was
das
Hühnchen zum Bau ſeines Leibes braucht, und das ſo
eingerichtet
iſt, daß, wie geſagt, die Rechnung ſtimmt, ganz
genau
ſtimmt! und das hat zu allen Zeiten ſein Gutes, was
jedermann
eingeſtehen wird.
VII. Wie ein Ei zur Welt kommt.
Da, wie wir geſehen haben, die Rechnung ſtimmt und im
Ei
richtig alles Baumaterial vorhanden iſt, das zu einem
Hühnchen
gebraucht wird, ſo könnten wir gleich darauf los-
gehen
und das Hühnchen anfangen.
37822
Aber man laſſe uns nur noch ein wenig Zeit!
Wenn wir mit dem Hühnchen erſt anfangen, dann müſſen
wir
für immer vom Ei Abſchied nehmen;
denn mit dem Ei wird
es
dann ſo zu ſagen von Stunde zu Stunde immer mehr alle.
Wir haben aber mit dem Ei noch ein Wörtchen zu reden,
und
ehe wir es für ewig von dannen laſſen, müſſen wir denn
doch
erſt wiſſen, woher es gekommen, und wie es zu all den
Dingen
, die in ihm ſtecken, auf ehrliche Art gelangt iſt.
Zwar weiß ſchon jedes Kind nns zu ſagen, daß irgend
ein
Huhn das Ei gelegt hat;
und das iſt auch wirklich ganz
richtig
.
Aber unſere Wißbegierde kann dieſe Antwort ſicherlich
nicht
beruhigen, ſo lange wir nicht im Reinen darüber ſind,
wie
und wo das Ei im Huhn entſtanden iſt, bis es gelegt
oder
, ſo zu ſagen, geboren wurde.
Wir beſchäftigen uns
oft
genug mit ungelegten Eiern, wo gar nichts dabei heraus-
kommt
:
wie will man uns verdenken, wenn wir jetzt, wo wir
im
Begriff ſtehen, wirklich aus dem Ei was herauszubekommen,
ein
wenig zurückblicken auf die Zeit, wo das Ei noch ungelegt
war
?
Wir müſſen demnach zur Entſtehung des Eies zurück und
deshalb
in das Inner@ des Mutterhauſes blicken, woſelbſt
das
Ei ſein Daſein begann.
Jede Hausfrau, die öfter ein Huhn geöffnet hat, wird
ſchon
bemerkt haben, daß das Huhn eine Art Baum im Leibe
hat
, worauf Eidotter wachſen.
Dieſer Baum beſteht aus
einem
eigentümlichen Gezweige, durch welches Nerven und
Blutgefäße
ſich ſchlängeln, und woran eine ganze Maſſe kleiner
Eier
wie Früchte hängen, die alle heranzureifen und ſich vom
Huhn
zu entfernen beſtimmt ſind.
Ein jedes dieſer Eier oder
richtiger
dieſer Dotterchen iſt während des Wachſens in der
Falte
einer Haut eingeſchloſſen, die es umkleidet, und in dieſer
Haut
liegend, die nicht dem Dotter, ſondern dem Baum
oder
richtiger dem Eierſtock angehört, worauf der Dotter
37923 empfängt dasſelbe aus dem Blute des Huhnes all die
nötigen
Baumaterialien, die das künftige Hühnchen brauchen
wird
, bis es ſo genährt heranwächſt und richtiger, vollgültiger,
reifer
Dotter wird.
Sobald dies der Fall iſt, ſo reißt die Haut, worin der
Dotter
eingebettet iſt, und er fällt heraus und würde in der
Leibeshöhle
liegen bleiben, wenn nicht ein beſonderer Schlauch,
ein
Eileiter”, vorhanden wäre, der von der Gegend des Eier-
ſtockes
bis in den unteren Darmteil des Huhnes führte.
Daher kommt es denn auch, daß man oft beim Öffnen eines
Huhnes
einen häutigen Dotter, abgelöſt vom Eierſtock, vorfindet,
der
ſich ganz und gar nicht von dem richtigen Dotter eines
Eies
unterſcheidet, während noch eine ganze Maſſe kleinerer
und
größerer Dotter am Eierſtocke hängen, die, wenn man ſie
abſchneidet
, eine härtere Haut, als ſonſt ein Dotter, um ſich
haben
, und die man, wenn ſie gebraten werden, ordentlich
abſchälen
kann, bevor man ſie genießt.
Der Eileiter ſowohl wie der Darm ſind nun ein eigen-
tümliches
Gewebe, das aus fleiſchigen Längs- und Querfaſern
gebildet
iſt, und das daher die Eigentümlichkeit hat, daß es
ſich
ähnlich wie eine ſeidene Geldbörſe in die Länge und
in
die Breite ausdehnen kann.
Man kann ſich von einem
Dotter
, der im Eileiter ſteckt, ein ziemlich entſprechendes Bild
machen
, wenn man eine Wallnuß in eine ſeidene, dehnbare
Geldbörſe
ſchiebt;
man wird dann ſehen, wie vor der Wall-
nuß
und hinter ihr die Börſe ſich zuſammenzieht in dem-
ſelben
Maße, wie die Wallnuß die Stelle, wo ſie liegt, aus-
dehnt
.
Denken wir uns, daß die Börſe das Kunſtſtück verſteht,
ſich
immer vor der Wallnuß ein wenig zu dehnen und hinter
ihr
ſich ein wenig zuſammenzuziehen, ſo wird die Wallnuß
eine
langſame Wanderung durch die Börſe machen, ſo daß ſie
von
dem einen Ende zum andern gelangt.
Dieſes Kunſtſtück des Ausdehnens und
38024 des Enger- und Weiterwerdens verſtehen nun mit Hilfe ihrer
Fleiſchfaſern
alle Gedärme aller lebenden Weſen, und durch die-
ſelben
ſind ſie imſtande, ihren Inhalt immer weiter abwärts
zu
ſchieben.
Man nennt dieſe Art von Bewegungdie wurm-
förmige
Bewegung” und kann dieſelbe an den Gedärmen friſch
getöteter
Tiere noch beobachten.
Eine ſolche Bewegung nun
iſt
es auch, die den Dotter vorwärts ſchiebt und ihn ſeinen
Weg
bis in die Welt hinaus nehmen läßt.
Aber auf dieſem Wege paſſieren ihm ganz außer-
ordentliche
Wunder.
Vor allem iſt es wunderbar, daß der Dotter nicht ge-
radeswegs
geſchoben, ſondern daß er dabei zugleich fort-
während
gedreht wird.
Er dreht ſich derart, als wollte er
ſich
eigentlich vorwärts ſchrauben.
Wie ein Pfropfenzieher in
den
Kork immer tiefer hineinſpaziert, während er um ſeine Axe
gedreht
wird, ähnlich ſo ſpaziert der Dotter ſich immer drehend
und
ſchraubend weiter.
Wodurch dieſe Drehung veranlaßt
wird
, iſt eins von den vielen Rätſeln der Natur.
Wir
Menſchen
drehen uns in ähnlicher Weiſe bei der Geburt aus
dem
Mutterſchoß und kommen in einer Art Schraubengang
auf
dieſe wunderliche Welt, die wir berufen ſind, wenn die
Zeit
gekommen, ſtarr und ſteif, ohne uns drehen und wenden
zu
können, zu verlaſſen, um in den weiten, großen Mutterſchoß
aufgenommen
zu werden.
Zu dieſem Wunder der Drehung des Dotters geſellt ſich
noch
ein zweites, das einigermaßen erklärlicher iſt.
Von den Wänden des Kanals, durch welchen der Dotter
drehend
vorwärts geſchoben wird, ſondert ſich ein Schleim ab,
der
ſich an den Dotter legt, und dieſer Schleim iſt das Eiweiß.
Daher kommt es, daß an den Axen des ſich drehenden Dotters
das
Eiweiß ſich wie ein Knoten anlegt, den die Hausfrauen
fälſchlich
die Augen” nennen, und daß an dieſem Knoten ſich
Eiweiß
wie ein gedrehter Faden anlehnt.
Je weiter der
38125 nun gedreht und geſchoben wird, deſto mehr und deſto flüſſigeres
Eiweiß
legt ſich ihm an, bis er dann an eine Stelle kommt,
wo
das Eiweiß fertig iſt und der Eileiter nun beginnt, eine
weniger
zähe Flüſſigkeit abzuſondern, die gleichfalls das Ei
umkleidet
und die Eihäute bildet.
Nach dieſen Abſonderungen
des
Eileiters ſchwitzt derſelbe eine kalkhaltige Flüſſigkeit aus,
die
die Eiſchale wird und wenn dieſe fertig iſt, iſt auch das
Ei
ausgeſtattet, um dieſe wunderliche Welt zu betreten, und
es
tritt in dieſelbe unter dem lauteſten Ruf des Mutterhuhnes,
das
ihm wahrſcheinlich zum Geburtstag gratulieren ſoll!
So kommt ein Ei zur Welt, wunderbarlich genug, um noch
wunderbarlicher
ins Leben gerufen zu werden.
VIII. Das Ei in der Bildungsanſtalt.
Indem wir nun ein friſch gelegtes Hühner-Ei vor uns
haben
und ſtillſchweigend vorausſetzen, daß es die hierzu not-
wendige
Befruchtung im Mutterſchoße des Huhnes empfangen,
wollen
wir daran gehen, dasſelbe in die Hühnerfabrik zu bringen
und
es in eine Brütmaſchine in Penſion geben.
Es iſt indeſſen nicht ratſam, dasſelbe ganz allein darin zu
laſſen
, weil erſtens die Portion von Wärme, die einmal in der
Brütmaſchine
unterhalten werden muß, für eine größere Maſſe
gleichfalls
ausreicht, und weil wir zweitens der Neugierde
ſchwerlich
werden widerſtehen können, das Ei ſchon nach wenigen
Stunden
herauszunehmen, aufzubrechen und nachzuſehen, was
mit
ihm los iſt;
und da man die Kunſt noch nicht erfunden
hat
, ein aufgebrochenes Ei wieder ſo zu flicken, daß es ſich
weiter
ausbrütet, ſo würden wir ſchwerlich an einem einzigen
Ei
viel zu lernen imſtande ſein.
Man thut daher gut, circa vierzig Eier mit einem
38226 einzulegen. Hat man das gethan, ſo läßt man das Brüt-
geſchäft
beginnen und nimmt nach 6 Stunden ein Ei heraus,
bricht
es auf und ſieht, was es in dieſer Zeit gelernt hat.
Nach neuen 6 Stunden wiederholt man dies mit einem zweiten
Ei
, das alſo ſchon 12 Stunden in der Bildungsanſtalt zuge-
bracht
hat und merkt ſich die Fortſchritte, die es da gemacht.

Sechs
Stunden ſpäter beſieht man ſich ein drittes und nach
vollen
vierundzwanzig Stunden ein viertes Ei.
So verfährt
man
denn in den erſten drei Tagen, ſo daß man in dieſen an
zwölf
Eier aufgebrochen und deren Umwandlung geſehen hat.

Und
da in dieſen drei Tagen ſo ziemlich die Hauptſachen ſich
klar
machen, ſo genügt es, die Fortſchritte der Entwickelung
fortan
von Tag zu Tag zu beobachten und täglich nur ein Ei
aufzubrechen
, bis endlich am einundzwanzigſten Tage das
Hühnchen
im letzten Ei das Geſchäft des Aufbrechens der
Schale
ſelber übernimmt und ins Leben hinauswandert, ganz
als
ob es unter der Bruſt des Mutterhuhnes gelegen und nicht
fabrikationsmäßig
in einer lebloſen Maſchine ſeine Ausbildung
genoſſen
hätte.
Ähnlich wollen wir es auch machen, obgleich wir nicht
gedenken
, die Geduld der Leſer ſo auf die Probe zu ſtellen
und
ihnen vierzigmal das werdende Hühnchen vorzuführen.
Die Hälfte ſolcher Vorführungen wäre auch ſchon zu viel, da
wir
wiſſen, daß wir jedesmal, wenn wir die Ehre haben
werden
, das ſehr jugendliche Hühnchen unſern geehrten Leſern
vorzuſtellen
, eine ganze Maſſe von Erläuterungen werden auf-
führen
müſſen, bevor der Leſer wird ſagen können, er freue
ſich
, deſſen nähere Bekanntſchaft gemacht zu haben.
Aber ſehr
geduldig
müſſen wir dennoch zu Werke gehen, denn wir ver-
ſichern
, daß, wenn wir mit unſerem Gaſt ſo zu ſagen mit der
Thür
ins Haus fallen, und etwa das, was das Hühnchen am
zweiten
Tage der Brütung iſt, ohne Vorbereitung vor die
Augen
unſerer Leſer bringen wollten, dieſe im vollſten
38327 ausrufen würden: was wir hier ſehen, iſt weit eher ein Pan-
toffel
als ein Hühnchen.
Darum wollen wir denn auch unſere Leſer auf die Be-
kanntſchaft
, die ſie zu machen haben, vorbereiten, und dazu ge-
hört
, daß wir uns vor Allem noch einmal das Ei und namentlich
den
bereits vorgeführten Keimfleck betrachten, denn gerade hier
in
dem Keimfleck, da liegt der Knoten.
Der Keimfleck liegt, wie wir bereits geſagt, mitten auf der
Oberfläche
des Dotters und läßt ſich leicht genug an jedem
Ei
auffinden, ſobald man den Dotter geſchickt zu drehen weiß,
ohne
daß die Haut, die ihn umſchließt, zerreißt.
Wenn man
den
Dotter ſo vor ſich hinlegt, daß die beiden kleinen Eiweiß-
klümpchen
ſamt den gedrehten Eiweißfäden zu beiden Seiten
des
Dotters liegen, ſo findet man, daß der Flecken gleichweit
von
ihnen entfernt iſt.
Denkt man ſich den Dotter in ſeiner
Kugelgeſtalt
und ſtellt man ſich vor, daß die Eiweißklümpchen,
welche
die Hausfrauen fälſchlichdie Augen” nennen, die Pole
dieſer
Kugel ſind, ſo liegt der Keimfleck auf einem Punkte des
Äquators
dieſer Dotterkugel.
Was aber iſt denn dieſer Keimfleck?
Der Keimfleck zeigt ſich bei genauer Beſichtigung nicht als
ein
bloßer Fleck, ſondern als eine kleine, runde Scheibe, ſo groß
wie
etwa ein plattgedrücktes Senfkörnchen.
Und dieſe Scheibe
liegt
unter der Dotterhaut und ſchimmert durch dieſe hervor.
Da wir nun wiſſen, daß der Keimfleck eigentlich eine Keim-
Scheibe
iſt, wollen wir ſie fortan mit dieſem Namen bezeichnen,
und
ſo wollen wir denn ſagen:
die Keimſcheibe ruht auf dem
flüſſigen
Dotter, und zwar an der Stelle, wo der Kanal hinab-
geht
bis zum Mittelpunkt der ganzen Dotterkugel, woſelbſt ſich
eine
kleine Höhle befindet, dieBildungsdotter” enthält, welcher
auch
den Kanal erfüllt.
Die Keimſcheibe alſo iſt wie eine Art Deckel über einem
feinen
Eingang, der zum Mittelpunkt des Dotters führt.
38428 ruht mit den Rändern auf dem Dotter, während die Dotter-
haut
, die den Dotter im ganzen überzieht, auch über die Keim-
ſcheibe
geht.
Die Veränderungen, die wir nun hauptſächlich ſehen
werden
, gehen eben mit der Keimſcheibe vor;
denn das Hühn-
chen
iſt, ſo ſonderbar es auch klingt nichts als die ver-
änderte
, umgewandelte Keimſcheibe.
Das Ei ſowohl wie die
Dottermaſſe
erleiden zwar Veränderungen, indem ſie ſich ver-
mindern
und dünnflüſſiger werden;
aber die Hauptumgeſtaltung
geht
mit der Keimſcheibe vor, ſo daß wir in der Folge von
der
Maſſe des Eiweißes und des D@tters ganz abſehen und
immer
nur das kleine Scheibchen in ſeiner Entwicklung im Auge
haben
werden.
Die ganze Umwandlung aber, das merke man ſich wohl,
geht
unter der Dotterhaut vor ſich, ſo daß man, wenn man ein
werdendes
Hühnchen wirklich bloß vor ſich haben will, genötigt
iſt
, die Dotterhaut zu zerſchneiden und das unter ihr liegende,
ſehr
ſonderbare Weſen hervorzuziehen.
Nach dieſen vorbereitenden Bemerkungen müſſen wir noch
zeigen
, was man mit ſcharfen Vergrößerungsgläſern an der
Keimſcheibe
Bemerkenswertes geſehen hat;
und das wollen wir
im
nächſten Abſchnitt thun und der etwaigen Ungeduld eines
oder
des anderen Leſers nur noch das eine ſagen, daß man
nicht
etwa ein ganz kleines Hühnchen oder auch nur ein
Köpfchen
eines Hühnchens, ja nicht einmal eineSeele” eines
Hühuchens
, ſondern ganz was Anderes geſehen hat.
IX. Was man ſieht und was man nicht ſieht.
Unterſucht man die Keimſcheibe und die Stelle, auf welcher
ſie
liegt, mit einem Mikroſkop von zwei- bis vierhundertmaliger
Vergrößerung
, ſo ſieht man in der That mehr als mit
38529 Auge. Kann man nun auch nicht ſagen, daß die wunderbaren
Vorgänge
der künftigen Entwickelung dadurch ihre Erklärung
finden
, ſo giebt das, was hier vor dem Beginn der Bebrütung
und
ſchon wenige Stunden nachher geſehen wird, doch einigen
Anhalt
zur näheren Einſicht in dieſes größte Rätſel der Natur,
das
Rätſel des werdenden Lebens.
Mit großer Sorgfalt vermag man die kleine Keimſcheibe
abzuheben
und dann gewahrt man, daß ſie nicht nur der Deckel
eines
Kanals iſt, der zur Höhle im Mittelpunkt des Dotters
führt
, ſondern daß an der Stelle, wo die Keimſcheibe aufliegt,
eine
Art kleiner Grube ſich befindet,
78[Figure 78]Fig. 5.
Ein
ſtark vergrößertes
einzelliges
Lebeweſen mit
Zellkern
.
welche mit weißem, feinen Schleim aus-
gekleidet
iſt.
In dieſer Grube, im
Bildungsdotter
ſchwimmend, ruht ein
kleiner
, weißer Kern, der in unſerer
Figur
4 deutlich in die Keimſcheibe k
hingezeichnet
worden iſt.
Man wird
ſich
alſo ein richtiges Bild von dem
ganzen
Dinge machen, wenn man ſich
vorſtellt
, daß im Mittelpunkte des
Dotters
ein kugeliger, mit weißlichem
Bildungsdotter
erfüllter Raum iſt;
von
dieſem
Raum geht ein Kanal hinauf bis zur Oberfläche der
Dotterkugel
.
Hier aber erweitert ſich der Kanal und bildet
eine
Art Grübchen oder Becher, der, wie der Kanal, ebenfalls
Bildungsdotter
enthält, in welchem und zwar in dem Teil,
den
wir als Keimſcheibe kennen lernten ein Körnchen
ſchwimmt
.
Die gelbe Dotterkugel n—b iſt eine große Zelle,
eine
Rieſenzelle.
Schon in Teil I, S. 97 haben wir darauf
aufmerkſam
gemacht, daß alle organiſchen Weſen, Tiere und
P@lanzen
, aus lauter Kämmerchen, denZellen”, zuſammen-
geſetzt
werden, die im lebenden Zuſtande eine
38630 Subſtanz, das Plasma oder Protoplasma, enthalten. Die
einfachſten
Lebeweſen beſtehen nur aus einer Zelle (Fig.
5), die
einen
Kern, den Zellkern, enthalten kann, der aus waſſer-
79[Figure 79]Fig. 6.80[Figure 80]Fig. 7.81[Figure 81]Fig. 8.82[Figure 82]Fig. 9. ärmerem Protoplasma beſteht.
Die höheren organiſchen Weſen,
wie
die aus dem Hühnerei werdenden Hühnchen werden jedoch
83[Figure 83]Fig. 10. aus Tauſenden und Mil-
lionen
kleiner Zellen zu-
ſammengeſetzt
.
Wir mö-
gen
die verſchiedenſten
Teile
eines Organismus
unterm
Mikroſkop be-
trachten
;
wir mögen ein
Pröbchen
aus dem Gehirn
(Fig.
6), aus einem Inſektenkörper (Fig. 7), aus dem Herz-
muskel
des Salamanders (Fig.
8), aus der Kryſtalllinſe
38731 Maulwurfsauges (Fig. 9), oder ein Stück Knochen (Fig. 10),
kurz
, ganz beliebige Teile der Organismen in Vergrößerung
unterſuchen
:
immer und überall ſehen wir ſie aus Zellen
zuſammengeſetzt
, welche ſich hinſichtlich der Verſchiedenartigkeit
der
Aufgaben, die ſich dem Lebeweſen bieten, voneinander
unterſcheiden
und daher in ihrer Form eine große Mannig-
faltigkeit
aufweiſen.
Jedes Lebeweſen ohne jede
84[Figure 84]Fig. 11.
Ein
ſtark vergrößertes, ganz kleines
Stückchen
aus dem Eierſtock des
Maulwurfes
.
Ausnahme iſt aber urſprünglich
nur
eine einzige Zelle geweſen,
die
man als Eizelle bezeichnet,
und
die durch Teilung (bei der
Eizelle
ſpricht man vonFur-
chung”
) den vielzelligen Orga-
nismus
bilden.
Die Eizellen entſtehen, wie
ſchon
geſagt, bei den höheren
Tieren
in den Eierſtöcken;
von
den
Zellen, die einen Eierſtock
zuſammenſetzen
, vergrößern ſich
immerwährend
einige, nehmen
an
Umfang gegenüber den übri-
gen
Zellen weſentlich zu, ſodaß
die
letzteren die Umhüllung der
Eizelle
bilden.
Dieſe Umhüllung
platzt
endlich, um das Ei freizugeben.
Unſere Figur 11 zeigt
ein
Stückchen aus einem Eierſtock, das noch zwei ungleich reife
Eier
, Eizellen, beherbergt.
In den Hühnereiern iſt nun die ganze gelbe Dotterkugel
die
Eizelle:
eine ausnahmsweiſe große Zelle, da gewöhnlich
die
Eizellen mikroſkopiſch klein ſind.
Die Haut, die Zellhaut der Hühnereizelle iſt die Dotter-
haut
, welche den gelben Nahrungsdotter umſchließt, der
38832 wie der Name ſagt, nur der Ernährung des Keimes dient,
alſo
eine Speiſekammer iſt, die dem werdenden Hühnchen mit
auf
den erſten, noch unfreien Lebensweg mitgegeben worden
iſt
.
Aus dem als Keimſcheibe bezeichneten Teil des Bildungs-
dotters
hingegen wird durch Zellteilung das Hühnchen ſelbſt.
Unterſucht man dieſe Keimſcheibe genauer, nachdem ſchon
einige
Zellteilungen ſtattgefunden haben, ſo findet man, daß
ſie
aus zwei übereinander liegenden Häutchen beſteht, die man
Keimblätter
nennt.
Mit Vorſicht laſſen ſich die Blätter unter
das
Mikroſkop bringen;
thut man dies, ſo zeigen ſich feine,
ſehr
kleine Zellen, in deren Mitte man Zellkerne erkennen kann.
Das iſt vorerſt Alles, womit das Ei ausgeſtattet iſt, wenn
es
in die Ausbildungsanſtalt, in die Brütmaſchine gebracht
wird
;
und man wird geſtehen, daß dies ſehr wenig iſt, um
Aufſchluß
über einen Vorgang zu geben, wie der, den wir
noch
an dem Ei erleben werden.
Gleichwohl iſt hierin eine
Andeutung
gegeben, um ſich mindeſtens eine Vorſtellung über
den
wunderbaren weiteren Verlauf einigermaßen bilden zu
können
.
Wir werden nämlich in der ganzen weiteren Darſtellung
wahrnehmen
, daß es wirklich nur die Blättchen der Keimſcheibe
ſind
, welche zum lebenden Geſchöpfe werden.
Sie, die Keim-
blätter
, werden ſich verändern, ſie werden anſchwellen, ſie
werden
wachſen, ſie werden ſich falten, ſich umſchlagen und
verſchiedenartig
legen und dabei Organe in ſich und an ſich
und
zwar immer durch weitere durch Teilung vor ſich gehende
Vermehrung
der Zellen entwickeln, ſo lange, bis wirklich ein
ganzes
lebendiges Hühnchen vor uns erſcheinen wird.
Im
vollen
Sinne des Wortes werden wir dann eingeſtehen müſſen:
ein Hühnchen iſt eine vollends entwickelte Keimſcheibe eines
Hühner-Eies
.
Wir müſſen alſo von der Keimſcheibe ſagen,
daß
ſie die unbegreifliche Fähigkeit habe, ſich zu verändern und
dadurch
zum lebenden Weſen zu werden.
Allein um dieſe
38933 wandlung machen zu können, iſt es nötig, daß ſie in ſich Stoffe
aufnehme
, ähnlich wie ein Pflanzenkeim dies thut, aus dem ſich
ein
Baum entwickelt, der Blätter, Blüten und Früchte trägt
und
ſo eine höchſt merkwürdige Veränderung ſeines Weſens
erfährt
.
Und dieſer Stoff, den die Keimſcheibe an ſich zieht,
iſt
eben das übrige Ei:
der Nahrungsdotter und auch das
Eiweiß
.
In der That lehrt der Augenſchein, daß die Keimſcheibe
nach
und nach den ganzen Stoff des Eies an ſich zieht und
gewiſſermaßen
verſpeiſt und infolge dieſer Speiſe wächſt.
Un-
zweifelhaft
ſpielt auch die Luft im Ei und die Luft außer-
halb
des Eies, welche durch die feinen Löcher der Eiſchale
hinzugelangen
kann, ihre wichtige Rolle mit.
Ein luftdicht
umſchloſſenes
Ei brütet ebenſowenig aus wie ein Ei, von dem
auch
nur ein kleiner Teil der Schale abgebrochen iſt.
In-
wieweit
noch andere Kräfte hier mitwirken, iſt freilich nicht
feſtzuſtellen
.
Aus allem aber geht hervor, daß es die kleine
Keimſcheibe
iſt, welche das Ei im Ganzen während der ein-
undzwanzig
Tage aufſpeiſt und die verbrauchten Stoffe ſogar
auch
ausſcheidet;
dafür aber wächſt, verändert und geſtaltet ſich
dieſe
Keimſcheibe ſo lange um, bis ſie ein vollſtändiges
Hühnchen
geworden iſt.
Freilich kann man das, was da vorgeht, oder richtiger,
während
es vor ſich geht, nicht ſehen;
die Unterſuchung kann
immer
nur dahin geführt werden, um genau zu ermitteln, was
von
Zeit zu Zeit bei jedem neu aufgebrochenen Ei bereits vor-
gegangen
iſt;
aber indem wir die Reſultate dieſer Unter-
ſuchung
unſern Leſern kurz vorführen werden, wird man es
uns
erlauben, auch einige Vermutungen auszuſprechen, die
freilich
die ſtreng beobachtende Wiſſenſchaft nicht früher zu
geben
wagt, bevor ſie nicht unumſtößliche Beweiſe für die-
ſelben
hat.
Wir werden jedoch die Entwickelung des Hühnchens im
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
39034
Ei beſſer verſtehen, wenn wir uns zunächſt das Weſentliche
der
erſten Entwickelungsſtadien zwar ſchon mehrzelliger, aber
doch
weniger hoch organiſierter Tiere als es das Hühnchen iſt,
85[Figure 85]Fig. 12. klar gemacht haben.
Es
liegt
dies daran, weil
die
höheren Tiere von
der
Eizelle bis zur Ge-
burt
, alſo in ihrer Ent-
wickelung
mehr oder
minder
deutlich die For-
men
und Bauarten der
niederen
Tiere, von
denen
ja die höheren
urſprünglich
abſtammen,
wiederholen
.
So beginnt ja alſo
all
und jedes Lebeweſen
mit
einer einzigen Zelle,
der
Eizelle, gewiſſer-
maßen
als Erinnerung
an
die einzelligen, älte-
ſten
Vorfahren (Fig.
12,
A
und B).
Die Fig. B
zeigt
den Zellkern in der
Mitte
, der ſich bald
wie
die ganze Zelle in
zwei
ſpaltet:
C.
Durch wiederholte
Teilung
erhalten wir
ein
vierzelliges Gebilde D, dann ein achtzelliges u.
ſ. w. ,
ſchließlich
eine maulbeerähnliche Kugel E und F, die durch
Auseinanderrücken
der Zellen innen hohl wird, wie man bei
einem
Querſchnitt G durch das Gebilde F deutlich ſieht;
39135 iſt dies das Stadium, das man als das der Keimblaſe
(Blaſtula) bezeichnet.
Auf einer Seite ſtülpt ſich dieſe Keimblaſe ſo ein, wie
etwa
ein nicht mehr prall mit Luft gefüllter Ball mit dem
Finger
eingedrückt werden kann (H).
Drückt man die ganze Luft,
etwa
nach Anſtechen des Ballons, heraus, ſo würden wir ein
Bild
eines weiteren Stadiums enthalten, wie es die Bilder
K
und I veranſchaulichen:
nämlich eine doppelwandige Glocke
mit
weiter Öffnung.
Dieſes Stadium heißt das desHohl-
keims
oder das derDarmlarveoderGaſtrula.
Niedere Tiere, die die geſchilderten Stadien zeitlebens bei-
behalten
, giebt es im Meere.
Bei dem Hohlkeim würde man ein äußeres und ein
inneresKeimblatt” unterſcheiden und auch die beiden bald
zur
Anſchauung kommenden Blätter der Keintſcheibe des Hühner-
eies
müſſen in Parallele mit den beiden Keimblättern des
Gaſtrula-Stadiums
geſetzt werden.
X. Nach der Brütung von ſechs und von zwölf
Stunden.
Nehmen wir alſo an, wir hätten eine Anzahl von Eiern
in
die Brütmaſchine gebracht, woſelbſt ſie dem Einfluß einer
Wärme
von 37 Grad ausgeſetzt ſind, ſo reichen doch ſchon
wenige
Stunden hin, um weſentliche Veränderungen hervor-
zubringen
.
Es iſt viel in dieſer kurzen Zeit vorgegangen, denn
wir
ſehen, daß die Keimſcheibe ſchon den richtigen Anſatz ge-
macht
hat, um ein Hühnchen werden zu wollen, und das iſt
gar
nicht wenig, weil dies vorausſetzt, daß die kleine Keim-
ſcheibe
dem ganzen Ei den Impuls gegeben haben muß, um
ihr
und ihrer Beſtimmung dienſtbar zu ſein.
39236
Freilich iſt das, was wir nach etwa ſechs Stunden Brü-
tung
ſehen können, nicht ſehr auffallend;
aber es iſt doch immer
der
Anfang gemacht, und bekanntlich iſt aller Anfang ſchwer.
Das Erſte, was man ſieht, iſt, daß die Keimſcheibe ge-
wachſen
iſt.
Früher hat ſie nur wie ein Deckel auf dem
Grübchen
aufgeſeſſen, das zum Kanal der Dotterhöhle führt,
jetzt
hat ſie ſich’s bequemer gemacht;
ſie hat um ſich gegriffen
und
ruht mit einem breiteren Rande auf dem Dotter.
Unter-
ſucht
man indeſſen genauer, welcher Teil der Keimſcheibe ſo
zugenommen
hat, ſo findet man, daß dies nur vom oberen
Blatte
, dem äußeren Keimblatt, der Scheibe geſchehen iſt,
während
das untere Blatt, das innere Keimblatt, an einer
anderen
Art von Veränderung teilgenommen hat, die bedeutſam
genug
iſt.
Meiſt ſieht man nach ſechsſtündiger Brützeit, daß ſowohl
das
obere wie das untere Blatt ſehr deutlich aus Zellen ge-
bildet
ſind, das heißt alſo:
Bläschen von einer feinen Haut
gebildet
, welche im Innern eine Flüſſigkeit und in der Mitte
einen
kleinen Kern in ſich haben.
So geringfügig dies dem Unkundigen erſcheinen mag, ſo
wichtig
iſt dieſe Erſcheinung in den Augen jedes Kenners,
der
dem Weſen und den Erſcheinungen des Lebens nachſpürt.
Wir haben ja geſehen, daß die Zelle ein weſentliches
Merkzeichen
, das Grundorgan des Pflanzen- und Tierlebens
iſt
, während alles, was dem Geſteinreich angehört, alſo nicht
Pflanze
oder Tier iſt, immer nur in Kryſtall-Form auftritt.
Es iſt eine ebenſo wichtige wie intereſſante Entdeckung, daß
alle
Produkte der Geſtein-, Erd- und Metallarten, mit einem
Wort
, daß alle Dinge, die nicht von Pflanzen oder Tieren
abſtammen
, in ihrer Form ſchon weſentlich verſchieden ſind
von
Pflanzen- oder Tierſtoffen.
Jene Dinge, die man die
lebloſen
nennt, nehmen immer, ſobald ſie ſich zu feſten Körpern
geſtalten
, die Kryſtall-Form an.
Anders jedoch iſt es mit
39337 Stoffen, die ein Leben in ſich tragen, wie Pflanze und Tier;
ſie beſtehen nie aus Kryſtallen, ſondern immer aus ſehr kleinen,
aneinandergefügten
Zellen.
Kryſtalle ſind daher ein Merkmal
der
lebloſen Materie, während die Zelle das Merkmal der
lebenden
oder lebensfähigen Materie iſt.
Die weitergehende Entwickelung des Eies zeigt ſich ſofort
ſchon
, wie wir ſehen werden, bedeutender, wenn wir ein zweites
Ei
erſt nach noch weiteren ſechs Stunden aus der Brütmaſchine
nehmen
.
Brechen wir dieſes Ei auf, ſo bemerken wir. daß die Keim-
ſcheibe
und zwar hauptſächlich das obere (äußere) Blatt derſelben
ſich
noch weiter ausgedehnt hat.
Die Zellen haben ſich ver-
mehrt
und ſind deutlicher als ſolche zu erkennen;
hauptſächlich
Neues
aber, das hier zur Erſcheinung kommt, iſt eine be-
deutende
Veränderung des unteren (inneren) Keimblattes.
Das untere (innere) Keimblatt nämlich bildet Ausfaltungen
und
wird zu drei Blättern, von denen das eine unter dem andern
liegt
, ſo daß die Keimſcheibe jetzt aus vier übereinander-
liegenden
Blättern beſteht.
Wir werden auch fortan, wenn wir
von
den Blättern der Keimſcheibe ſprechen, das unterſte, die
beiden
mittleren und das obere Blatt genau von einander zu
unterſcheiden
haben;
denn wir werden bald ſehen, daß
jedes
der Blätter, oder richtiger der übereinander liegenden
Häutchen
, welche jetzt ſchon einen recht breiten Deckel über dem
Eingang
und dem Rand der Dotterhöhle bilden, eine beſondere
Beſtimmung
hat.
Jedes dieſer Blätter iſt eine Art Fabrik,
die
den Stoff, der ihm zuſtrömt, in eigener Weiſe verarbeitet,
um
daraus entſprechende Teile des Hühnchens zu machen.
Iſt denn aber vom Hühnchen noch gar nichts zu ſehen?
Nur Geduld, mein freundlicher Leſer, wir werden bald
etwas
davon zu ſehen bekommen, was wir Menſchen, wenn
wir
Hühnchen machen ſollten, ſchwerlich zuerſt machen würden.
39438
XI. Inwiefern das Hühnchen durch die Art ſeiner
Entwickelung auf ſeine Ur-Vorfahren weiſt.
Du wirſt dich gefragt haben, lieber Leſer, wie denn das
im
vorigen Abſchnitt Vorgebrachte mit der Entwickelung der
gelegentlich
als Hohltiere bezeichneten Weſen zuſammenhängt,
der
Tiere, deren Weſen wir Seite 34 beſchrieben haben, die
in
ihrem Endſtadium ſo ausſehen, wie das Fig.
12 I ver-
anſchaulichte
Gebilde.
Wir haben ſchon darauf aufmerkſam gemacht, daß die
höheren
Tiere mehr oder minder vollſtändig in ihrer Ent-
wickelung
die Formen derjenigen Tiere wiederholen, aus denen
ſie
vor undenklichen Zeiten, im Laufe unzähliger Generationen
hervorgegangen
ſind.
Nicht nur das Hühnchen, ſondern über-
haupt
die Wirbeltiere ſtimmen daher in den Vorgängen ihrer
Entwickelung
eine große Strecke hindurch im weſentlichen
überein
, und es iſt daher gleichgültig, ob wir die erſten
Entwickelungsſtadien
an dem Keim des Hühnchens oder eines
Wirbeltieres
uns klar machen, da es uns ja hier nicht auf
Beſonderheiten
ankommt, ſondern auf die großen, intereſſanten
Beziehungen
, die die Tiere in ihrer Entwickelung zeigen.
Aus dieſem Grunde wählen wir in unſerer Fig. 13 als
Beiſpiel
aus dem Wirbeltierreiche ein ſolches, bei welchem ein
weit
kleinerer Nahrungsdotter Dt vorhanden iſt als beim
Hühnchen
, und zwar deshalb, weil die Figuren bei Benutzung
der
Verhältniſſe, wie ſie das Hühnchen bietet, durch den über-
großen
Platz, den der Nahrungsdotter einnimmt, entweder
in
ihrem wichtigſten Teil, dem Keim, zu klein geraten wären,
oder
aber bei genügender Größe viel zu viel Platz weg-
genommen
hätten.
Die Stadien I bis VIII, welche unſer
Beiſpiel
veranſchaulicht, ſind alle im Querſchnit@ durch den
Keim
gedacht.
In I haben wir das Hohlkeim- (das
39539 Stadium. Es zeigt bei a das äußere, bei i das innere Keim-
blatt
, der ganze Keim ſo durchſchnitten, daß oben die Öffnung
des
Hohlkeimes, der
86[Figure 86]Fig. 13.a a i Dh. i Dh. I II Dt Dt a R L L a m m Ch Ch. i Dh. Dh. IV III Dt Dt R L a m o i Ch. Ch. V VI R a a m m m m Ch Ch m m VII VIII L L Dh. Dh.i iUrmund” zur An-
ſchauung
gelangt.
Dh
iſt
die Ur-Darmhöhle,
aus
der in der That
ſchließlich
die Magen-
und
Darm-Höhle des
fertigen
Tieres wird.
Schneiden wir den
Hohlkeim
ſo durch, daß
der
Schnitt ſeitlich vom
Urmund
hindurchgeht,
ſo
würden wir natür-
lich
ein Bild erhalten,
wie
es, abgeſehen von
den
Hervorwölbungen
(Faltungen) des inneren
Keimblattes
i, das Sta-
dium
II zeigt.
Dieſes
ſpätere
Stadium zeich-
net
ſich alſo durch
drei
nach oben hin ge-
wendete
Ausſtülpungen
aus
, die in der Längs-
richtung
des ſich ſtreck-
enden
Keimes verlau-
fen
.
Die beiden ſeit-
lichen
Ausſtülpungen
werden
bedeu@ende Falten m, wie es in III angegeben iſt,
Falten
, die zwiſchen das äußere und innere Keimblatt ein-
dringen
, während die in der Mittellinie des Keimes
3964087[Figure 87]Fig. 14.
Der
Lanzettfiſch, 3 mal
vergrößert
. a = Mund,
b
= After, e = Magen.
a e b
Falte Ch ſich ſchließlich abſchnürt und eine
Röhre
bildet (Stadium IV), die als Chorda
dorsalis
, Rückenſaite, bekannt iſt und aus
der
die Wirbelſäule hervorgeht.
Der am
niedrigſten
organiſche Fiſch, den wir überhaupt
kennen
, der daher auch erſt ſpät als zu den
Fiſchen
gehörig erkannt worden iſt, der Lanzett-
fiſch
(Amphioxus lanceolatus), der unſere
Nordſee
bewohnt (Fig.
14), kommt über die
Bildung
der Chorda dorsalis nicht hinaus.
In demſelben Verlauf wie die Chorda
dorsalis
, die noch nicht verknöcherte Ur-Wirbel-
ſäule
, beginnt auch das äußere Keimblatt a
(Fig.
13) ſich einzufalten, aber in umgekehrter
Richtung
, wie das das Stadium IV bei R zur
Anſchauung
bringt.
Auch dieſe Falte wird zu
einer
ſich abſchnürenden Röhre, aus der ſchließ-
lich
das Rückenmark hervorgeht.
Die beiden ſeitlichen als m bezeichneten
Falten
ſchnüren ſich ſchließlich auch ab, ſo-
daß
dann ihr entwickelungsgeſchichtlicher Zu-
ſammenhang
ebenfalls nicht mehr ſichtbar iſt:
Stadien V und VI. Aus dieſen Falten, die
zwei
mittlere Keimblätter bilden, geht im
weſentlichen
das Muskelgewebe, das Fleiſch des
Tieres
hervor.
Die beiden mittleren Keimblätter behalten
Lücken
L zwiſchen ſich, aus denen die Leibes-
höhlen
werden, und zwar durch eine Verſchie-
bung
nach der Kopfſeite des Tieres hin, aus
der
einen die Bruſthöhle, aus der andern die
Bauchhöhle
.
Die mittleren Keimblätter bilden
39741 durch Abſchnürung getrennte Teile in der Weiſe, wie es die
Stadien
VII und VIII lehren, ſodaß wir nun vier in der
Längsrichtung
des Tieres verlaufende Muskelröhren erhalten.
An dem Stadium VIII erkennt nun ſogar der Laie un-
ſchwer
den ſchematiſchen Querſchnitt eines Wirbeltieres.
Die Haut und das Rückenmark ſind aus dem äußeren
Keimblatt
a hervorgegangen, ebenſo die zu dieſen gehörigen
Organe
, wie vor allem die Sinnesorgane.
Alles andere wird durch Umgeſtaltung des inneren Keim-
blattes
i gebildet.
Die ſeitwärts von der Rückenſeite Ch und dem Rücken-
mark
R verlaufenden Fleiſchpartien m bilden dasOberſchalen-
fleiſch”
, die anderen, die Leibeshöhlen umgebenden Muskelteile
bilden
u.
a. , und zwar das äußere Blatt derſelben, die Bauch-
muskulatur
, während das innere Blatt u.
a. die Darmmus-
kulatur
hervorbringt.
Soweit ſind wir aber beim Hühnchen noch nicht, zu dem
wir
nun zurückkehren können.
XII. Wir ſehen etwas vom Hühnchen.
Bis über die Mitte des erſten Brüttages hat ſich noch
immer
kein beſtimmter Leibesteil des Hühnchens gebildet.
Die
übereinander
liegenden Blätter der Keimſcheibe, die eigentlich
Alles
in Allem ſind, haben zwar begonnen, die erſte Stufe
des
Lebens zu beſchreiten;
aber man kann bis jetzt immer
noch
nicht ſehen, wo und wie aus denſelben ein Geſchöpf
oder
auch nur ein Teil des Geſchöpfchens entſtehen ſoll.
Erſt
um
die vierzehnte oder fünfzehnte Stunde zeigt ſich die erſte
Spur
des erſten Körperteiles.
Und welches iſt dieſer Körperteil, der die Ehre hat, der
Erſtgeborene
oder Erſtgebildete vor allen anderen zu ſein?
39842
Wahrlich, wir haben nicht übel Luſt, eine kleine Weile
unſere
Leſer über die Antwort auf dieſe Frage nachdenken zu
laſſen
.
Wenn wir Menſchen imſtande wären, Hühnchen zu machen,
womit
würden wir wohl zuerſt anfangen?
Der Eine meint
ohne
Zweifel, daß der Kopf doch die Hauptſache ſei und es
ſich
zieme, zuerſt einen Hühnerkopf fertig zu machen und an
dieſen
das Übrige anzuſetzen.
Der Andere ſagt ſicherlich:
Nein, das hieße ein Haus vom Giebel zu bauen beginnen; es
ziemt
ſich, zuerſt alles andere fertig zu machen, und dann den
Kopf
, als die Krone des Werkes, den Schluß bilden zu laſſen.

Ein
Dritter möchte das Hirn, den Sitz des Gedankens, vor
allem
fertig haben;
ein Vierter wird dem Herzen das Vorrecht
der
Erſtgeburt oder Erſtbildung zuſprechen, weil, wenn dieſes
nicht
da ſei, das Leben gar nicht beginnen könne.
Vielleicht
giebt
es ſogar Menſchen, die den Magen als das vorzüglichſte
und
hauptſächlichſte Organ des Lebens anſehen und vor allem
verlangen
würden, daß man für dieſen Teil des Körpers zu-
erſt
ſorgen möge.
Und ſo dürften die Anſichten ſo weit
auseinander
gehen, daß wir Menſchen vielleicht jahrelang über
den
Anfang ſtreiten würden, bevor wir überhaupt etwas zu
ſtande
brächten, ſelbſt wenn wir das Kunſtſtück ſonſt verſtänden.
Die ſchaffende Natur macht es anders. Sie zweifelt nicht
über
den Anfang und iſt ihrer Sache ſo ſicher, daß von tauſend
Hühner-Eiern
auch nicht eines abweicht von dem vorgeſchriebenen
Bildungsgang
, ſondern alle regelrecht und unabwendbar in
ganz
genau beſtimmter Weiſe ſich zu formen anfangen.
Um die angegebene Stunde erſcheint in der Mitte des
oberen
Keimblattes ein feiner Streifen, der an einem Ende ein
wenig
dicker iſt, als am anderen;
und dieſer Streifen iſt die
erſte
Andeutung des Rückens und zwar deſſen Mittellinie.
Der Streifen teilt die Keimſcheibe in eine rechte und linke
Seite
, und iſt auch die Grenze der rechten und der
39943 Seite des Hühnchens, ſo daß man aus dem Streifen mindeſtens
vorerſt
ſehen kann, in welcher Richtung dasſelbe liegen wird.
Da wir wiſſen, daß ein Hühner-Ei nicht kugelrund iſt,
ſondern
eine lange und eine kurze Axe hat, ſo ſollte man ver-
muten
, daß ſich das Hühnchen gewiß mit ſeiner Körperlänge
nach
der Länge des Eies legen würde.
Das iſt aber nicht
der
Fall;
die Länge des Hühnchens liegt anders. Wenn man
das
Ei in der Breite ſo vor ſich hinlegt, daß man das ſtumpfe
Ende
des Eies zur linken und das ſpitze Ende zur rechten
Hand
hat, ſo liegt der Streifen, der den Rücken des Hühnchens
andeutet
, ſenkrecht vor dem Auge des Beſchauers, und zwar
wird
ſich an dem oberen Ende, wo der Streifen ein wenig
dicker
iſt, der Kopf des Hühnchens bilden, während das untere
Ende
die Schwanzſeite des Hühnchens ſein wird.
Denken
wir
uns das ganze Ei als das Bett des Hühnchens, ſo liegt
das
Hühnchen nicht, wie jeder ordentliche Menſch, mit der
Körperlänge
in der Länge ſeines Bettes, ſondern durchaus in
der
Quere.
Das mag uns freilich ſonderbar genug vorkommen; da
aber
die ſchaffende Natur das Ding doch beſſer verſteht als
wir
, ſo müſſen wir uns damit beruhigen, daß es gewiß ſo
ſein
muß.
Und wirklich ſcheint es der Fall zu ſein, denn dieſe
quere
Lage hat einen beſonderen Vorteil für unſer werdendes
Geſchöpf
.
Wir werden nämlich ſpäter ſehen, daß das
Hühnchen
ſeinen Kopf nebſt dem langen Hals nicht zu laſſen
weiß
und dieſen umbiegen muß nach der linken Seite, meiſt
unter
den linken Flügel;
dadurch kommt aber der Schnabel
gerade
an das breite Ende des Eies, wo der Luftraum ſich
befindet
und das junge Geſchöpf hat hiernach die beſte Ge-
legenheit
, ſich im Atmen zu üben, wenn es ſo weit iſt, dies
Kunſtſtück
benutzen zu müſſen.
Läge das Hühnchen der Länge
nach
im Ei, ſo würde dieſe Länge doch nicht ausreichen, um
den
Kopf an den Luftraum zu laſſen, denn ein Hühnchen
40044 von Kopf bis Schwanz viel länger, als ein Ei vom
breiten
bis zum ſpitzen Ende.
Das Hühnchen wäre nun ge-
nötigt
, den Kopf wiederum ſeitwärts irgendwo unterzubringen,
würde
aber dabei ſchlecht fahren, indem es mit dem Schnabel
nicht
an einen Luftraum käme.
Mit dieſem Auftreten des erſten Streifens, der die Ehre
hat
, die Mittellinie des Rückens unſeres Hühnchens vorzuſtellen,
ſind
noch andere Erſcheinungen verbunden, die man etwa nach
einer
Brütung von achtzehn Stunden deutlich ſehen kann.
Die ganze Keimſcheibe hat ſich bedeutend vergrößert; da-
bei
ſchnüren die beiden oberen Blätter wie wir in Ab-
ſchnitt
XI ſahen in ihrer Mittellinie je einen Strang ab,
ſo
daß ſie dort undurchſichtiger werden, als an den Rändern.
Der obere Strang wird alſo zum Rückenmark und Gehirn,
der
untere (die Chorda dorsalis der Anatomen) zur Wirbel-
ſäule
.
XIII. Das Hühnchen iſt einen Tag alt.
Wir haben geſehen, daß die Hühner-Fabrikation in der
erſten
Hälfte des erſten Tages etwas langſam und bedächtig
vor
ſich geht;
dafür aber macht ſich’s in den letzten ſechs
Stunden
dieſes Tages ſchon etwas beſſer, und zwar geht die
Fabrik
nach allen Richtungen hin recht ernſt darauf los, etwas
zuſtande
zu bringen.
Der Rücken des Hühnchens war bereits in der achtzehnten
Stunde
der Brütung durch den feinen Streifen auf der Keim-
ſcheibe
angedeutet.
In der Richtung dieſes Streifens, welchen
man
als Rückenplatte bezeichnen kann, erhebt ſich längs der
beiden
Seiten des Streifens ein feiner Rand, der ſich wie der
Wall
neben dem Streifen hinzieht.
Da dies, wie geſagt, zu beiden Seiten längs des
40145 geſchieht, ſo ſtehen ſich die zwei Wälle gegenüber und laſſen
ein
langes Thal oder richtiger eine Rinne in ihrer Mitte.
Die Rinne iſt nach der Kopfſeite hin etwas tiefer, indem
hier
die Wälle zu beiden Seiten etwas ſchärfere Kanten bilden.
Iſt dies geſchehen, ſo bemerkt man bald, daß ſich die ſcharfen
Kanten
der Wälle zu einander neigen, und indem ſie ſich be-
rühren
und ſpäter mit einander verwachſen, fangen ſie an, ein
hohles
Rohr zu bilden, aus welchem das Gehirn und durch
den
Hals und Rücken gehend das Rückenmark wird, von dem
die
den ganzen Körper verſorgenden Nerven ausgehen.
Faſt gleichzeitig aber bemerkt man auch, daß zu beiden
Seiten
der Rinne und der ſie bildenden Wälle weiße, kleine
Flecke
entſtehen, die faſt wie Würfelchen ausſehen.
Dieſe
Würfelchen
werden Urſegmente genannt;
ſie gehen aus den
beiden
mittleren Keimblättern, genauer dem Teil hervor, aus
dem
die Oberſchalenſtücke werden, und entſprechen den Quer-
gliedern
der Gliedertiere, wie der Würmer, Krebſe und In-
ſekten
, keineswegs alſo, wie man früher glaubte, den Wirbeln.
Auch dieſe Erſcheinung muß alſo als Erinnerung an Verhält-
niſſe
bei weit zurückliegenden Vorfahren gedeutet werden, von
welchen
eben die genannten Gliedertiere Nachkommen ſind, die
die
urſprüngliche Bauart in den Hauptzügen bis heute bewahrt
haben
.
Sieht man denn aber nichts vom Kopf des Geſchöpfchens,
der
der Sitz des Gehirns werden ſoll?
Die Antwort auf dieſe Frage wird wahrſcheinlich den
Leſern
etwas ſonderbar klingen;
aber wir können uns nicht
helfen
, ſondern müſſen es nur ſagen, daß alle Forſchungen der
neueſten
Zeit den Beweis geliefert haben, daß der Kopf eines
Weſens
keineswegs etwas ganz Apartes, beſonders Geſchaffenes
iſt
, dem der Körper nur als eine Art Poſtament zugegeben iſt;
es iſt vielmehr der Kopf jedes Tieres nur ein höher aus-
gebildeter
Wirbel desſelben.
40246
Es würde uns viel zu weit von unſerm Thema abführen,
wenn
wir dieſe Behauptung der neueren Wiſſenſchaft unſeren
Leſern
völlig deutlich machen wollten;
nur ſoviel wollen wir
ſagen
, daß damit keineswegs behauptet werden ſoll, daß das
Haupt
nicht auch die Hauptſache am Tiere ſei;
es ſoll damit
nur
das Eine geſagt werden, daß die Natur die erſte Bildung
des
Kopfes nur als Wirbel anlegt und die Form des Kopfes
erſt
aus der des Wirbels entwickelt.
An unſerem Hühnchen nimmt man dieſe Art Entwickelung
ebenfalls
wahr.
Der Kopf des Hühnchens iſt vorerſt in der
That
nur der erſte oberſte Wirbel;
aber gleichzeitig mit dieſer
Bildung
geſchieht ſchon etwas Beſonderes mit dieſem werdenden
Kopfe
und dies iſt Folgendes:
Schon während der letzten Stunden hebt ſich die immer
weiter
wachſende Keimſcheibe etwas in die Höhe.
Der Rücken
des
Hühnchens krümmt ſich gewiſſermaßen und macht einen
kleinen
Buckel.
Während aber bei der Bildung des Wirbel-
rohrs
und der Wirbel nur das aus dem inneren durch Faltung
hervorgehende
mittlere Keimblatt thätig war, erhebt ſich’s am Kopfende, alſo am erſten Wirbel, blaſenartig von unten, vom
unterſten
Blatte her in die Höhe, und dieſe Erhöhung biegt
und
buchtet ſich am Kopfende immer mehr vor, ſo daß das
Hühnchen
auf dem Dotter wie ein umgeſtülpter Kahn daliegt,
deſſen
obere Biegung ſtärker iſt als die untere.
Während der Zeit, daß dies vor ſich gegangen iſt, hat
die
Fabrik an anderen Teilen keineswegs ſtill geſtanden;
ſie
hat
ſich vielmehr nach allen Seiten hin geregt und bewegt.
Vor allem hat ſie beim Heben des Rückens ſchon die
1
11 Die beiden mittleren Keimblätter werden meiſt ſchlechtweg als
das
mittlere Keimblatt bezeichnet, ſodaß alſo dann wie wir’s auch
gethan
haben ein äußeres und ein inneres mittleres Keimblatt
zu
unterſcheiden iſt.
40347 Anlage der rechten und linken Seite des Hühnchens gemacht.
Zwar kann man keinem Menſchen in der Welt zumuten, in
dieſem
Dinge wirklich ein Hühnchen zu erkennen;
aber es iſt
doch
ſchon immer etwas, wenn man ſagen kann:
falls dies ein
Hühnchen
wird, ſo wird hier oben der Kopf, dieſe Seite die
rechte
, dieſe die linke desſelben ſein.
Genaue Unterſuchungen
zeigen
aber noch mehr, und zwar ringsum im Rande des
mittleren
Blattes, welcher Rand garnicht mit dem Hühnchen
in
Verbindung zu ſein ſcheint, ſondern nur wie ein Kranz
rings
um dasſelbe liegt.
In den feinen Geweben dieſes
Randes
zeigen ſich gegen Ende des erſten Brüttages feine
Blutzellen
, die ſpäter eine wichtige Rolle ſpielen.
Blicken wir nun noch auf den Dotter im Ganzen, ſo ſehen
wir
, daß die drei- (beſſer vier-) blättrige Keimſcheibe, in deren
Mitte
ſich eine Hühnchen-Form erhebt, mit ihren drei verſchiedenen
Rändern
weit in den Dotter eingreift;
das oberſte Keimblatt
am
weiteſten, weniger das mittlere;
während aber dieſe beiden
Blätter
auf der Oberfläche des Dotters ſich ausbreiten, geht
das
unterſte Blatt tiefer in den Dotter hinein und breitet ſich
innerhalb
desſelben aus.
So weit wäre nun ungefähr das Hühnchen nach vier-
undzwanzig
Stunden;
wir werden bald ſehen, was es in den
nächſten
Stunden noch für Kunſtſtücke machen kann.
XIV. Ein Blick in die Hühnerfabrik.
Aus der Geſchichte des Hühnchens am erſten Tage ſeiner
Bildung
ergiebt ſich ſchon, daß die Natur anders verfährt, als
wir
Menſchen verfahren würden.
Die Natur macht nicht einen Teil fertig und läßt ihn
dann
ruhen, um zu einem anderen überzugehen, damit
40448 wenn ſie nach und nach alles gemacht hat, die Zuſammen-
ſetzung
des Hühnchens vornehmen könne.
Sie arbeitet vielmehr
gleichzeitig
und in ununterbrochenem Zuſammenhang an allen
Teilen
zugleich.
Jhrem Wirken kommt eine Fabrik weit mehr
nahe
, als eine Werkſtatt.
Der Unterſchied zwiſchen menſchlicher
Fabrik
und Werkſtatt iſt meiſthin der, daß in der Fabrik die
Teilung
der Arbeit und das gleichzeitige Fertigwerden aller
einzelnen
Teile ſtattfindet.
In derſelben Zeit, wo in dem
einen
Winkel einer Uhrfabrik ein Rädchen gemacht wird, werden
auf
allen andern Seiten der Fabrik alle übrigen Teile der Uhr
gleichzeitig
fertig.
Bei der Werkſtatt iſt dies nicht ſo. Dort
muß
meiſthin der eine Teil des Werkes liegen bleiben, um auf
das
Fertigwerden des andern zu warten.
Die Teilung der
Arbeit
in der Fabrik fördert die Herſtellung des Ganzen,
während
dagegen die Werkſtatt äußerſt langſam vorwärts
kommt
.
In dieſem Sinne iſt wirklich die Natur fabrikmäßig
in
ihrem Schaffen.
Sie iſt aber zugleich eine höchſt vollendete, von Menſchen
durchaus
unnachahmliche Fabrik, ſofern ſie nicht nur gleich-
zeitig
, ſondern auch zuſammenhängend arbeitet.
Während
jede
menſchliche Fabrik, wenn alle einzelnen Teile des Werkes
fertig
geworden ſind, erſt noch die Zuſammenſtellung des
ganzen
Werkes vornehmen muß, arbeitet die Natur ſchon ſofort
einen
Teil in den andern hinein, ſodaß nicht Teile, ſondern
wirklich
ein Ganzes mit einemmale fertig wird.
Wir haben zwar bei der Thätigkeit unſerer Hühner-
Fabrikation
am erſten Tage gezeigt, daß ſich vornehmlich der
Rücken
auszubilden anfängt:
aber man täuſcht ſich, wenn man
glaubt
, daß das wirklich ſchon ein fertiger Rücken iſt, was
wir
nach den erſten vierundzwanzig Stunden ſehen.
Weder
die
Haut, noch das Rückenmark, noch die Knochen, weder das
Fleiſch
, noch die Blutadern, noch die Nerven ſind in dem-
ſelben
vorhanden.
Alles iſt aber zugleich angelegt, um
40549 Zeit fertig zu werden und zwar zur Zeit, wo das ganze
Hühnchen
fertig iſt, nicht früher und nicht ſpäter.
Wie aber ſieht es nach dem erſten Tage mit den Seiten
und
dem Bauch des Hühnchens aus?
Um über dieſe Frage den Leſer vollkommen klar zu machen,
müſſen
wir einen beſonderen Umſtand hier hauptſächlich her-
vorheben
, der ſich eigentlich ſchon von ſelbſt verſtehen ſollte.
Das, was wir den Rücken des Hühnchens genannt haben
und
ebenſo die blaſenartige Buchtung, die wir als Anlage
des
Kopſes erkennen, iſt das bitten wir unſere Leſer ſich
zu
merken nur eine Erhöhung und Faltung in der Mitte
des
äußeren Keimblattes.
Dieſer Rücken ſowohl wie der ſo-
genannte
Kopfteil iſt ganz und gar in der Runde verwachſen
mit
der den Dotter umſchließenden Keimſcheibe, ſo daß man
dieſe
Körperteile garnicht vom Dotter abheben kann, ohne die
Keimſcheibe
mit abzuziehen.
Thut man dies aber, oder ſchneidet man Kopf und Rücken
von
der Keimſcheibe aus und kehrt das Ding, das einen
Körperteil
eines Geſchöpfes vorſtellen ſoll, um, ſo findet man,
daß
weder ein Bauch, noch eine Bruſt, noch ein ſogenanntes
Geſicht
vorhanden iſt.
Es iſt nichts da als eine Höhlung,
welche
auf dem Dotter geruht hat, und es zeigt ſich auf dieſem
Dotter
auch nicht die geringſte Spur, wie und wo hier ein
Bauch
, eine Bruſt und der Vorderteil des Kopfes entſtehen ſoll.
Und in der That wird es auch nicht ſo entſtehen, wie man
ſich
das denken ſollte;
vielmehr müſſen wir jetzt auf die wunder-
volle
Erſcheinung aufmerkſam machen, die ſich erſt ſpäter zeigen
wird
, die aber zum Verſtändnis deſſen, was am zweiten Tage
geſchieht
, durchaus notwendig iſt.
Die Rückſeite des Hühnchens iſt eben im Bilden begriffen
und
ſie bildet ſich aus einem Teil der Keimſcheibe, und zwar
aus
deren Mitte.
Die Vorderſeite dieſes Geſchöpfes, das, was
man
Bauch, Bruſt u.
ſ. w. nennt, wird noch lange Zeit offen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
40650
bleiben, offen auf dem Dotter liegend, ja ein wirkliches Schließen
wird
erſt ſehr ſpät ſtattfinden, faſt erſt kurz vor dem Aus-
kriechen
des Hühnchens aus dem Ei.
Aber ſchon vom zweiten
Tage
ab wird ſich die Anlage zur Bildung der vorderen
Wände
des Körpers zeigen;
und zwar iſt es auch die Keim-
ſcheibe
, die dieſe bilden wird.
Der Vorgang iſt ganz eigentümlich und erfordert, daß
man
ſich die Sache etwas deutlicher macht.
Man denke ſich
das
Hühnchen, als ob es ganz und gar in dem Teil läge, den
wir
jetzt Rücken und Kopf genannt haben, und ſtelle ſich vor,
daß
die übrige Keimſcheibe ringsum nur eine Art Schlauch
iſt
, die das Hühnchen mit dem Dotter verbindet.
Für jetzt
iſt
dieſer Schlauch weit, ſehr weit, viel weiter, größer und
breiter
als das Hühnchen ſelber, aber dieſer Schlauch wird
ſich
nach und nach unter dem Hühnchen zu verengen anfangen;
er wird unter dem Kopf und der Schwanzſeite und ebenſo zu
beiden
Seiten des Hühnchens ſich zuſammenziehen, und ge-
wiſſermaßen
immer mehr und mehr abſchnüren, ſo daß der
Schlauch
immer enger wird, bis er endlich ſo dünn wie ein
Rohr
iſt, das innerlich einen Kanal bildet, der vom Hühnchen
zum
Dotter führt.
In dieſer Weiſe wird das Hühnchen auch
einen
Vorderteil des Körpers bekommen, und zwar aus dem-
ſelben
Zeug, woraus ſich der Rücken gebildet und nur mit dem
Unterſchied
, daß der Rücken ſich gehoben und der Vorderteil
ſich
durch ein unter dem Hühnchen ſtattgehabtes Zuſammen-
ziehen
der Keimſcheibe gemacht hat.
Das Hühnchen wird dann
wie
eine Frucht ausſehen, die auf einem Stiel, dem Rohre
wächſt
, welches vom Dotter zu demſelben hinführt.
Und wirkich iſt es ſo. So iſt es nicht nur mit dem
Hühnchen
, ſondern auch mit dem im Mutterſchoß ruhenden
menſchlichen
Geſchöpf, und der Stiel, woran es dann wächſt,
iſt
die Nabelſchnur, durch welche es groß gefüttert wird
bis
zur Minute, wo es an die Luft dieſer Welt geſetzt wird.
40751
Nach dieſer Vorbereitung wird es uns leichter werden,
die
Vorgänge des zweiten Tages deutlicher zu machen.
XV. Wie Einem Hören, Sehen und Denken
vergehen kann.
Iſt es ſchon keine Kleinigkeit, dem Treiben des Hühnchens
während
der erſten vierundzwanzig Stunden der Brütung
nachzuſpüren
, ſo hat man wahrhaftig alle Hände voll zu thun,
wenn
man deſſen Erlebniſſe am zweiten Tage aufzählen ſoll.
Wir könnten uns zwar das Ding recht leicht machen und
glattweg
unſeren Leſern verſichern, daß dieſer zweite Tag aus
dem
Leben des Hühnchens, wie man ſo zu ſagen pflegt, der
ſchönſte
Tag ſeines Lebens ſei, denn es wird an dieſem Tage
ein
Weſen von Kopf und Herz.
Aber wir haben viel, viel
dem
hinzuzufügen, zumal da der Kopf an dieſem Tage eher
wie
vier verſchiedene Köpfe ausſieht als wie ein einziger, und
was
das Herz betrifft, ſicherlich kein Menſch auf der weiten
Erde
behaupten wird, das Hühnchen habe an dieſem Tage das
Herz
auf dem rechten Flecke.
Es geht hierbei aber noch viel anderes drum und dran
vor
, daß wir gut thun, die Hauptſachen der Reihe nach auf-
zuführen
.
Schon am erſten Tage begann ſich das hohle Rohr im
Rücken
zu bilden, welches das Rückenmark wird;
am zweiten
Tage
ſetzt ſich dieſe Bildung fort, ſo daß es ſich vom Hals
abwärts
mehr und mehr ſchließt.
Zugleich vermehren ſich
von
beiden Seiten dieſes Rohres die Urſegmente, die alſo ein
Gliedertierſtadium
andeuten.
Ferner umſpannt die unausgeſetzt wachſende Keimſcheibe
immer
mehr und mehr den Dotter, ſo daß ſie bald den
40852 Dotter in ſich eingeſchloſſen haben wird. Aber indem ſie dies
thut
, hebt ſich der Teil der Keimſcheibe, der Hühnchen iſt,
immer
mehr und mehr vom Dotter ab und vollzieht ſo eine
Abſonderung
oder Abſchnürung des Hühnchens vom Dotter.
Vornehmlich aber treten am zweiten Tage der Brütung
folgende
hauptſächliche Erſcheinungen auf.
An der Kopfſeite des Tierchens, das wir vor uns haben,
erheben
ſich da, wo der noch unentwickelte Hals zu ſuchen
wäre
, jederſeits vier blaſenartige Erhöhungen, ſo daß man
meinen
ſollte, es wollen ſich am Hühnchen noch eine Anzahl
Köpfe
bilden.
Dieſe Erhöhungen oder paarweiſe, je ein rechter und ein
linker
, mit einander verwachſenden Bögen ſind ein intereſſantes
Merkmal
des Fiſchſtadiums unſeres Keimes.
Es ſind nämlich
Kiemenbögen, die bei den Fiſchen dauernd erhalten bleiben,
während
ſie bei höheren Tieren, die durch Lungen atmen,
entweder
wieder zurückgebildet oder aber zur Geſichtsbildung
Verwendung
finden.
Das Ei bietet zwar für einen nur einigermaßen erhabenen
Kopf
keinen Raum;
dazu muß man von dieſem Kopfe noch
ſagen
, daß er ganz beſonders demütig erſcheint, denn er taucht
gewiſſermaßen
in den Dotter unter und ſinkt beim Wachſen
immer
mehr auf die Bruſt.
Der Nacken des Hühnchens iſt
außerordentlich
gebeugt und je mehr der Kopf an Größe zu-
nimmt
, deſto beſcheidener läßt das Hühnchen denſelben hängen.
Gleichwohl giebt ſich der Kopf als das hauptſächlichſte Glied
des
ganzen Weſens zu erkennen, denn ſein Wachstum iſt be-
deutend
ſtärker als das des übrigen Körpers, und er macht auch
zuerſt
Anſtalt dazu, ſich zu einem Daſein außerhalb des Eies
vorzubereiten
, zu einem Daſein im Lichte dieſer Welt, auf der
wir
ſo gern wandeln.
Um die angegebene Zeit, um die Mitte des zweiten Tages,
bemerkt
man nämlich an der vorderſten Blaſe des Kopfes,
40953 richtiger am Vorderteil des Gehirns, zu jeder Seite desſelben eine
kleine
Erhöhung, den Anfang der Augen.
Die Augen find in dieſer Zeit freilich nur Bläschen, die
zu
beiden Seiten auf einer andern Blaſe, dem Vorderhirn, ſich
bilden
.
Wenn man den Kopf des Hühnchens ſich dazu zurecht
legt
, ſo kann man ſogar durch den Kopf hindurch von einem
Auge
zum andern ſehen und gewiſſermaßen beobachten, was
eigentlich
dort ſteckt, wo ſich bald feſte Gehirnmaſſe befinden
ſoll
, die unzweifelhaft die Wohnung der Gedanken dieſes
Tierchens
werden wird.
Allein ſo viele Gedanken dies in uns
anregen
mag, und ſo viel wir unſer Auge und Hirn dabei an-
ſtrengen
mögen, man vermag in dieſer Stätte der größten
Wunder
nicht viel mehr zu entdecken, als eine helle Flüſſigkeit,
in
welcher vorerſt nicht einmal der Gedanke irgend eines Ge-
dankens
ſichtbar wird, ſondern aus welcher ſich noch im Laufe
dieſes
Tages feſtere Maſſe als Gehirn ausſcheidet.
Gleich-
zeitig
mit dieſem erſten Auftreten des Gehirns deutet ſich das
Rückenmark
entſchieden an, zuerſt ebenfalls nur als Flüſſigkeit,
welche
ſich im hohlen Rohr bildet, dann als feſter werdende
Maſſe
, welche in oder aus der Flüſſigkeit entſteht.
Aber nicht das Auge allein iſt es, das dem Kopf jetzt
ſchon
den Charakter eines Dinges giebt, welches ſich vor-
bereitet
, im Lichte des Tages auf der Erde zu wandeln,
ſondern
auch jene Pforten beginnen ſich zu beiden Seiten des
hintern
Hirnteils zu bilden, welche Kunde von dem geben,
was
in der Entfernung vorgeht, ſelbſt wenn man es nicht ſieht.
Das Ohr, welches beſtimmt iſt, auf Erden die Schwingung der
Luft
als Schall und Ton in ſich aufzunehmen und auf das Be-
wußtſein
des Gehirns zu wirken, das Ohr fängt an, ſich ſchon in
der
letzten Hälfte des zweiten Tages zu bilden, freilich nur als
feines
Bläschen, an welchem vorerſt nichts von ſeiner künftigen
Beſtimmung
zu erkennen iſt als das eine, daß es ungefähr den
Ort
einnimmt, wo das fertige Ohr ſeinen Sitz haben wird.
41054
Bedenkt man nun, daß dies in der verſchloſſenen Ei-
Schale
geſchieht, wo weder eine Anregung zum Sehen, noch
zum
Hören, noch zum Denken da iſt daß alſo nichts geſchieht
für
den jetzigen Zuſtand des Hühnchens, ſondern für ſeine ihm
völlig
unbekannte Zukunft auf Erden, wo ihm Gedanken nötig
ſein
werden, wo es ſein eigenes Kikriki und ſonſt noch Vieles
wird
zu hören bekommen, und wo es auch was zu ſehen giebt,
weil
die zwanzig Millionen Meilen weit entfernte Sonne ſo
gut
iſt, Lichtſtrahlen herabzuſenden, bedenkt man dies und
noch
eine ganze Reihe anderer Dinge, die drum und dran
hängen
, ſo muß man geſtehen, daß bei Betrachtung dieſer ſich
bildenden
Gedanken-Werkſtätte, dieſes Auges und dieſes Ohrs
in
einer verſchloſſenen Ei-Schale dem klügſten Menſchen ſo
zu
ſagen Hören und Sehen und Denken vergehen kann!
XVI. Ein Weſen von Kopf und Herz.
Was aber iſt ein Weſen, und hätte es den vollendetſten
Kopf
, wenn ihm das Herz fehlt?
!
So vielleicht ruft eine gefühlvolle Leſerin aus, die es
weniger
intereſſiert, wie ſich der Kopf des Hühnchens zu bilden
anfängt
, und ſich größeren Genuß verſpricht, wenn ſie vom
Werden
des Herzens hört.
Nun denn, ſo wollen wir zeigen, wie unſer Weſen ſchon
am
zweiten Tage ſeines Daſeins auch beherzt wird;
aber ſagen
müſſen
wir ſogleich, daß das Herz, das bekanntlich ein kurioſes
Ding
iſt, auch ganz kurios in ſeinem Entſtehen iſt.
Schon der Ort, wo es entſteht, iſt höchſt ſonderbar und
abenteuerlich
, und es gehört eine beſondere Sorgfalt dazu, um
dieſen
Ort genau zu bezeichnen.
Wir müſſen nämlich nicht vergeſſen, daß unſer
41155 das am Ende des erſten Tages etwa wie ein umgeſtülpter
Kahn
ausgeſehen hat, auch jetzt noch nicht viel hübſcher ge-
worden
iſt.
Es hat ſich nur in ſo weit wachſend verändert,
daß
ſich der Kopfteil noch mehr gebuchtet und die Höhlung,
die
er vorerſt bildet, noch weiter vor ſich gegangen iſt.
Die
Seitenwände
, mit denen es auf dem Dotter lag, haben ſich ein
wenig
mehr nach unten geneigt, und auch das Schwanz-Ende
hat
ſich gebogen, und zwar abwärts an den Dotter hinab.
In ſolcher Weiſe hat ſich der umgeſtülpte Kahn in die Form
eines
umgekehrten Filz-Pariſers verwandelt, der mit der Sohle
nach
oben liegt.
Stellen wir uns das Hühnchen in dieſer Form vor, und
vergleichen
wir es einmal des Spaßes halber mit einem
Pariſer
, ſo ſtellt der Rücken, den uns das Hühnchen zuwendet,
die
nach oben gekehrte Sohle vor.
Die Seitenteile des
Schuhes
entſprechen der rechten und linken Seite des Hühn-
chens
, der abwärts gehende Hackenteil des Schuhes ähnelt dem
abwärts
geneigten Schwanzteil des Hühnchens, und die nach
unten
gekehrte große Höhlung entſpricht der nach unten ſich
beugenden
Blaſe, welche der Kopf des Hühnchens iſt, und die
wir
zur näheren Bezeichnung die Kopfkappe nennen wollen.
Auch inſofern ähnelt das Geſchöpfchen jetzt einem Schuh,
daß
es vorerſt unten noch ganz offen iſt.
Nur in einem
Punkte
iſt es ſchlimmer dran als ein Schuh, denn es iſt mit
ſeinem
Rande, dort, wo der Schuh gewöhnlich ringsum mit
Band
eingefaßt wird, angewachſen an der weiter um den Dotter
gehenden
Keimſcheibe, die ſich an dieſem Rande umſchlägt, um
den
Dotter in ſich einzuſchließen.
Bedenken wir nun, daß das ganze Geſchöpf nur die
ausgewachſene
Keimſcheibe iſt, daß dieſe Keimſcheibe eine Blaſe
oder
Kappe bildet, ſtatt des Kopfes, daß ſie aber, nachdem ſie
dies
gethan, umbiegt, um wieder die Oberfläche des Dotters
zu
bekleiden, ſo haben wir gerade hier, bei dem
41256 die Stelle, an welcher ſich in ſehr ſonderbarer Weiſe das Herz
bildet
.
Hier an dieſer Stelle geſchieht nämlich etwas, was bis
dahin
noch nicht der Fall geweſen iſt.
Die Keimſcheibe beſteht,
wie
wir wiſſen, eigentlich aus mehreren Blättern.
Erſt wenn
die
Keimſcheibe am unterſten Rand der ſogenannten Kopfkappe
einbiegt
, um den Dotter zu bekleiden, erſt dann trennt ſich das
mittlere
Blatt vom oberſten um ein kleines Stückchen, und in-
dem
es auch umbiegt, um ebenfalls den Dotter zu umkleiden,
entſteht
zwiſchen dem oberſten und dem unterſten Blatt eine
Art
Sack, ein Raum, der berufen iſt, das wichtigſte Organ des
Leibes
, das Herz, in ſich auszubilden.
Wie aber macht ſich ein Herz?
Wahrlich, auch dies iſt eine Frage, die zu beantworten
nicht
geringere Schwierigkeiten hat, als die Frage, wie ſich
Gedanken
machen.
Die vorzüglichſten Naturforſcher ſind für
jetzt
zufrieden, wenn ſie nur erſt die Entſtehungsweiſe in den
roheren
Zügen kennen lernen.
Nur ſo viel ſteht feſt, daß der
Bildung
des Herzens ſchon manches vorangegangen iſt, was
die
Grundlage dieſer Bildung zu ſein ſcheint, nämlich die
Entſtehung
des Blutes und der das Blut einſchließenden Adern,
welche
eben alle insgeſamt ihr Haupt-Bureau am Herzen
haben
.
Schon im Verlauf des erſten Tages hat ſich nämlich
am
Rande des mittleren Keimblattes ein feines, netzartiges
Gewebe
gebildet, das, wie ſich ſpäter zeigt, aus hohlen Kanälchen
beſteht
, in welchen ſich Blutgefäße befinden.
Zuerſt ſind die
Blutgefäße
ungefärbt, aber bald füllen ſie ſich auch mit gelblich-
rötlicher
Farbe und bilden die Blutkügelchen, die eigentlich dem
Blute
die rote Farbe verleihen.
Anfangs ſind die Maſchen des
Gewebes
nicht in einem ſichtbaren, fortlaufenden Zuſammen-
hang
;
aber bald bildet ſich auch dieſer aus, und es treten die
Blutkanäle
, die Adern, ſchon deutlicher hervor.
41357
Dies Alles iſt bereits am erſten Tage geſchehen, noch
bevor
ſich eine ſichtbare Spur zur Bildung des Herzens ge-
zeigt
hat.
Aber in demſelben mittleren Keimblatt, in welchem ſich
das
Blut und deſſen Kanäle, die Adern, gebildet, entſteht nun
am
zweiten Tage an der bezeichneten Stelle zuerſt ein hohler
Schlauch
.
Dieſer Schlauch teilt ſich an ſeinen beiden Enden
in
zwei Kanäle, die bereits mit vorgebildeten Kanälen in
Verbindung
treten;
und indem die ſchon fertigen Blutkügelchen
von
der einen Seite in den Schlauch eintreten, iſt der Schlauch
das
Herz geworden, und unſer Hühnchen iſt nun glücklich
am
heutigen Tage ein Weſen von Kopf und Herz zugleich ge-
worden
.
XVII. Das lebendige Drei-Blatt.
Wir haben die zwei erſten Tage aus dem Daſein eines
Hühnchens
mit einiger Weitläufigkeit begleitet;
aber wir können
heilig
verſichern, daß wir dabei die Dinge gar nicht wenig
übers
Knie gebrochen und, im Grunde genommen, nicht den
hundertſten
Teil von all’ den Merkwürdigkeiten berührt haben,
die
ſich in dieſen zwei Tagen ereignen.
Ein Hühnchen iſt zwar, ſelbſt wenn es fertig iſt, nur ein
Hühnchen
, und bei mäßigem Appetit verzehrt man es, zumal
wenn
es gut gebraten iſt, in einer Viertelſtunde und wiſcht ſich
den
Mund darauf und thut, als ob gar nichts vorgefallen
wäre
.
Wer aber in einem Hühnchen ein Geſchöpf ſieht, das
lebt
und zum Leben nicht minder berechtigt iſt als wir, und
wer
darin mehr erkennt als ein Ding, unſeren Appetit zu
ſtillen
, und in der Entwickelung eines Hüherlebens die Ent-
wickelung
des Lebens ſelber kennen lernen will, der wird uns
verſtehen
, wenn wir ſagen, daß ein ganzes
41458 Menſchenleben nicht ausreicht, um die vollſtändige Geſchichte
dieſer
zwei Tage in allen Einzelnheiten zu erforſchen und dar-
zuſtellen
.
Im Grunde genommen wiſſen wir uns noch etwas zu
Gute
darauf, ſo ſchnell mit den erſten zwei Tagen dieſes kleinen
Hühner-Daſeins
fertig geworden zu ſein;
aber trotzdem müſſen
wir
uns mit den folgenden Tagen ſeines Verweilens im Eier-
Häuschen
kürzer, viel kürzer faſſen und aus ihnen nur das
Merkwürdigſte
hervorheben.
Bevor wir indeſſen dieſe täglichen Bulletins über das
Befinden
und Gedeihen unſeres Tierchens eröffnen, müſſen wir
hier
einen Überblick verſuchen über die ſonderbare Art, wie
ſolch
ein Ding ſich entwickelt, und durch eine allgemeine Be-
trachtung
das darlegen, was die Forſchung in neuerer Zeit
Lichtvolles
über dieſe rätſelhafte Thatſache aufgefunden.
Aus drei (das ſich bald durch Faltung in zwei Blätter
ſondernde
mittlere Blatt wird, wie wir ſchon betonten, ge-
wöhnlich
auch fernerhin als nur ein Blatt, eben als das
mittlere
Blatt bezeichnet) übereinanderliegenden Häutchen, die
alle
zuſammen anfangs nur als ein kleines Fleckchen auf dem
Dotter
erſcheinen, bildet ſich ein ganzes, vollſtändiges Geſchöpf.
Das Fleckchen iſt zuerſt nur ein unbedeutender Teil des Dotters,
aber
gerade die Häute oder Blättchen, welche den Flecken bilden,
verſtehen
es, ſich zur Hauptſache und den ganzen Dotter ſammt
dem
Eiweiß zum Nebending, zur Speiſe für die Häute zu
machen
.
Der Keimfleck frißt buchſtäblich das ganze Ei auf und
wächſt
und dehnt und faltet und geſtaltet ſich dafür ſo lange,
bis
er ein Hühnchen iſt.
Es fragt ſich nun freilich: was giebt dieſen Häuten, dieſen
drei
Blättchen, aus denen der Keimfleck beſteht, die wunder-
bare
Kraft, alſo zu thun?
Dieſe Frage iſt vorläufig noch unbeantwortet. Die Wiſſen-
ſchaft
auf dem jetzigen Standpunkte geſteht ein, daß ſie
41559 weiß, wie und wodurch dieſen Blättern die unbekannte Kraft
zukommt
.
Bis zu dieſer Frage reicht die Naturwiſſenſchaft noch nicht
heran
und wird vorausſichtlich noch lange Zeit nicht mit
Sicherheit
dieſes größte Rätſel löſen können.
Dafür aber be-
ſchäftigt
ſie ſich ernſtlich mit der Erforſchung der Vorſtufen zu
dieſer
Frage, und eine ſolche Vorſtufe iſt die gründliche Unter-
ſuchung
, welche Rolle jedes der drei Blättchen in unſerem Keim-
fleck
ſpielt.
Hierüber haben die Unterſuchungen Remak’s und an-
derer
Licht verbreitet und die Thatſache ſicher geſtellt, daß
jedem
der drei Blätter, wie wir bereits ſahen, eine beſondere
Rolle
zukommt.
Das oberſte äußere Blatt nennt Remak dasHornblatt”.
Dieſes Blatt bildet alſo ſchon anfangs einen der edelſten Teile des
menſchlichen
Körpers, das Rückenmark, und ſpäter wird es auch
thätig
ſein bei der Bildung des Auges, des Ohrs, des Geruchs-
und
Geſchmackswerkzeuges;
aber im allgemeinen ſind alle Ge-
bilde
der Außenſeite des Körpers, die Oberhaut, die Haare,
Nägel
und Federn nur Umgeſtaltungen, welche das oberſte
Keimblatt
erfährt.
Es iſt freilich nur die Grenze zwiſchen dem
Geſchöpf
und der Welt außer demſelben;
aber gerade an dieſer
Grenze
, wie z.
B. an unſerer ganzen Haut, ſind die Gefühls-
nerven
verbreitet, welche dem lebenden Geſchöpf Kunde von der
Außenwelt
geben.
Inſofern kann man von dem oberſten Blatt,
der
Keimſcheibe, ſagen, es ſei dazu beſtimmt, das künftige
lebende
Geſchöpf von der Außenwelt abzugrenzen und ihm
durch
die Sinneswerkzeuge, die es bilden hilft, die Eindrücke
der
Außenwelt zu vermitteln;
man nennt das äußere Blatt
denn
auch Sinnesblatt.
Das mittlere Keimblatt ſahen wir ſchon bei der Bildung
des
Blutes und des Herzens thätig.
Aus dieſem Blatte aber
entwickeln
ſich vor allem die Muskeln, das Fleiſch.
Man
41660 daher das mittlere Keimblatt dasBewegungs-Blatt
nennen
, oder auch das Blutblatt, weil die Bildung des Blutes
und
des Herzens die erſte bedeutendſte That dieſes Blattes iſt.
Das unterſte, innerſte Blatt endlich nennt Remak das
Drüſen-Blatt“, und weiſt nach, daß aus ihm ſich vor-
nehmlich
die inneren Teile des Körpers bilden, deren Gefüge
drüſenartig
iſt, wie Magen und Darm, die Leber, die Nieren,
die
Lunge.
Im Ganzen liegt es in der Natur dieſes Blattes,
alle
Organe des Körpers zu bilden, welche zur Aufnahme und
Verdauung
der Speiſen dienen, überhaupt diejenigen Organe,
die
mit der Ernährung in Verbindung ſtehen, ſodaß man dieſes
Blatt
das Nahrungsblatt nennen kann.
So iſt denn ein lebendes Geſchöpf, das fühlt, ſieht, hört,
ſchmeckt
und riecht, ein lebendes Geſchöpf, deſſen Herz ſchlägt,
und
deſſen Glieder ſich bewegen, ein lebendes Geſchöpf, das
Speiſe
in ſich aufnimmt, ſich ernährt und Unbrauchbares
wieder
entfernt eigentlich ein lebendig gewordenes Drei-
Blatt
, das im Ei gewachſen und ausgebildet worden iſt.
Solch ein Drei-Blatt, oder wenn wir wollen ein Vier-
Blatt
, iſt ein Hühnchen und auch der Menſch iſt leiblich
nichts
anderes, denn ſeine Entwickelungsgeſchichte iſt der des
Hühnchens
in den erſten Tagen zum Verwechſeln gleich.
XVIII. Wie viel das Hühnchen am dritten
Tage zu thun hat.
Das Hühnchen ſchmeichelt ſich jetzt zwar erſt ſeit zwei Tagen
ſeines
Daſeins;
aber ſchon mit dem dritten bekommt es die
Courage
, ſich in einem ganz bedeutenden Punkt ſelbſtändig zu
machen
.
41761
Bisher war es nicht viel mehr als ein Höcker oder Aus-
wuchs
auf dem Dotter;
jetzt fängt es an, ſich von demſelben
ernſtlich
abzuſchnüren, und betrachtet den Dotter als einen
bloßen
großen Futterſack, den ihm das gute Schickſal an den
offenen
Leib geheftet hat.
Das Hühnchen fängt an ſich zu fühlen. Der Schlauch,
den
wir als Herz erkannt haben, zieht ſich von Zeit zu Zeit
zuſammen
und nimmt von der einen Seite aus den Kanälen,
den
Adern, das Blut in ſich auf und treibt es von der an-
deren
Seite wieder hinaus.
Bedenkt man, daß man dieſes
Schlagen
des Herzens im aufgebrochenen Ei bemerkt, ſo läßt
es
ſich denken, daß dies im geſchloſſenen, ſich weiter ent-
wickelnden
Ei ebenſo vor ſich geht.
Bisher hat das Hühnchen den Mund nicht aufgethan,
denn
es hatte keinen.
Jetzt am dritten Tage öffnet es ihn
auch
nicht;
aber es zeigt ſich doch ſchon Anſtalt, daß es einen
Mund
bekommen ſoll, wenn auch in höchſt unerwarteter Weiſe.
Es erweiſt ſich nämlich in der Kopf-Höhlung, daß ſich eine
Art
Narbe bildet, und zwar von innen nach außen.
An dieſer
Stelle
wird die Kopfwand immer dünner und dünner, bis ſie
endlich
aufreißt, und ſo eine Öffnung entſteht, aus der ſich
ein
Mund bildet.
Das Charakteriſtiſchſte des dritten Tages aber beſteht darin,
daß
die Keimhaut an beiden Seiten des Hühnchens ſich ſpaltet.
Die unteren Teile derſelben werden nun zwei Platten, die
immer
mehr und mehr zu dem offenen Bauche heranwachſen,
um
dieſen zu verſchließen, während die oberen Teile der ge-
ſpaltenen
Keimhaut ſich wie ein Mantel um das ganze Ge-
ſchöpf
legen und es in eine Art Haut einhüllen, in welcher es
noch
lange Zeit liegen wird, bis es dieſelbe zerreißt, um aus
dem
Ei-Gefängniß zu treten.
Da es uns Menſchen im Mutterleibe nicht beſſer geht,
und
auch wir ſolch einen Hautmantel um uns haben,
41862 welchem ſich das ſogenannte Fruchtwaſſer befindet, inner-
halb
deſſen wir ſchwimmen, ſo wird man ſich leicht über
das
Schickſal des Hühnchens, das in ſeinem Gefängnis noch
in
einer beſonderen Haut eingefaltet liegt, zu tröſten wiſſen.
Sicherlich haben ſchon viele unſerer Leſer gehört, daß es
Kinder
giebt, die in eine Haut gehüllt zur Welt gekommen ſind,
und
da man dieſe Haut ſogar eineGlückshaut” nennt, ſo hat
man
vielleicht gar Urſache, das Hühnchen glücklich zu preiſen,
88[Figure 88]Fig. 15.
Längsſchnitt
durch ein mehrtägig bebrütetes
Hühnerei
.
n
= Nahrungsdotter, h = Harnblaſe (Allantois).
h n
daß es in derſelben ein-
gefaltet
liegt.
Wie wir bereits ge-
ſagt
haben, fängt mit
dem
dritten Tage das
eigentliche
Schließen der
Bauch-
und Bruſthöhle
an
;
nur bleibt ſelbſt in
den
ſpäteren Tagen noch
ein
beträchtliches Loch
offen
, welches die Nabel-
öffnung
iſt, die mit
dem
Nahrungsdotter n
(Fig.
15) in Verbindung
bleibt
.
Das Hühnchen
kann
alſo nur noch
durch
dieſe Öffnung und durch einen Schlauch, der daraus
hervorgeht
, mit dem Dotter verkehren, und nimmt auf dieſem
Wege
ſeine Speiſe in höchſt bequemer Weiſe zu ſich, da es
nicht
zu beißen, zu ſchlucken und zu verdauen braucht, um die
Speiſe
in den Darm zu bringen, woſelbſt ſie vorbereitet wird
zur
Blutflüſſigkeit, ſondern ſeine Nahrung ſchon vollkommen
zubereitet
aus dem Dotter zieht und dieſe als Blut zum Herzen
ſendet
, das ſich langſam auf das Pulsſchlagen einübt.
Man glaube aber nicht, daß das Hühnchen, dem
41963 ſagen die gebratenen Tauben in den offenen Leib hineinfliegen,
ſich
auf die faule Bank legt;
es hat vielmehr viel, ſehr viel
zu
thun und vollbringt auch ſein Tagewerk ganz vortrefflich.
Vor Allem bilden ſich in ihm die Blutgefäße aus. Des-
gleichen
entſteht durch eigentümliche Faltungen der Länge nach
im
ganzen inneren Raum des Tierchens die künftige Darm-
höhle
.
Das Herz hat noch viel zu thun, ſich zu ſenken, zu
legen
und zu ſchieben, ſo daß es von Stunde zu Stunde in
anderer
Lage erſcheint, um endlich ſeiner ſpäteren Stellung ent-
ſprechender
zu werden.
In der Bruſthöhle bilden ſich auch in der Mitte des
dritten
Tages kleine Anſchwellungen aus, an welchen man
feine
Höckerchen bemerkt.
Es iſt dies die erſte Anlage der
Lungen
, die auch ſchon die Anfänge der Luftröhre erkennen
laſſen
.
Ferner erhebt ſich am hintern Ende des Darmkanals
ein
Bläschen, das bald zum Harnſack wird, der noch eine ſehr
wichtige
Rolle in der Geſchichte des Ei-Bewohners ſpielen wird.
Zu dieſen Veränderungen und Bildungen im Innern un-
ſeres
Geſchöpfes kommen noch die äußerlich kenntlichen, die
darin
beſtehen, daß ſich der Kopf, bis zum dritten Tage wie
aus
mehreren Blaſen beſtehend, jetzt mehr und mehr abflacht
und
als ein einziger Kopf erſcheint, daß ſich die Nerven für
Auge
, Ohr und Naſe weiter entwickeln, und daß endlich an
den
Bauchplatten kleine Leiſtchen ſich erheben, die ſich ſpäter
zu
Füßen und Flügeln ausbilden werden.
XIX. Drei neue Lebenstage.
Was mit unſerem Geſchöpfe am dritten Tage vorgeht, iſt
nur
eine Vorbereitung für den vierten und fünften Tag, wes-
halb
wir denn dieſen Zeitraum zugleich vorführen wollen.
42064
Vor allem jedoch haben wir ein Kunſtſtück eigner Art
zu
erzählen, was das Hühnchen bereits am dritten Tage ge-
lernt
hat.
Ohne Zweifel hat wohl jeder unſerer Leſer ſchon von
Kindesbewegungen
im Mutterleibe gehört;
und es iſt auch
wirklich
ſo, daß die Geſchöpfchen in ihren Iſolier- und Zellen-
Gefängniſſen
doch Luſt zur Regung und Bewegung haben.
Ein Unwohlſein der Mutter, der Genuß einer Speiſe, die
dem
Kinde nicht bekommt, veranlaßt dieſes, das ſchwerlich weiß,
wie
ihm geſchieht, mit Händen und Füßen dagegen zu pro-
teſtieren
, und es erfolgen heftige Kindesbewegungen, die oft
für
die Mutter ſchmerzhafter Natur ſind.
Es giebt aber auch Bewegungen dieſer Gefangenen,
die
nicht willkürlich und nicht von zufälligen Urſachen her-
rühren
, ſondern die für die Entwickelung der werdenden Weſen
notwendig
ſind.
Es ſind dies Wendungen oder Drehungen
des
ganzen Körpers, durch welche Zwecke eigener Art erreicht
werden
.
Ein ſolche Drehung geht im Hühnchen ſchon am
dritten
Tage vor ſich und hat zur Folge, daß das wichtigſte
Organ
des Leibes, das Herz, die richtige Form erhält und
auch
an den richtigen Fleck zu ſitzen kommt.
Es iſt nämlich eine Eigentümlichkeit der Schöpferkraft
lebendiger
Weſen, daß ſie ihr Werk nach den Geſetzen eines
gewiſſen
Gleichgewichts anordnet.
Alle Leibesteile, die wir
zweifach
haben, wie Hände, Füße, Augen, Ohren, Lungen,
Brüſte
u.
ſ. w. , ſind zu beiden Seiten des Leibes gleichmäßig
geſtellt
;
alle Leibesteile, von denen uns die Natur nur mit
einem
Exemplar beſchenkt hat, bringt ſie in der Mitte des
Körpers
an, wie Naſe, Mund, Kinn, Nacken, Rücken-
wirbel
u.
ſ. w.
Da wir aber nur ein Herz haben, und dies eine Herz
uns
oft ſchon genug zu ſchaffen macht, ſo ſollte es eigentlich
in
der Mittellinie des Körpers ſeinen Sitz einnehmen;
42165 wirklich iſt dies auch in der Entſtehung der Fall und würde
wahrſcheinlich
auch ſo bleiben, wenn nicht das neubeherzte
Geſchöpf
durch Drehung und Wendung des ganzen Körpers
die
Lage des Herzens ändern und die erſte Veranlaſſung zur
veränderten
Geſtalt und Beſchaffenheit des Herzens geben
würde
.
Eine ſolche Wendung macht nun auch das Hühnchen am
dritten
Tage, an dem Tage, wo es eigentlich anfängt ſelbſt-
ſtändig
zu werden, und das Ei, das früher die Hauptſache
war
, zu einem Werkzeug des Geſchöpfes herabſinkt.
Es iſt
alſo
die Wendung oder Drehung die erſte That des ſelbſtändig
gewordenen
Weſens, und infolge dieſer erſten That wird es
ein
Weſen, das das Herz auf den rechten Fleck bekommt.
Das
Hühnchen
oder vielmehr der Hühnchen-Keim dreht ſich nämlich
ſo
, daß es auf die linke Seite zu liegen kommt:
es legt ſich
aufs linke Ohr”.
Dadurch erhält manches in dem Tier eine
unſymmetriſche
Lage, ſo wird vor allem das Herz, welches
zuerſt
unten in der Mittellinie liegt, nach links geſchoben, und
ändert
dabei zugleich ſeine Schlauchform.
Mit dem vierten und fünften Tage treten nun weitere
Entwickelungen
des ganzen Lebens ein, deren Betrachtung eine
genaue
Kenntnis aller einzelnen Teile derſelben vorausſetzt.
Äußerlich wahrnehmbar ſind beſonders folgende Veränderungen
und
Entwickelungen.
Von der Bruſt, dem unteren Teil des Schwanzes und
den
beiden Seiten des Bauches her wachſen die Häute immer
mehr
zuſammen und verengen den Eingang zur Bauchhöhle
immer
mehr, das heißt, es geht die oft erwähnte Ab-
ſchnürung
des Geſchöpfes immer weiter vor ſich.
Zugleich
wächſt
auch die Umhüllung desſelben ihren Gang fort, ſo daß
es
am Ende des fünften Tages ganz in einer neuen Haut ein-
gebettet
liegt.
Es wird nun auch die Wirbelſäule weiter ausgebildet.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
42266
Ferner wächſt der nach unten ſich krümmende Hals derart, daß
der
Kopf immer tiefer nach unten taucht, und da auch die
Schwanzſeite
ſich abwärts dehnt, ſo iſt die Lage des Tierchens
ſo
, daß ſeine äußerſten Enden ſich faſt unter dem Leibe be-
rühren
.
Von den Sinneswerkzeugen bildet ſich das Auge am
weiteſten
aus, und die Füße und Flügel durchlaufen eine
Reihe
von Veränderungen, daß man von ihnen ſagen kann,
ſie
ſehen alle Tage anders aus.
Am dritten Tage waren ſie nur als feine Leiſtchen auf
den
Bauchplatten ſichtbar;
am vierten Tage ragen ſie wie
Blättchen
hervor, und am fünften Tage haben ſich die Blätt-
chen
zu vier meißelartigen Anſätzen umgewandelt und ſehen
wie
Stumpfe abgehackter Glieder aus.
Am Schluß dieſes fünften Tages hat ſich aber auch zu-
gleich
der Harnſack, welcher außerhalb des Körpers des Hühn-
chens
liegt, ausgebildet, und zugleich iſt die Umhüllung des
Hühnchens
ſo vollendet, daß es jetzt durch dieſelbe vom übrigen
Ei
getrennt iſt und ſeine beſondere Behauſung einnimmt, zum
Zeichen
, daß es jetzt nur noch durch den Nabel in Verbindung
mit
dem Dotter ſteht, durch welchen es ſeine Speiſe als ſelbſt-
ſtändiges
Weſen bezieht.
Unſere Figur 15 zeigt bereits die den Keim (den Embryo)
nunmehr
vollſtändig umhüllende neue Haut und in h die
mächtig
auswachſende Harnblaſe.
Es hat auch das ganze Ei hiernach eine weſentliche Ver-
änderung
erlitten.
Das Eiweiß hat ſich vermindert und iſt
feſter
, der Dotter dagegen größer und ſein Inhalt flüſſiger
geworden
.
Es iſt offenbar, daß im Dotter etwas Ähnliches
vorgeht
, wie in unſerem Magen und Darm, woſelbſt die
Speiſe
, die wir in den Mund ſtecken, vorbereitet wird, er-
nährendes
Blut zu werden.
Da das Hühnchen weder ſeinen
Mund
, der ſich erſt bildet, noch ſeinen Magen, noch ſeinen Darm
hierzu
gebraucht, ſo übernimmt der Dotter, der ſpäter
42367 aufgegeſſen werden ſoll, dieſes durchaus nicht kleine Geſchäft,
ſich
ſelber zu einer das Hühnchen ernährenden Speiſe zu
verarbeiten
.
XX. Wie das Hühnchen anfängt, Tauſchgeſchäfte
zu machen.
Bis zum ſechſten Tage beſchäftigt ſich unſer Hühnchen nur
mit
inneren Angelegenheiten.
Das Ei iſt ſeine Welt, und die
ganze
, große, weite Welt da draußen kümmert unſer Geſchöpf
nicht
weiter.
Mit dem ſechſten Tage aber fängt es an, ſich
auch
um das Ausland zu kümmern und eröffnet ein Tauſch-
geſchäft
mit der Welt, das nicht mehr aufhört, als bis das
letzte
Stündlein geſchlagen hat und der letzte Atemzug des
Hühnchens
verhaucht iſt.
Und bei dieſem merkwürdigen Tauſchgeſchäft, das im Ei
von
innen nach der Welt draußen hin vorgeht, dient eben der
mehrfach
erwähnte Harnſack als äußerſt geſchickter Kommiſſionär,
der
ſich zur Vergrößerung ſeines Geſchäfts ganz außerordent-
lich
auszubreiten verſteht.
Da hiermit eine ganz neue Lebensepoche des Hühnchens
beginnt
, ſo müſſen wir die Sache ein wenig umfaſſender be-
trachten
.
Die erſten zwei Tage hat, wie wir wiſſen, das
Hühnchen
ein herzloſes Daſein geführt.
Ein Blutumlauf fand
in
dieſer Zeit eben noch nicht ſtatt.
Dieſer ernährende Lebens-
ſaft
hatte mindeſtens in den erſten zwei Tagen noch keine be-
ſtimmten
Wege und Bahnen, und die Geſtaltung und Ent-
wickelung
des Hühnchens ſcheint nur erhalten worden zu ſein
durch
die Dotterſpeiſe allein, die durch den in die Mitte des
Dotters
hinführenden Kanal ihm zugekommen iſt.
Erſt mit dem dritten Tage trat ſowohl das bewegte
42468 wie das Blut aufnehmende und weitertreibende Herz auf.
Aber dieſes Blut, das jetzt zum Herzen hin und vom Herzen
aus
weiter ſtrömt, hat, wie das auch fernerhin der Fall iſt,
einen
Kreislauf durch den Körper des Hühnchens und einen
Teil
des auf dem Dotter verbreiteten mittleren Keimblattes,
der
der Dotterhof genannt wird.
Der Kreislauf des Blutes
alſo
war vom dritten bis zum ſechſten Tage auf einen Teil
der
Keimhaut und den Körper des Hühnchens beſchränkt uud
ſcheint
mehr die Bildung neuen Blutes als die Verbeſſerung
des
verbrauchten Blutes bezweckt zu haben.
So hat denn das Hühnchen bis zum ſechſten Tage zwei
ſehr
weſentlich verſchiedene Epochen ſeines Daſeins erlebt.
Die
erſte
, wo es noch gar keinen Blut-Kreislauf gab, und die
zweite
, wo das Blut durch das Hühnchen und einen Teil der
Keimſcheibe
, den Dotterhof, zirkulierte.
Mit dem ſechſten Tage bildet ſich ein neues Organ aus,
das
dem Kreislauf des Blutes eine ganz andere Richtung giebt,
infolge
welcher auch der Kreislauf durch den Dotterhof nach
und
nach abſtirbt.
Und dieſes Organ iſt derHarnſack” h,
der
in der Wiſſenſchaft als Allantois bezeichnet wird.
Wir haben es bereits erwähnt, daß dieſer Sack eine Blaſe
iſt
, welche vom Hinterteil des Hühnchens ſich abhebt.
Anfangs
iſt
dieſe Blaſe ſehr klein und beſcheiden, kaum wie ein Nadel-
knopf
groß.
Mit dem dritten Tage fängt ſie an zu wachſen
und
kann deutlicher in Augenſchein genommen werden.
Da inzwiſchen ſich auch der Bauch des Tierchens ge-
ſchloſſen
hat, und nur am Nabel ein Loch bleibt, durch welches
das
Rohr zum Dotterkanal geht, um dort neue Speiſe aufzu-
nehmen
, ſo iſt auch hier die Stelle, wo der Harnſack an einem
ſich
ausbildenden, feinen Rohr hängt, ſo daß ſich an der Nabel-
öffnung
ein zwiefacher Ausgang befindet.
Der Harnſack wächſt nun ungemein ſtark, und in ſeiner
Haut
zeigen ſich feinere und ſtärkere Blutadern, in welche
42569 Blut vom Körper aus hinſtrömt. Hier werden nun die Äder-
chen
immer feiner, ſo daß ſie ein außerordentlich zartes Netz
bilden
, das man Haargefäße oder Kapillargefäße nennt.
Das
Blut
geht alſo durch dieſe feinen Kanälchen in die Haut des
Harnſacks
und kehrt ſodann durch ein anderes Gezweige von
Blutadern
, die ſich gleichfalls in der Haut des Harnſacks be-
finden
, wieder zurück zum Nabel und in den Körper des
Hühnchens
.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das Blut, das
in
den Harnſack einſtrömt, vom Herzen herkommt, und das
rückſtrömende
Blut zum Herzen hinſtrömt, und daß die ganze
Maſchinerie
eigentlich vom Zuſammenziehen und Ausdehnen
des
Herzens oder von dem ſogenannten Pulsſchlag des Herzens
herrührt
.
Zu welchem Zweck aber macht das Blut ſolchen
Spazierlauf
?
Der Zweck iſt einzig und allein derſelbe, den wir beim
Atmen
haben, und das iſt der, daß wir dem Blute unſeres
Leibes
den Sauerſtoff der Luft zuführen und die Kohlenſäure
des
verbrauchten Blutes aus dem Körper hinauswerfen.
So ſonderbar es auch dem Uneingeweihten klingen mag,
ſo
wahr und unumſtößlich iſt es dennoch, daß jedes Tröpfchen
Blut
, das aus unſerem Körper in das Herz zurückſtrömt, mit
Kohlenſäure
geſchwängert iſt.
Das aus dem Körper zum
Herzen
ſtrömende Blut iſt kohlenſäurehaltig und iſt ſo ſehr ſchäd-
lich
für unſer Leben, daß wir eines ſchnellen Todes ſtürben,
wenn
wir es nicht verändern würden.
Zu dieſem Zweck ſendet
das
Herz das kohlenſäurehaltige, geſchwärzte Blut durch eigene
Adern
in die Lungen.
Hier atmen wir friſche Luft ein, die
Sauerſtoff
enthält, und atmen Luft aus, wodurch eben die
Kohlenſäure
aus dem Körper hinausgeworfen wird, und die
Folge
davon iſt eine fortwährende Reinigung des Blutes, die
unumgänglich
zum Leben nötig iſt.
42670
Ganz dasſelbe geht im Ei in der Haut des Harnſackes
vor
ſich, wie wir dies im nächſten Abſchnitt ſogleich ſehen
werden
.
XXI. Das Kommiſſionsgeſchäft für ungeborene
Weſen.
Der Harnſack des Hühnchens wächſt nun vom ſechſten
Brüttage
an immer bedeutender und dehnt ſich, ſo weit nur
ein
Plätzchen da iſt, bis an die Eiſchale aus.
Da um dieſe
Zeit
das Eiweiß ſchon faſt verſchwunden und nur noch am
ſpitzen
Ende des Eies vorhanden iſt, ſo legt ſich die Haut des
Harnſacks
faſt vollſtändig an die innere Kalkwand des Eies
an
, und indem durch die Adern dieſer Haut das Blut des
Hühnchens
hindurchſtrömt, tritt es der Luft draußen ziemlich
nahe
und iſt von derſelben nur durch die feine Haut der
Adern
, die Häute der Eiſchale und die Schale ſelbſt getrennt.
Man ſollte nun freilich glauben, daß es unmöglich ſei,
durch
ſolche Hinderniſſe, wie eine Kaltſchale und drei Häute
ſind
, Luft ſchöpfen und ausatmen zu können;
denn wenn auch
die
Eiſchale ſelbſt voll kleiner, feiner Löcherchen iſt, ſo ſind
doch
die Häute, welche die Luft vom Blut abſperren, keines-
wegs
durchlöchert und bilden einen Verſchluß, durch welchen
man
einen Austauſch von Stoffen nicht gut für möglich halten
ſollte
.
Und doch iſt dies der Fall. Das Ei atmet durch den
Harnſack
Kohlenſäure aus und atmet Sauerſtoff ein, ſo gut
wie
wir es mit den Lungen thun.
Es geſchieht dies in derſelben Weiſe, welche wir in
Teil
V S.
62 eingehend kennen gelernt haben, durch Diffuſion.
Auch wir Menſchen verrichten mit jedem Atemzug
42771 Kunſtſtück, denn wenn es auch ganz richtig iſt, daß das Herz
Blut
nach der Lunge ſtrömen läßt, und wir durch das Auf-
atmen
dem Blute Luft zuführen, ſo darf man ſich doch nicht
vorſtellen
, als ob wirklich in der Lunge Blut und Luft ſich
berühren
, vielmehr ſind beide durch zwei feine Häutchen ge-
trennt
, da die ganze Lunge nichts weiter iſt, als außerordentlich
feine
Äſtchen von Blutadern, die nirgends eine Öffnung haben;
um dieſe Äſtchen eben winden ſich eine ganze Maſſe feiner
Luft-Kanälchen
, und obwohl das Blut in ſolcher Weiſe durch
die
Wände der Adern und ebenſo die Luft durch die Wände
der
Kanälchen abgeſchloſſen iſt, genügt doch die innige Be-
rührung
dieſer Scheidewände vollkommen, um aus dem Blut
Kohlenſäure
austreten und Sauerſtoff eintreten zu laſſen.
Wir können daher im vollen Sinne des Wortes ſagen,
daß
unſer Hühnchen von dem ſechſten Tage an eine ganz
wunderliche
Lunge bekommt, und dieſe Lunge iſt eben der
Harnſack
, deſſen Wand ſich mit ſeinen feinen Blutadern an die
Schale
des Eies anlegt und hier durch dieſen Kommiſſionär
ein
Tauſchgeſchäft vollzieht, wobei der Sauerſtoff der Luft von
draußen
ins Bereich des Eies gebracht und von drinnen Kohlen-
ſäure
nach außen abgeſchieden wird.
In dem geſchilderten Stadium wird alſo die Atmung von
einem
zu den Darm-Organen gehörigen Teile beſorgt, eben
von
der Harnblaſe, die übrigens ihren Namen trotzdem mit
Recht
führt, da ſie außerdem wäſſerige Ausſcheidungen auf-
nimmt
, die der heranwachſende Keim nicht verwerten kann.
Wenn bisher unſer Hühnchen noch nicht den Namen eines
Weltbürgers
verdient, weil es im Ei eingeſchloſſen lag, weil
es
weder der Welt etwas abgab, noch von dieſer etwas ver-
langte
, als höchſtens eine Portion Wärme, ſo kann man jetzt
nach
dem ſechſten Tage ſagen, daß unſer armes Weſen von
ſeinem
Gefängnis aus mit der großen Welt in wechſelſeitigen
Verkehr
tritt:
es atmet, es lebt, es iſt ein Bürger dieſer
42872 und obwohl es noch ganz gut verpackt liegt und noch viel zu
thun
hat, um das Licht des Tages zu erblicken, müſſen wir
doch
geſtehen, daß ihm ſchon jetzt unſere Gratulation zu einem
neuen
Daſein gebührt.
Wie aber, fragt freilich ein wißbegieriger Leſer, mag es
wohl
uns weiſen Menſchen im Mutterleibe ergehen?
Atmen
wir
dort auch und ſchafft uns die Natur eine ähnliche künſt-
liche
Lunge, die das Tauſchgeſchäft mit der Außenwelt ver-
mittelt
?
Wohl atmen wir im Mutterleibe; nicht mit dem Munde,
ſondern
auch durch den Nabel, wie das Hühnchen;
aber wir
haben
einen beſſeren Kommiſſionär, oder richtiger, eine liebe
Kommiſſionärin
für dieſes Tauſchgeſchäft, denn die Mutter
atmet
für uns mit.
Von ihrem Herzblut pulſt ein Strom reinen Blutes nach
dem
ſogenannten Mutterkuchen, nach derNachgeburt”;
hier
findet
es einen Strom verbrauchten Blutes vor, der vom Kinde
gleichfalls
durch die Nabelſchnur dahin pulſt, und obwohl auch
hier
zwei feine Häutchen das Blut der Mutter von dem des
Kindes
trennen, findet doch ein Austauſch ſtatt.
Das Blut
der
Mutter giebt dem des Kindes den Sauerſtoff und nimmt
dem
des Kindes die Kohlenſäure.
und da Atmen eben nichts
iſt
als ein Tauſchgeſchäft von Kohlenſäure gegen Sauerſtoff, ſo
kann
man im vollen Sinne des Wortes ſagen, daß wir auch
im
Mutterleibe atmen.
Es kommt oft vor, daß Kinder zur Welt kommen, ohne
daß
ſie mit dem Munde atmen:
ſo lange nur die Nabelſchnur
pulſt
, ſchadet es nichts;
denn die Mutter atmet noch immer
für
dasſelbe.
In dem Augenblick aber, wo man das Kind
zum
Schreien bringt, es alſo ſelbſt atmet, in demſelben Augen-
blick
hört die Nabelſchnur auf zu pulſieren und die liebe
Kommiſſionärin
hört auf, das Tauſchgeſchäft für ihr Kind zu
beſorgen
.
42973
Ein Ei und eine Mutter betreiben alſo ſo zu ſagen ein
Kommiſſionsgeſchäft
für ungeborene Weſen!
XXII. Das Hühnchen wird ſeinen Eltern immer
ähnlicher.
Von der Zeit ab, wo das Hühnchen durch das Atmen mit
der
Außenwelt in Verbindung tritt, iſt die Geſchichte ſeiner
Entwickelung
nur eine Geſchichte der Ausbildung ſeiner faſt
vollſtändig
vorhandenen einzelnen Glieder und Körperteile, und
wir
können, da wir nicht auf Einzelheiten eingehen mögen, die
ganze
Reihe von Tagen bis zu ſeinem Auskriechen nunmehr
zuſammenfaſſen
.
Zwar darf man ſich nicht vorſtellen, daß das Hühnchen
am
ſechſten Tage auch dem Auge des Unkundigen als ein Ge-
ſchöpf
von unzweifelhaftem Charakter erſcheint.
Wenn man
das
Ding, wie es iſt, abgelöſt vom Dotter, vom Harnſack und
von
dem Hautmantel, in dem es gelegen, einem Unkundigen
vorſetzt
, ſo wird er es zwar als ein im Werden begriffenes
lebendes
Weſen anerkennen;
aber es ſoll ihm ſchwer werden
zu
ſagen, ob dies eine jugendliche Maus oder ein Fiſch oder
ein
Vogel iſt.
Ja, ſelbſt dem Kundigen, der leicht entdecken
wird
, daß dies ein Vogel ſein muß, wird es ſchwer, zu be-
ſtimmen
, ob er ein Hühnchen oder eine Taube oder einen Geier
vor
ſich hat.
Gleichwohl iſt von den Gliedern ſchon alles
in
der Anlage da, und unſer Geſchöpf bedarf jetzt nur der
weiteren
Ausbildung derſelben.
Das Mutterhuhn, wenn es das Brütgeſchäft ſelbſt beſorgt,
weiß
dies auch, und ſelbſt der Hahn, der Herr Papa, muß
hiervon
eine Ahnung haben.
Bis zum ſechſten Tage nämlich verläßt das
43074 die Eier nur im äußerſten Notfall auf wenige Augenblicke,
und
wenn der Herr Papa bei der Hand iſt, ſetzt er ſich wohl
unterdeſſen
, wenn auch nicht ſo manierlich, wie die getreue
Gattin
, über die Eier, um ſie nicht kalt werden zu laſſen.
Vom ſechſten Tage ab erlaubt ſich das Huhn ſchon etwas mehr
Freiheit
, und der geliebte Gatte bequemt ſich ſchon ſeltener
dazu
, Wartefrau zu ſpielen.
Auf Grund dieſer Thatſache nahm man ſonſt an, daß von
dieſer
Zeit ab die Hühnchen ſchon ſtark genug ſein mögen,
einen
kleinen Schnupfen durch Erkältung zu ertragen;
jetzt
weiß
man es beſſer.
Das Huhn und auch der Hahn ſind in
ihrer
Weiſe ſehr gelehrte Chemiker, obgleich ſie es ſchwerlich
ahnen
, wie geſcheit ſie ſind.
Die Chemie und zwar die
Forſchungen
des großen deutſchen Chemikers Liebig haben
es
bewieſen, daß durch die Atmung von Sauerſtoff die Körper-
wärme
erzeugt wird.
Wenn wir daher nur gut atmen können,
können
wir ſchon eine Portion Kälte vertragen, wohingegen
Schwindſüchtige
, die wenig Lunge haben, fortwährend, ſelbſt
im
heißen Sommer, fröſteln.
Da nun von der Zeit ab, wo
der
Harnſack im Ei das Geſchäft des Atmens übernimmt, eine
Portion
Wärme im Ei ſelbſt erzeugt wird, iſt eine kleine
Pauſe
der Brütung nicht von weſentlichem Nachteil und hat
wahrſcheinlich
nur zur Folge, daß die Atmung etwas ſchneller
vor
ſich geht.
Man ſieht, nicht nur die weiſen Naturforſcher unſerer Zeit,
ſondern
auch Hahn, Henne und Hühnchen, ſind von uralten
Zeiten
her ganz und gar Liebig’s Anſicht!
Was nun eben das Hühnchen ſelbſt betrifft, ſo beeilt es
ſich
vom ſechſten bis zum zehnten Tage, in allen ſeinen
Teilen
dereinſt ein würdiges Mitglied der Vogel-Geſellſchaft
zu
werden.
Zu dieſem Zwecke reckt und dehnt ſich ſein Hals ganz be-
ſonders
ſtark.
Bisher war eigentlich ein Hals gar nicht
43175 handen, denn der Kopf und der Rumpf waren, wie man zu
ſagen
pflegt, wie aus einem Guß;
nunmehr erſt wächſt der
Hals
und zwar von der Rückſeite aus am kräftigſten, ſo daß
der
Kopf ſich noch weiter nach unten neigt.
Indem aber der
Körper
des Hühnchens ſelbſt wächſt, kommt die Zeit ſchnell
heran
, wo es nicht mehr in ſeiner Querlage Platz hat, und es
dreht
deshalb die Bruſt nach dem breiten Ende des Eies, ſo
daß
es jetzt ſchon eher wie ein ordentliches Weſen der Länge
nach
in ſeinem Bette liegen will.
Allein an dem breiten Ende iſt, wie wir wiſſen, der Luft-
raum
, und da der Kopf des Hühnchens Urſache hat, ſich von
hier
nicht zu weit zu entfernen, iſt es genötigt, ſowohl durch
den
wachſenden Hals, der den Kopf nach unten ſchiebt, wie
durch
die Drehung des ganzen Körpers ein eigenes Manöver
zu
machen oder mit ſich machen zu laſſen.
Dies beſteht nun in ſeiner Vollendung darin, daß der
Kopf
ſich unter den Flügel legt und nicht etwa mit dem
Schnabel
nach hinten, wie man ſich’s denken ſollte, ſondern
umgekehrt
, mit dem Schnabel nach vorn, wodurch derſelbe,
wenn
es ſo weit iſt, an den Rand des Luftraumes zu liegen
kommt
.
Der Hals biegt ſich hierbei wie ein lateiniſches S erſt
nach
der einen Seite rückwärts und dann am Kopf zurück und
vorwärts
:
eine Lage, die den jungen Hühnern, ſelbſt wenn ſie
zur
Welt gekommen ſind, ganz wohl zu thun ſcheint, wenigſtens
findet
man, daß ſie dieſelbe zuweilen freiwillig annehmen,
ſelbſt
wenn ſie nichts in der Welt hindert, den Kopf ſtramm
zu
halten.
Wir ſprechen hier freilich ſchon vom Flügel und Schnabel
des
Hühnchens, obwohl es in dem Flügel noch nicht weit vor-
geſchritten
iſt und ſich des Schnabels noch gar nicht rühmen
kann
;
allein da es bisher ſo geſcheit war, zu ſeinen Gliedern
zu
kommen, dürfen wir ſicher ſein, daß es ſich mit Flügel und
Schnabel
auch ganz geſcheit machen wird;
denn Flügel
43276 Schnabel ſind eben die Erkennungszeichen des Vogels. Daß
dem
ſo iſt, wollen wir ſofort ſehen.
XXIII. Bis zum Auskriechen.
Von den vielen Wundern der Entwickelung einzelner
Glieder
und Körperteile am Hühnchen heben wir die Bildung
des
Mundes und des Schnabels, ſowie die der Flügel be-
ſonders
hervor, weil dieſe Teile in ihrer Form bekannt genug
als
die Kennzeichen des Vogelgeſchlechts ſind, und deshalb die
Beſchreibung
ihrer Entwickelung verſtändlicher wird, als die
von
vielen anderen.
Was den Mund des Tierchens betrifft, ſo entſteht er
eigentlich
recht ſpät.
Urſprünglich iſt, wie wir wiſſen, Kopf-,
Bruſt-
und Bauchhöhle nur ein- und dasſelbe, und wenn ſich
dieſe
unten unverſchloſſene Höhle durch die Abſchnürung zu
ſchließen
anfängt, ſcheint weder ein Platz für einen ſo langen
Hals
, noch gar für einen beſonderen Mund da zu ſein.
Erſt
ſpäter
, wo der Hals gewiſſermaßen wie aus dem Rumpf her-
vorwächſt
, ſondert ſich der Kopf vom Rumpf, und man be-
kommt
einen ungefähren Begriff davon, wie ſich hier ein Mund
bilden
könnte.
Gleichwohl iſt die Art und Weiſe, wie ſich der Mund
bildet
, ſehr überraſchend.
Es zeigen ſich nämlich ſo ſonderbare Spaltungen und
Hervorragungen
unter der Stirn des Tierchens, daß man
darauf
ſchwören möchte, es wolle ſich hier ein Fiſch bilden,
deſſen
Kiemen man vor ſich ſähe.
Dieſe Kiemen, die man
bereits
am ſechſten Tage deutlich ſieht, geben ſich erſt am
zehnten
Tage etwa als das zu erkennen, was ſie ſein ſollen
und
zwar ſind ſie die Teile des Ober- und Unterkiefers, die
der
Mund des Tieres werden.
43377
Erſt ſehr ſpät ſpitzt ſich dieſer Mund und bekommt ſeinen
hornigen
Überzug, den Schnabel, und da der Schnabel gerade
das
Charakteriſtiſche des Vogels iſt, ſo kann man erſt jetzt das
Geſchöpf
als ein Weſen bezeichnen, das zwar auf der Erde zu
leben
beſtimmt iſt, das aber die ſchöne Gabe beſitzt, ſich zu-
weilen
ſchwebend über die Erde zu erheben.
Hierzu bedarf es freilich der Flügel, und an den Flügeln
der
Federn;
die Bildung der Flügel aber iſt ebenſo eigen-
tümlich
, daß der Unkundige bei dem Beginn dieſer Bildung
kaum
die Entwickelung derſelben ahnen möchte.
Anfangs laſſen ſich Flügel und Füße gar nicht unterſcheiden.
Sie ſind vor dem ſechſten Tage nur unanſehnliche Leiſtchen, die
ſich
wie ein Meißel anſehen.
Ungefähr gleichzeitig mit der Aus-
bildung
des Schnabels, der dem Tierchen den Charakter des
Vogels
verleiht, bilden ſich auch die Flügel anders als die Füße
aus
.
Während die Füße ihre Einbiegung, alſo das Knie, nach
vorn
richten, richtet ſich die Einbiegung des Flügels, alſo der
Ellenbogen
, nach hinten, und die Lage iſt etwa am zehnten Tage
ſo
, daß Knie und Ellenbogen ſich faſt berühren.
Während ſich
nun
am Fuß die Zehen bilden, entſteht am Vorderarm des
Tierchens
eine Art verkümmerte Hand, die aber nur zwei Finger
hat
und zwar ſehr lange Finger;
denn dieſe Finger ſind eben
der
Anſatz der Hauptſchwungfedern, die dereinſt das Geſchöpf
durch
die Luft zu tragen beſtimmt ſind.
So ſonderbar dies
denen
klingen mag, die da meinen, daß nur wir Menſchen und
höchſtens
die Affen mit Händen geſegnet ſind, ſo richtig iſt es
dennoch
, wenn die Naturforſcher in den Flügeln Arme, Hände
und
Finger wiederfinden, freilich all dies in einer Weiſe um-
geſtaltet
, wie es zum Nutzen des Geſchöpfes und zum Zweck
ſeiner
Beſtimmung eingerichtet ſein muß.
Indem wir nunmehr mit dem nächſten Abſchnitt die Bil-
dung
des Hühnchens ſo weit fortführen wollen, daß es zum
Auskriechen
reif iſt, wollen wir nur noch eines
43478 Teiles des Körpers erwähnen, der beſonders in der letzten Zeit
die
völlige Ausbildung erhält;
es iſt dies ſolch ein Teil, der
dem
Hühnchen, während es im Ei wohnt, zu gar nichts nützt,
den
es aber ſofort wird gebrauchen müſſen, wenn es nur das
Licht
dieſer Welt erblickt.
Zwar gehört der größte Teil dieſer Glieder und Organe
zu
dieſer Gattung.
Das Hühnchen braucht im Ei weder Füße
noch
Flügel, weder Augen noch Ohren, weder Naſe noch Zunge.
Allein dieſe Körperteile ſind derart, daß ſie während des Lebens
in
der Welt wenigſtens auf kurze Zeit gemißt werden können,
ja
, während des Schlafes wirklich gemißt werden.
Dahingegen
giebt
es Organe, die im Ei gar nichts zu thun haben;
aber
ſofort
nach dem Auszug aus dieſer Behauſung unausgeſetzt
durch
das ganze Leben hindurch thätig ſein müſſen, ohne je-
mals
ermüden zu dürfen.
Das hauptſächlichſte dieſer Organe
iſt
die Lunge.
Die Lungen entſtehen als Ausſtülpungen aus dem innerſten
Keimblatt
.
Die weitere Bildung und die endliche Vollendung
geht
erſt in der letzten Zeit der Brütung vor ſich, und in
dieſer
ſtellt ſich die Lunge als ein feinverzweigtes Aderſyſtem
dar
, um welches und durch welches hindurch ſich ein ebenſo
feinverzweigtes
Syſtem von Luftwegen ſchlängelt.
Da das
Tierchen
im Ei nicht mit der Lunge atmet, tritt auch das Blut
nicht
aus dem Herzen in die Lunge, obwohl der Weg dahin
durch
eine große Ader führt.
Die Lunge iſt alſo im Ei zu
nichts
zu gebrauchen, außerhalb desſelben aber, ſchon von der
erſten
Minute ab bis zum Ende des Daſeins, nicht einen Augen-
blick
zu miſſen.
Da aber die Lunge das Blut vom Herzen
empfängt
und wieder gereinigt zum Herzen zurückſendet, und
dieſer
Lauf des Blutes im Ei-Leben nicht ſtattfindet, ſo läßt
ſich’s
denken, daß auch im Herzen im Augenblick des Eintritts
eines
Geſchöpfes in die Welt eine weſentliche Veränderung vor-
gehen
muß, und da wir eben dabei ſind, unſer lange
43579 Hühnchen in die Welt hinaus zu begleiten, wollen wir zu
ſeinem
Abſchied von dem Ei-Leben oder ſeinem Willkommen
in
dem Erdendaſein noch einen Liebesblick auf ſein Herz werfen,
wie
es ſich in ſolchen feierlichen Augenblicken gebührt.
XXIV. Wie das Hühnchen ſich reiſefertig für das
Leben macht.
Der Augenblick, in welchem wir Menſchen geboren werden,
iſt
von ſolcher plötzlichen Umwandlung unſeres innerſten Weſens
begleitet
, daß man ſich nicht wundern darf, daß wir laut
ſchreiend
dieſe Welt betreten.
In dieſer Beziehung hat es das
Hühnchen
ſchon beſſer, denn die Umwandlung geſchieht nicht
ſo
plötzlich und macht auch deshalb nicht einen ſo kräftigen
Eindruck
auf den jungen Weltbürger, obgleich ſie ihrer Natur
nach
ganz dieſelbe iſt.
So lange nämlich die Lungen vor der Geburt unbenutzt
daliegen
, ſo lange treibt das Herz kein Blut in dieſelben ein.
Es führt wohl eine große Ader vom Herzen zur Lunge und
von
der Lunge wieder zu einer anderen Abteilung des Herzens;

allein
das Blut nimmt vor der Geburt nicht dieſen Umweg,
um
von einem Teil des Herzens zum andern zu gelangen,
ſondern
die Natur hat es ihm durch ein offenes Loch, das von
dem
einen Teil des Herzens zum andern führt, bequemer ge-
macht
, und es gebraucht dieſe Bequemlichkeit ganz ungeniert.

Mit
der Geburt aber, wo es gilt, die Lunge des jungen Welt-
weſens
in Thätigkeit zu ſetzen und durch dieſelbe ſeinem Blute
den
Sauerſtoff der Luft zuzuführen, da muß auch das Herz
eine
Umwandlung erfahren, und dieſe beſteht eben darin, daß
es
nicht mehr das Blut durch jenes Loch von einer Herz-
Abteilung
zur andern treibt, ſondern dasſelbe zwingt,
43680 die Adern zur Lunge und von dieſer erſt wieder zum Herzen
zu
ſtrömen.
Das Geborenwerden iſt daher ein Moment, der wirklich
ans
Herz geht, und dasſelbe inſofern auch umwandelt, als
jenes
Loch von einer Abteilung des Herzens zur anderen ſich
zu
verſchließen anfängt, und zwar durch eine bereits vorrätige
Haut-Klappe
, die ſich vor das Loch legt und ſpäter die Ver-
wachſung
desſelben veranlaßt.
In ſeltenen Fällen kommt es
bei
Menſchen vor, daß dieſe Verwachſung nicht vollſtändig iſt,
und
dies bringt es zu wege, daß kohlenſäurehaltiges Blut in
den
Körper tritt und die glücklicherweiſe ſelteneBlauſucht”
verurſacht
, gegen die kein Kraut gewachſen iſt.
Man wird geſtehen, daß dieſe innere Umwandlung des
Menſchen
bei der Geburt höchſt bedeutſam iſt, und daß ſein
Aufſchreien
an ſich gerechtfertigt, auch wenn es nicht außer-
ordentlich
wohlthätig wäre, da durch dasſelbe ſo eigentlich der
Atmungsprozeß
eingeleitet und das Welt-Leben erſt begonnen
wird
.
Dem Hühnchen indeſſen iſt mehr Zeit gelaſſen, dieſe Um-
wandlung
durchzumachen, und die letzten Tage ſeines Ei-Lebens
leiten
dieſelbe ſehr regelmäßig ein.
Wir zweibeinigen Geſchöpfe ohne Federn, wie ein griechi-
ſcher
Philoſoph uns Menſchen nannte, werden ſehr gewaltſam
und
unhöflich aus der Wohnung im Mutterſchoße exmittiert;
mit den Hühnchen geht es weit glimpflicher zu, denn ſchon
vom
achtzehnten Tage an geſchehen die Wunder der Vorberei-
tung
für dieſes Leben.
Faſſen wir die Geſamterſcheinungen dieſer letzten Tage des
Ei-Lebens
zuſammen, ſo finden wir, daß Dotter und Eiweiß
faſt
ganz verſchwunden ſind.
Der Dotterſack, der am Nabel
hängt
, hat nur noch wenig Flüſſigkeit in ſich und ſchlüpft end-
lich
vor dem Auskriechen aus dem Ei ganz und gar in den
Leib
des Hühnchens hinein.
Hierdurch erſt erhält der
43781 des Hühnchens die Geſtalt, in welcher ſein Schwanz auf-
gerichtet
iſt.
Der Harnſack, der das Atmungsgeſchäft verſehen
hatte
, thut dies auch in den letzten Tagen;
aber er dorrt nach
und
nach zuſammen und klebt dabei an die Eiſchale an, ſobald
das
Hühnchen anfängt, durch die Lungen zu atmen, was oft
ſchon
am zwanzigſten Tage der Fall iſt;
wobei die Luft im
Luftraum
den Stoff für die erſten Atemzüge unſeres Geſchöpfes
darbietet
.
Hat aber einmal die Atmung begonnen, ſo wird ſie
fortgeſetzt
, und in demſelben Maße ſtirbt der Kreislauf des
Blutes
durch den Harnſack ab, und dieſer dient nur noch dazu,
mit
ſeinen feinen und groben Ader-Geweben eine zierliche
Tapete
an den Wänden des Eies zu bilden, ſo daß die Woh-
nung
des Hühnchens beim Ausziehen desſelben ſchöner iſt als
bei
deſſen Einzug.
Ein Teil des Harnſackes aber ſchnürt ſich
in
der Nähe des Nabels vollſtändig ab, wächſt in die Bauch-
höhle
hinein und verbindet ſich mit den Harnorganen.
Beim
Menſchen
und den Säugetieren entſteht aus demſelben Organ
die
Harnblaſe.
Dem Hühnchen ſcheint daher die alte Wohnung gar nicht
ſo
unbehaglich, und es übereilt ſich keineswegs bei der Räu-
mung
derſelben.
Seine Ziehzeit beträgt zwei Tage, und es
hat
den Vorzug vor dem Menſchen, ſich im vollen Sinne des
Wortes
die Welt erſt anſehen zu können, bevor es in dieſelbe
ſeinen
Einzug hält.
Zu dieſem Zwecke pickt der Schnabel am Luftraum und
durchbricht
denſelben;
ſodann macht er ſich an die Eiſchale und
hämmert
ſo lange daran, bis ein Riß da iſt oder ein Stückchen
abſpringt
.
Die eindringende Luft wird nun kräftiger geatmet;
allein die eingeengte Lunge geſtattet keine recht tiefe Atmung
und
veranlaßt das Hühnchen, ſein Gefängnis weiter auszu-
brechen
.
Nach und nach vergrößert es daher das Loch in der
Schale
, bis es den Kopf herausſtecken kann.
Jetzt erſt ſchöpft
es
frei und voll Atem, und ſo wie dies der Fall iſt, ſtirbt der
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
43882
Harnſack ganz und gar ab; auch die Stelle, wo er am Nabel
angewachſen
iſt, verdorrt und reißt ab, ſobald das Hühnchen
ſich
bewegt, und ſomit iſt das Geſchöpf frei, und es ſteht ihm
nichts
im Wege, aus dem Gefängnis zu kommen, als die nur
noch
ſehr ſchwache Eiſchale.
Das Hühnchen beeilt ſich aber keineswegs hiermit. Es
liegt
vielmehr oft ſtundenlang mit dem Kopf zum Fenſter
heraus
und drückt nur von Zeit zu Zeit gegen die Eiſchale,
um
ſie ganz zu ſprengen.
Iſt dies aber erfolgt, ſo verſteht
es
ſchon die eben noch ſehr zuſammengepreßten Beinchen zu
regen
und thut ganz meiſterlich ſeinen Schritt in das Daſein,
das
Menſchenkind beſchämend, das unfreiwillig und unbeholfen
in
die Welt hinausgeſtoßen wird und dieſe nur durch ſein un-
melodiſches
Geſchrei begrüßt.
XXV. Gin gedankenſchwerer Abſchied vom
Hühnchen.
So thut denn das Hühnchen einen Schritt ins Leben hin-
aus
und läßt die Schale zurück, nur noch mit wenig Flüſſig-
keit
, die es ſelbſt ausgeſchieden.
So tritt es hinaus, ein Weſen,
das
man in Wahrheit nur ein lebendig gewordenes Ei, oder
richtiger
noch ein lebendig gewordenes Keimfleckchen nennen
kann
, welches, früher ein Teil des Eies, jetzt das Ei in höchſt
wunderbarer
Weiſe aufgegeſſen hat.
Die Stoffe des Eies ſind noch vorhanden; aber in ver-
wandelter
Geſtalt und in ganz verändertem Zuſtande.
Vom
Ei
ging nichts verloren und von der Wärme noch weniger.
Denn die 37 Grad Wärme, die man einundzwanzig Tage
lang
ihm gegeben hat, beſitzt das Tierchen nicht nur bei ſeiner
Geburt
, ſondern wird dieſelbe auch für die ganze Dauer
43983 Lebens fort und fort beſitzen, und wenn es ein Huhn wird,
wird
es dieſe Wärme reichlich anderen Eiern mitteilen, um
gleiche
Weſen aus dem Nichts in das Daſein hervorzurufen.
Wer vermag das tiefe Rätſel zu löſen, das ſolch ein Weſen
dem
forſchenden Geiſt der Meuſchen ſtellt?
Die Wiſſenſchaft auf ihrem jetzigen Standpunkt vermißt
ſich
noch nicht, an die Auflöſung dieſes Rätſels zu gehen.
Sie
hat
genug mit der Aufgabe, genau zu erforſchen, wie all’ dies
gekommen
.
Wieſo, warum, wodurch all’ dies ſo gekommen?
das wagt ſie noch nicht zu beantworten; denn das Rätſel des
Lebens
liegt noch verſchloſſen vor dem Menſchengeiſte.
Er hat
mit
all’ ſeinem Forſcherdrang noch nicht vermocht, die Brücke
auszuſpähen
, welche den Keim zum Leben führt, und er ſteht
ſtumm
und ſtaunend an dieſer erhabenen Grenze, das Wunder
ſchauend
, aber nicht faſſend.
Das Wunder, das ſich vor unſern Augen entfaltet, iſt ſo
überaus
gewaltig und großartig, daß wir vorerſt genug zu
thun
haben, wenn wir ſeine Größe ganz erfaſſen wollen.
Das
Wunder
zu erklären, wird erſt eine Aufgabe einer viel weiter
in
der Forſchung vorgedrungenen Menſchheit ſein, die einſt das
Recht
haben wird, ſtolz auf uns und auf all’ das, was wir
Wiſſen” nennen, herabzublicken.
Es iſt wahr: unſer Wiſſen iſt ein Stückwerk und winzig;
unſere großſprechende Weisheit verſchwindet vor dem ſtummen
Walten
in der Natur, das vor unſeren Augen wirkend und
ſchaffend
thätig iſt und zur Beſchämung unſerer Weisheit nach
einem
weiſen, zweckentſprechenden Plane thätig iſt, der genau
berechnet
iſt, ſo genau, daß wir nur Schauer der Verwunde-
rung
empfinden, wenn wir dem Plane nachzurechnen verſuchen.
Das Hühnchen iſt in dem Ei entſtanden, in einem Raume,
der
rings abgeſchloſſen war von der ganzen Welt, und dennoch
hat
ſich dies Weſen darin gebildet, deſſen ganzes Daſein für
dieſe
ihm bis dahin völlig fremde Welt eingerichtet iſt!
44084
Im Ei, wohin das Licht nicht gedrungen iſt, hat ſich ein
Auge
ausgebildet, genau ſo geſchaffen, wie es das Licht der
Sonne
erfordert, welche zwanzig Millionen Meilen weit ent-
fernt
iſt.
Man kann ein Ei in völliger Finſternis ausbrüten
laſſen
, und doch wird das Hühnchen Augen haben.
Würde es
auch
Augen haben, wenn die Sonne nicht vorhanden wäre?

Schwerlich
würde dies der Fall ſein! Wer aber vermag uns
zu
ſagen, welch ein naturgemäßes Band vorhanden iſt zwiſchen
dem
Auge eines Hühnchens, das ſich in vollkommenſter Finſternis
bildet
, und der unendlich entfernten Sonne, die den Weltraum
erleuchtet
?
!
Im Ei, in einem verſchloſſenen Raume, in welchem die
Luft
nur äußerſt ſpärlich Eingang findet, bildet ſich ein Vogel
aus
, der ganz und gar geſchaffen iſt, ſich in den Luftraum
über
uns ſchwebend zu erheben.
Die Weisheit der Weiſeſten
würde
, in ſolchem Raume abgeſchloſſen, nicht zu ahnen ver-
mögen
, daß eine Erde vorhanden, daß dieſe Erde von einem
Luftmeer
umgeben iſt, und daß es Werkzeuge geben könne,
durch
welche man ſich aufzuſchwingen vermag, um in dieſem
Meere
zu ſchweben.
Und doch hat das Hühnchen, im Ei ver-
ſchloſſen
, Flügel erhalten, ganz zweckentſprechend für einen Flug
in
der Luft.
Sein Rücken iſt feſter gefugt, als der nicht fliegen-
der
Weſen, damit er ſtark genug ſei, mit den Flügeln, die an
ihm
haften, den Leib zu tragen.
Die Knochen des Hühnchens
ſind
hohl, damit es leicht ſei für den Aufſchwung über das
feſte
Erdenrund! Seine Flügel ſind befiedert zum leichten,
wirkſamen
Flügelſchlage.
Seine ganze Geſtalt iſt ſo gebaut,
daß
ſie leicht die Luft durchſchneidet, und ſeine Lunge iſt kräftig
ausgebildet
, damit ſie nicht ermattet in der anſtrengenden
Thätigkeit
des Fluges.
Und wollten wir jedes einzelne Glied dieſes Weſens be-
trachten
, wir würden nicht Raum genug finden, die Plan-
mäßigkeit
ſeines Baues und die äußerſt genaue Berechnung
44185 bewundern, mit welcher ein Geſchöpf, das in einem völlig
von
der Erde abgeſchloſſenen Raume ſich bildete, ausgeſtattet
wurde
, um ganz und gar für das Daſein auf der Erde zu paſſen!
Es iſt alſo nicht das Rätſel des Lebens allein, das uns
hier
entgegentritt, ſondern es iſt der wohlberechnete Plan des-
ſelben
, der dieſes Weſen, noch bevor es wird, genau ſo ge-
ſtaltet
und einrichtet, wie es ſein Daſein in der Außenwelt
notwendig
macht!
Mit ſtummem Staunen erfüllt uns daher ein ernſter Blick
in
die Bildungsſtätte dieſes lebenden Weſens, und haben wir
verſucht
, mit Heiterkeit und Leichtigkeit einen Überblick der Ent-
wickelung
des Eies zu geben, ſo wollen wir es nicht leugnen,
daß
wir nunmehr vor dem lebenden Hühnchen mit ſchauernder
Bewunderung
ſtehen und von dem Thema gedankenſchweren
Abſchied
nehmen gedankenſchwerer, als wir es begonnen
haben
!
442
Dom Hypnotismus.
I. Einleitende Bemerkungen.
Man hört in unſeren Tagen ſo häufig vom Hypnotismus,
und
der Laie weiß nie, was er mit dieſem Ding anfangen
ſoll
und was es beſagen will.
Entweder ſtellt er ſich darunter
ganz
geheimnisvolle Zauberkünſte vor, die womöglich nur von
raffinierten
Verbrechern benutzt werden, um ſich in ſicherer
und
unentdeckbarer Weiſe Vorteile irgend welcher Art zu ver-
ſchaffen
, oder, was noch häufiger geſchieht, er hält die ganze
Sache
für Schwindel, ſetzt ſich mit einem erhabenen Lächeln
über
denUnſinn” hinweg und denkt:
Wie können die Menſchen
nur
ſo dumm ſein und an ſolchen albernen, plumpen Betrug
glauben
! Und daß ſelbſt die Zeitungen ſo was drucken können,
iſt
einfach ein Skandal!
Daher iſt die Kenntnis des hypnotiſchen Zuſtandes bisher
erſt
auf ſehr kleine Kreiſe im Volke beſchränkt, zumal ſelbſt
derjenige
, der einmal Gelegenheit hatte einer hypnotiſchen
Sitzung
beizuwohnen, noch keineswegs von ſeinem Unglauben
bekehrt
zu werden pflegt, falls er ſich nicht völlig gegen jeden
Schwindel
oder Scherz geſichert weiß.
Im Gegenteil: wer
ſich
nicht völlig auf die Glaubwürdigkeit und Zuverläſſigkeit
des
Hypnotiſeurs und des Hypnotiſierten verlaſſen kann, iſt
nach
Beendigung der hypnotiſchen Sitzung meiſt noch viel mehr
geneigt
an einen raffinierten und geſchickten Betrug zu
44387 und erklärt das, was er geſehen hat, fürMumpitz”, um einen
Berliner
Ausdruck zu gebrauchen.
Und dennoch: der Hypnotismus beruht keineswegs auf
Schwindel
, vielmehr iſt er auf dem beſten Wege eine Wiſſenſchaft
für
ſich zu werden und in die geſamte mediziniſche Wiſſenſchaft
epochemachend
einzugreifen.
Wir wollen deshalb verſuchen, im
folgenden
einen kurzen Überblick über ſeine Bedeutung, ſeine Er-
ſcheinungen
undWunder” zu geben und können dabei von vorn-
herein
die Verſicherung abgeben, daß wir es hier ganz und gar
nicht
mit ſogenanntenübernatürlichen” Dingen zu thun haben,
ſondern
daß wir es nur mit einer ſeltſamen, ſtarken Steigerung
allbekannter
und alltäglicher Ereigniſſe zu thun haben, wenn-
gleich
man ſich noch nicht völlig darüber klar iſt, was für
phyſiologiſche
Veränderungen im Körper des Hypnotiſierten
vorgehen
, welche den hypnotiſchen Zuſtand bedingen.
Das
Weſen
des Hypnotismus beruht auf der ſogenanntenSug-
geſtion”
;
ſehen wir alſo zunächſt einmal zu, was das für ein
Ding
iſt!
II. Das Weſen der Suggeſtion.
Unter Suggeſtion im weiteſten Sinne kann man jede Be-
einfluſſung
eines Willens durch einen anderen, der ihm ſeine
Gedankenrichtung
aufzwingt, verſtehen.
Wenn man dieſe Defi-
nition
gelten läßt, ſo übt ſchließlich jedes Wort, das wir hören
oder
leſen, eine Suggeſtion auf uns aus, da ja überhaupt der
einzige
Zweck, weshalb es geſprochen oder geſchrieben iſt, der iſt,
unſere
Gedanken in eine beſtimmte Bahn zu lenken.
Doch da bei
dieſem
Vorgang ſtets auch unſer eigener Wille im Spiel iſt, der
ſich
dem fremden Einfluß immer mehr oder weniger widerſetzt
oder
ihn doch kritiſiert, bevor wir ihn uns vielleicht zu
44488 machen, ſo wirkt das geſprochene Wort immer nur anregend,
aber
nicht beſtimmend auf uns ein;
dieſe Art der Suggeſtion
zwingt
unſere Gedanken in die gewünſchte Bahn, kann ſie aber
nie
ohne unſeren eigenen Willen zum gewünſchten Ziele führen.
Was dagegen gewöhnlich als Suggeſtion bezeichnet wird,
iſt
Beeinfluſſung ohne oder gar wider unſeren Willen.
Auch
dieſe
kann in der verſchiedenſten Weiſe und unter den ver-
ſchiedenſten
Umſtänden auf uns wirken.
Wenn ich plötzlich jemandem, der vor mir hergeht, ein
Halt! zurufe, ſo ſteht er unwillkürlich ſtill, zum mindeſten
zögert
er, weiter vorzuſchreiten;
wenn ich zu jemandem ſage:
Sie werden ja ganz rot”, ſo errötet er wirklich. Dies ſind
momentan
wirkende Suggeſtionen, im erſten Fall ohne, im
zweiten
ſogar oft gegen den Willen des Betroffenen.
Auch eine
andere
, ſehr häufige Erſcheinung iſt hierher zu rechnen, nämlich
die
, daß viele Menſchen beim Anblick eines Gähnenden unwill-
kürlich
mitgähnen.
Es wird ihnen nämlich dabei der Gedanke an
Müdigkeit
ſuggeriert”, und ſobald ſie daran nur einigermaßen
intenſiv
denken, müſſen ſie regelmäßig gähnen.
Doch dieſe genanntenWachſuggeſtionen wie wir
ſie
im Gegenſatz zu den im hypnotiſchen Schlaf erzielten
nennen
wollen , die wohl jeder ſchon häufig an ſich zu be-
obachten
Gelegenheit hatte, vermögen nie von hervorragender
Bedeutung
für den Menſchen zu ſein, da ſie eben nur eine vor-
übergehende
, momentane Beeinfluſſung des Willens hervor-
rufen
, ohne ihre Wirkungen auch auf die Folgezeit zu er-
ſtrecken
.
Von weit größerer Wichtigkeit können dagegen ſchon
diejenigen
Wachſuggeſtionen ſein, welche von länger dauerndem
Einfluſſe
auf den Menſchen ſind.
Wir wollen nun einmal
die
einzelnen Phaſen der Suggeſtionen in ihrer allmählichen
Steigerung
von den noch ziemlich unſcheinbaren Anfängen der
dauernden
Wachſuggeſtionen bis zu den höchſten Stadien des
hypnotiſchen
Zuſtandes durch Beiſpiele vorführen, und
44589 werden ſehen, daß der Hypnotismus eben nichts anderes iſt
als
eine Potenzierung ganz gewöhnlicher und alltäglicher
Erſcheinungen
.
III. Von denWachſuggeſtionen”.
Greifen wir zunächſt aus der Fülle der Beiſpiele einige
wenige
heraus, die zeigen mögen, wie die dauernde Wach-
ſuggeſtion
, die ſich in den meiſten Fällen mit dem Begriff
Einbildung” decken wird, einen Einfluß auf das menſchliche
Leben
gewinnen kann, deſſen mögliche Tragweite vorläufig
noch
garnicht abzuſehen iſt und ſtets gewaltig unterſchätzt zu
werden
pflegt.
Beginnen wir mit einem Beiſpiel ganz einfacher Art:
Als im Anfang der 50er Jahre der berühmte franzöſiſche
Komponiſt
Hector Berlioz (1803—1869) wegen ſeiner
rauſchenden
Muſik viel getadelt wurde, komponierte er ein
ganz
ſchlichtes Werk, das er als das Erzeugnis eines alten
Muſikers
aus dem 17.
Jahrhundert ausgab. Es wurde auf-
geführt
, und man pries die edle Einfachheit und die anſpruchs-
loſe
Schönheit der Muſik und erklärte kurz und bündig, die
neue
Zeit ſei unfähig, derartiges zu ſchaffen, wobei beſonders
Berlioz
ſo manchen Seitenhieb abbekam, bis der Komponiſt
den
kleinen Scherz, den er ſich erlaubt hatte, aufklärte und
nun
die Lacher auf ſeine Seite brachte.
Dies Beiſpiel beweiſt ſchon, wie mächtig die Einbildung
uns
oft beherrſcht, wenn wir keinen Grund haben, an der
Wahrheit
eines uns ſuggerierten Gedankens zu zweifeln.
Gewiß
hat
damals ſogar mancher in dem Muſikwerk ganz ſpezielle
Eigentümlichkeiten
des angeblichen Komponiſten herausgefunden,
nur
weil er der felſenfeſten Überzeugung war, dieſe Eigen-
tümlichkeiten
müßten ſich darin finden.
44690
Wir ſehen an dieſem Beiſpiel, und wir werden an den
folgenden
das gleiche ſehen, daß dieſe Einbildungen durch unbe-
dingten
, blinden Glauben verurſacht werden, oft auch durch den
ſogenannten
Autoritätsglauben.
Wie über alle Maßen gewaltig
dieſer
letztere wirken kann, davon haben wir erſt vor wenigen
Jahren
ein frappantes Beiſpiel erlebt, als im Herbſt 1890
plötzlich
die Nachricht von der Heilkraft des Kochſchen Tuber-
kulin
auftauchte.
Eine große Reihe von Ärzten wollte damals
an
Kranken, die mit dem neuen Mittel behandelt wurden,
Erſcheinungen
beobachtet haben, wie man ſie erhoffte, wie ſie
aber
leider in Wirklichkeit nie eingetreten ſind.
Doch die bloße
Autorität
Kochs genügte, um zahlreiche Menſchen Dinge beob-
achten
zu laſſen, die garnicht vorhanden waren.
Dieſe feſte und unverrückte Zuverſicht, dies und jenes
müſſe unter gewiſſen Bedingungen ſtattfinden, kann auf den
Menſchen
mit ungeheurer, ungeahnter Kraft wirken;
ſie kann
ihn
Wunderdinge verrichten laſſen, die er bei nüchterner
Überlegung
, unter gewöhnlichen Verhältniſſen nie vollbringen
würde
, ſie kann eine Energie, eine Willens- und Thatkraft in
ihm
erwecken, von deren Größe er bis dahin keine Ahnung
hatte
, ſie verleiht gar oft jenes titanenhafte, himmelſtürmende,
alle
Hinderniſſe beſiegende Selbſtbewußtſein, das wir Be-
geiſterung
nennen.
Der feſte Glaube, daß ein Führer an
ihrer
Spitze ſtände, der unüberwindlich ſei, ließ die Soldaten
des
eben verſtorbenen Cimon bei Salamis auf Cypern auch
ohne
Feldherrn den Sieg erringen (449 v.
Chr.) . Das Gerücht,
daß
ein himmliſches Weſen in voller Rüſtung auf dem Ölberg
erſchienen
ſei, um ihnen ſiegverheißend zuzuwinken, ließ die
erſchienen
Kreuzfahrer nach wochenlangen, vergeblichen Mühen
Jeruſalem
endlich ſtürmen (15.
Juli 1099); die unerſchütterliche
Zuverſicht
, daß eine gottgeſandte Retterin mit ihnen kämpfe,
führte
die Truppen der Jeanne d’Arc, derJungfrau von
Orleans”
, nachdem ſie vorher viele Jahre hindurch in
44791 Treffen geſchlagen waren, von Sieg zu Siege (1429). An-
dererſeits
haben Heere, die entmutigt und zaghaft, in der Er-
wartung
, geſchlagen zu werden, in den Kampf gingen, noch
ſtets
eine Niederlage zu verzeichnen gehabt, ſo die Dorer nach
Kodrus’
Tod, die Römer bei Cannae, die Truppen des Hannibal
bei
Zama, die des Brutus bei Philippi, des Barbaroſſa bei
Legnano
, Karls XII.
bei Pultawa u. ſ. w.
Daß aber ſogar das körperliche Wohlbefinden des Ein-
zelnen
in einer faſt unglaublichen Weiſe durch Einbildungen
beeinflußt
zu werden vermag, erſcheint vielleicht ſchon wunder-
barer
, dennoch aber iſt es Thatſache, daß nicht nur Gemüts-
ſtimmungen
, ſondern ſelbſt Krankheiten durch die bloße Ein-
bildung
weſentlich beeinflußt bezw.
beſeitigt werden können.
Giebt man jemanden Brotpillen oder ſonſtige harmloſe Stoffe
als
Abführmittel ein, ſo ſtellt ſich infolge dieſer Täuſchung
ſehr
häufig Durchfall ein, giebt man ihm Zuckerwaſſer oder
etwas
Ähnliches als Schlafmittel ein, ſo wird dadurch in
vielen
Fällen die Schlafloſigkeit thatſächlich beſeitigt.
Auch iſt
es
bekannt, daß dieBeſprechungen” der Kopfroſe und einiger
anderer
Krankheiten nicht ſelten wirklich von Erfolg begleitet
ſind
;
auch dies iſt ein Einfluß der Suggeſtion, der freilich
offenbar
ſeine Wirkung ſofort verfehlen wird, wenn der Patient
Zweifel
an der Wirkung des Mittels hegt.
Ja, noch mehr: ſelbſt gelähmte Gliedmaßen können durch
die
bloße Kraft der Einbildung, alſo durch Suggeſtion, wieder
geſund
werden.
Das Wallfahrten zu geheiligten Stätten,
Wunderbrunnen
, heiligen Röcken u.
dgl. m. kann wirklich und
wahrhaftig
Geneſung ſchaffen und hat es ſchon häufig gethan.
Der bekannteſte derartige Fall iſt die durch den Trierer Rock
bewirkte
Heilung derFreifrau von Droſte-Viſchering” (1844),
die
ja auch in einem luſtigen Studentenlied verherrlicht und
verewigt
wurde.
Auf den gleichen Urſachen beruhen auch ſo
manche
wirklich geglückte Charlatan- und Quackſalberkuren.
44892 Immer aber kann eine derartige Kur nur dann von Erfolg gekrönt
ſein
, wenn der Patient der felſenfeſten Überzeugung iſt, er
müſſe
geheilt werden, und auch dann nur, wenn in dem ge-
lähmten
Glied alle Nerven u.
ſ. w. intakt ſind; ſind dieſe
durchſchnitten
, ſo kann auch das gläubigſte Gemüt nichts helfen,
und
ſollten ſelbſt tauſend heilige Röcke all ihren wunderthätigen
Einfluß
aufwenden.
Übrigens iſt es nicht unwahrſcheinlich,
daß
auch manche Heilungen Chriſti auf ähnliche Weiſe wirklich
ſtattgefunden
haben.
IV. Eine Hinrichtung durch Suggeſtion.
Den höchſten Grad der Wachſuggeſtion aber bildet fol-
gender
Vorfall:
Ein zum Tode Verurteilter wurde einſt mit
verbundenen
Augen in ein Zimmer geführt, wo ihm eröffnet
wurde
, man würde ihm jetzt den Hals aufſchneiden, und dann
würde
er hören, wie ſein hervorſpritzendes Blut in einer Schale
aufgefangen
würde;
bis er an Verblutung ſtürbe. Darauf
wurde
ihm mit einer Nadel ein kleiner, kaum merkbarer Stich in
die
Halsgegend verſetzt und gleichzeitig ein kleiner Waſſerſpring-
brunnen
in Thätigkeit geſetzt, damit der Delinquent das ver-
heißene
Plätſchern höre.
Und wirklich war der Verurteilte nach
einiger
Zeit tot.
Man ſollte dies nicht für möglich halten, aber es ſind
weitere
Beiſpiele bekannt, welche es über jeden Zweifel erhaben
machen
, daß thatſächlich auch der Tod durch Einbildung, d.
h.
durch Suggeſtion eintreten kann. So exiſtiert eine ziemlich
bekannte
Geſchichte von König Friedrich Wilhelm I.
von
Preußen
, der irgend einem armen Schlucker einen Poſſen ſpielen
wollte
, ihn unter einem beliebigen Vorwand verhaften, vor ein
Gericht
führen und zum Tode verurteilen ließ.
Dann
44993 der Betreffende mit verbundenen Augen zur Exekution ab-
geführt
, mußte niederknieen und erhielt mit einer Wurſt
einen
Schlag auf den Nacken.
Als er nun aber von ſeiner
Pein
erlöſt werden ſollte, war er im Augenblick jenes Schlages
wirklich
geſtorben.
Faſt genau die gleiche Geſchichte wurde
auch
einmal von Schulknaben berichtet, die dem Schulpförtner
nicht
gewogen waren, ihn bei einer günſtigen Gelegenheit ge-
fangen
nahmen, vor einer Art Vehmgericht (das natürlich aus
verkleideten
Schulknaben beſtand) verklagten und zum Tode
verurteilten
, nur daß man ihn nachher nicht mit einer Wurſt
auf
den Nacken ſchlug, ſondern mit einem naſſen Handtuch.
Der Erfolg aber war derſelbe wie im erſten Fall: der Mann
ſtarb
im Moment des Schlages.
Man wird bei dieſen Er-
zählungen
nicht ſagen dürfen, die betreffenden Perſonen ſeien
vor
Schreck geſtorben, denn erſtens iſt der Tod durch Schreck
ein
recht ſeltenes Vorkommnis, zweitens liegt dann abſolut kein
genügender
Grund vor, weshalb der Tod erſt in dem Augenblick
erfolgte
, als der Nacken von dem betreffenden Gegenſtand be-
rührt
wurde, denn die Steigerung des Schreckens gerade in
dieſem
Moment kann nur eine verhältnismäßig unbedeutende ge-
weſen
ſein.
Es bleibt alſo wirklich dabei: auch der Tod durch
bloße
Suggeſtion iſt möglich.
V. Die Suggeſtionen im gewöhnlichen Schlaf.
Wir ſind alſo ſchon bei dem Kapitel der Wachſuggeſtionen
mitten
hinein geraten in das Unerklärliche und Rätſelhafte,
das
den hypnotiſchen Schlaf umgiebt.
Den Übergang von den
Wachſuggeſtionen
zu den in der Hypnoſe herbeigeführten Sug-
geſtionen
bilden die durch äußeren Einfluß hervorgerufenen
Träume
im gewöhnlichen Schlaf, die jeder ſchon an ſich
45094 achtet hat, ohne etwas Ungewöhnliches darin zu ſehen. Be-
ſonders
ſolche Vorgänge, die uns durch den Gefühl- und
Gehörſinn
übermittelt werden, beeinfluſſen unſere Träume in
einer
ausſchlaggebenden Weiſe, zumal da ſie nicht ſelten in
ſehr
aufgebauſchter Form den Sinnen übermittelt werden.
Leider
laſſen
ſich Experimente in dieſer Hinſicht kaum anſtellen, da
ſicherlich
nur ſehr wenige Träume in unſerem Bewußtſein er-
halten
bleiben, worin ſich übrigens auch eine Ähnlichkeit mit
dem
tiefen hypnotiſchen Schlaf kundgiebt.
Beſonders gut eignen
ſich
zu Verſuchen ungewohnte Geräuſche, zumal wenn ſie
längere
Zeit hintereinander andauern und der Schlafende gleich
darauf
geweckt wird, ſodaß die Träume in der Erinnerung
haften
bleiben.
Der Regen, der an die Fenſter ſchlägt, das
Heulen
des Sturmes, fortgeſetztes Klopfen und andere ähnliche
Geräuſche
, ſie alle ſpielen eine große Rolle in unſeren Träumen
und
werden in oft ſehr merkwürdiger Weiſe von dem Schlafenden
aufgefaßt
und falſch gedeutet.
Betaſtet man einen Schlafenden,
ſo
ſoll er unter Umſtänden ſolche Berührung als Dolchſtoß
empfinden
können;
hindert man ſeine Atmung, indem man ihm
ein
Tuch über Naſe und Mund breitet, ſo wird man in vielen
Fällen
das Gefühl des ſogenannten Alpdrückens hervorrufen
können
;
iſt das Tuch zottig, ſo wird der Schlafende die Em-
pfindung
haben, daß ein ſtark behaartes Tier auf ihm laſte
und
ihm das Atmen dadurch erſchwere.
Um noch ein Beiſpiel
zu
erwähnen, ſo ſei das folgende, auch in anderer Beziehung
merkwürdige
herausgegriffen.
Als auf den erſten Konſul
Bonaparte
am 24.
Dezember 1800 ein Bomben-Attentat am
Place
de l’Opéra verübt wurde, ſchlief Napoleon gerade.
Als
nun
der Karren mit der Höllenmaſchine explodierte, träumte
Bonaparte
in der unendlich kurzen Zeit zwiſchen dem Knall
und
ſeinem Erwachen, er überſchritte mit ſeinem Heer den
Fluß
Tagliamento unter dem Kanonendonner der Öſterreicher,
und
erlebte ſomit in einem Moment das ganze
45195 Ereignis noch einmal, das ſich drei Jahre zuvor, am
18
.
März 1797, zugetragen hatte.
Auch dann kann man die Träume eines Schlafenden ſehr
ſtark
beeinfluſſen, wenn dieſer zu ſprechen beginnt, was, neben-
bei
bemerkt, ſehr häufig vorkommt.
Erwidert man etwas auf
ſeine
Worte, ſo giebt er zuweilen paſſende Antworten darauf,
verwebt
aber die Reden des andern in ſeinen Traum.
VI. Das Nachtwandeln.
Es zeigen ſich alſo ſchon im Traumleben manchmal Er-
ſcheinungen
, die mit den eigentlich hypnotiſchen Vorgängen eng
verwandt
ſind.
An dieſer Stelle ſei auch noch kurz auf das
Nachtwandeln
hingewieſen, wo zwar Suggeſtion nicht im Spiel
iſt
, wo aber in anderer Beziehung ein Zuſtand vorhanden iſt,
der
mit gewiſſen hypnotiſchen Erſcheinungen faſt identiſch iſt,
während
er von allem, was wir ſonſt für natürlich und er-
klärlich
halten, auf das entſchiedenſte abweicht:
Das erwähnte
Alpdrücken
iſt ſchon als der niedrigſte Grad des Nachtwandelns
(Somnambulismus) anzuſehen, in den höheren Stadien ſteht
der
Kranke denn als Krankheit muß man die ganze Er-
ſcheinung
betrachten auf, kleidet ſich manchmal an, ſpricht
laut
, geht umher, berührt Gegenſtände und Perſonen, weicht
ſogar
, falls er die Augen geöffnet hat, abſichtlich hin-
geſtellten
Hinderniſſen aus, erklettert manchmal Spinden und
Öfen
, öffnet ein Fenſter, ſteigt Treppen hinunter und wieder
herauf
, geht mit erſtaunlicher Sicherheit über geneigte Flächen
(Dächer) und gefährlich ſchmale Bretter und kehrt ſchließlich
wieder
in ſein Bett zurück, ohne eine Erinnerung an das
Geſchehene
zurückzubehalten.
Die Augen ſind meiſt
45296 oder auch ganz geöffnet, ſodaß es ſcheint, als ob der Geſichts-
ſinn
auch unbewußt thätig iſt.
Daraus würde ſich das Um-
gehen
von Hinderniſſen und manche andere Erſcheinung erklären
laſſen
.
Ein dem Schreiber dieſer Zeilen (H.) bekannter Herr
ſoll
früher im Schlaf einen Tiſch erklettert haben, auf dem ſich
zahlreiche
Nippſachen befanden und ſoll darauf umhergegangen
ſein
, ohne auch nur eine einzige umzuwerfen.
Der Nacht-
wandler
begiebt ſich oft in die gefährlichſten Situationen, ohne
daß
ihm etwas zuſtößt, denn allein das Bewußtſein der nahen
Gefahr
iſt es, unſere eigene Unſicherheit und Zaghaftigkeit, die
ſo
manche Dinge für uns erſt wirklich gefährlich werden läßt.
Daher iſt es durchaus berechtigt, wenn man allgemein davor
warnt
, einen auf dem Dach herumſpazierenden Nachtwandler
anzurufen
;
denn, wenn dieſer in ſeiner gefährlichen Situation
erwacht
, ſo kann die bloße Furcht vor der Gefahr dieſe wirk-
lich
herbeiführen und ihn einen Fehltritt thun laſſen, den er
ſchlafend
nie gethan hätte.
Alle Handlungen des Nachtwandlers
ſind
rein mechaniſch, er nimmt unter Umſtänden ein Buch vom
Bücherbrett
auch ſolche, die in einer ihm fremden Sprache
geſchrieben
ſind ſchlägt es auf und thut ganz ſo, als ob
er
darin lieſt, blättert ſogar um zu der Zeit, wo man etwa
eine
Seite geleſen haben kann, hört aber auch dann nicht auf,
wenn
man das Licht auslöſcht und ihn im Dunkeln läßt.
Gerade dieſe letztere Thatſache beweiſt recht deutlich, daß
die
Handlungen des Nachtwandlers ohne Vernunft und Über-
legung
vollzogen werden, daß ſie alſo rein mechaniſch ſind
und
nur auf ſogenannten Reflexbewegungen beruhen, wobei
die
Erinnerung an gewohnte Thätigkeiten eine eigentümliche
Rolle
ſpielt.
Daß der Schlaf im Somnambulismus übrigens
ein
beſonders tiefer ſein muß, ergiebt ſich ſchon daraus, daß
der
Nachtwandler nicht wie andere Träumer auf Fragen
manchmal
antwortet, auch auf Lichtreize nicht immer reagiert.
Worin freilich der bekannte, intenſive Einfluß beſteht,
45397 der Vollmond auf die Nachtwandler ausübt, iſt noch ganz un-
erklärt
.
Worauf beruht nun aber dieſe geheimnisvolle, unheimliche
Erſcheinung
des Nachtwandelns?
Nun, man wird den Grund
ſicherlich
nicht erraten und, wenn man ihn erfahren hat, wird
man
darüber lachen.
Das Nachtwandeln wird nämlich hervor-
gerufen
durch Eingeweidewürmer.
. . . Aus einer ſo pro-
ſaiſchen
Urſache entſteht eine Erſcheinung, welche erſt auf eine
überſinnliche
Erklärung zu deuten ſchien.
VII. Die Herbeiführung des hypnotiſchen Schlafes.
Wenn wir bisher ohne übernatürliche Erklärungen aus-
gekommen
ſind, ſo werden wir ihrer wohl jetzt, wo wir dem
eigentlichen
Hypnotismus näher zu Leibe gehen wollen, auch
entbehren
können, denn im Verhältnis zu dem, was ſich bis-
her
vor unſeren Blicken entrollt hat, iſt die Steigerung der
Wunder”, die uns jetzt noch erwarten, verhältnismäßig nicht
mehr
bedeutend.
Wer eignet ſich zunächſt einmal zum Hypnotiſiertwerden?
Dieſe intereſſante Frage wollen wir doch zunächſt einmal unter-
ſuchen
.
Wenn man vielfach glaubt, daß nur wenige Menſchen
hypnotiſiert
werden können, ſo iſt ſolche Anſicht grundfalſch;

vielmehr
iſt faſt jeder Menſch dazu disponiert, allerdings
der
eine mehr, der andere weniger.
Liébault, ein berühmter
franzöſiſcher
Suggeſtionstherapeutiker , fand unter 1011 Per- ſonen nur 27, die abſolut widerſtandsfähig waren, alſo noch
1
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
11Als Suggeſtionstherapeutiker bezeichnet man ſolche Ärzte, die den
Hypnotismus
therapeutiſch, d. h. zu Heilzwecken in großem Maßſtabe, zu
verwenden
pflegen.
45498
nicht 3 Prozent, bei 33 rief er wenigſtens einen ſchlafrigen
Zuſtand
und Schwere der Glieder hervor, bei 100 dagegen
leichten
, bei 460 tiefen und bei 232 ſehr tiefen Schlaf, bei
31
leichten und bei 131 tiefen Somnambulismus (worunter er
Erinnerungsloſigkeit
nach der Hypnoſe verſtand).
Viele Autoritäten neigen ſogar zu der aus langer Er-
fahrung
gewonnenen Anſicht, daß kein Menſch völlig wider-
ſtandsfähig
gegen die Hypnoſe ſei, vorausgeſetzt, daß er den
guten
Willen hat einzuſchlafen.
Ohne dieſen Willen des Mediums iſt das Hypnotiſieren unmöglich, was
wir
zum Troſt für ängſtliche Gemüter ausdrücklich betonen
wollen
.
Wer den Willen hat wach zu bleiben oder wer ſich
einſchläfern
laſſen will in der Überzeugung, daß der Hypnotis-
mus
Schwindel ſei, der iſt nicht zu hypnotiſieren.
Die Schauer-
märchen
von Reiſenden, die im Eiſenbahnwagen von ihrem
vis-à-vis
durch den Blick hypnotiſiert wurden und dann ſich
willenlos
und hilflos ausplündern laſſen mußten, ſind Fabeln.
Es wird manchen in großes Erſtaunen ſetzen, wenn er
hört
, daß ganz zweifellos willensſtarke Menſchen weit leichter
zu
hypnotiſieren ſind, als willensſchwache, nervöſe und hyſteri-
ſche
, eben weil ſie ihren Willen weit mehr auf den Gedanken
an
Schlaf energiſch zu konzentrieren imſtande ſind.
Dagegen
ſind
nervöſe und willensſchwache Menſchen, wenn ſie erſt ein-
mal
in hypnotiſchen Schlaf gebracht ſind, leichter empfänglich
für
Suggeſtionen, ſodaß ſie die beſtenMedien” liefern.
Die Herbeiführung der Hypnoſe kann auf die verſchiedenſte
Weiſe
geſchehen.
Alles Ermüdende, beſonders alſo alles Ein-
förmige
eignet ſich dazu:
das Beſtreichen an gewiſſen Stellen
des
Kopfes und das Anſchauen glänzender Gegenſtände ſind
1
11 Oft freilich muß der Verſuch, ein williges Medium einzuſchläfern,
erſt
ziemlich häufig wiederholt werden, ehe das Ziel wirklich erreicht wird;
bei
anderen Perſonen gelingt das Experiment ſofort.
45599 die beliebteſten Methoden und führen nach einigen Minuten
wenn der Betreffende ſchon häufig hypnotiſiert worden iſt,
ſogar
bereits nach einigen Sekunden zum Ziel.
Doch auch
einförmige
Geräuſche können dieſelbe Wirkung herbeiführen, ſo
eignet
ſich beſonders der Ton des Tamtam dazu;
man fand
einſt
eine hyſteriſche Kranke ſchlafend auf, die durch Spielen
mit
einem Tamtam ſich ſelbſt hypnotiſiert hatte.
Die indiſchen
Säulenheiligen
hypnotiſieren ſich ſelbſt durch fortgeſetztes Aus-
ſprechen
der Silbe om.
Auch fortgeſetztes Zuführen von Luft,
etwa
aus einem Blaſebalg, hat in vereinzelten Fällen ſchon
genügt
(nebenbei bemerkt, iſt dies dasſelbe Mittel, das am
ſicherſten
den hypnotiſchen Zuſtand wieder aufhebt).
Oft genügt
ſchon
das bloße Zuſehen, wie ein anderer hypnotiſiert wird,
da
in dieſem Fall wie beim Gähnen der Gedanke an Schlaf
und
Müdigkeit ſehr energiſch in den Vordergrund tritt.
Recht
zuverläſſig
und oft angewandt iſt auch das bloße Anſtarren
des
Hypnotiſeurs, allerdings kommt es dabei nicht ſelten vor,
daß
dieſer ſelbſt in Schlaf verfällt.
Wie ſehr der menſchliche
Blick
, wenn das Geſicht ganz unbeweglich bleibt, ſchon nach
kurzer
Zeit ermüdet, davon kann ſich leicht jeder überzeugen,
wenn
er ſein eignes Bild im Spiegel auch nur eine Minute
lang
regungslos anſtarrt.
Darauf, daß das ſtarre Auge eine
hypnotiſierende
(fascinierende) Wirkung ausübt, beruht ja auch
die
große Macht, die der Tierbändiger über jedes wilde Tier
ausübt
, ferner auch die bekannte Thatſache, daß kleine Vögel
durch
den bloßen Blick der Klapperſchlange gleichſam gelähmt
werden
und ſich nicht von der Stelle rühren können.
Bei
Perſonen
, die ſchon häufig in der Hypnoſe geweſen ſind, iſt
ſogar
ſchon mehrfach beobachtet worden, daß die bloße An-
kündigung
, um eine beſtimmte Zeit würden ſie hypnotiſiert
werden
, hinreichte, um ſie zu der betreffenden Stunde ohne
weitere
Hilfsmittel in Schlaf fallen zu laſſen, ſelbſt wenn außer
ihnen
kein Menſch im Zimmer anweſend iſt.
456100
Es muß aber betont werden, daß der hypnotiſche Schlaf
ſich
nur dann einſtellen kann, wenn die Aufmerkſamkeit des
Mediums
eine ungeteilte iſt;
nach einer großen Aufregung oder
in
einer ſehr unangenehmen Stellung oder während einer inter-
eſſanten
Unterhaltung kann niemand eingeſchläfert werden.
VIII. Die Erſcheinungen während des leichteren
hypnotiſchen Schlafes.
Die Wirkung des hypnotiſchen Schlafes kann ſich nun
zwar
zweifellos bei verſchiedenen Perſonen in ſehr verſchiedener
Weiſe
äußern, ſtets aber wird das Medium dadurch zum mehr
oder
minder willenloſen Werkzeug des Hypnotiſeurs.
Einigen
Widerſtand
werden die Befehle des Hypnotiſeurs wohl ſtets
finden
, wenn ſie dem Medium unangenehm ſind;
oft führt
eine
mehrfache eindringliche Wiederholung des Befehls zum
Ziel
, iſt aber der Widerſtand zu groß, ſo wird der Verſuch,
die
Ausführung des Befehls zu erzwingen, nur Erwachen des
Mediums
herbeiführen.
Bei den weitaus meiſten Hypnotiſierten zeigt es ſich, daß
ſie
nicht gehorchen, wenn ſie eine ihr Gewiſſen belaſtende That
begehen
ſollen (Mord, Diebſtahl, ſexuelle Vergehen a.)
, da-
gegen
geben ſie leichter nach, wenn ſie der rein paſſive Teil
in
derartigen Fällen ſind.
Die erſte Äußerung des hypnotiſchen Schlafes, welche auch
das
Kennzeichen für den Eintritt desſelben abgiebt, iſt die
Unfähigkeit
des Mediums, ohne Erlaubnis des Hypnotiſeurs
die
Augenlider zu öffnen.
Sonſt unterſcheidet ſich der Zuſtand
des
erſten Schlafes in nichts vom wachen Zuſtand:
das
Medium
iſt bei vollſtem Bewußtſein, unterhält ſich mit
457101 Anweſenden ganz, als ob nichts geſchehen wäre, und amüſiert
ſich
womöglich ſelbſt über ſeine Unfähigkeit die Augen zu
öffnen
.
Wird der Schlaf etwas tiefer, ſo gehorcht der Schlafende
ſchon
einigen Befehlen des Hypnotiſeurs:
er muß auf Befehl
die
Hände immer um einander drehen und kann nicht eher
aufhören
, bis es ihm erlaubt wird (Drehautomatismus), und
es
läßt ſich erreichen, daß einzelne Körperteile, z.
B. die Arme,
nur
auf Befehl bewegt werden können, wenn ſie ſelbſt vorher
in
die unangenehmſte Stellung gebracht worden ſind.
Die
Muskeln
ſpannen ſich auf Befehl ganz ſtraff, und das be-
treffende
Glied wird ſteif und hart wie Holz und läßt ſich
eher
zerbrechen, als daß es ohne Erlaubnis des Hypnotiſeurs
aus
der angewieſenen Stellung weicht;
dagegen vermag ein
Wort
des Hypnotiſeurs ſofort den ſtarren Bann zu löſen und
dem
Gliede ſeine vorherige Gelenkigkeit unverkürzt zurückzugeben.
Auch in dieſem Zuſtand, den man als Katalepſie bezeichnet,
kann
das Bewußtſein noch vollſtändig vorhanden ſein;
übrigens
ſei
bemerkt, daß die Starre der Glieder nicht etwa mit
Schmerzen
für das Medium verbunden iſt, zumal wenn der
Hypnotiſeur
eine diesbezügliche Suggeſtion giebt.
Stundenlang (ſchon bis zu 17 Stunden beobachtet) kann
dieſer
kataleptiſche Zuſtand andauern, mag die Stellung auch
noch
ſo gezwungen und anſtrengend ſein, und dabei verſpürt
das
Medium nach dem Erwachen nicht die geringſte Ermüdung
oder
ſonſtige üble Folgen.
Selbſt wenn der Arm ſchwer mit
Gewichten
beladen iſt, hält das Medium ihn beliebig lange
ausgeſtreckt
, während er in wachem Zuſtande ſchon nach einigen
Sekunden
erſchlaffen würde.
Iſt der Schlaf tief genug, ſo
kann
der kataleptiſche Zuſtand ſogar auf den ganzen Körper
erſtreckt
werden:
dieſer wird hart wie ein Brett und ſchwebt
bei
bloßer Unterſtützung des Kopfes und der Hacken beliebig
lange
in der Luft, wobei ſogar noch eine ſchwere Perſon auf
den
Körper herauftreten kann;
es iſt dies eine Leiſtung,
458102 kein Menſch, auch nicht der beſte Turner und kräftigſte Athlet,
im
wachen Zuſtand nachzumachen vermag.
IX. Die Erſcheinungen während des hypnotiſchen
Tiefſchlafes.
Um nun die verſchiedenen ſonſtigen Wunder der Hypnoſe
zu
beſprechen, wollen wir auch hier von den verhältnismäßig
einfachſten
Vorgängen des Tiefſchlafes zu den rätſelhafteſten all-
mählich
fortſchreiten.
Beginnen wir mit dem Nachahmungstrieb der Hypno-
tiſierten
.
So ſtark iſt die Tendenz der Nachahmung, die
Neigung
, Befehlen zu gehorchen bei vielen, daß ſie ſelbſt dann,
wenn
das Selbſtbewußtſein zum Teil erhalten iſt, nicht dem
Drang
widerſtehen können und nachher berichten, es ſei ihnen
eben
in jenen Augenblicken das Nachgeben notwendig und an-
genehm
vorgekommen, es ſei für ſie das einzige geweſen, was
ſie
hätten thun können”, ſagt Preyer (1841—1897).
Wenn
der
Hypnotiſeur verlangt, das Medium ſolle ihm alles nach-
machen
, ſo thut es dies auch unter den erſchwerendſten Um-
ſtänden
;
es pfeift einen Walzer nach und tanzt dazu, ſelbſt
wenn
es ein Gewicht von 25 Pfund am Arm zu hängen hat;
es ſpricht jedes ihm vorgeſprochene Wort mit demſelben Accent,
demſelben
Ausdruck, in demſelben Dialekt nach, wie es der
Hypnotiſeur
ihm vorgeſprochen hat, es wiederholt Sätze, die in
einer
ihm ganz fremden Sprache geſprochen ſind, es unterbricht
den
Satz, um ſich zu räuſpern, an genau denſelben Stellen, wie
es
ihm vorgemacht iſt, kurzum, es iſt der vollendetſte Phono-
graph
, den man ſich vorſtellen kann.
Ebenſo zeigt ſich der unbedingte Gehorſam, die
459103 Ergebenheit des Hypnotiſierten auch in der Beziehung, daß er
alle
Dinge, deren Exiſtenz ihm eingeredet wird, die aber that-
ſächlich
gar nicht vorhanden ſind, im Bereich ſeiner Sinne
wahrnimmt
, und daß er andere Dinge nicht ſo auffaßt, wie
ſie
ſind, ſondern ſo, wie ſie ihm eingeredet werden.
Waſſer,
das
ihm als Wein verabreicht wird, trinkt er als ſolchen, und,
wenn
er ein Kenner iſt, giebt er ſelbſt Marke und Jahrgang
an
, ja, wenn er es in größeren Mengen genießt, wird er ſogar
berauſcht
a.
; dasſelbe tritt ein, wenn man ihm Tinte oder
Eſſig
als Wein reicht.
Umgekehrt kann er alkoholiſche Getränke,
die
ihm als Waſſer bezeichnet werden, in bedeutenden Quan-
titäten
vertilgen, ohne irgendwie berauſcht zu werden.
Auf
Befehl
verliert er die Sprache, das Gehör, oder er hört nichts
anderes
, als das, was der Hypnotiſeur ſpricht.
Wird ihm ein
Gegenſtand
als Überzieher gereicht, ſo ſucht er ihn anzuziehen;
mit einem angeblichen Beſen beginnt er zu fegen; glaubt er
einen
aufgeſpannten Regenſchirm zu erhalten, ſo fröſtelt ihn,
als
ob er den Regen empfindet;
wird ihm ſuggeriert, er ſei in
einem
Blumengarten, ſo bückt er ſich, als ob er Blumen
ſammelt
, und ſetzt ſich dann hin und macht Bewegungen, als
ob
er ſie zu einem Kranz oder Strauß zuſammenbinde.
Steht
er
aufrecht und es wird ihm geſagt, daß ein Erdbeben ſtatt-
fände
, ſo greift er mit den Händen nach irgend einem feſten
Gegenſtande
, um ſich feſtzuhalten, wenn ihm dann aber be-
fohlen
wird, er ſolle ſich auf den Boden niederſetzen, ohne daß
ihm
vorher geſagt wird, er ſolle die Hände loslaſſen, ſo macht
er
dieſe nicht frei, und infolgedeſſen iſt es ihm unmöglich, den
neuen
Befehl auszuführen.
Dieſe letztere Beobachtung iſt be-
ſonders
intereſſant, denn dadurch wird bewieſen, daß der
Hypnotiſierte
ſtets nur das Nächſtliegende begreift, nur augen-
blicklichen
Anregungen zugängig iſt, daß er ſich ſeines eiguen
jeweiligen
Zuſtandes überhaupt nicht bewußt iſt und, ſich ſelbſt
überlaſſen
, einem lebloſen Weſen vollſtändig gleichen
460104 Er iſt nur eine Maſchine, mit welcher der Hypnotiſeur hantiert,
und
welche ohne ſein Zuthun nicht fähig iſt, irgend etwas zu
thun
oder zu empfinden;
das alte Wort d’Alemberts vom
l’homme
machine (Der Menſch eine Maſchine) erfährt hier
eine
ganz neue und überraſchende Auslegung.
Betrachten wir ferner die erſtaunlichen Veränderungen,
welche
mit der Sinnesthätigkeit des Menſchen im hypnotiſchen
Schlaf
vor ſich gehen.
Auch dies Gebiet iſt noch ſehr wenig
aufgeklärt
:
während ſich im tieferen Schlafe bei den meiſten
Individuen
auf Befehl des Hypnotiſeurs die Fähigkeit der
Empfindung
des einen oder des andern Sinns mehr oder
weniger
verlieren kann, kann ſie ſich bei andern zu einer Höhe
und
einer Feinheit ſteigern, die ſelbſt die wunderbarſten Er-
ſcheinungen
auf derartigem Gebiete, wie ſie ſich manchmal bei
hyſteriſchen
Frauen finden, übertrifft.
Bei welchen Individuen
dieſer
Zuſtand eintritt, ſcheint ſich vorher gar nicht beſtimmen
zu
laſſen.
Am häufigſten und am vielartigſten ſind die Verände-
rungen
, die mit dem Gefühlsſinn vor ſich gehen.
Wird einem
Medium
(beſonders, wenn es in kataleptiſchem Zuſtande iſt)
befohlen
, es ſolle nichts fühlen, ſo kann man mit ihm thun,
was
man will, ohne daß es die geringſte Empfindung davon
hat
oder auf irgend eine Berührung, welcher Art ſie auch ſein
mag
, reagiert.
Man kann es an jeder beliebigen Stelle des
Körpers
mit Nadeln ſtechen oder auf eine ſonſtige Art und
Weiſe
ihm Schmerzen zufügen, die getroffenen Körperteile
zucken
auch nicht einmal zuſammen.
Little in New-York durch-
ſtach
einem Hypnotiſierten, den man für einen Simulanten
hielt
, die Hornhaut des Auges, ohne daß eine Reaktion er-
folgte
.
Nach dem Erwachen trat dann allerdings eine ſtarke
Hornhautentzündung
ein.
Da auch dieſe Unempfindlichkeit beliebig lange andauert,
ſo
ſind ſchon mehrfach, beſonders von dem Augenarzt Esdaile
461105 in Calcutta, während dieſes Zuſtandes der Analgeſie (Schmerz-
loſigkeit
) große chirurgiſche Operationen ausgeführt worden;
auch zu ſchmerzloſen Zahnextraktionen, ja ſogar bei Ent-
bindungen
iſt die Hypnoſe ſchon verwendet worden.
Sicher
iſt
es, daß die hypnotiſche Analgeſie auch im Mittelalter bei
Gefolterten
manchmal eine Rolle geſpielt hat.
Trotzdem nun dieſe Vorgänge ſo erſtaunlich ſich anhören,
können
wir doch auch beim wachen Menſchen Zuſtände hervor-
rufen
oder beobachten, die in engſter Beziehung zu den eben
geſchilderten
ſtehen, wenngleich ſie natürlich niemals ſo intenſiv
auftreten
.
Durch energiſche Ablenkung der Aufmerkſamkeit auf
irgend
einen Gegenſtand vermag man Linderung oder gar Ver-
ſchwinden
körperlicher Schmerzen hervorzurufen:
Zahnſchmerzen
verſchwinden
manchmal durch den bloßen Anblick der Zange
des
Zahnarztes oder gar nur ſeiner Wohnung.
Bei lebhafter
geiſtiger
Anſtrengung oder bei ſtarker Gemütsbewegung vergißt
man
nicht ſelten das körperliche Unbehagen u.
ſ. w.
Der Gegenſatz zu dieſer Anäſtheſie (Gefühlsloſigkeit) in
der
Hypnoſe iſt die Hyperäſtheſie (übernormale Empfindlichkeit).
Auch dieſe läßt ſich im wachen Zuſtande in einem gewiſſen
Grade
erwerben, und zwar ſchon durch bloße Übung, wenn
man
die gewöhnlich geteilte Aufmerkſamkeit häufiger darauf
konzentriert
, den Druck- und Taſtſinn zu verfeinern.
Um nur
ein
Beiſpiel anzuführen, ſei auf den enorm ausgebildeten Ge-
fühlsſinn
bei Blinden verwieſen.
Und daß im krankhaften
Zuſtande
, beſonders im hyſteriſchen, ſich eine Hyperäſtheſie
entwickeln
kann, die der im hypnotiſchen Zuſtand beobachteten
vollkommen
gleichkommt, iſt ja eine zweifelloſe Thatſache.
Übrigens iſt es noch von Intereſſe, daß nicht ſelten an
Hypnotiſierten
bei einſeitiger Katalepſie auf einer Körper-
hälfte
Anäſtheſie, auf der andern Hyperäſtheſie vorhanden iſt,
wobei
ſich ohne Regel die Katalepſie einmal auf der empfind-
lichen
, das andere Mal auf der unempfindlichen Seite zeigt.
462106
Hand in Hand mit dem eigentlichen Gefühlsſinn geht auch
der
Temperaturſinn.
Meiſtens geht er auf Befehl verloren,
und
erliſcht nicht ſelten vollſtändig, in andern Fällen kann
auch
er ſich ungemein verſchärfen, ſo daß ſchon ein Lufthauch,
der
ſonſt gar nicht empfunden würde, ſehr lebhaft und un-
angenehm
wirken kann.
Richer in Paris erzählt von einer
Hyſteriſchen
, welche die Wärme einer 40 cm hinter ihren
Rücken
gehaltenen Hand ſchon unangenehm empfand.
Ganz ebenſo, wie der Gefühlsſinn, verändern ſich auch die
übrigen
Sinne, auf die nun kürzer eingegangen werden kann.
Auch ſie können entweder ganz beſeitigt oder von der enormſten
Feinheit
ſein.
Der Geruchsſinn z. B. kann ſich ſo ſteigern, daß das
Medium
durch ihn Perſonen unterſcheiden kann, jemanden
durch
den Geruch eines Handſchuhs wiedererkennt u.
ſ. w.
Der Engländer Braid, der um das Jahr 1840 zuerſt die
Hypnoſe
wiſſenſchaftlich zu erforſchen begann, berichtet, daß
eine
Hypnotiſierte den Duft einer Roſe noch in 46 Fuß Ent-
fernung
deutlich wahrnahm.
Einer hyſteriſchen Kranken wurde
einſt
in der Hypnoſe eine Viſitenkarte vorgehalten, welche dann
plötzlich
in Stücken geriſſen und an den verſchiedenſten Orten
in
einem benachbarten Zimmer verſteckt wurde.
Ein Endchen
der
Karte ward der Kranken zurückgebracht.
Dieſe beriecht es,
ſtürzt
in das Nebenzimmer und ſucht, wie ein Hund umher-
ſchnüffelnd
, nur durch ihren Geruchsſinn geleitet (die Augen
ſind
zur Sicherheit verbunden), die einzelnen Teile wieder
zuſammen
und ruht nicht eher, als bis ſie alle gefunden hat.

Da
einzelne Perſonen Teile der Karte verbergen, ſo geht ſie
auf
ſie zu und ruht nicht eher, bis ſie ihren Zweck erreicht
hat
, bei anderen Perſonen geht ſie dagegen achtlos vorbei.

Nimmt
ihr jemand einige Stücke des Papiers fort und entfernt
ſich
aus dem Zimmer, ſo läuft ſie ihm nach und dringt wütend,
ſchreiend
und ſchlagend auf ihn ein, bis ſie ihr
463107 wieder erlangt hat. Länger als eine halbe Stunde hält aber
dieſe
krankhafte Steigerung der Geruchsempfindlichkeit nie an.
Nach dem Erwachen iſt jede Erinnerung an das Vorgegangene
geſchwunden
.
Auch beim Gehörſinn können die gewaltigſten Steigerungen
auftreten
.
Flüſterſtimmen und ganz leiſe Geräuſche werden
noch
in großer Entfernung gehört und können Nachahmungs-
bewegungen
veranlaſſen.
Schon Braid berichtet, ſein leiſes
Hauchen
ſei von einem Medium noch in 15 Fuß Entfernung
vernommen
worden, während er ſelbſt es nicht mehr hörte.
Eine derartige Verſchärfung des Gehörs iſt übrigens auch bei
Hyſteriſchen
nichts Seltenes, auch an ihnen iſt ſchon beobachtet,
daß
ſie Taſchenuhren im Nebenzimmer ticken hörten oder den
leiſeſten
Gang auf einem dicken Teppich oder das Atmen eines
kranken
Kindes im darüber gelegenen Stockwerk u.
ſ. w.
Dagegen iſt eine Steigerung des Geſchmacksſinnes in der
Hypnoſe
bisher noch nicht beobachtet worden, trotzdem auch ihr
Vorkommen
mehr als wahrſcheinlich iſt, zumal da ſie bei
Hyſteriſchen
mehrfach ſich gezeigt hat.
Der Geſichtsſinn ſchließlich bildet eins der ſchwierigſten
Themata
, da ſich nur ſelten die Gelegenheit bietet, ihn in Ruhe
und
Sicherheit zu beobachten.
Für gewöhnlich ſind ja die
Augen
der Medien feſt geſchloſſen, ſo daß die Möglichkeit des
Sehens
ausgeſchloſſen iſt.
Wenn aber der Geſichtsſinn einmal
in
Kraft tritt, ſo gehen mit ihm eben ſolche Veränderungen
vor
, wie mit den anderen Sinnen.
In den Fällen, wo Hypno-
tiſierte
leſen konnten, erkannten ſie kleine Schrift noch im Halb-
dunkel
(Hyſteriſche erkennen größere Gegenſtände im völligen
Dunkel
).
Nach Bergſon zeichnete ein Hypnotiſierter noch Zellen
eines
mikroſkopiſchen Präparates von 0,06 mm Durchmeſſer
ohne
Zuhilfenahme eines Mikroſkops.
Mehrfach gelang auch
der
Verſuch, daß die Medien diktierte Worte nachſchrieben;
doch muß man ſich hüten, dieſe Fähigkeiten immer
464108 auf Rechnung ihres Geſichtsſinnes zu ſchreiben, vielmehr ſcheint
hier
der Taſtſinn oft eine Hauptrolle zu ſpielen, da das
Schreiben
auch dann nicht unterbrochen wird, wenn das Papier
den
Blicken entzogen iſt;
ja, ſelbſt unter ſolchen Verhältniſſen
werden
noch nachträgliche Verbeſſerungen an der richtigen
Stelle
angebracht.
In ähnlicher Weiſe, wie bei den fünf Sinnen, zeigen ſich
auch
die größten Beeinfluſſungen der Hypnoſe beim Gedächtnis,
und
zwar eben ſo ſehr nach der poſitiven, wie nach der nega-
tiven
Seite hin.
Die meiſten Medien verlieren auf Befehl ihr
Gedächtnis
völlig, ſie wiſſen ihren eigenen Namen, ihr Alter,
ihre
Wohnung nicht, dagegen fällt ihnen dies alles wieder ein,
wenn
es ihnen vorbuchſtabiert oder, falls ſie leſen können,
aufgeſchrieben
wird.
In vielen Fällen dagegen iſt die Er-
innerung
an früher Erlebtes oder Gehörtes von einer über-
raſchenden
Treue, und ſie iſt es auch, die bei vielen Suggeſtionen
eine
ſo wunderbare Rolle ſpielt.
Dieſe ſtark geſteigerte Ge-
dächtniskraft
ſpielte z.
B. in den berühmten Krafft-Ebingſchen
Verſuchen
, die vor einigen Jahren ſo großes Aufſehen erregten,
eine
Hauptrolle.
Es wurde einer etwa dreißigjährigen Dame
nacheinander
ſuggeriert, ſie ſei 7, 15 und 19 Jahre alt, und
täuſchend
ähnlich kopierte ſie das Verhalten des Kindes und
der
jungen Mädchen.
Bei den durch Iolly in Berlin wieder-
holten
gleichen Experimenten wurde einer etwa gleichaltrigen
Dame
außerdem ſuggeriert, ſie ſei 70 Jahre alt, und auch bei
dieſem
Verſuch nahm ſie ganz das Benehmen einer Greiſin an,
wenngleich
die Nachahmung nicht ſo täuſchend war, wie bei den
übrigen
Lebensaltern.
Gerade dieſer letztere Umſtand beweiſt,
in
wie hohem Maße das Gedächtnis bei derartigen Vor-
gängen
beteiligt iſt;
ſobald die Reproduktion eines Zuſtandes
nur
auf Grund von Vorſtellungen geſchieht, die ſich die Perſon
im
Lauf ihres Lebens davon gebildet hat, kann ſie nicht ſo
täuſchend
ſein, als wenn ſie auf Grund eigener Erlebniſſe
465109 Erfahrungen geſchieht. Daß auch das Gedächtnis bei künſtlich
ſuggerierten
Hallucinationen eine ganz hervorragende Rolle
ſpielt
, braucht wohl kaum noch betont zu werden, nur ein ſehr
intereſſantes
Beiſpiel, wie es von Richer erzählt wird, ſei hier
erwähnt
.
Einer hypnotiſierten Perſon wurde ſuggeriert, ſie
ſteige
mit einem Luftballon in die Höhe und gelange auf den
Mond
.
Nun glaubte ſie alles genau ſo zu ſehen, wie ſie es
einſt
im Iules Verne geleſen hatte, ſie ſah eine große Kugel (die
Erdkugel
) über ſich ſchweben, ſah allerhand ſeltſame Weſen u.
ſ. w.
Die merkwürdigſte Erzählung von dieſen Steigerungen
der
Gedächtnisſtärke iſt die, daß eine hypnotiſierte Hyſteriſche
einſt
eine Arie aus dem zweiten Akt derAfrikanerin” ſingen
konnte
, von der ſie im wachen Zuſtande auch nicht eine Note
auswendig
wußte.
X. Die ſogenannte Poſthypnoſe.
Dies ſind die wichtigſten Erſcheinungen während der
Hypnoſe
, auf die wir uns des genaueren hier nicht einlaſſen
können
.
Doch noch ſind wir nicht bei den rätſelhafteſten Vor-
gängen
angelangt, die Grenze der ſtaunenswerteſten Wunder
iſt
noch nicht erreicht, denn noch haben wir nicht geſprochen von
der
ſogenannten Poſthypnoſe d.
h. derjenigen Hypnoſe, die noch
beliebig
lange nach dem Erwachen aus dem hypnotiſchen Schlaf
ihre
Wirkung entfaltet.
Es wird dem hypnotiſierten Medium ein
Befehl
erteilt, es ſolle nach dem Erwachen zu einer beſtimmten
Zeit
ob am ſelben oder an irgend einem ſpäteren Tage, iſt
gleich
irgend eine Handlung begehen, und in der Mehrzahl
der
Fälle wird dem Befehl Folge geleiſtet, als ob das Medium
noch
willenlos in der Hypnoſe läge.
Wenn man ſich mit dieſen Fragen beſchäftigt, wenn
466110 zumal die Möglichkeiten und Konſequenzen erwägt, welche auf
gerichtlichem
Gebiet möglich ſind, ſo kann einem allerdings
unheimlich
zu Mute werden, zumal wenn man bedenkt, welch
weiter
Spielraum dem Verbrechen gelaſſen iſt, ohne daß auch
nur
eine Möglichkeit vorhanden zu ſein ſcheint, den fremden
Einfluß
bei dem Thäter nachzuweiſen und den wahren Anſtifter
zu
ermitteln.
Aber auch hier können wir ängſtliche Gemüter,
wenigſtens
bis zu einem gewiſſen Grade, beruhigen, wie wir
im
nächſten Kapitel zeigen wollen.
Bleiben wir zunächſt bei den gewöhnlichen poſthypnotiſchen
Experimenten
, bei denen es ſich ja meiſtens um viel harmloſere
Dinge
handeln wird, als um Verbrechen.
Nicht nur jede
Handlung
wird pünktlich zur feſtgeſetzten Stunde vollführt,
ſondern
auch körperliche Unbequemlichkeiten, wie Müdigkeit,
vorübergehende
Übelkeit, Lähmung, Taubheit, Aphaſie (Sprach-
verluſt
) treten, je nachdem, wie es befohlen wird, unmittelbar
nach
der Hypnoſe ein, oder auch Wochen und Monate darauf,
und
zwar genau am beſtimmten Tage.
Bis über ein Jahr
hinaus
hat man ſchon derartige Wirkungen beobachtet, ohne daß
das
Medium in der Zwiſchenzeit auch nur eine Ahnung davon
hatte
, was vielleicht am allermerkwürdigſten iſt.
Aus der unerſchöpflichen Fülle von poſthypnotiſchen Ex-
perimenten
ſeien hier einige durch den Nancyer Arzt Bernheim
angeſtellte
als Beiſpiele herausgegriffen, die vielleicht um ſo
mehr
intereſſieren, als ſich eine leicht humoriſtiſche Färbung
in
ihnen findet, wie ſie ſich wohl ſtets bei harmloſen poſt-
hypnotiſchen
Experimenten geltend machen wird.
Den erſten Fall erzählt Bernheim folgendermaßen: Ich
ſuggerirte
dem Klienten, als er ſchlief, er würde nach ſeinem
Erwachen
Herrn St.
, einen anweſenden Kollegen, ſehen und
zwar
mit nur auf einer Seite raſiertem Geſicht und einer un-
geheuren
ſilbernen Naſe.
Als er geweckt wurde, wandten ſich
ſeine
Augen zufällig auf unſeren Kollegen;
er brach in
467111 Lachen aus: 'Sie haben wohl eine Wette gemacht? Sie ſind
ja
nur halb raſiert! Und dieſe Naſe! Sie gehören wohl zu
den
Invaliden?
’” Das Medium wußte abſolut nichts davon,
daß
ihm ein diesbezüglicher Befehl erteilt ward.
Einem anderen Klienten ſagte Bernheim: Da iſt ein
Buch
über Chemie! Wenn Sie aufgewacht ſind, wird Ihnen
der
Gedanke kommen, in dem Buch das Kapitel über Gold zu
leſen
.
Sie werden im Inhaltsverzeichnis darnach ſuchen und
es
dann leſen.
Dann werden Sie zu mir ſagen: 'Wenn ich
Gold
hätte, würde ich Ihnen gern etwas geben, um Sie für
Ihre
Mühen zu belohnen.
Leider habe ich keins. Man
erwirbt
kein Gold, weder in der Marine, noch im Eiſenbahn-
dienſt
.
Dieſe Gedanken ſollen Ihnen während des Leſens
kommen
.
Erſt nach einer vollen halben Stunde wurde das
Medium
geweckt.
Bernheim verließ das Zimmer, und als erzurück-
kam
, ſah er den Betreffenden das Kapitel über Gold leſen.
Auf
Befragen
, weshalb er dies thue, antwortete er:
Es iſt nur
ſo
eine Idee von mir.
Nach einer Pauſe ſagte er: Wenn
ich
Gold hätte, würde ich Sie gern belohnen, aber ich habe keins.

Abermals
las er dann weiter, um nach einer Pauſe zu ſagen:
Die Eiſenbahngeſellſchaft bereichert ihre Angeſtellten nicht.
Nachträglich
war er aufs höchſte erſtaunt, als ihm mitgeteilt
wurde
, daß er jene Gedanken nicht aus ſich ſelbſt haben ſolle,
ſondern
daß ſie ihm ſuggeriert ſeien.
Schließlich noch ein von Bernheim mitgeteilter Fall, der
für
die Wirkung der Hypnoſe nach längerem Zeitraum charak-
teriſtiſch
iſt:
Im Monat Auguſt 1883 ſage ich dem Somnam-
bulen
S.
, einem alten Sergeanten, während ſeines Schlafes:
Welchen Tag in der erſten Woche des Oktober haben Sie
frei
?
Er ſagte mir: Am Mittwoch. Gut, alſo hören Sie,
am
erſten Mittwoch des Oktober gehen Sie zu Dr.
Liébault;
Sie
werden bei ihm den Präſidenten der Republik antreffen,
der
Ihnen eine Medaille und eine Penſion verleihen wird.
468112Ich werde hingehen, ſagte er zu mir. Ich ſpreche mit ihm
nicht
mehr darüber.
Nach ſeinem Erwachen erinnert er ſich
an
nichts.
Ich ſehe ihn in der Zwiſchenzeit mehrfach, ich
errege
andere Suggeſtionen in ihm und erinnere ihn nie an
das
Vorgegangene.
Am 3. Oktober (63 Tage nach der Sug-
geſtion
) erhalte ich folgenden Brief von Dr.
Liébault: Der
ſomnambuliſche
S.
traf heut 10 Minuten vor 11 bei mir ein.
Nachdem er beim Eintreten Herrn F. , an welchem er vorbei-
kam
, begrüßt hatte, wandte er ſich nach links meiner Bibliothek
zu
, ohne jemand anders zu bemerken, ich ſah ihn reſpektvoll
grüßen
und hörte dann, wie er das Wort Excellenz ſagte.
Da
er
ziemlich leiſe ſprach, trat ich raſch auf ihn zu, in demſelben
Augenblick
ſtreckte er ſeine rechte Hand aus und antwortete:

Danke, Excellenz.
Ich fragte ihn hierauf, mit wem er ſich
unterhielte
.
Nun, mit dem Präſidenten der Republik! ant-
wortete
er mir.
Ich erwähne hierbei, daß niemand ſich vor
ihm
befand.
Dann wandte er ſich wieder zur Bibliothek,
grüßte
, ſich verneigend, und ging dann wieder an Herrn F.

vorbei
.
Die Zeugen dieſes ſeltſamen Vorganges fragten mich
einige
Minuten, nachdem er hinausgegangen war, ob das ein
Verrückter
geweſen ſei.
Meine Antwort war, er ſei nicht
verrückt
, ſondern ebenſo vernünftig wie ſie und ich;
ein anderer
ſei
es, der in ihm arbeite.
Der Kranke verſicherte noch ſpäter,
daß
der Gedanke, zu Herrn Liébault zu gehen, ihm ganz
plötzlich
am 3.
Oktober um 10 Uhr Morgens gekommen ſei,
daß
er die ganzen vorhergehenden Tage nichts davon gewußt
hätte
, hingehen zu müſſen und daß er an das dortige Erlebuis
keine
Erinnerung mehr habe.
Gerade dieſer letzte Fall iſt ungemein intereſſant und be-
lehrend
und eröffnet die weiteſten Ausblicke zur Erforſchung
des
menſchlichen Geiſtes.
469113
XI. Vom verbrecheriſchen Mißbrauch des
Hypnotismus.
Zahlloſe andere, überaus intereſſante und wiſſenſchaftlich
höchſt
wertvolle Experimente laſſen ſich anſtellen und ſind an-
geſtellt
worden.
Unſeren Leſern aber wird, zumal nachdem ſie
von
den Erſcheinungen der Poſthypnoſe gehört haben, jetzt
zunächſt
nur eine Frage im Kopfe herumgehen und vielleicht
ſchon
lange auf der Zunge ſchweben, nämlich die Frage:
Iſt
es
möglich, den Hypnotismus zu verbrecheriſchen Zwecken zu
mißbrauchen
?
Wenn wir uns nun dem Wunſche der Leſer gehorchend
dieſem wichtigen Punkte zuwenden, ſo wollen wir die ge-
ſtellte
Frage gleich von vornherein mit einem rundenJa!
beantworten
.
. . . Aber erſchrick nur nicht, lieber Leſer; Du
wirſt
nachher ſehen, daß die Sache nicht ſo ſchlimm iſt, als
ſie
anfangs erſcheint.
Zunächſt aber geſtatte, daß wir uns das kleine Vergnügen
machen
dich ein wenig zu ängſtigen, und ſo wollen wir dir
denn
einige thatſächlich vorgekommene Fälle vorführen, damit
du
zunächſt ſiehſt, daß wirklich ſchon mehrfach das Verbrechen
ſich
der Hypnoſe bemächtigt hat, um ſeine ſchwarzen Pläne
möglichſt
unentdeckt durchzuführen.
Erſtens ſei erinnert an den ſogenannten Fall Czynski,
welcher
Ende 1894 allgemeines, großes Aufſehen erregte.
Czynski hatte einer ſehr reichen Dame in der Hypnoſe befohlen
ihm
allerhand Schenkungen zu machen und ſonſtige Vermögens-
vorteile
zuzuwenden.
Der Betrug wurde jedoch entdeckt und
Czynski
beſtraft.
Derartigen Mißbräuchen der Hypnoſe wird das Medium
gar
keinen Widerſtand entgegenzuſetzen vermögen, da es ſelbſt
oft
gar nicht an dem Verbrechen beteiligt zu ſein braucht.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IX.
470114
Man braucht ihm nur zu ſuggerieren, es ſoll ob
während
der Hypnoſe oder ſpäter, iſt dabei ganz gleich
unter
ein beſtimmtes Schriftſtück ſeinen Namen ſchreiben, man
wird
gar keinen Widerſtand finden, und kann ſo unter jeden
beliebigen
Wechſel, Vertrag, Denunziation u.
ſ. w. eine Unter-
ſchrift
des Betreffenden erhalten.
Ebenſo iſt während und
nach
der Hypnoſe ſexuelle Mißhandlung möglich, wenn das
Medium
nur paſſiv beteiligt iſt, während es vielleicht nicht
dazu
zu bringen iſt, weit harmloſere Handlungen, die ſein
Schamgefühl
verletzen würden, ſelber zu begehen, etwa zu
urinieren
.
Ja, ſelbſt Diebſtahl und ſogar Mord können manchen Me-
dien
befohlen werden, ohne daß dieſe dem Geheiß Widerſtand
entgegenzuſetzen
vermögen.
Ein zum Scherz befohlener Taſchen-
diebſtahl
, “Leichenfledderei” u.
ſ. w. wird oft mit einer Geſchick-
lichkeit
und Schlauheit, ja Raffiniertheit ausgeführt, daß man
das
Medium für einengeprüften Taſchendieb” halten könnte,
wie
man wohl ſcherzhafterweiſe zu ſagen pflegt.
In Budapeſt
wurde
einſt ein Experiment gemacht, um zu ſehen, ob ſich auch
die
Ausübung eines Mordes durch Hypnoſe erreichen laſſe:
der
Experimentator
befahl einer hypnotiſierten Frau an einem be-
ſtimmten
Tage zur feſtgeſetzten Stunde ihr dreijähriges Kind
im
Schlafe zu erwürgen, und thatſächlich wollte die Frau zur
befohlenen
Stunde den Mord ausführen;
natürlicherweiſe wurde
ſie
daran gehindert.
Vor wenigen Jahren paſſierte es in Hamburg, daß ein
Knabe
mitten in der Nacht plötzlich aufſtand, ein Beil aus der
Küche
holte und ſeine ſchlafende Mutter damit erſchlug.
Da
durchaus
kein Grund für dieſe That einzuſehen war und der
Knabe
bis zum letzten Tage in beſtem, liebevollſten Einver-
nehmen
mit ſeiner Mutter gelebt haben ſollte, ſo warf man
damals
die Frage auf, ob er vielleicht unter poſthypnotiſchem
Einfluß
gehandelt habe.
Leider berichteten die Zeitungen
471115 zu welchem Ergebnis die Unterſuchung ſchließlich gelangte;
immerhin ſcheint die Annahme des hypnotiſchen Einfluſſes hier
nicht
unberechtigt geweſen zu ſein.
In Paris ſuchte ein junger Arzt die drohenden Folgen
eines
Liebesverhältniſſes dadurch zu beſeitigen, daß er ſeiner
Geliebten
in der Hypnoſe befahl, einige Tage ſpäter, während
er
verreiſt ſei, ſich mit ſeinem eigenen Revolver zu erſchießen.
Das Mädchen gehorchte und verletzte ſich bei dem Selbſtmord-
verſuch
ſehr ſchwer.
Nur durch einen Zufall gelang es dieſes
Verbrechen
nachzuweiſen:
Das verwundete Mädchen wurde
nämlich
in die Klinik Charcots, eines der hervorragendſten
Suggeſtionstherapeutiker
, gebracht.
Als Charcot erfuhr, daß
ſie
ſchon mehrfach hypnotiſiert worden ſei, benutzte er ſie auch
einmal
als Medium, um Experimente mit ihr zu machen.
In
der
Hypnoſe fragte er ſie nach den Gründen ihres Selbſtmord-
verſuchs
.
Auch im wachen Zuſtand war ſie mehrfach danach
gefragt
worden;
da ihr aber von ihrem Geliebten einſuggeriert
worden
war, ſie ſolle nach dem Erwachen alle während des
Tiefſchlafs
geſchehenen Ereigniſſe vergeſſen, hatte ſie ſtets ge-
antwortet
, ſie wiſſe nicht, weshalb ſie die That begangen habe
für
Thaten, die in der Hypnoſe oder Poſthypnoſe ausgeführt
wurden
, iſt dieſe Antwort immer höchſt charakteriſtiſch.
Als
ſie
nun jedoch abermals im hypnotiſchen Schlaf lag, erwachte
die
Erinnerung an das Geſchehene, und ſie erzählte dem er-
ſtaunten
Charcot alles, was ihr Geliebter ihr einſuggeriert hatte.

Der
betreffende Arzt wurde nun vor Gericht geſtellt und zu
8
Jahren Zuchthaus verurteilt.
Lieber Leſer, nachdem dich nun wohl bei dieſen Geſchichten
genug
gegruſelt hat, wirſt du vermutlich ſchaudernd ausrufen:
Ja aber, mein Himmel, das iſt ja entſetzlich; da iſt man ja
vor
keinem Verbrechen mehr ſicher! Wohin ſoll denn das führen!
Aber
beruhige dich;
es wird nichts ſo heiß gegeſſen, wie es ge-
kocht
wird, und der verbrecheriſche Mißbrauch der Hypnoſe
472116 ſich ſtets nur in engſten Grenzen halten können, ganz abgeſehen
davon
, daß die Kenntnis des Hypnotiſierens einſtweilen nur
auf
einen ſehr kleinen Kreis von Menſchen beſchränkt iſt.
Zu-
nächſt
einmal muß ein Verbrecher, um die Hypnoſe irgendwie
zu
mißbrauchen, ſehr genau die ſpeziellen Eigentümlicheiten
kennen
, die ſich im Tiefſchlaf gerade ſeines Mediums geltend
machen
;
er muß wiſſen, ob ſeine Befehle auf Widerſtand zu
rechnen
haben, und wie groß dieſer eventuell iſt, er muß wiſſen,
ob
bei ſeinem Medium ſtets abſolute Erinnerungsloſigkeit durch
einen
diesbezüglichen Befehl zu erzielen iſt oder nicht, ob poſt-
hypnotiſche
Suggeſtionen mit derſelben unbedingten Zuberläſſig-
keit
befolgt werden wie ſolche, die während des Schlafs ſelbſt
wirkend
ſind;
kurzum, er muß ſein Medium ſchon ſehr oft und
eingehend
ſtudiert haben, bevor er es wagen darf die Hypnoſe
für
frevelhafte Zwecke zu benutzen.
Iſt er auch nur in einem
der
angeführten Punkte ſeiner Sache nicht vollſtändig ſicher, ſo
läuft
er ſtets Gefahr, daß an dem Eigenwillen des Mediums
ſein
verbrecheriſches Vorhaben ſcheitert und ſomit vereitelt und
gleichzeitig
verraten wird.
Abgeſehen davon zeigt der letzte
der
mitgeteilten Fälle, wie in allen verdächtigen Fällen ein
erneutes
Hypnotiſieren genügt, um durch geſchickte Frageſtellung
zu
konſtatieren, ob ein Verbrechen unter hypnotiſchem Einfluß
begangen
wurde oder nicht denn es iſt eine der allermerk-
würdigſten
und ſtaunenswerteſten Thatſachen, daß die Erinne-
rung
an alle Vorgänge im hypnotiſchen Schlaf, welche im
wachen
Zuſtand vollkommen unterdrückt ſein kann, in der Hyp-
noſe
und nur in der Hypnoſe wieder zu erwecken iſt.
In Anbetracht aller dieſer Umſtände iſt die Ausſicht, daß
das
einem Medium ſuggerierte Verbrechen wirklich vollführt
wird
und außerdem unentdeckt bleibt, eine gar zu geringe, als
daß
man einen weitgehenden Mißbrauch der Hypnoſe in dieſer
Beziehung
ernſtlich zu befürchten hätte;
dem hypnotiſierenden
Frevler
iſt alſo in ſeinem eigenen Intereſſe
473117 anzuraten, größere Verbrechen, die er beabſichtigt, lieber ohne
Hypnoſe
und ohne Medium ſelber zu begehen.
Und ſich ſelbſt
kann
jeder gegen hypnotiſchen Mißbrauch ſchützen, indem er
ſich
von nicht völlig zuverläſſigen Perſonen niemals unter vier
Augen
hypnotiſieren läßt.
Hoffentlich iſt durch dieſe Betrachtungen, lieber Leſer, deine
übergroße
Furcht vor der Hypnoſe beſeitigt und deine vielleicht
ſchon
geſtörte Nachtruhe wieder hergeſtellt.
XII. Iſt die Hypnoſe nicht ſchädlich?
Noch ein in den weiteſten Kreiſen verbreitetes Bedenken
gegen
die Anwendung der Hypnoſe ſei es, wozu es ſei
müſſen
wir behandeln.
Überall und ganz beſonders bei
ſolchen
Leuten, die nie eine Hypnoſe mit angeſehen haben und
nicht
die Bohne davon verſtehen hört man mit einer Be-
ſtimmtheit
und Sicherheit, die einer beſſern Sache würdig wäre,
das
Urteil ausſprechen, daß alles Hypnotiſieren für das Me-
dium
geſundheitsſchädlich und nervenzerrüttend ſei.
Nun, ganz
unbegründet
ſind dieſe Bedenken freilich nicht.
Durch unge-
ſchickte
Suggeſtion oder durch gar zu häufig raſch wiederholte
Hypnoſe
können allerdings Unbequemlichkeiten harmloſerer Art
für
das Medium entſtehen, wie Mattigkeit, Kopfſchmerzen, vor-
übergehende
, leichte Nervoſität, Schlafloſigkeit u.
ſ. w. , Un-
bequemlichkeiten
, die allerdings in längſtens 24 Stunden von
ſelbſt
wieder ſchwinden.
Ebenſo kann eine leichte Benommen-
heit
und Müdigkeit für kurze Zeit eintreten, wenn die Hypnoſe
eingeleitet
wurde, aber ein feſterer Schlaf nicht zu erzielen war.
Aber einem geübten Hypnotiſeur werden derartige Zufälle nicht
ſo
leicht paſſieren.
Er wird ſeinem Medium, bevor er es er-
weckt
und zwar nicht plötzlich, ſondern langſam
474118 erweckt , den Befehl erteilen, daß es nach dem Erwachen
keinerlei
Unbequemlichkeiten haben, ſich munter und friſch fühlen
und
in der nächſten Nacht vortrefflich ſchlafen würde;
unter
ſolchen
Bedingungen iſt aber die Hypnoſe auch ab-
ſolut
unſchädlich
.
Da ferner während der Hypnoſe oft der Atem recht ſchnell
und
tief geht, wird der geübte Hypnotiſeur ſeinem Medium
gleich
zu Beginn des Schlafes die Weiſung geben, recht ruhig
und
gleichmäßig zu atmen und ihm ſofort Mitteilung zu machen,
wenn
ſich irgendwelche Unbequemlichkeiten oder Schmerzen ein-
ſtellen
ſollten.
Herz- oder lungenleidenden Perſonen iſt jedoch
abzuraten
, ſich hypnotiſieren zu laſſen, weil eben oft die
Atmungsorgane
vorübergehend zu erhöhter Thätigkeit während
des
hypnotiſchen Schlafs angeregt werden.
Am 17. September 1894 paſſierte ein Ereignis, das
monatelang
die Gemüter in Aufregung hielt und die Furcht
vor
der Hypnoſe, zumal bald darauf der oben genannte Prozeß
Czynski
von ſich reden machte, ins Unermeſſene wachſen ließ.
Auf einem ungariſchen Schloſſe war ein Fräulein von Salamon,
das
von einem gewiſſen Neukomm ſchon oft hypnotiſiert worden
war
, plötzlich während des hypnotiſchen Schlafs geſtorben.

Alles
ſchrie Zeter und Mordio, und die Zeitungen überboten
einander
in den unglaublichſten Übertreibungen des wirklich
Geſchehenen
;
die wunderbarſten und fabelhafteſten Kombina-
tionen
mit hochromantiſchem Beigeſchmack wurden an den Vor-
fall
geknüpft, und dabei hackten die Zeitungsſchreiber, die ja
bekanntlich
alles verſtehen und verſtehen müſſen, von allen
Seiten
unbarmherzig auf den Hypnotismus los.
Zwar ſtellte ſich nachher durch die Unterſuchung heraus,
daß
der Tod des Fräulein von Salamon durch einen ganz
gewöhnlichen
Schlaganfall erfolgt ſei, der höchſt wahrſcheinlich
in
gar keinem direkten Zuſammenhang mit der Hypnoſe ſtand
und
auch erfolgt wäre, wenn die junge Dame zufällig
475119 dieſem Tage nicht hypnotiſiert worden wäre, aber wer kümmerte
ſich
nachher um dieſe Stimme der ruhigen Überlegung?
Die
haarſträubenden
Schauermärchen waren einmal in die Welt
geſetzt
, und wie es ja immer zu geſchehen pflegt waren
nun
nicht mehr zu widerrufen.
Das Ergebnis der wiſſenſchaft-
lichen
Unterſuchung des Falles war viel zu wenig ſenſationell,
als
daß man es irgendwie beachtet oder gar geglaubt hätte,
und
ſo ſpukt denn derFall Salamon” noch heute in den
Köpfen
und läßt gar manchen, wenn er nur das Wort
Hypnotismus” hört, die Hände ſchaudernd und empört über
den
Kopf zuſammenſchlagen mit der Bitte, ihm mit demgreu-
lichen
Unfug” zehn Schritte vom Leibe zu bleiben.
Leider aber hatten die Fälle Salamon und Czynski noch
mancherlei
Folgen recht bedauerlicher Natur.
In Berlin z. B. ,
und
wohl auch anderswo, wurden alle öffentlichen Vorträge
über
Hypnotismus und alle öffentlichen hypnotiſchen Demon-
ſtrationen
, die man vorher unbedenklich erlaubt hatte, polizeilich
verboten
.
Natürlich iſt ein ſolches Verbot ein Schlag ins
Waſſer
, denn der Mißbrauch der Hypnoſe, dem man damit
ſteuern
wollte, und die unbefugte Anwendung derſelben werden
dadurch
nicht im geringſten gemindert, wohl aber wird dem
Publikum
die Möglichkeit entzogen, ſich über die Thatſachen
des
Hypnotismus Belehrung zu verſchaffen und ſomit die
Kenntniſſe
zu erwerben, um ſich gegen etwaigen Mißbrauch
desſelben
ſelber zu ſchützen.
Das Mißtrauen gegen den Hypno-
tismus
wird durch jenes unangebrachte Verbot nur unnötig
gefördert
und ſomit auch die vielfachen Segnungen der ſug-
geſtiven
Behandlung, denen wir noch ein letztes Kapitel widmen
wollen
, arg beeinträchtigt.
476120
XIII. Der Nutzen des Hypnotismus.
Schon in den bisherigen Auseinanderſetzungen bot ſich
einige
Male die Gelegenheit, auf den praktiſchen Nutzen des
Hypnotismus
hinzuweiſen.
Wir ſahen, daß man ihn ſchon
mehrfach
angewendet hat, um für die Dauer von operativen
und
geburtshülflichen Eingriffen Schmerzloſigkeit zu erzeugen,
und
der Leſer wird, nachdem er von der weittragenden Be-
deutung
der Poſthypnoſe gehört hat, ſich ſchon faſt von ſelbſt
ſagen
können, daß gewiſſe krankhafte Zuſtände ſich mit Hülfe
der
Poſthypnoſe ſogar dauernd beſeitigen laſſen müſſen.
So
kann
man Schmerzen aller Art unterdrücken, vor allem ner-
vöſen
Kopfſchmerz und Zahnſchmerz wenngleich gegen den
letzteren
ſtets die Hülfe eines tüchtigen Zahnarztes mehr als
der
Hypnotismus zu empfehlen iſt.
Aber auch gegen Schlaf-
loſigkeit
, Verdauungsbeſchwerden, Menſtruationsſtörungen und
Übelkeiten
mannigfacher Art, ja ſelbſt gegen leichtere Lähmun-
gen
verleiht der Hypnotismus eine vortreffliche Abhülfe, kurz,
gegen
die verſchiedenartigſten Beſchwerden und Gebrechen.
Diejenigen Ärzte, welche man als Suggeſtionstherapeutiker
bezeichnet
, ſind auf dem beſten Wege, den Hypnotismus zu einer
Sonderwiſſenſchaft
im Gebiet der Heilkunde heranzubilden und
haben
bereits den Beweis geliefert, daß die ſuggeſtive Be-
handlung
in vielen Fällen vor allen andren den Vorzug
verdient
.
Die Führung auf dieſem Gebiete hat unbeſtritten Frank-
reich
übernommen, wo ſchon ſeit Jahrzehuten der Hypnotismus
in
großartigſtem Maßſtabe zu Heilzwecken benutzt wird;
Char-
cot
, Liébault, Bernheim
, in Paris und Nancy, und
andre
Forſcher haben einen Weltruf als Suggeſtionstherapeutiker
e@langt
;
von den Lebenden dürfte zur Zeit Forel in Zürich
der
berühmteſte ſein.
477121
Um zu zeigen, wie ſegensreich der Hypnotismus verwertet
werden
kann, mögen hier kurz zwei intereſſante Fälle mitgeteilt
werden
, welche Dr.
Starcke aus Heidelberg im Jahre 1896
veröffentlichte
:
Ein 56 jähriger Goldarbeiter litt ſchon ſeit Jahren an
Krampfanfällen
, die, von den Geſichtsmuskeln ausgehend, ſich
ſpäter
auch auf die Hals-, Nacken- und Bauchmuskeln über-
trugen
.
Die Krämpfe traten oft 10 bis 20 Mal täglich ein
und
bewirkten ſtändige Schlafloſigkeit nebſt ſtarker Neigung zum
Erbrechen
.
Starcke ſuchte dem Leiden durch hypnotiſche Sug-
geſtion
beizukommen und zwar mit vortrefflichem Erfolge.
Der
Patient
wurde anfangs täglich, ſpäter alle 2 bis 3 Tage {1/4}
bis
{1/2} Stunde lang hypnotiſch behandelt.
Während zuerſt nur
die
leichteren Stadien des hypnotiſchen Schlafes (Unfähigkeit
die
Augen von ſelbſt zu öffnen) erreicht wurden, gelang es
ſchon
nach wenigen Sitzungen, die tiefſten Stadien der Hypnoſe
zu
erzielen, ſo daß der Patient für alle Suggeſtionen empfäng-
lich
wurde.
Durch geeignete Suggeſtionen gelangte Starcke
dahin
, daß ſchon von der vierten Sitzung an die Krämpfe
vollſtändig
verſchwanden und innerhalb weniger Wochen konnte
der
Patient alsgeheilt” entlaſſen werden.
Im zweiten Fall handelte es ſich um eine 22 jährige
Krankenſchweſter
, welche an einer eitrigen Mittelohrentzündung
litt
.
Die Krankheit hatte Schlafloſigkeit, Kopfſchmerz, Fieber,
Schwindel
und Erbrechen nach jeder Nahrungsaufnahme im
Gefolge
, welch letzteres als hyſteriſch gedeutet wurde.
Die
Krankheit
verſchlimmerte ſich trotz mehrfacher Operationen von
Monat
zu Monat, endlich ſuchte man wenigſtens dem ſtändigen
Erbrechen
, das ſich oft 6 Mal täglich einſtellte und wodurch
die
Patientin ſchon völlig entkräftet war, ſuggeſtiv beizukommen.
Schon in der zweiten hypnotiſchen Sitzung erreichte Starcke,
daß
in der Hypnoſe verabreichte Milch, “welche nicht gebrochen
werden
kann” auch nach dem Erwachen behalten wurde,
478122 Milch, welche die Patientin im wachen Zuſtande genoß, als-
bald
wieder ausgebrochen wurde.
Bald gelang es, das Er-
brechen
auch im wachen Zuſtande zu unterdrücken, und nun
ſuchte
Starcke (in der vierten Sitzung) auch gegen den Kopf-
ſchmerz
vorzugehen.
Auch dies Bemühen war bald von Erfolg
gekrönt
, und in der neunten Sitzung wagte Starcke ſchon die
Schwindelanfälle
zu bekämpfen, ebenfalls erfolgreich.
So war
bereits
nach 16 Tagen die Kranke wiederzu einem für
ſchwere
Arbeit tauglichen lebensfrohen Weſen” gemacht.
Der
Krankheit
ſelbſt natürlich konnte vermittelſt der Hypnoſe nicht
beigekommen
werden, die lebensgefährlichen Symptome aber
waren
auf ſuggeſtivem Wege beſeitigt oder doch auf ein Mi-
nimum
beſchränkt.
Man kann daraus erſehen, ein wie bedeutungsvoller und
ſegensreicher
Faktor die Hypnoſe bei geſchickter und mehrfach
wiederholter
Anwendung zu werden vermag.
Natürlich darf
man
nicht, wie manche Leute thun, ſich einbilden, daß man
allen
Krankheiten auf dieſe Weiſe beizukommen vermag:
ſelbſtverſtändlich kann man nicht Schwindſucht oder Krebs
oder
ähnliche Krankheiten durch Hypnoſe bekämpfen, ebenſo-
wenig
wie man etwa einen gebrochenen Arm durch Suggeſtion
zu
heilen vermag.
Aber faſt alle auf Nervenſtörungen be-
ruhenden
Leiden und Beſchwerden ſind auf jenem Wege entweder
ganz
zu beſeitigen oder doch weſentlich zu beſſern.
Auch gegen mancherlei ſchlechte und verderbliche An-
gewohnheiten
und Laſter, ſo vor allem gegen Alkoholismus,
Morphinismus
und Onanie hat man den Hypnotismus mit
glücklichſtem
Erfolge angewandt, ferner auch gegen kleinere
Unbequemlichkeiten
des Daſeins, wie Melancholie, Zerſtreutheit,
Jähzorn
, Befangenheit, Vergeßlichkeit u.
ſ. w. Endlich hat man
auch
in Fällen, wo ein Kranker ſich nach Möglichkeit ruhen und
kräftigen
ſollte, den Patienten in hypnotiſchen Schlaf verſetzt und
ihn
durch Wochen, ja ſchon durch Monate darin verweilen
479123 wobei es durch geeignete Suggeſtionen erreicht wurde, daß die
verſchiedenen
notwendigen Funktionen des Organismus, vor
allem
Eſſen und Trinken auch im Schlafe verrichtet wurden.
Vor
allem
der bedeutende ſchwediſche Suggeſtionstherapeutiker
Wetterſtrand in Stockholm und der bekannte Münchener Arzt
Freiherr
von Schrenck-Notzing haben in dieſer Beziehung
ganz
Erſtaunliches erreicht.
Wie verſchwinden dieſen Segnungen des Hypnotismus
gegenüber
die Schäden, welche durch die unbefugte Anwendung
desſelben
hier und da hervorgerufen wurden! Und wie thöricht
iſt
nach dem Geſagten die in Laienkreiſen faſt allgemeine Angſt
vor
jenen ſo geheimnißvollen Erſcheinungen! Wenn die praktiſche
Anwendung
des Hypnotismus ſich erſt allgemeiner Bahn bricht
in
den Kreiſen der Ärzte und dieſe ſind allein die berufenen
Jünger
jener Wiſſenſchaft! ſo wird man vielmehr der Heil-
kunde
einen nicht unbedeutenden Aufſchwung prophezeien können.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
480
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481
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich iſſuſtrierte Aufſage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Zehnter Teil.
89[Figure 89]
Berſin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
482
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
483
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Vom Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen. I.
I
. # Das Leben in ſeinen verſchiedenen Arten # 1
II
. # Die ſogenanntetote” undlebende” Natur # 4
III
. # Tod und Leben # 7
IV
. # Die Stufenreihen des Lebens # 10
V
. # Die einfachſten Pflanzen # 13
VI
. # Die Einzelzelle # 16
VII
. # Wachstum und Verbreitung der Einzelzelle # 19
VIII
. # Wie die Pflanzen wachſen # 22
IX
. # Lebensthätigkeit der Pflanze # 24
X
. # Die Verwandlung unbelebter Stoffe in belebte durch die
## Pflanze # 26
XI
. # Von dem Rätſel des Lebens # 29
XII
. # Die eigne Art des Wachstums der Pflanze # 31
XIII
. # Die Bildung des Baumes # 34
XIV
. # Genaueres über den inneren Bau der Pflanzen # 36
XV
. # Mittel zur Erreichung der Feſtigkeit bei den Pflanzen # 38
XVI
. # Die Zellen des Skelettgewebes # 40
XVII
. # Die Bedeutung der Steinkörper im Fruchtfleiſche der Birnen # 41
XVIII
. # Die Eigenſchaften der Skelettzellen # 46
XIX
. # Anordnung des Skelettgewebes im Pflanzenkörper # 48
XX
. # Allſeitig biegungsfeſte Organe # 51
XXI
. # Bau der auf Zug in Anſpruch genommenen Organe # 57
XXII
. # Das Leben eines Baumes # 59
XXIII
. # Das Wunder der Blüte # 62
XXIV
. # Ein ſich klärendes Rätſel # 65
XXV
. # Das Rätſel des Lebens und das Rätſel des Todes # 66
XXVI
. # Vom Leben des Tieres # 68
XXVII
. # Der Übergang von den Pflanzen zur Tierwelt # 71
XXVIII
. # Die Entwickelung der Tierwelt # 74
484IV11
# # Scite
XXIX
. # Die Selbſtzeugung # 77
XXX
. # Zur Geſchichte des Tierlebens auf der Erde # 81
XXXI
. # Empfindungen und Bewegungen der Tiere # 84
XXXII
. # Der Wohnſitz der Empfindung im Tiere # 87
XXXIII
. # Wo man die Schmerzen hat # 90
XXXIV
. # Weitere Verſuche über die Empfindungen # 93
XXXV
. # Das Pflanzenleben der Tiere # 96
XXXVI
. # Das ſympathiſche Nervenſyſtem # 99
XXXVII
. # Von der Innen- und Außenwelt # 102
XXXVIII
. # Das Tier und die Außenwelt # 105
XXXIX
. # Wie die Eindrücke der Außenwelt den Weg zum
# Gehirn finden # 108
XL
. # Von den übrigen Sinnesnerven # 111
XLI
. # Die Fähigkeit der Bewegung des Tierleibes # 114
XLII
. # Wie die Musk@ln zur Bewegung angereizt werden # 117
XLIII
. # Eine Nervendurchſchueidung # 119
XLIV
. # Eine weitere Folge der Nervendurchſchneidung # 122
XLV
. # Die Teilung der Nervenarbeit # 123
XLVI
. # Ein Nervengiſt # 126
XLVII
. # Das Pfeilgift und ſeine Gegenmittel # 129
XLVIII
. # Die Nervenverwachſung # 133
XLIX
. # Die Nervenverheilung # 137
L
. # Ein künſtlicher Nerv # 139
LI
. # Nervenreize # 142
LII
. # Nervenleitung # 147
LIII
. # Fortpflanzung der Nervenleitung # 150
LIV
. # Geſchwindigkeit und Nervenleitung # 154
LV
. # Neueſtes über den Aufbau des Nervenſyſtems # 157
485
Dom Leben der Pflanzen, der Ciere und
der
Menſchen. I.
I. Das Leben in ſeinen verſchiedenen Arten.
Alles, was von ſeinesgleichen gezeugt und geboren wird;
alles, was während ſeines Daſeins fremde Stoffe in ſich auf-
nimmt
und dadurch wächſt;
alles, was verbrauchte Stoffe von
ſich
ausſcheidet und ſo die Stoffe wechſelt;
alles, was in ſeinem
Wachstum
die höchſte Stufe erreicht und nun ſeinesgleichen
zeugt
;
alles, was nach dieſer Zeit ſeines höchſten Wachstums
wieder
zu verkümmern anfängt, bis es dann wieder vergeht:

Alles
dies lebt;
das heißt: alle Dinge in der Welt, die dieſe
genannten
Zuſtände an ſich beobachten laſſen, von dieſen ſagt
man
mit Recht, daß ſie leben.
Eine Pflanze lebt. Sofern ſie zu den Blütenpflanzen
gehört
, iſt ſie von der Mutterpflanze, alſo von ihresgleichen, in
der
Zeit der Blüte gezeugt worden.
Eine Pflanze lebt, denn
ſie
iſt zur Keimzeit des Samens geboren worden.
Eine Pflanze
lebt
, denn ſie wächſt, indem ſie fortwährend fremde Stoffe aus
dem
Boden, aus der Luft in ſich aufnimmt.
Eine Pflanze
lebt
, denn ſie ſcheidet wieder verbrauchte Stoffe, wie Waſſer
und
Sauerſtoff, von ſich aus.
Eine Pflanze lebt, denn ſie
1
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
11(Eine genauere (wiſſenſchaftlichere) Begriffsbeſtimmung des Lebens
wurde
in Teil I S. 25—29 geboten.
4862
ſchreitet im Wachstum vor und beginnt dann zu einer be-
ſtimmten
Zeit Blüten zu tragen, dieſe zu befruchten, reifen zu
laſſen
, damit aus denſelben neue Pflanzen ſich erzeugen.
Eine
Pflanze
lebt, denn ſie beginnt, nachdem ſie den höchſten Grad
des
Wachstums erreicht hat, wieder zu zerfallen, bis ſie end-
lich
ganz und gar vergeht.
Eine Pflanze lebt, denn eine
Pflanze
ſtirbt.
Man ſagt daher mit Recht, daß Zeugung, Geburt, Er- nährung, Wachstum, Stoffwechſel, Vermehrung und Tod die
ſicherſten
Merkmale des Lebens ſind.
Das heißt, alles was
lebt
, iſt gezeugt, geboren worden, ernährt ſich, wächſt, wechſelt
den
Stoff, vermehrt ſich und verkümmert dann und ſtirbt.
All dieſe Merkmale des Lebens finden ſich an den Tieren,
und
nicht minder an dem wundervollſten der Tiere, an dem
Menſchen
.
Tiere und Menſchen führen daher ein Leben, das
dem
Leben der Pflanzen in dieſen Punkten ganz gleich iſt.
Aber es tritt bei den Tieren ſchon etwas zu dieſem Pflanzen-
leben
hinzu, und giebt ihm eine höhere Stufe des Daſeins.

Das
Tier hat Empfindung, es hat Sinne, es hat ſeinen
Willen
, und es vermag ſich nach ſeinem Willen von Ort zu
Ort
zu bewegen.
Zum Teil lebt das Tier ganz ſo wie eine Pflanze, und
zu
Zeiten iſt ſogar das Leben der Menſchen nicht höher als
das
Pflanzenleben, z.
B. im Mutterleibe, im Schlafe oder in
krankhafter
Bewußtloſigkeit.
Aber das Tier hat außer dieſem
Pflanzenleben
, das wir noch näher kennen lernen werden, eine
höchſt
wunderbare Eigenſchaft, die der Empfindung, welche ihm
1
11Hier iſt zu berückfichtigen, daß die erſten Lebeweſen, von denen
alle
übrigen nach Annahme der Deſcendenz-Theorie abſtammen, natürlich
aus
unorganiſchen Beſtandteilen entſtanden vorauszuſetzen find, wenn man
nicht
mit Preyer annehmen will, daß die Organismen nie entſtanden
find
, ſondern ſeit jeher in der Geſamtwelt vorhanden geweſen find.
4873 Kenntnis giebt vom eigenen Daſein. Die Pflanze weiß nicht,
daß
ſie exiſtiert;
das Tier weiß dies ſehr wohl. Das Tier
hat
außerdem noch Sinne;
es ſieht, es hört, es riecht, es
ſchmeckt
und fühlt und erhält dadurch Kenntnis von der Welt
umher
.
Die Pflanze weiß von ihrer eigenen Exiſtenz nichts
und
ebenſowenig, ob in der Runde irgend wie und wo eine
Welt
vorhanden iſt.
Das Tier weiß durch die Empfindung
etwas
von ſich, und durch die Sinne, durch Hören, Sehen u.
ſ. w.
etwas von der Welt.
Hiernächſt vermag das Tier das zu wollen, was ſeiner
Empfindung
wohl thut, und das zu meiden, was ſeine Em-
pfindung
verletzt.
Es hat ſeinen Willen, um zu leben, den
Tod
zu meiden und Gefahr zu fliehen.
Von einer Pflanze
ſagen
wir wohl, daß ſie dürſtet;
aber ſie weiß davon ebenſo-
wenig
etwas, wie von ihrem Wohlbefinden.
Sie verſchmachtet
ohne
Schmerz, ſie gedeihet ohne Luſt.
Sie weiß nichts von
ſich
und nichts von der Außenwelt;
d. h. die ſich wie ſelbſtändig
bewegenden
Pflanzen (es giebt niedere Waſſerpflanzen, die ſich
wie
Tiere bewegen) und freilich auch die Tiere, die keine
Nerven
oder Teile beſitzen, die unſerem Gehirn entſprechen,
haben
damit verknüpft nicht das Bewußtſein der Bewegung,
während
Tiere, die ein Gehirn beſitzen, ſich bei ihren Be-
wegungen
des bewußt ſind oder doch bewußt ſein können.
Das Tier alſo lebt zwar wie eine Pflanze; aber es hat
zu
dieſem Pflanzenleben noch die wunderbaren Zugaben, die
wir
eben angeführt haben.
Der Menſch gleicht dem Tiere.
Auch er lebt erſtens ein Pflanzenleben und hat zweitens all
die
Zugaben, die wir beim Tiere finden.
Aber er hat außer-
1
11Im Vorausgehenden und Folgenden iſt der Unterſchied der
höheren
Tiere von den höheren Pflanzen hervorgehoben, die niederen
Tiere
und Pflanzen nähern ſich in ihren Eigentümlichkeiten immer mehr
und
mehr, ſodaß hier die Unterſchiede allmählich gänzlich ſchwinden.
4884 dem eine Zugabe, die ſein Leben auf eine höhere Stufe des
Daſeins
erhebt.
Es iſt ſehr ſchwer, für dieſe Zugabe den richtigen, allge-
mein
anerkannten Namen zu finden;
denn hierüber haben die
Menſchen
am allermeiſten geſtritten.
Der eine nennt es Seele,
der
andere Vernunft, und der dritte will es gar nicht als eine
aparte
Zugabe betrachten, ſondern ſieht es nur als einen
höheren
Grad der Gaben an, welche auch das Tier beſitzt.
Dieſer Streit iſt von tiefer Bedeutung; allein für die Natur-
wiſſenſchaft
iſt es im Grunde genommen nur der Streit um
den
Namen eines Dinges, wo man das Weſen des Dinges
noch
nicht kennt.
Deshalb wollen wir uns auf den Streit um den Namen
nicht
weiter einlaſſen, ſondern uns lieber das Leben der Pflanze,
des
Tieres und des Menſchen betrachten, wie es beobachtet
wird
, und ſo weit es erkannt werden kann.
II. Die ſogenanntetote” undlebende” Natur.
Bevor wir auf die Erſcheinungen des Lebens der Pflanze,
des
Tieres und der Menſchen kommen, müſſen wir noch einen
Blick
auf die Natur im ganzen werfen, die man dietote
Natur”
nennt, um zu ſehen, in wie weit in dieſer etwas Ähn-
liches
wie in der lebenden vorkommt, und wenn dies der Fall
iſt
, um zu verſuchen, ob wir die Grenzen und die Unter-
ſchiede
zwiſchen toter und lebender Natur etwas näher zu be-
zeichnen
imſtande ſind.
Werfen wir den Blick auf das Weltall, ſo ſehen wir
Millionen
von Sternen, Millionen von Sonnen, von Welten,
die
ſcheinbar in Ruhe an ihrem Orte verharren.
Die
4895 geſchrittene Wiſſenſchaft hat aber gelehrt, daß jeder dieſer
Sterne
ſich im Raum bewege und ſeinen Ort verändere.
Da
auch
unſere Erde ſich bewegt, ſo finden wir, daß die Be-
wegung
das allgemeinſte Geſetz der Natur iſt;
und dies allein
dient
ſchon als Merkmal, daß die ganze Natur keineswegs
tot” iſt.
Gleichviel, woher dieſe Bewegung ſtammt; wir ſehen, daß
ſie
vorhanden iſt und dürfen vermuten, daß kein Ding im
großen
, unendlichen Weltall exiſtiert, welches ihrem Geſetz nicht
unterworfen
iſt.
Neben dieſem Geſetz der Bewegung, deſſen
Urſprung
unbekannt iſt, ſehen wir die Himmelskörper Licht
ausſtrahlen
in den unendlichen Weltraum, und obwohl man
die
Natur des Lichtes ebenfalls nicht genau kennt, ſo iſt es
doch
keinem Zweifel unterworfen, daß durch dasſelbe eine Ein-
wirkung
des einen Sternes auf den anderen nicht ausbleiben
kann
.
Daß das Sonnenlicht auf die Erde wirkt, daß es Wärme
auf
derſelben erzeugt, wie es Veränderungen hervorruft,
chemiſche
Stoffe zerſetzt und chemiſche Verbindungen zu Wege
bringt
, das iſt zum Teil bekannt, zum Teil in neueſter Zeit
erſt
Gegenſtand näherer Forſchung.
Daß das Licht jedes
Sternes
in ähnlicher Weiſe auf alle übrigen ſo wirke, iſt eine
vollkommen
begründete Annahme.
Es iſt alſo eine von allem
auf
alles wirkende Thätigkeit vorhanden, die zum Weſen der
ganzen
Natur gehört.
Neben dieſer ausſtrahlenden Wirkſamkeit des Lichtes hat
uns
aber die Naturforſchung noch eine Wirkſamkeit der An-
ziehung
gelehrt, die von Geſtirn zu Geſtirn thätig iſt:
und die
gründlichſten
Unterſuchungen zeigen, daß die Anziehung eine
Kraft
iſt, die allen Dingen, den kleinſten und den größten, je nach
ihrer
Maſſe zukommt.
(S. Teil III, S. 31 ff.) Das Licht geht
von
den Körpern aus nach allen Richtungen des Weltraumes
hin
;
die Anziehung wirkt ebenſo als eine Kraft, welche von dem
Körper
nach allen Richtungen des Weltraumes hin thätig iſt.
4906 Die Geſetze der Anziehungskraft gelten auf dem Erdenrund
und
genau in derſelben Weiſe in den unendlichen Räumen,
wo
Doppelſterne, zwei Sonnen ſich um einander bewegen, die
ſo
entfernt von uns ſind, daß ſie ſür unſer Auge wie ein
einziger
Stern erſcheinen, obwohl ſie viele, viele Millionen Meilen
von
einander abſtehen.
Die Anziehung alſo iſt wiederum eine
eigene
Kraft, die allen Dingen im Weltraum zukommt, und die
wiederum
eine alles umfaſſende Thätigkeit zeigt.
Auch Elektrizität und Magnetismus wirken ähnlich von
Welten
zu Welten;
ſo erklärt man z. B. jetzt die Schweif-
bildung
der Kometen durch elektriſche Beeinfluſſung (meiſt Ab-
ſtoßung
) ſeitens der Sonne;
aber ſehen wir auch hiervon ab,
ſo
finden wir, daß die drei ſicheren Thatſachen, die eigene Be-
wegung
durch den Raum, die Ausſtrahlung des Lichtes und
die
Kraft der Anziehung hinreichend ſind, um die Natur im
ganzen
und allgemeinen als thätig und die einzelnen Himmels-
körper
als gegenſeitig auf einander einwirkend zu bezeichnen.
Wenden wir uns von den Himmelsräumen zurück zur
Erde
und ſehen wir hier, wie oben gezeigt, daß dieſer unſer
Wohnſitz
ſelber eine Geſchichte der Entwickelung beſitzt;
wie er
ſich
nach und nach umgeſtaltet hat;
beobachten wir, wie er
fortwährend
in Bewegung um die Sonne, in Umdrehung um
die
eigene Achſe iſt, wie die Luft, die ihn umgiebt, in
ewigen
, eigenen Bewegungen begriffen, die Gewäſſer über-
und
unterirdiſch fortwährend ſtrömend, fortwährend verdunſtend
ſind
, wie Gebirge entſtehen und vergehen, wie Felſen
ſelbſt
in Wanderungen und das All in Wandelungen begriffen
iſt
beobachten wir, wie Pflanzen, Tiere und Menſchen
nimmer
leben würden ohne dieſe Thätigkeit der Erde;
ſehen
wir
, was die Wiſſenſchaft ganz unzweifelhaft gemacht
daß
die Geſchichte der Entwickelung der Erde, die Geſchichte
der
Entwickelung der Pflanzen-, Tier- und Menſchenwelt in
ihrem
Beſtehen bedingt, ſo werden wir darauf geführt,
4917 Thätigkeit der Erde ſelber in weiterem Sinne als eine Lebens-
thätigkeit
zu bezeichnen, und den Ausſpruch zu thun, daß
Pflanzen-
, Tier- und Menſchenleben, obwohl ſie ganz anders
zur
Erſcheinung kommen, doch im innigſten Einklang mit dem
Erdleben
ſelber ſtehen.
Indem wir nun in einer Reihe von Abſchnitten das Leben
der
Pflanze, des Tieres und des Menſchen genauer betrachten
werden
, hoffen wir, daß unſere Leſer es uns verzeihen, wenn
wir
die ſchwachen Fäden des Zuſammenhanges vorerſt zeigen,
um
dann auf den feſtern Boden der Unterſchiede, die zwiſchen
der
toten” undlebenden” Natur herrſchen, übergehen zu
können
.
Leider werden wir vorerſt ein klein wenig weiter
philoſophieren
müſſen;
aber wir werden es kurz machen und
dabei
ſtets eingedenk ſein, daß die Philoſophie gerade dort
anfängt
, wo die exacte Wiſſenſchaft aufhört, oder richtiger:
wir
Menſchen
philoſophieren immer nur über die Dinge, über
welche
wir uns in Unwiſſenheit befinden.
III. Tod und Leben.
Wenn wir den Zuſammenhang des Erdlebens mit dem
Leben
der Pflanze, des Tieres und ebenſo des Menſchen be-
trachten
, ſo drängt ſich vor allem folgende Bemerkung auf:
Der Stoff, woraus der Körper der Pflanze, des Tieres
und
auch des Menſchen gebaut iſt, iſt auch derſelbe Stoff,
der
der Erde angehört.
Man kann eine Pflanze, ein Tier und ebenſo den menſch-
lichen
Leib auf chemiſche Weiſe zerlegen und jeden überzeugen,
daß
ihr Baumaterial aus der Erde entnommen iſt, wie es der
Erde
naturgemäß auch wieder zufällt.
Ein Kilo Pflanze oder Tierſtoff hat eine gewiſſe
4928 Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff in ſich, außer-
dem
findet ſich etwas Schwefel, Phosphor, Kalk, Eiſen, und es
finden
ſich noch andere im gewöhnlichen Leben weniger be-
kannte
Stoffe vor.
Der Chemiker kann aus dem Kilo Pflanze
oder
Tierſtoff all dieſe Stoffe wieder herſtellen, und nimmt er
ſie
alle zuſammen und wiegt ſie, ſo findet ſich, daß ſie zu-
ſammen
genau ein Kilo ſchwer ſind, ſodaß in der lebenden
Pflanze
, dem lebendigen Tierſtoff nichts weiter als dieſe Stoffe
vorhanden
waren.
Dem Stoffe nach gehören die Pflanzen wie die Tiere der
Erde
an, und es kehren auch dieſe Stoffe wieder nach dem
Tode
des lebenden Weſens zur Erde zurück.
Da nun die Geſchichte der lebenden Weſen erweislich viele
Millionen
Jahre ſchon währt und gewährt hat, ſo kann man
den
Gedanken faſſen, daß aller Sauerſtoff, aller Stickſtoff, aller
Waſſerſtoff
, aller Kohlenſtoff u.
ſ. w. vielleicht ſchon einmal
gelebt
hat, wie, daß all das, was wir jetzt noch als ſolche
Stoffe
ſehen, einmal leben wird.
Zwar giebt es viele Stoffe in der Erde, die man in
Pflanzen
und Tieren noch nicht gefunden hat;
man würde
alſo
, wenn man dieſen Gedanken verfolgt, ſagen müſſen, daß
die
Erde aus Stoffen beſteht, von denen nur ein Teil lebende
Form
und Weſen annehmen kann.
Indeſſen iſt die Forſchung
hierüber
nicht abgeſchloſſen.
Man fand in neuerer Zeit, daß
Kupfer
ebenſo wie Eiſen in einem großen Teil unſerer Gemüſe,
z
.
B. im gewöhnlichen Küchen-Spinat, vorhanden iſt. Man
hat
auch in gewiſſen Pflanzen Zink entdeckt.
Die Zahl der
Stoffe
, die nicht in Pflanzen und Tieren vorkommt, ſchmilzt
immer
mehr zuſammen.
Wenn es aber auch unter den etwa
ſiebenzig
chemiſchen Urſtoffen noch eine Reihe derſelben giebt,
die
man vergebens im Reiche des Lebens ſucht, ſo müſſen
wir
bedenken, daß wir den Pflanzenreichtum der Vorwelt wenig
kennen
und den der Nachwelt nicht zu ahnen vermögen.
4939 dem Tierreich iſt dies in noch größerem Maße der Fall.
Der Gedanke alſo, daß alle Stoffe der Erde lebensfähig ſind,
läßt
ſich mindeſtens nicht dadurch widerlegen, daß wir nicht
alle
Stoffe in den gegenwärtigen lebenden Weſen vorfinden.
Welch ungeheuere Maſſen aber, die man zur toten Natur
zählt
, teils einmal gelebt haben, teils noch wirklich leben
davon
geben ungeheuere Kalk- und Kreidegebirge und ganze
Schichten
von Diatomeenlagern Zeugnis.
Viele Kalk- und alle Kreidegebirge, die ſich meilenweit
über
die Erde erſtrecken, ſind nach den ſicherſten Forſchungen,
wie
wir früher geſehen haben, nichts als eine Anſammlung der
Gehäuſe
, Schalen von Tierchen, die einſt gelebt haben.
Wie
die
weichen Schnecken, wenn ſie ſterben und verweſen, ihr Haus,
ihre
Schale, ihr feſtes Gerüſt zurücklaſſen, das ſich während
ihres
Lebens aus den Säften ihres Leibes, aus ihrem Blut
gebildet
hat, ebenſo ſind Kalk- und Kreidegebirge nichts als
ſolche
Reſte, die einmal gelebt oder doch lebenden Weſen ge-
dient
haben.
Der Kalk an unſeren Häuſern hat alſo, kann
man
ſagen, einmal gelebt, die Kreide, mit der wir ſchreiben,
hat
gelebt.
Mit Hilfe eines guten Mikroſkops kann man ſich
hiervon
überzeugen.
Vielleicht waren die Stoffe, die in
dem
jetzt lebenden Menſchengeſchlecht das Baumaterial des
Leibes
ausmachen, einmal die Speiſe derſelben Tiere, deren
Reſte
wir jetzt wie tote Maſſen anſehen!
Ganze große Erdlagen, die wir ſeit jeher als toten Erd-
boden
betrachten, und auf dem wir herumwandeln, Gärten
pflanzen
und Häuſer bauen, beſtehen andererſeits aus den
Schalen
abgeſtorbener, mikroſkopiſcher Pflanzen.
Die Unter-
ſuchungen
Ehrenbergs (1795—1876) haben gezeigt, daß die
Karlſtraße
in Berlin auf einem ſolchen Lager ſteht, ja daß
die
ganze Luiſenſtadt auf demſelben Boden gebaut iſt.
Ganze Inſeln beſtehen aus Korallenriffen, und dieſe Riffe
ſind
die Skelettteile lebender Tiere, der Polypen, die dieſe
49410 aus dem Blute ihres Leibes bilden. Solche Riffe, die meilen-
weit
das Meer durchziehen, und an denen Schiffe zerſchellen
und
Schiffer ihren Tod finden, ſind alſo ſelber Geſtaltungen
des
Lebens!
Selbſt harte Kieſel löſen ſich auf und gehen in Pflanzen
ein
, um in ihnen zu leben und in feiner Verteilung an den
Rändern
z.
B. der Gräſerblätter zu erſcheinen, welche in die
Finger
ſchneiden, wenn man über ſie hinfährt.
Mit einem Worte: die toten Stoffe werden in lebende
umgewandelt
, die lebenden in tote.
Das Baumaterial des
Lebens
iſt das Baumaterial der Erde ſelber, die man tot
nennt
.
Daß lebende und tote Natur dem Stoffe nach im
innigſten
Zuſammenhang ſtehen, iſt unbeſtreitbar.
Dies haben
die
älteſten Dichter ſchon geahnt, die dem Menſchen entgegen-
rufen
:
aus Staub biſt Du geworden, zum Staube ſollſt Du
werden
.
Dies beſtätigen auch Männer der Wiſſenſchaft, von
denen
einer, der eben genannte Ehrenberg, einmal die Äuße-
rung
gethan hat, daß möglicherweiſe alles, was wir toten Stoff
nennen
, nichts als Reſt einſtigen Lebens iſt.
IV. Die Stufenreihen des Lebens.
Dem Stoffe nach iſt, wie wir geſehen haben, das, was
lebt
, im innigen Zuſammenhang mit den nicht lebenden Stoffen
der
Erde.
Wir wiſſen, daß aus nicht lebenden Stoffen Weſen
entſtehen
, welche die Merkmale des Lebens an ſich tragen, und
ſehen
auch, daß lebende Weſen zerfallen und zu nicht lebenden
Stoffen
werden.
Fragen wir uns aber: wie und wodurch entſteht Leben
aus
Lebloſigkeit?
ſo geſteht die ſtrenge Wiſſenſchaft, daß
49511 hierauf eine Antwort nicht zu geben vermag. Wir finden uns
hier
noch mehr auf das Feld der Vermutungen hingewieſen
und
erhalten als Führer auf dieſem unſichern Felde nur leiſe
Fingerzeige
aus der Natur.
Wir wollen indeſſen bis auf lichtvollere Zeiten der Wiſſen-
ſchaft
hin den Schritt auf dieſem Gebiete verſuchen und die-
jenigen
ſchwachen Spuren verfolgen, die uns zu leiten im-
ſtande
ſind.
Die Erde iſt keine tote Maſſe, ſondern eine fortwährend
thätige
Welt.
Ihre Stoffe ſind es eben, welche zeitweiſe Leben
erhalten
, und ihre Thätigkeit iſt es, welche das Leben nur
möglich
macht.
Fragen wir nun: Sind die Kräfte dieſer Thätig-
keit
, ſoweit wir ſie kennen, ausreichend, um eine Pflanze zu
erzeugen
, wenn keine vorher beſtanden hätte?
ſo müſſen wir
dies
zwar für den jetzigen Zuſtand des Erdenlebens mitNein!
beantworten
.
Zum Entſtehen einer Pflanze iſt, ſoweit unſere
Erfahrung
reicht, ein Keim einer vorher dageweſenen Pflanze
nötig
.
Soweit uns die Beobachtung lehrt, geht jetzt eine
Pflanze
nur aus einem Keim hervor, der vorher einer Mutter-
pflanze
angehört hat.
Ein Gleiches iſt mit der Entſtehung der
Tiere
der Fall.
Allein es ſchließt dieſe Antwort nicht die
Möglichkeit
aus, daß die Erde in der Geſchichte der Entwicke-
lung
ihres Lebens, von welcher wir ſehr bedeutſame Spuren
entdecken
, einmal eine Zeit durchgemacht habe, in welcher ſie
ſelbſt
Pflanzenkeime und Keime tieriſcher Natur zu erzeugen
imſtande
geweſen iſt.
Wir werden ſpäter noch ſehen, daß gegenwärtig die Pflanzen
die
Kunſt verſtehen, aus ſogenannten unbelebten Stoffen, aus
Kohlenſäure
, aus Waſſer und aus Salzen belebte Materie,
Pflanzenteile
zu bilden.
Kohlenſäure, Waſſer und Salze ſind
die
Speiſe der Pflanze, ſie ſind das Baumaterial, aus welchem
die
Pflanzen den eignen Leib geſtalten.
Bedenken wir hierzu,
was
wir früher ſchon geſehen haben, daß Tiere eben
49612 Pflanzen ſich ernähren, daß alſo ihr Leib eigentlich ver-
wandelte
Pflanze iſt, ſo ſieht man eine Stufenfolge der Ent-
wickelung
des Lebens.
Aus Kohlenſäure, Waſſer und Salzen
wird
Pflanze;
aus Pflanze wird tieriſcher Körper aufgebaut.
Iſt dem aber ſo, ſo darf man nicht überſehen, wie in dieſe
Stufenfolge
auch die Thätigkeit des Erdlebens mit hineingehört.
Unſeres Erachtens hat man in der Wiſſenſchaft zu wenig
Wert
auf den Umſtand gelegt, daß die Pflanze im allgemeinen
nicht
imſtande iſt, einfache Stoffe zu genießen, ſondern ihre
Speiſe
nur in einer Paarung aufnimmt.
Kohlenſäure beſteht
aus
zwei Stoffen, welche die chemiſche Kraft ſchon gepaart hat,
aus
Kohlenſtoff und Sauerſtoff;
Waſſer beſteht aus einer gleichen
Paarung
von Waſſerſtoff und Sauerſtoff;
die Salze ſind gleich-
falls
Verbindungen, und zwar ſind die Salze, die Stickſtoff,
Schwefel
u.
ſ. w. enthalten, beſonders wichtig für die Pflanzen-
ernährung
.
Obwohl die Pflanze in der Luft exiſtiert, in welcher
ſie
reichlich Stickſtoff und Sauerſtoff vorfindet, vermag ſie doch
nicht
dieſe ungepaarten, chemiſch nicht verbundenen Stoffe allein
zu
genießen;
ſie ſtirbt ab in der Luft, in welcher keine Kohlen-
ſäure
enthalten iſt.
Die bloßen Stoffe ſind nicht imſtande als
Speiſe
in die Pflanze einzugehen, die Stoffe müſſen erſt durch
eine
eigene Kraft, durch eine eigene Thätigkeit, durch einen
chemiſchen
Vorgang hierzu vorbereitet werden.
In dieſem Sinne könnten wir die chemiſche Paarung als
die
erſte Stufe in der Stufenfolge des Lebens bezeichnen.
Durch chemiſche Vorgänge werden dann die vereinzelten Stoffe
ſo
verarbeitet, daß die Pflanze ſie als Speiſe aufnehmen kann,
oder
richtiger, daß die Stoffe ein höheres Leben annehmen und
Pflanze
werden.
Die Pflanze wird zur Nahrung der Tiere,
das
heißt, die zweite Stufe des Lebens geht in eine noch höhere
über
;
und der Menſch baut ſeinen Leib aus Pflanzen- und
Tierſtoffen
auf, das heißt, dieſelben Stoffe nehmen im Menſchen
die
gegenwärtig höchſte Stufe des Lebens an.
49713
Dies wäre der freilich lückenhafte, aber doch immerhin
naturgemäße
Faden, der bis zur höchſten Stufe, dem Leben
des
Menſchen, zu führen imſtande wäre.
Doch es iſt Zeit, daß wir das Reich der Vermutungen
und
des Philoſophierens verlaſſen und zur Wiſſenſchaft zurück-
kehren
, die uns bald ſicherern und beſſer begründeten Boden
geben
wird.
V. Die einfachſten Pflanzen.
In Teil I und ſpäter haben wir auf den zelligen Bau
der
Pflanzen aufmerkſam gemacht, das iſt zum Verſtändnis
des
Folgenden feſtzuhalten und gründlich noch einmal nach-
zuleſen
.
Wenn, wie wir dort geſehen haben, ſchon der innere Bau,
in
ſeinen kleinſten Teilen, das, was man das Gefüge nennt,
einen
weſentlichen Unterſchied ausmacht bei lebenden und nicht-
lebenden
Stoffen, ſo iſt endlich die Anordnung der Teile zum
Ganzen
als der hauptſächlichſte Unterſchied anzuſehen.
Wie mag nun wohl die einfachſte aller Pflanzen be-
ſchaffen
ſein?
Die Unterſuchungen über den Bau der Pflanzen und über
die
Rolle, welcher jeder Teil im Leben der ganzen Pflanze zu
ſpielen
hat, konnten erſt geführt werden, nachdem man das
Vergrößerungsglas
, das Mikroſkop, zu jener Feinheit aus-
gearbeitet
hatte, daß mit demſelben die außerordentlich zarten
Gewebe
, woraus die Pflanze gebaut iſt, deutlich geſehen werden
können
.
Durch das Mikroſkop vermag man jetzt zu ſehen,
wie
die einfachſte Pflanze aus einer einzelnen Zelle beſteht,
wie
höhere Gattungen von Pflanzen aus einer Sammlung von
ſolchen
Zellen entſtehen, und wie ſelbſt die tauſendjährige
49814 auch nur eine Unzahl äußerſt kleiner Zellen iſt, die in eigen-
tümlicher
Weiſe aneinandergefügt ſind.
Der Unterſchied zwiſchen den Pflanzen, die nur als Einzel-
zelle
exiſtieren und den entwickelteren, größern und größten be-
ſteht
nur darin, daß die Pflanze, die als einzelne Zelle lebt,
ſofern
es ſich um die mikroſkopiſchen, einzelligen Pflanzen han-
delt
, noch nicht jene Teilung der Arbeit aufweiſt, welche wir
bei
den höhern Pflanzen finden;
in einer entwickelteren Pflanze
vereinigen
ſich ſchon mehrere Zellen zu einem gemeinſamen
Zweck
.
In den entwickeltſten Pflanzen, wie in den Bäumen
z
.
B. , iſt die Zahl der Zellen unzählbar groß, ihre Organi-
ſation
iſt bei weitem vorgeſchrittener, die Teilung der Arbeit
iſt
noch ausgeſprochener.
Das einfachſte Pflanzengebilde iſt eine Zelle, und es giebt
Zellen
, die man als eine Pflanze für ſich betrachten darf.
Pflänzchen dieſer Art ſind im Waſſer ſehr zahlreich anzutreffen;
unter
den Algen und Pilzen kommen einzellige Arten vor.

Viele
Algen beſtehen aus mehreren, untereinander gleichartigen
Zellen
;
ſie wachſen im Waſſer, auf Steinen, auf der Erde.
Wenn der Landmann über die ſchlechten Ausſichten der
Ernte
klagt, ſo weiſt er oftmals auf den ſogenanntenRoſt”
und
Brand” des Getreides hin, der das Korn nicht ausreifen
läßt
.
DieſerRoſt” undBrand” ſieht ſich an der Ähre des
wachſenden
Getreides in der That wie ein feiner Staub von
Eiſenroſt
oder wie ein zarter Überzug von ausgebrannter Torf-
aſche
an.
Man kann mit den Fingern dieſen feinen Hauch ab-
wiſchen
;
aber er kehrt gar ſchnell wieder und überzieht die
koſtbare
Frucht von neuem.
Was iſt dieſerRoſt”, dieſer
Brand”?
Er iſt ein Pflänzchen, das millionenfältig auf den Ge-
treidepflanzen
ſitzt;
es ſind feine Zellenfäden, von denen jeder
eine
Pflanze für ſich auf der großen Pflanze wächſt und ſich
auf
Koſten der Getreidepflanze ernährt.
Man nennt das
49915 ſcheinen ſolcher fremder Pflanzen auf einer andern Pflanze eine
Krankheit
derſelben.
Die Weintrauben leiden oft daran, und
das
Mikroſkop hat auch an den Kartoffelſtauden dieſe unge-
betenen
Gäſte als die Quelle der ſo beklagenswerten Kartoffel-
krankheit
nachgewieſen.
Baumſtämme, Schindeldächer, Steine an Brunnen, Zäune,
ja
ganz hohe Felſen ſind oft von einem äußerſt feinen, grünen
oder
gelblichen Staub bedeckt, der ſich am Morgen und Abend
namentlich
kühl und ſchlüpfrig anfaßt.
Woraus beſteht dieſer
Überzug
?
Es ſind oft einzellige Pflänzchen, die hier millionenfach
wachſen
, von denen einzelne Gattungen nicht einmal ein Fädchen
als
Wurzel haben, ſondern bloß als Zelle, als äußerſt feines
Bläschen
aufliegen und durch deſſen Wand hindurch die Nah-
rung
in ſich aufnehmen.
Über Himbeerſaft, Kirſchſaft, Pflaumenmuß, wie über Obſt-
ſorten
und ſonſtige Speiſen bildet ſich oft trotz der Vorſicht
der
Hausfrauen ein feiner Schimmel, ein graues, wunderliches
Gewebe
, das dem bloßen Auge ſchon als feine Fäden erſcheint,
an
deren Spitze ſich zarte Knoten befinden.
Auch dies iſt
nichts
als eine Pflanze, eine Pflanze, die aus einer einzigen
Zelle
beſteht oder aus einem Faden untereinander ganz gleich-
artiger
Zellen.
Sie wachſen ſelbſt im Tintenfaß, das man
eine
Zeit nicht benutzt hat;
ſie erſcheinen auf Kleidern als ſo-
genannte
Stockflecke” und ſelbſt an Häuſern als Mauerfraß.
Durch das Mikroſkop hat man all die Gebilde, die man
mit
bloßem Auge nur dort erkennt, wo ſie bereits millionen-
fach
bei einander erſcheinen, näher als winzige Pflanzen kennen
gelernt
.
Man hat die unzähligen Gattungen möglichſt geordnet
und
auch das Leben, die Lebenserſcheinung und Lebensgeſchichte
dieſer
einfachſten der Pflanzen näher zu erforſchen vermocht.
50016
VI. Die Einzelzelle.
Wie lebt ein ſo feines Pflänzchen, das nur aus einer
einzigen
Zelle beſteht?
Um dies zu beantworten, müſſen wir auf den Bau der
Zelle
näher eingehen und beſonders auf eine eigentümliche
Kraft
aufmerkſam machen, welche nicht nur bei den Pflanzen,
ſondern
auch im Tierleben eine äußerſt wichtige Rolle ſpielt.
Eine Zelle beſteht meiſt aus einem Häutchen, das wie
eine
Blaſe inwendig hohl iſt.
In der erwachſenen Pflanzen-
zelle
iſt die innere Höhlung mit einer feinen Tapete ſchleimig-
flüſſiger
Subſtanz, die man Protoplasma nennt, ausgekleidet,
die
das eigentlich lebensthätige Organ iſt.
Das äußere Häutchen
iſt
gewiſſermaßen die ſchützende Schale dieſer innern Tapete,
wie
etwa eine geſchloſſene Muſchel die Schale eines lebenden
Tieres
iſt.
Der innere Raum der Zelle iſt mit einer waſſer-
hellen
Flüſſigkeit gefüllt, die man als den Saft der Pflanze,
als
ihren Nahrungsſaft, als ihr Blut gewiſſermaßen bezeichnen
kann
, und durch dieſen Zellſaft ſind Stränge von Protoplasma
ausgeſpannt
.
Eine ſolche einzelne Zelle hat in ihrer einfachſten Geſtalt
die
Kugelform;
aber wenn zwei derſelben aneinander liegen,
ſo
ſind ſie an der Berührungsſtelle platt, und es ſehen zwei
Zellen
, die ſo aneinander liegen, wie zwei Seifenblaſen aus, die
aneinder
hangen, was wohl jedermann ſchon öfter geſehen haben
wird
.
Legen ſich nun an eine Zelle von allen vier Seiten und
ebenſo
oben und unten neue Zellen an, ſo iſt die mittelſte Zelle
von
ſechs Nachbarzellen eingeſchloſſen und flach gedrückt, und
dadurch
erſcheint die Zelle nicht mehr rund, ſondern wie eine
Art
Würfel mit runden Ecken und ſechs Flächen.
Bei noch größerer Anhäufung der Zellen nehmen ſie alle
dieſe
von allen Seiten flachgedrückte Geſtalt an;
ſie
50117 in ihrer Geſtalt dem Haufen Seifenblaſen, welche entſtehen,
wenn
man ein Röhrchen ins Seifenwaſſer hineinſteckt und ſo
ins
Waſſer Luft hineinbläſt.
Dies iſt indeſſen nur der Fall bei Pflanzen, die aus einer
Bildung
vieler Zellen beſtehen;
bei Pflanzen, die nur von
einer
Einzelzelle gebildet werden, bleibt meiſt die Kugelgeſtalt,
höchſtens
entwickelt ſich hieraus die Eiform oder die länglichere
Form
.
Wie aber dringt die Nahrung einer ſolchen Zelle in ihr
verſchloſſenes
Innere?
Hierauf antwortet die Wiſſenſchaft mit einer Lehre, welche
von
der höchſten Wichtigkeit iſt, und die man durch folgenden
Verſuch
leicht deutlich machen kann.
Füllt man eine Tierblaſe mit Waſſer, bindet dieſe feſt zu
und
legt ſie in ein Gefäß mit Salzwaſſer oder Zuckerwaſſer
oder
überhaupt mit Waſſer, in welchem irgend ein Stoff auf-
gelöſt
iſt, ſo zeigt es ſich nach einiger Zeit, daß durch die Wand
der
Tierblaſe hindurch ein Austauſch der beiden Flüſſigkeiten
ſtattgefunden
hat;
und zwar iſt dieſer Austauſch derart, daß
die
leichtere Flüſſigkeit, z.
B. das reine Waſſer, in größerer
Maſſe
durch die Wand geht, um in die dichtere Flüſſigkeit zu
gelangen
, während die dichtere Flüſſigkeit, z.
B. das Salzwaſſer,
in
geringerer Portion ſich in die Blaſe hineinbegiebt.
War
die
Blaſe, als man ſie ins Gefäß legte, voll und prall, ſo
wird
ſie nach einiger Zeit ſchlaff erſcheinen;
denn es hat nicht
nur
ein Austauſch der Flüſſigkeiten ſtattgefunden, ſondern es
iſt
mehr Flüſſigkeit aus der Blaſe ins Gefäß getreten als um-
gekehrt
.
Man nennt dieſe Erſcheinung, wie wir ſchon früher in
Teil
V ſahen, dieEndosmoſeoderDiffuſion“, und er-
klärt
ſie durch die Anziehung, welche die Tierblaſe auf beide
Flüſſigkeiten
ausübt und durch den Austauſch, welcher in den
feinſten
, die Tierblaſe durchziehenden Kanälchen ſtattfindet.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
50218
Dieſe Art Durchdringung der Tierhaut ſpielt bei der Er-
nährung
der Tiere und des Menſchen die wichtigſte Rolle.
Vom Munde der Tiere bis zum Darm und ſeiner untern
Öffnung
iſt nämlich nirgend eine Seitenöffnung, die in den
Körper
hineinführt, ſo daß eigentlich die aufgenommene Speiſe
in
einen Schlauch gelangt, welcher durch keine einzige Öffnung
mit
dem eigentlichen Körper in Verbindung ſteht.
Aber die
Speiſen
, die im Magen und Darm zu einem Saft, zu einer
Flüſſigkeit
verarbeitet werden, gehen durch dieEndosmoſe”
in
feine Kanälchen über, die um den Darm herumliegen, und
die
den Saft ins Blut führen.
Wäre die Kraft der Endos-
moſe
nicht vorhanden, ſo würde alle Speiſe den Darm
wiederum
verlaſſen, ohne das Blut zu erneuern und den Körper
zu
ernähren.
Ganz ſo wie eine Tierblaſe, wirkt auch die Pflanzenzelle.
Sie iſt ein Bläschen, mit Flüſſigkeit gefüllt, das oft nur einzeln
an
einer andern Pflanze anliegt.
Hier an dieſer Stelle be-
rühren
ſich zwei Zellenwände, die Wand der größern Pflanze
mit
der Wand der kleinen Zelle, die auf ihr ruht, und die
Ernährung
dieſer kleinen Zelle geſchieht in der Weiſe, daß die
Säfte
ſich durch die Wände austauſchen und lebensfähige
Flüſſigkeit
aus der großen Pflanze in die kleine Zellen einzieht.
Eine ſolche Zelle pflanzt ſich, wie wir ſehen werden, fort
und
gebärt neue Zellen, die gleichfalls an der größeren Pflanze
zehren
, und auf dieſe Weiſe überzieht derRoſt” oderBrand”
in
verderblicher Weiſe das Getreide, die Weintraube, die Kar-
toffel
;
ja ſogar auf Tieren leben ſolche Zellen, wie denn die
Seidenzucht
viel zu leiden hat von einer ähnlichen Pflanze,
der
Muskardine”, welche ſich auf die Eier der Seidenraupe
ſetzt
und viele derſelben hinrafft.
50319
VII. Wachstum und Verbreitung der Einzelzelle.
Das beſondere Merkmal des Organiſchen zeigt ſich auch
hier
in der Einzelzelle.
Wie wir geſehen haben, dringt die
Nahrung
der Zelle durch die Wand derſelben ein, und iſt bei
dieſem
Eindringen eine Kraft thätig, die man die Endosmoſe
nennt
;
aber in Folge dieſer Kraft tritt eine Erſcheinung hervor,
die
außerordentlich ſchwierig zu erklären iſt;
wir meinen das
Wachſen
der Zelle.
So klein auch eine völlig ausgewachſene Zelle einer
Schimmel-Pflanze
iſt, ſo läßt ſich doch an ihr beobachten, daß
ſie
, durch die Nahrung angeregt, wächſt, das heißt:
es nehmen
alle
ihre Teile gleichzeitig an Umfang und Inhalt zu.
Für den erſten Augenblick könnte es ſcheinen, als ob dies
ganz
einfach und natürlich wäre.
Man könnte behaupten, daß
die
Nahrung, welche durch die Wand der Zelle eindringt, eine
Ausdehnung
derſelben zur Folge haben müſſe.
Die dehnbare
Haut
der Zelle vergrößere ſich etwa ſo, wie ein dehnbarer
Beutel
an Umfang zunimmt, je mehr man hineinſtopft.
Allein
es
iſt mit dem Wachstum doch etwas anders.
Wäre die Haut
der
Zelle nur dehnbar, ſo würde ſie bei der Vergrößerung
dünner
werden müſſen, wie etwa ein Stück Gummi dünner
wird
, wenn man es dehnt.
Das iſt aber nicht der Fall. Die
Haut
nimmt an Dicke ebenſo wie an Umfang zu, und das läßt
darauf
ſchließen, daß hier nicht eine bloße Ausdehnung, ſondern
eine
Fabrikation thätig iſt, welche auch den eindringenden Saft
umwandelt
und aus ihm all’ die einzelnen Gebilde der Zelle
erſchafft
.
Moritz Traube hat eine Reihe von intereſſanten Ver-
ſuchen
über das Bilden und Wachſen künſtlicher Zellen ver-
öffentlicht
, die zwar keine Erklärung, aber ein deutliches Bild
von
dem Vorgange des natürlichen Wachſens geben, die wir
daher
unſeren Leſern kurz mitteilen wollen.
50420
Er taucht einen an einem Glasſtabe hängenden Tropfen
von
gewöhnlichem, flüſſigen Leim in eine verdünnte Auflöſung
von
Gerbſäure.
Überall nun, wo dieſe beiden Flüſſigkeiten
ſich
berühren, entſteht bekanntlich der lederartige, unlösliche,
gerbſaure
Leim.
Hier alſo bildet ſich eine vollſtändige Haut
von
Leder rings um den flüſſigen Leimtropfen, oder eine künſt-
liche
Zelle, deren Inhalt aus Leim, und deren Haut aus Leder
beſteht
.
Dieſe künſtliche Zelle verſteht nun ganz vorzüglich das
Kunſtſtück
, zu wachſen.
Sie wird immer größer, aber nicht
durch
bloße Ausdehnung, ſondern die Haut der künſtlichen
Zelle
wird auch gleichzeitig dicker, ganz ſo, wie beim Wachſen
der
natürlichen Zellen die Haut an Dicke zunimmt.
Traube giebt für dieſe Erſcheinung folgende Erklärung:
Der gerbſaure Leim, oder das Leder, beſitzt ſo kleine
Poren
, daß weder Leimteilchen, noch die Atome der Gerbſäure
durch
ſie hindurchtreten können.
Sowie daher der Leimtropfen
beim
Eintauchen in die Gerbſäure eine Lederhaut bekommen
hat
, ſind die beiden Flüſſigkeiten von einander abgeſperrt und
können
ſich nicht mehr mit einander verbinden.
Aber das
Waſſer
, deſſen Atome klein ſind, kann noch durch die Poren
der
Lederhaut in das Innere der künſtlichen Zelle dringen,
und
dehnt die Haut etwas aus.
Die Folge davon iſt, daß die
Poren
der Zellhaut weiter werden.
Nun vermag in jede Pore
von
außen ein Gerbſäureteilchen und von innen ein Leimteilchen
zu
treten.
Sie treffen ſich in der Pore und bilden ein ganz
kleines
Stückchen Leder, das die Öffnung verſtopft und die Zell-
haut
vergrößert.
Nun kann wiederum weder Gerbſäure noch Leim durch die
Haut
treten, wohl aber das aus kleineren Teilchen beſtehende
Waſſer
.
Die Haut wird wiederum durch die Endosmoſe des
Waſſers
ausgedehnt, und die Poren werden abermals ſo er-
weitert
, daß ein bißchen Gerbſäure und ein wenig Leim
50521 eintreten, ſich verbinden und die Löcherchen der Haut durch
neuentſtandene
Lederteilchen verſtopfen.
So wächſt die künſtliche Zelle fortwährend weiter. Der
Inhalt
wird durch Endosmoſe, die Haut durch Hineinlagern
kleiner
Lederteilchen in die Poren vergrößert, und es nehmen
hier
alſo Inhalt und Zellhaut gleichmäßig an Umfang und
Dicke
zu.
Daß dies keine Erklärung, ſondern nur ein Bild für den
unerklärten
Vorgang des Wachstums ſein ſoll, das müſſen wir
nochmals
hervorheben, denn wir werden, ohne weit zu ſuchen,
ſchon
den großen Unterſchied zwiſchen dieſem Vorgang und dem
wirklichen
Zellen-Leben in der einen Thatſache erkennen, daß
die
Pflanzenzelle nur bis zu einer beſtimmten Größe wächſt
und
dann ein ganz anderes Geſchäft beſorgt, das einer ſolch’
künſtlichen
Lederzelle nicht im Traume in den Sinn kommen kann.
Die Pflanzenzelle, wenn ſie eine gewiſſe Größe erreicht
hat
, hört auf weiter zu wachſen und fabriziert etwas ganz
Neues
.
Entweder bildet ſie eine zweite Zelle aus, wie wir
dies
noch ſehen werden, oder ſie bildet Samen aus, wie es in
der
einzelligen Pflanze der Fall iſt, die wir eben betrachten.
Nehmen wir z. B. die gewöhnliche Schimmel-Pflanze an, ſo
zeigt
ſich an ihr, daß ſich die Zelle in ihrem höchſten Wachstum
wie
eine Art Pilz-Kopf ausbildet, in deſſen oberer Hälfte ſich
bei
der Reife eine Art feiner Pünktchen anſetzen, die bald zu
einem
Samenkörnchen werden.
Und ehe man ſich verſieht,
ſchleudert
die Zelle mit einer gewiſſen Kraft die Keim-Körnchen,
welche
manSporen” nennt, von ſich und bildet eine feine
Staubwolke
, die ſich dann auf die Umgebung der erſten Zelle
niederläßt
.
Jedes Sporen-Körnchen iſt aber eine ſehr kleine Zelle,
die
, wo ſie ſich anlegt, neue Schimmelpflanzen bildet.
Daher
ſieht
man den Schimmel, wenn er eben erſt entſteht, wie in
feinen
Faſerchen verteilt, wo ſich junge Kolonien anpflanzen.
50622
Die Sporen werden aber auch von der Luft fortgetragen
und
ſchweben zu Millionen und Millionen allenthalben umher.
Sie gelangen ſo an Orte, wo ſie als unwillkommene Gäſte ihr
Unweſen
treiben.
Sie verbreiten ſich über dem Waſſer und
pflanzen
ſich allenthalben an, wo ſie Boden für ihre Ernährung
finden
, während viele, viele Millionen unbeachtet abſterben, ſo-
bald
ſie auf Stellen gelangen, wo ſie keine Nahrung vorfinden.
VIII. Wie die Pflanzen wachſen.
Das Protoplasma der Pflanzenzelle iſt nicht nur thätig,
das
eigne Leben, vor allem das Leben der Geſamtpflanze zu
erhalten
, ſondern beſorgt auch das Geſchäft der Fortpflanzung
auf
eigne Weiſe.
In der Pflanze, die nur aus einzelnen Zellen
beſteht
, bildet das Plasma dieSporen” aus, die Keime, aus
denen
die neue Generation hervorgeht.
Bei Pflanzen indeſſen,
welche
aus einer Zuſammenſetzung mehrerer aneinander ge-
ſchloſſenen
Zellen beſtehen, iſt die Erzeugung der Keime eine
ſehr
viel verwickeltere:
wir haben ſie ausführlich in Teil I be-
ſprochen
.
Um nun das Wachstum der Pflanzen aus dem Keim ſtu-
dieren
zu können, wollen wir annehmen, daß wir den Samen
einer
hochorganiſierten Pflanze, z.
B. eines Salats, in die Erde
geſteckt
hätten, um zu ſehen, was mit demſelben für Verände-
rungen
vorgehen, um aus ihm ein ganzes Pflänzchen mit
Wurzel
, Stamm und Blatt werden zu laſſen.
Ein ſolches Samenkörnchen hat eine harte Hülle und iſt
gewiſſermaßen
eine große Zelle;
aber es iſt unter dem Mikro-
ſkop
geſehen doch ſchon eine ſehr bedeutende Gruppe zahlloſer
Zellen
, die unter ſich ſehr verſchiedener Natur ſind.
50723 Hauptteil der im Samen ſteckenden Zellen iſt der Keim, der in
den
meiſten Samen ſichtbar iſt, wenn man ein Körnchen an
einer
richtigen Stelle ſpaltet.
An einer Erbſe oder Bohne
kann
man die Spaltung ſehr leicht vornehmen, wenn man ſie
im
Waſſer hat aufweichen laſſen, und man ſieht den Keim,
nachdem
man die Schale entfernt hat, vor ſich liegen in der
Form
zweier Halbkugeln, den beiden erſten Blättern, die
zwiſchen
ſich den jungen, noch ſehr kleinen, erſten Sproß zeigen
und
in deſſen Fortſetzung die noch umgebogene Wurzel zu ſehen
iſt
.
Ähnlich läßt ſich der Keim in faſt jedem Samen ſehen.
Der Keim, das junge Pflänzchen (der Embryo), beſteht
ſchon
aus ſehr vielen Zellen;
die beiden erſten, dicken Blätter
der
Erbſe enthalten die erſte Speiſe des Keims.
Das Mehl
eines
Weizenkornes iſt ebenfalls gewiſſermaßen die Muttermilch
des
Keimes, die Nahrung des Keimes für die Zeit, wo er noch
nicht
entwickelt genug iſt, ſolche aus der Erde und der Luft zu
entnehmen
, ebenſo wie in die Mutterbruſt gleich nach der Geburt
eines
Kindes Milch einſtrömt, um das Kind während der Zeit
zu
erhalten, wo es noch nicht andere Stoffe zu ſich nehmen
oder
an ſich zu bringen verſteht.
Wird nun ſolch ein Samenkörnchen in feuchte Erde gebracht,
und
wirkt hierbei noch die nötige Wärme ein, ſo geſchieht
Folgendes
.
Die Nahrungsſtoffe des Körnchens erleiden eine chemiſche
Veränderung
, wobei ſich hauptſächlich das Mehl ganz in der-
ſelben
Weiſe in Zucker verwandelt, wie dies künſtlich in allen
Zuckerfabriken
geſchieht.
Der Zucker löſt ſich in der Feuchtig-
keit
auf und wird ſelber flüſſig und dringt ſomit in die Zellen
des
Keimes ein, die anſchwellen.
Dieſe Zellen fangen nun an
zu
leben, das heißt, ſich zu entwickeln und zu vergrößern, bis
ſie
ſich durch Zellwandbildung teilen, vermehren.
Sie ver-
doppeln
ſich nun immerfort, nach unten als Wurzel und nach
oben
als Pflanzenſtämmchen, und mit dieſer ſteten
50824 lung tritt der Keim aus dem Samenkörnchen heraus, und
dringt
in ſolcher Weiſe durch Teilung der Zellen wachſend auf
der
einen Seite in die Erde hinein und auf der andern über
die
Erdoberfläche hinauf, um in Luft und Licht weiter zu
exiſtieren
.
Dies iſt der Vorgang bei allen höheren Pflanzen vom
Iſop an der Wand bis zur Ceder des Libanon”, und des-
halb
wollen wir der Beobachtung und Betrachtung dieſes Vor-
ganges
noch einige Worte widmen.
IX. Lebensthätigkeit der Pflanze.
Wie gelangt die Nahrung bis hinauf in die höchſte Spitze
der
Pflanze?
Hierüber hatte man vor gar nicht langer Zeit die ſonder-
barſten
Vorſtellungen.
Man glaubte, die Nahrung ſteige auch
in
die Pflanze, wie etwa Oel in einem Docht auffteigt;
Andere
ſchrieben
dieſe Erſcheinung auf Rechnung einer lebendigen Saug-
Kraft
, welche die Pflanzen beſitzen ſollten.
Die Forſchungen
neuerer
Zeit haben aber bewieſen, daß auch dies weit einfacher
vor
ſich geht, und daß hierbei nicht unbekannte Wunderkräfte
obwalten
, ſondern in erſter Reihe dieEndosmoſe” thätig iſt,
die
zwiſchen Zelle und Zelle durch die Wände hindurch ſtatt-
findet
.
Der Saft der Wurzelzelle tauſcht ebenſo mit dem der
Nachbarzelle
ſeine Beſtandteile aus, wie zwei aneinanderliegende
Tierblaſen
, die mit verſchiedenen Flüſſigkeiten gefüllt ſind.
Die
Nachbarzelle
giebt nun die aufgenommenen Beſtandteile ihrer
nächſten
Nachbarin ab, und ſo geht dieſes Tauſchgeſchäft fort
und
fort, ununterbrochen weiter von Zelle zu Zelle, bis die-
ſelbe
Nahrung, die die Wurzel der Erde entnommen hat,
50925 die ganze Pflanze verteilt iſt; und da die Wurzel immerzu
neue
Nahrung in ſich aufnimmt und in einem fort eine Nachbar-
zelle
neben ſich hat, die die ihrige der entferntern Nachbarin
gegeben
hat, ſo geht das Einſtrömen und Wandern der Nah-
rung
eigentlich ununterbrochen fort und giebt fortwährend
Veranlaſſung
zur Vermehrung der Zellen, das heißt, zum
Wachstum
der Pflanze.
Forſchen wir alſo nach dem Leben der Pflanze wie nach
dem
Organ, in welchem die Thätigkeit dieſes Lebens vor ſich
geht
, ſo finden wir Folgendes:
Eine eigentümliche Sammlung von Pflanzenzellen, die
man
den Keim nennt, nimmt urſprünglich unter dem Einfluß
von
Feuchtigkeit und Wärme Stoffe in ſich auf, welche ſich
vorrätig
in den Samen finden, in denen der Keim eingebettet
liegt
.
Die Zellen des Keimes vergrößern, vermehren und
ſtrecken
ſich zur Bildung von Stämmchen und Wurzel.
Hierzu
iſt
nicht nötig, daß der Samen in die Erde gebracht wird, er
braucht
vielmehr nur angefeuchtet und erwärmt zu werden.
Man kann ſich hiervon überzeugen, wenn man Gerſte mit
etwas
Waſſer überſchüttet und einen Tag lang etwa im
geheizten
Zimmer in der Nähe des Ofens ſtehen läßt.
Es
zeigt
ſich hierbei, daß die Gerſte aufſchwillt und der darin
liegende
Keim Wurzel und Stamm bildet.
Zugleich iſt das
Mehl
der Gerſtenkörner in Zuckerſtoff umgewandelt, ſo daß ſie
ſüßlich
ſchmecken und jetzt das Malz der Brauer bilden, die
aus
demſelben die verſchiedenen Biere bereiten.
Liegt aber
der
Samen in der Erde, ſo iſt die Wurzel, die heranwächſt,
imſtande
, der Erde ſelber Nahrungsſtoffe zu entnehmen, ſobald
dieſelbe
nur feucht und warm iſt;
und dieſes genügt, um in
einem
Boden, der die richtigen, zur Nahrung der Pflanze
dienenden
Stoffe enthält, das weitere Wachstum, die weitere
Vermehrung
der Zellen zu bewerkſtelligen.
Der Sitz dieſer Thätigkeit aber iſt das Protoplasma;
51026 hat eben die Eigenſchaft, die man bisher nicht erklären konnte,
und
welche es bewirkt, daß aus den Nahrungsſtoffen der
Pflanze
neue Pflanze entſteht.
Und dieſen eigentümlichen Vorgang wollen wir jetzt be-
trachten
.
X. Die Verwandlung unbelebter Stoffe in
belebte durch die Pflanze.
In welcher Weiſe aus den Nahrungsmitteln der Pflanze
wirkliche
Pflanze entſteht, davon hat die Wiſſenſchaft noch keine
klare
Erkenntnis.
Es iſt dies für jetzt ein Rätſel, deſſen Löſung
noch
nicht gelungen iſt, und wahrſcheinlich deshalb, weil noch
eine
Reihe von Naturkräften erſt wird erforſcht werden müſſen,
bevor
man imſtande ſein wird, ernſtlich an dieſe Frage zu
gehen
.
Wir wollen uns deshalb damit begnügen, dies Rätſel in
ſeinen
Umriſſen etwas genauer kennen zu lernen und von
ſeiner
Löſung ſoviel hier wiederzugeben, als es bisher mit
einiger
Sicherheit möglich geworden iſt.
Die Nahrung der Pflanze beſteht hauptſächlich aus drei
Dingen
, aus Waſſer, aus Kohlenſäure und aus Salzen, die
im
Bodenwaſſer gelöſt ſind.
Dieſe drei Dinge ſind vollſtändig bekannt; Waſſer beſteht
aus
einer chemiſchen Verbindung von zwei Luftarten, Sauer-
ſtoff
und Waſſerſtoff;
Kohlenſäure beſteht aus einer chemi-
ſchen
Verbindung, einer Luftart Sauerſtoff mit einem feſten
Körper
:
Kohle. Die Salze ſind chemiſche Verbindungen,
unter
denen diejenigen, die Stickſtoff enthalten, für die Pflanze
die
wichtigſten ſind.
51127
Aber ſehr wichtig ſind in denſelben auch Phosphor,
Schwefel
, Eiſen und andere Metalle.
Wir wollen jedoch der
Einfachheit
wegen von dieſen Stoffen abſehen und nur die
Hauptnahrung
in Betracht ziehen.
Nimmt eine Pflanze die gedachten Stoffe in ſich auf, ſo
lebt
und wächſt ſie, ohne daß in ihr irgend ein anderer Stoff
vorhanden
iſt.
Die Pflanze alſo iſt nichts anderes als eine
eigentümliche
Art von Verbindung dieſer bekannten Stoffe,
welche
ſie verzehrt, die Pflanze iſt im weſentlichen verwandeltes
Waſſer
, verwandelte Kohlenſäure und verwandelte Salze, deren
Stickſtoff
namentlich von Wichtigkeit iſt.
Weder das Waſſer noch die Kohlenſäure noch die Salze
leben
.
Auch wenn man ſie mit einander vermiſcht, vermengt
oder
chewiſch verbindet, entſteht nichts Lebendes, nichts, was
den
Charakter des Lebenden an ſich trägt.
Nur wenn ſie in
der
Pflanze zuſammentreffen, nur da bilden ſie eine lebens-
fähige
Verbindung.
In der Pflanze alſo geht etwas vor,
was
wir durch Menſchenkunſt nicht zu Wege bringen können.
Die Pflanze treibt eine Art Chemie, die wir nicht nachahmen
können
.
Sie macht aus nichtlebenden Stoffen ein lebendes
Weſen
;
nichtorganiſche Dinge werden in der Pflanze organiſch.
Im vollen Sinne des Wortes liegt alſo in einer Pflanze
eine
Lebensfabrik.
Will man nun nicht annehmen, daß die Pflanze eine
übernatürliche
Kunſt betreibt, ſondern faßt man den richtigen
Gedanken
, daß in einer Pflanze dieſelben Naturkräfte walten
wie
in der nicht organiſchen Natur, ſo muß man ſagen:
die
Entſtehung
des Lebens aus Nichtleben iſt ein Ergebnis von
Naturkräften
.
Naturkräfte ſind es, welche nichtlebende Stoffe
ſo
verbinden, daß ſie lebendig werden.
Dieſer Gedanke iſt freilich ein ſolcher, der alten Vor-
ſtellungen
vom Leben widerſpricht;
allein er iſt in der Wiſſen-
ſchaft
ganz unumſtößlich geworden.
Die Thatſache, daß
51228 Pflanzen aus unorganiſchen Stoffen organiſche machen, aus
nichtlebenden
belebte ſchaffen, läßt ſich gegenüber den Beweiſen
derſelben
nicht mehr leugnen, und es ſteht ſomit in jeder
Pflanze
ein Rätſel für den Naturforſcher da, das man in
ältern
Zeiten durch das WortWunder” aus dem Bereich des
Natürlichen
hinaus in das Bereich des Übernatürlichen verwies.
Betrachten wir nun aber dieſe Verwandlung von nicht-
organiſcher
Maſſe in organiſche als die Folge von Natur-
kräften
, ſo haben wir doch zu bekennen, daß die Wiſſenſchaft
noch
nicht imſtande iſt, ſich ein durchweg klares Bild von dem
Getriebe
dieſer Kräfte zu machen.
Man hat ſich daher früher
veranlaßt
geſehen anzunehmen, daß in der Pflanze und
nicht
minder im Tiere eine eigene Kraft exiſtiere, welche
man
Lebenskraft” nannte, und ſchrieb alle unerklärlichen Er-
ſcheinungen
des Lebens auf Rechnung dieſer unbekannten
Lebenskraft”.
Doch hat wan ſehr triftige Gründe, dieſe ſogenannte
Lebenskraft” zurückzuweiſen.
Es hat ſich nämlich bei gründ-
lichen
Forſchungen ergeben, daß viele Erſcheinungen, die man
ſonſt
derLebenskraft” zuſchrieb, aus ganz anderen Urſachen
herrühren
.
So hat man z. B. noch vor gar nicht langer Zeit
angenommen
, daß es dieLebenskraft” ſei, welche im Innern
der
Tiere und Menſchen ſtets denſelben Grad der Wärme er-
hält
, gleichviel ob es Winter oder Sommer iſt, gleichviel ob
ſie
in heißen oder in kalten Ländern leben.
Gegenwärtig je-
doch
weiß man, daß die ſtets gleiche Wärme von der beim
Atmen
ſtattfindenden chemiſchen Verbrennung herrührt.
Bevor
man
dieEndosmoſe” kannte, die wir bereits wiederholt er-
wähnt
haben, ſchrieb man das Einſtrömen der Nahrung in
Pflanzen
und in den Tierkörper gleichfalls der unerklärlichen
wunderbaren
Lebenskraft” zu;
jetzt iſt es ſoweit, daß man
Jedem
deutlich zeigen kann, wie hierbei nur die Endosmoſe
wirkt
, die ſich auch bei nichtlebenden Stoffen vorfindet.
51329 Ähnlich wie dieſe Fälle ſind noch andere, die es darthun, daß
viele
Naturerſcheinungen, in denen man ſonſtLebenskraft” zu
finden
glaubte, die Folge von Kräften ſind, die ſich auch in
der
ſogenannten toten Natur thätig zeigen;
und hieraus iſt
man
mit gutem Grund dem Gedanken nahe geführt worden,
daß
auch alle übrigen, bisher unerklärten Erſcheinungen im
Leben
der Pflanzen und der Tiere dereinſt ohne Annahme der
Lebenskraft
werden erklärt werden können, ſobald man nur in
der
Kenntnis der chemiſchen und phyſikaliſchen Kräfte weiter
fortgeſchritten
und imſtande ſein wird, ihr Zuſammenwirken zu
begreifen
.
XI. Von dem Rätſel des Lebens.
Wir wollen es nun verſuchen, uns einmal das Haupt-
rätſel
im Leben der Pflanze recht deutlich zu machen.
Blicken wir nun auf die Zellen der Wurzel einer beliebigen
Pflanze
, ſo wiſſen wir mit vollkommener Sicherheit, daß die
aufnehmenden
Zellen durch ihre Wand hindurch Waſſer mit
den
in demſelben gelöſten mineraliſchen Beſtandteilen in ſich
aufnehmen
, und man ſollte meinen, daß, wenn dies geſchehen,
man
in den Zellen dieſe Stoffe ebenſo finden müßte, als wenn
ſie
außerhalb der Zellen durcheinander vermiſcht oder chemiſch
verbunden
würden.
Das iſt aber nicht der Fall.
Preßt man die Zellen, nachdem ſie dieſe Stoffe in ſich
aufgenommen
haben, aus, ſo findet man, daß ſie einen Pflanzen-
ſaft
enthalten, der durchaus anderer Natur iſt als dasjenige,
was
wir durch Waſſer, Kohlenſäure, die durch die grünen
Blätter
der Pflanze zugeführt werden, und ſtickſtoffhaltige Salze
herzuſtellen
imſtande wären.
Zwar iſt in dem
51430 auch chemiſch nichts weiter enthalten als die genannten Beſtand-
teile
, und der Chemiker iſt auch imſtande, dieſelben wiederum
aus
dem Pflanzenſaft herzuſtellen;
allein er erhält dieſe Speiſe-
ſtoffe
in einer ſo eigentümlichen Verbindung, daß ſie in den
Zellen
unverkennbar etwas ganz anderes geworden ſind, als
ſie
vorher hätten werden können.
Man darf aber hierbei auch nicht vergeſſen, daß die
Stoffe
, welche die Zellen als Speiſe aufnehmen, ſchon ſelber
durch
eine eigene Kraft gepaart ſind, durch eine chemiſche Kraft,
die
ſowohl im Waſſer, wie in der Kohlenſäure und den minera-
liſchen
Beſtandteilen und den Salzen des Erdbodens ſteckt.
Dieſe Kraft ſpielt ſicherlich eine Hauptrolle und wird vielleicht
nur
durch die im Zellen-Protoplasma wirkende Kraft umge-
ändert
.
Die Naturwiſſenſchaft auf dem gegenwärtigen Stand-
punkt
iſt überhaupt noch ſehr im Unklaren über das, was bei
einer
chemiſchen Verbindung zweier Stoffe vorgeht.
Wir
können
zwar aus Sauerſtoff und Waſſerſtoff künſtlich Waſſer
machen
;
aber es leiſtet uns hierbei etwas Unbekanntes Hilfe,
das
wir chemiſcheAnziehung”, “chemiſche Verwandtſchaft”
nennen
, und bei welchem die Elektrizität wie die Wärme eine
große
Rolle ſpielen.
Will man daher aufrichtig ſein, ſo muß man ſagen, daß
das
Rätſel des Lebens der Pflanze ſchon in der Speiſe der
Pflanze
, in der chemiſchen Verbindung ihrer Speiſeſtoffe ſteckt,
ja
man darf annehmen, daß im Waſſer, wie in der Kohlen-
ſäure
u.
ſ. w. ſchon die erſten Lebenskräfte ſchlummern, und
daß
dieſe Kräfte nur angeregt werden zur gemeinſamen Thätig-
keit
durch eine eigne Kraft, die im Protoplasma waltet.
Freilich iſt hiernach noch nicht einzuſehen, woher es kommt,
daß
dieſe drei Speiſeſtoffe imſtande ſind, ſo verſchiedenartige
Pflanzen
zu erzeugen.
Die Zellen eines Weizenkeimlings
nehmen
faſt dieſelbe Speiſe in ſich auf wie die eines Apfel-
baumes
, und doch iſt ein Weizenkorn ganz etwas anderes
51531 ein Apfel. Allein man kann ſich vorſtellen, daß das Proto-
plasma
einer Zelle im Weizenkeimling den Speiſen der Pflanze
eine
andere Anregung giebt als das Protoplasma der Apfel-
zellen
, ſo daß gleiche Speiſeſtoffe durch verſchiedene Anregungen
zu
verſchiedenen Gebilden werden, es kommt noch hinzu, daß
die
verſchiedenen Pflanzenarten einWahlvermögen” ihre
Nahrung
der Umgebung zu entnehmen beſitzen, indem ver-
ſchiedene
Arten auch verſchiedene Beſtandteile oder doch dieſe
in
verſchiedener Quantität aufnehmen.
Hiernach wären im weſentlichen Waſſer, Kohlenſäure u. ſ. w.
Dinge, welche die Fähigkeit haben, alle Arten von Pflanzen zu
bilden
.
Dieſe Fähigkeit ſchlummert gewiſſermaßen, ſo lange ſie
nicht
eine Anregung erhält von einer bereits exiſtierenden
Pflanzenzelle
.
Je nach der Anregung aber erhalten dieſe
Speiſeſtoffe
der Pflanze eine Richtung, ſich organiſch zu ver-
binden
, und dieſe Verbindung geſchieht derart, daß ſie immer
dieſelbe
Pflanze bilden, von welcher ſie zur Thätigkeit angeregt
werden
.
Das iſt die freilich noch ſehr unvollſtändige Löſung des
Rätſels
vom Leben der Pflanze, oder richtiger vom Übergang
der
unorganiſchen Stoffe in organiſche.
XII. Die eigne Art des Wachstums der Pflanze.
Die Pflanze nimmt nun wie ſchon angedeutet
Nahrung
nicht allein durch Vermittelung der Wurzeln, ſondern
auch
aus der Luft auf;
ſie bedarf dabei alſo zu ihrem Leben
des
Lichtes und der Wärme, und ſie ſcheidet auch während
ihres
Lebens eingenommene, für das Leben unbrauchbar ge-
wordene
Stoffe wieder aus.
51632
Der Haushalt der Pflanze iſt in den verſchiedenen Pflanzen
verſchieden
.
Die Pflanze, die nur als Einzel-Zelle lebt, iſt
ein
äußerſt einfaches Weſen, das alle Arbeit ſeines Lebens für
ſich
allein verrichten muß.
Pflanzen, in welchen ſich die Zellen
familienweiſe
anbauen, fangen oft ſchon an, die Arbeit unter
ſich
zu teilen:
denn in einer und derſelben Pflanze haben ver-
ſchiedene
Zellen dann meiſt ſchon verſchiedene Verrichtungen.
Pflanzen, die ſchon aus einer ungeheuren Reihe von Zellen
beſtehen
, bilden ſich ſo, daß ganze Gruppen von Zellen ſowohl
in
ihrer Verrichtung anders ſind als die andern Zellen derſelben
Pflanze
;
denn es findet hier eine wirkliche Teilung der Arbeit
in
einzelnen Teilen zum Beſten der ganzen Pflanze ſtatt.
Wir wollen dies durch ein Beiſpiel deutlicher zu machen
ſuchen
.
Geſetzt, man pflanzt einen Apfelkern in die Erde ein, ſo
wird
, wie das jedermann weiß, endlich ein Apfelbaum daraus
mit
Wurzel, Stamm, Zweigen und Blätterkrone, der ſodann
Blüten
trägt, und endlich wieder Äpfel entwickelt, in welchen
Apfelkerne
ſich finden.
Mit Recht fragt man: wie iſt dies zugegangen?
Vor gar nicht langer Zeit hatte man die thörichte Vor-
ſtellung
, daß in dem Apfelkern eigentlich ein ganz kleiner,
unſerem
Auge nicht ſichtbarer Apfelbaum ſtecke, der nur an
Maſſe
zuzunehmen brauche, um zu wachſen.
Ja man ging
ſo
weit, zu glauben, daß auch alle Äpfel des künftigen Baumes
in
dem Kerne ſtecken, und da in den Äpfeln auch Kerne ſtecken,
die
wiederum Bäume werden, ſo war man genötigt zu der
Annahme
, daß jeder Samen alle Pflanzen ſeiner Gattung in
ſich
trage, die ſich erſt ſpäter entwickeln werden.
Man nahm
ſo
wie wir ſchon früher ſahen eineEinſchachtelung”
an
, nach welcher in einem einzigen Apfelkern eine nach Jahr-
tauſenden
erſt ſichtbare Geſchlechtsreihe von Apfelbäumen ein-
geſchachtelt
iſt.
51733
Gegenwärtig hat die Forſchung dieſe falſche Vorſtellung
ganz
beſeitigt, und man weiß, daß ein Apfelkern nur eine
Gruppe
von Zellen in ſich hat, welche die Fähigkeit haben,
ſich
nach Aufnahme von chemiſch zubereiteten Speiſen zu teilen,
alſo
neue Zellen zu bilden, die ſich wiederum weiter teilen und
ſo
imſtande ſind, einen ganzen Baum zu bilden.
Aber mit dieſer Fähigkeit der Zellen ſich zu vervielfältigen
iſt
zugleich noch etwas Anderes verbunden, das bisher noch
nicht
völlig erklärt iſt.
Die neuentſtandenen Zellen bleiben
nicht
alle ſo geſtaltet, wie die alten, und die Teilung der Zelle,
die
Verdoppelung, geht nicht nach allen Seiten hin in gleicher
Weiſe
vor ſich;
denn in ſolchem Falle würde aus einer Eizelle
immer
nur ein nach allen Seiten hin größer und dicker werden-
des
, rundes Klumpengewächs entſtehen.
Es geſtalten ſich und
es
legen ſich vielmehr die neuen Zellen nur nach gewiſſen
Formen
und gewiſſen Richtungen an.
Die Wurzel in der Erde wächſt fadenartig nach be-
ſtimmten
Richtungen hin.
Wenn man behaupten hört, daß die
Pflanzen
dorthin ihre Wurzeln richten, wo der nahrungs-
reichere
Boden iſt, ſo iſt das ganz richtig.
Aber man darf
ſich
nicht denken, daß dieſes für das Pflanzenindividuum ſo
zweckdienliche
Benehmen etwa mit einer Willensempfindung
verknüpft
ſei, daß alſo die Wurzel ein bewußtes Streben habe,
dorthin
zu wachſen.
Wer es bedenkt, daß die leiſeſte Ungleichheit des Erdreichs,
das
ein Samenkörnchen umgiebt, hinreicht, den einzelnen Zellen
der
Wurzel verſchiedene Richtungen zu geben, der wird es
ſchon
hiernach erklärlich finden, daß die Wurzelzellen nicht zu
klumpenartigen
Bildungen vereinigt ſich finden, ſondern zu
ſtrahlenartigen
und am meiſten nach der Richtung hin, wo die
äußere
Umgebung das Wachstum befördert.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
51834
XIII. Die Bildung des Baumes.
Während die Wurzel der Pflanze in die Erde hinein-
wächſt
, und zwar, wie wir gezeigt haben, nach der Richtung
des
Ortes hin, woher ihr die Nahrung, d.
h. das Waſſer mit
gelöſten
Bodenbeſtandteilen, leichter zukommt, wächſt auch der
Teil
der Pflanze, der aufwärts ſtrebt, nach demſelben Geſetz.
Fragt man: woher kommt es, daß die Pflanzen über die
Erde
aufwärts in die Luft hinein wachſen?
Weshalb entſteht
hier
nicht Zelle an Zelle nach jeder Richtung hin, weshalb
ſteigt
dieſes Zellengebäude immer mehr aufwärts, als es in
die
Breite wächſt?
ſo läßt ſich hierauf eine ähnliche Antwort
geben
, wie die über das Wachstum der Wurzel.
Die Luft über der Erde enthält eine äußerſt wichtige
Speiſe
der Pflanze.
In der Luft findet ſich fortwährend und
überall
Kohlenſäure.
Der Teil der Pflanze alſo, der aufwärts
wächſt
, wächſt eigentlich nach der Richtung hin, woher ihm die
wichtigſte
Nahrung zuſtrömt, das heißt:
die Zellen vermehren
ſich
nach der Gegend hin am ſtärkſten, wo am leichteſten die
Nahrung
in ſie einſtrömt.
Hierzu kommt noch, daß Licht und Sonnenwärme von
oben
her auf die Pflanze wirken, und dieſe, wie die Erfahrung
lehrt
, auf das Wachstum und deſſen Richtung von großem
Einfluß
ſind, ohne daß man ſich klare Rechenſchaft von der
Rolle
geben kann, welche ſie hierbei ſpielen.
Den Einfluß des
Lichtes
ſieht man am deutlichſten bei Gewächſen, die man in
Zimmern
aufzieht, wo alle Blätter und Zweige unverkennbar
nach
dem Fenſter hin, wo das Licht einſtrömt, wachfen.
Der
Einfluß
der Wärme iſt ſo groß, daß in warmen Ländern und
Treibhäuſern
wie in geheizten Zimmern die Gewächſe Jahr
aus
Jahr ein ihren Blätterſchmuck, ihre Blüte- und Fruchtzeit
haben
und ohne Unterbrechung zum Wachstum vorſchreiten.
51935
Obwohl nun eine ganze Reihe von Einflüſſen und Kräften
auf
die Pflanzen einwirken, ſo ſind dieſe doch nicht ausreichend,
um
die verſchiedenartigen Geſtalten zu erklären, in welchen
verſchiedene
Pflanzen ſich ausbilden.
Man iſt deshalb zu der
Annahme
gezwungen, daß jede Zelle einer beſtimmten Pflanze
auch
den neu ſich bildenden Zellen eine Anregung verleiht, ſich
in
beſtimmter Form zu entwickeln, und daher rühren die ver-
ſchiedenen
Formen, welche den verſchiedenen Pflanzen auch ihr
verſchiedenes
Anſehen geben.
Betrachten wir demnach die Pflanzenarten, z. B. die Bäume,
ſo
ſehen wir, daß jede Art auch eine verſchiedene Geſtalt be-
ſitzt
.
Selbſt im Winter, wo das Laub des Baumes abgefallen
iſt
, wird jeder Aufmerkſame die Eiche von der Kaſtanie, den
Apfelbaum
vom Kirſchbaum zu unterſcheiden wiſſen.
Die
Stellung
des Stammes, die Ausbreitung ſeiner Zweige, die
Beſchaffenheit
der Rinde iſt an jeder Baumart anders als an
der
andern.
Dies rührt offenbar von den Kräften her, welche
bereits
im Keime liegen, alſo von den Vererbungstendenzen,
von
Kräften, die man wiſſenſchaftlich noch nicht zu erforſchen
imſtande
geweſen iſt, deren Wirkung man jedoch der Beob-
achtung
unterworfen hat, und die man, ſo verſchieden ſie auch
auftreten
, doch auf einfache und auf die über den Haushalt
und
das Leben der Pflanze in Folgendem feſtgeſtellten Geſetze
zurückzuführen
vermocht hat.
Während die Pflanzen niederer Organiſation von Zellen
gebildet
werden, von denen jede das ganze Geſchäft der Pflanze
beſorgt
, findet in der Pflanze höherer Organiſation eine wirk-
liche
Teilung der Arbeit ſtatt.
Die Wurzeln eines Baumes verrichten die Arbeit der
Ernährung
.
Die Zellen der Wurzel nehmen die Speiſe aus
der
Erde in ſich auf und vermehren ſich.
Aber ſie bilden
nicht
einzig und allein Zellen ihres Gleichen, ſondern es ent-
wickeln
ſich auch die Zellen, welche den Stamm des
52036 bilden, der aufwärts ſtrebt. Dieſe Zellen ſind nicht nur mehr
oder
minder in ihrer Beſtimmung, ſondern auch in ihrer Form
verſchieden
von den Wurzelzellen.
Dieſe Zellen dehnen ſich oft
zu
großer Länge aus.
Sie bilden ſtatt hohler Kügelchen lange,
feine
Röhrchen, die freilich oben und unten geſchloſſen ſind.
Die Röhrchen liegen dicht bei einander mit ihren Wänden und
tauſchen
durch dieſe ihre Säfte aus, ganz ſo, wie es die kugeligen
Zellen
thun.
Sie ſind in der That nur langgeſtreckte Zellen,
die
den Stamm eines Baumes zum Teil bilden helfen.
Je
mehr
ſolche längliche Zellen vorhanden ſind, deſto feſter iſt der
Stamm
.
XIV. Genaueres über den inneren Bau der
Pflanzen.
Die dem Laien bekannteſten Pflanzen ſind die mehrzelligen,
und
zwar unter dieſen die am höchſten organiſierten, die am
komplizierteſten
gebauten, bei denen die Gewebe aus ganz ver-
ſchiedenen
Arten von Zellen beſtehen, die denn auch ganz ver-
ſchiedenen
Verrichtungen im Dienſte der Lebenserhaltung der
Geſamtpflanze
obliegen.
Wir können hier unmöglich dieſe hohe Organiſation im
Einzelnen
verfolgen, das hieße ein Lehrbuch der Pflanzen-
Anatomie
ſchreiben, wollen aber, um eine Anſchauung von dem
inneren
Bau der höchſten Pflanzen und den Lebensverrichtungen
der
einzelnen Gewebe zu geben, die hauptſächlichſten derſelben
kurz
bezeichnen und zwar an der Hand der ausführlicheren
Betrachtung
eines von denſelben.
Wir werden hierzu das
Skelett
der Pflanzen benutzen, weil auch dem Laien die Be-
deutung
desſelben ohne weiteres einleuchtet:
bedürfen doch die
größeren
Pflanzen ebenſogut der körperlichen Feſtigkeit wie der
Menſch
, der dieſelbe in ſeinen Knochen findet.
52137
Der freundliche Leſer wird ſchon gemerkt haben, daß die
in
dem vorigen Abſchnitt erwähnten faſerförmigen Zellen im
Holze
der Bäume Skelettzellen ſind.
Sehen wir uns dieſelben
und
ihre Anordnung in den Pflanzen-Organen alſo etwas
näher
an.
Je komplizierter ein Lebeweſen geſtaltet iſt, je verwickelter
es
gebaut erſcheint, um ſo ſtörender müſſen mechaniſche Ein-
griffe
auf dasſelbe wirken.
Namentlich müßten die weicheren
und
daher wenig widerſtandsfähigen Gewebe in erſter Linie
unter
den mechaniſchen Einwirkungen der Außenwelt leiden,
wenn
ſie nicht durch beſondere Vorkehrungen geſchützt ſind.
Jede Pflanze, wie überhaupt jedes irdiſche Gebilde wird
mechaniſch
in der mannichfaltigſten Weiſe in Anſpruch genommen,
und
es muß alſo auch jede Pflanze eine genügende Feſtigkeit
beſitzen
, um dieſen Einflüſſen nicht zu unterliegen.
Die Pflanzen
werden
auf Biegungs-, Zug-, Stütz-, Schub- und Druckfeſtig-
keit
in Anſpruch genommen, wie auch jeder menſchliche Bau,
bei
deſſen Errichtung dieſen verſchiedenen Kräften durch eigene
Bauweiſen
entgegen zu wirken iſt.
Man lieſt wohl hier und da namentlich in Werken
über
Architektur , daß der Menſch ſeine Baukonſtruktion der
Natur
abgelauſcht habe.
Stillſchweigend nimmt man alſo an,
daß
die ſich uns darbietenden organiſchen Geſtaltungen auf das
Zweckmäßigſte
konſtruiert ſeien, ſo daß der Menſch nur dieſe Vor-
bilder
zu kopieren nötig hat.
Es iſt jedoch merkwürdig, daß
wir
trotz dieſer oft gebrauchten Bemerkungen über die Harmonie
in
der Geſtaltung der Pflanzen thatſächlich gar nichts über
ihren
mechaniſchen Aufbau, der doch für die Architektur allein
in
Frage kommen kann, bis 1874 hin wußten.
Es iſt wahr,
daß
die Gewächſe außerordentlich viel vollkommener geſtaltet ſind,
als
die großartigſten Bauwerke, welche der Menſch zu erſchaffen
vermochte
:
keines der letzteren darf ſich in dieſer Beziehung
mit
einem Grashalm vergleichen.
Wir haben aber erſt
52238 allerneuſter Zeit eine Einſicht in die mechaniſchen Konſtruktions-
teile
der Pflanzen gewonnen, ſodaß die erwähnten Behaup-
tungen
durchweg unbegründet ſind.
Das Verdienſt, den me-
chaniſchen
Apparat, das Skelett der Pflanzen, kennen gelehrt zu
haben
, gebührt Simon Schwendener in Berlin.
Man hat ſich zwar auch früher bemüht, die Bedeutung
der
Pflanzengewebe für das Leben der Gewächſe zu erkennen,
aber
im ganzen bewegte ſich die Wiſſenſchaft in höchſt lang-
weiligen
, unfruchtbaren Beſchreibungen und Klaſſifizierungen
der
Formen.
Schwendener hat durch eigene, großartige Arbeiten
und
durch ſeine Schule mächtig weiter gewirkt:
das Lehrgebäude
der
Pflanzenanatomie geiſtig durchleuchtet und zu einer Einheit
zuſammengefügt
.
XV. Mittel zur Erreichung der Feſtigkeit bei
den Pflanzen.
Schon die Zellteilung pflanzlicher Weſen, die Trennung
des
protoplasmatiſchen Körpers durch feſte Wandungen hat
wohl
in vielen Fällen namentlich bei den niedrigen Gewächſen
die alleinige Aufgabe, die Pflanzen gegen äußere mechaniſche
Einflüſſe
widerſtandsfähiger zu machen.
Durch die Bildung
von
Querwänden in einem Algen- oder Pilzfaden wird derſelbe
ausgeſteift
und ein Einknicken desſelben verhindert.
Die einzellige
oder
ſcheidewandloſe Algengattung Caulerpa, aus welcher ge-
wiſſe
Arten eine Größe wie ein gewöhnliches Laubblatt erreichen
können
, verwendet zur Ausſteifung ihrer ſchlauchförmigen Hülle
durch
den Innenraum ausgeſpannte Fäden oder Balken, die
aus
demſelben Material beſtehen wie die Wandung.
Wird alſo
durch
äußere Einflüſſe eine Caulerpa einſeitig gedrückt,
52339 ſuchen die beiden nicht gedrückten, gegenüberliegenden Teile
auszuweichen
, ſich von einander zu entfernen, wodurch die Quer-
ſchnittsform
des Organes verändert werden würde.
Allein die
erwähnten
feſten, durch den Innenraum der Algenzelle aus-
geſpannten
Balken, welche die gegenüberliegenden Wandungen
mit
einander verbinden, verhindern dies.
Ein anderes Mittel, namentlich ſaftige Gewebe aus dünn-
wandigen
Zellen zu feſtigen, iſt ſehr verbreitet.
Die Zellen
ſolchen
Gewebes ſind derartig mit Zellſaft angefüllt, daß der-
ſelbe
auf die Zellwandungen von innen aus einen ſtarken Druck
ausübt
;
hierdurch wird die Zellenwand geſpannt wie ein voll
Waſſer
gepumpter Kautſchukſchlauch oder wie ein mit Gas ge-
füllter
Luftballon.
Nach Entfernung des Waſſers reſp. des
Gaſes
verlieren dieſe Apparate ſofort ihre Feſtigkeit;
das Gleiche
iſt
auch bei den in Rede ſtehenden Pflanzengeweben der Fall,
wenn
ſie, durch Austrocknung etwa, einen größeren Vorrat von
ihrem
Zellſafte verlieren.
Sind daher die äußeren Verhältniſſe
ungünſtig
und verdunſtet die Pflanze, beiſpielsweiſe bei ſtarker
Sonnenglut
, mehr Waſſer, als ihr durch die Wurzeln zugeführt
werden
kann, ſo erfolgt ein Erſchlaffen der Blätter, falls die-
ſelben
nicht durch anderweitige mechaniſche Vorkehrungen in
der
früheren Lage erhalten bleiben und ſie hängen dann wie
naſſe
Tücher in Falten an ihren Stielen herab.
Beſonders
ſchön
läßt ſich dieſe Erſcheinung z.
B. bei dem Buchweizen be-
obachten
.
Im allgemeinen wird die Feſtigkeit des ganzen Körpers
bei
den höheren Pflanzen genau wie bei den höheren Tieren durch
ein
wohlkonſtruiertes, beſonderes Skelett hergeſtellt, deſſen Ele-
mentarkonſtruktionsteile
aus beſonders gebauten und für den
Zweck
der Feſtigkeit beſonders befähigten Zellen, “Stereïden“,
beſtehen
, die wir zunächſt näher betrachten wollen.
52440
XVI. Die Zellen des Skelettgewebes.
Die Zellen des Skelettgewebes (“Stereoms“) der Pflanzen,
welches
für das Leben derſelben alſo dem Knochengerüſt der
Wirbeltiere
und dem feſten Panzer der Inſekten entſpricht, ſind,
wie
man ſchon von vornherein vermuten wird, ausgezeichnet
dickwandig
, zuweilen ſo ſtark, daß die Höhlung vollſtändig ver-
ſchwindet
(Fig.
1). Die Zellen ſind meiſt von ſehr langgeſtreckter
90[Figure 90]Fig. 1.
Stark
vergrößertes Gewebe von
Faſer-Stereiden
im Querſchnitt.
ſpindelförmiger Geſtalt, mit pfrie-
menförmig
zugeſpitzten Enden.
Sie
erreichen
gewöhnlich die Länge von
{1/2} bis 1 Millimeter, in ſeltenen
Fällen
ſogar von 220 Millimetern
bei
einer größten Breite von einigen
Zehnteln
eines Millimeters.
Dieſe
Zellen
ſind alſo langfaſerförmige
Gebilde
.
Die ſcharf zugeſpitzten
Enden
der typiſchen mechaniſchen
Zellen
keilen ſich zwiſchen die
gleichen
Enden anderer Skelettzellen
ein
, wodurch die Feſtigkeit des Gan-
zen
außerordentlich erhöht wird.
Der Bau der Elementarorgane entſpricht alſo in recht vollkom-
mener
Weiſe ihrer Funktion.
Die eben beſprochenen, gewöhnlich
als
Baſtzellen oder als echte Holzzellen bezeichneten
Elementargebilde
kommen jedoch, da ſie, ſobald ſie einmal ihre
Endform
erreicht haben, nicht mehr zu wachſen vermögen, nur
in
fertig entwickelten Organen vor.
Allein auch die noch in der
Entwickelung
begriffenen Organe bedürfen häufig eines Schutzes
durch
Skelettteile.
In dieſen Fällen wendet nun die Pflanze
ein
beſonderes, noch wachstumfähiges, mechaniſches Gewebe,
das
Collenchym, an, das übrigens auch vielfach in
52541 Organen auftritt. Die Baſtzellen ſelbſt ſind in der Jugend oft
collenchymatiſch
, ſpäter jedoch treten ſie aus dieſem wachstums-
fähigen
Zuſtand heraus.
In denjenigen Pflanzenteilen, in
welchen
ein dauerndes Wachstum ſtattfindet, wie z.
B. in den
Knoten
der Grashalme, beſteht das mechaniſche Gewebe zeit-
lebens
aus Collenchym.
Die Collenchymzellen ſind ebenfalls
wie die vorerwähnten Baſt- oder echten Holzzellen lang-
geſtreckt
.
Ihre Wandungen ſind jedoch nur vorzugsweiſe in
den
Kanten ungleichmäßig verdickt.
Während der Inhalt der
Baſt-
reſp.
echten Holzzellen nun meiſt in Luft beſteht, führt
das
im Gegenſatz zum Baſt alſo lebensfähige Collenchym ſtets
einen
ſehr reichlichen Saft, der die Zellenwandungen ſtraff hält.
Das Collenchym kann man mit dem Knorpel und die Baſt-
oder
Holzzellen mit den Knochenzellen der Tiere vergleichen.
XVII. Die Bedeutung der Steinkörper im Frucht-
fleiſche der Birnen.
In der Birne (Fig. 2 a) fallen kleine Gruppen von ſo-
genannten
Steinzellen (= Hartgewebezellen, Skleren-
chymzellen
)
auf, die beim Verſpeiſen im Fruchtfleiſche als
harte
, ſteinartige Körperchen ſich gern zwiſchen die Zähne
ſetzen
.
Je nach der Sorte des Obſtes treten ſie in größerer
oder
geringerer Menge im Fleiſche zerſtreut in die Erſcheinung.
Jedes dieſer Körperchen beſteht aus mehreren Zellen, welche
verhältnismäßig
ſtarke, von Kanälen durchſetzte Wandungen
beſitzen
.
Die Steinzellen finden ſich nicht in den Birnen allein,
ſondern
ſind im Pflanzenreich ſehr verbreitet;
ſie treten vor-
zugsweiſe
als die Elementarbeſtandteile ſolcher Gewebe auf,
die
dazu dienen, gewiſſen Pflanzenteilen Feſtigkeit zu
52642 und benachbarte empfindliche Gewebe gegen äußere ſtörende
mechaniſche
Einflüſſe zu ſchützen.
Auch die Zellen, aus denen
die
tieriſchen Knochen beſtehen, zeigen dicke Wände mit radial
91[Figure 91]Fig. 2.
Links
Längsſchnitt durch eine Kochbirne, viele Steinkörperchen im Innern zeigend,
rechts
Längsſchnitt durch die Frucht eines wilden reſp. verwilderten Birnbaumes
mit
einer harten, kontinuierlichen Schicht aus Steinkörperchen um das Kernhaus
herum
.
a b
52743 verlaufenden Kanälen (Teil IX, S. 30, Fig. 10), und auch ſie
ſind
bekanntlich die Feſtigungsvorrichtungen im tieriſchen Körper.
Kurz, in vielen Fällen haben bei den Pflanzen die Steinzellen-
gewebe
wie bei den Tieren die Knochenzellen mechaniſche
Verrichtung
.
Es iſt dies underkennbar in den Fällen, wo die
Steinzellen
Stränge in länglichen Organen zuſammenſetzen,
namentlich
Leitbündel begleitend, und ebenſo da, wo ſie, z.
B.
92[Figure 92]Fig. 3.
Ein
Pftrſichkern, der Länge
nach
durchſchnitten.
can = Kanal in der Skelett-
hülle
, durch welchen der
nahrungleitende
Strang (das
Leitbündel
) zum Samen läuft.
can
bei der Pflaume, dem Pfirſich (Fig.
3
und
4) die harte Kernſchicht bilden,
welche
dem Samen Schutz verleiht;
aber wenn ſie nur zu wenigen ver-
einigt
kleine, ſteinartige, untereinander
unverbundene
Körperchen darſtellen,
wie
im Fruchtfleiſch der Birne, in der
Rinde
und in den Markſtrahlen u.
ſ. w.
mancher
Laubbäume, ſo kann von
einer
mechaniſchen Funktion wohl kaum
noch
die Rede ſein.
Um einen Ver-
gleich
anzuwenden:
die Steinkörperchen
tragen
dann ebenſowenig zur Feſtig-
keit
der Teile, in denen ſie ſich vor-
finden
, bei, wie Felsſtücke ohne ſtarre
Verbindung
einem feinkörnigen Sand-
haufen
größeren Halt zu gewähren
vermögen
.
Können wir nun auch im allgemeinen über die Funktion
von
unverbundenen, in Pflanzengeweben zerſtreuten Stein-
körpern
nichts ausſagen, ſo ſcheint doch, daß ſich im beſonderen
für
die Steinkörper in der Birnenfrucht eine Anſicht aus der
Betrachtung
gewiſſer Thatſachen ziemlich von ſelbſt ergiebt:
nämlich die, daß die im Fruchtfleiſche der kultivierten und ver-
wilderten
Birnenſorten vorkommenden Zellhaufen die Über-
bleibſel
(Rudimente) einer bei den Vorfahren unſerer Birne
52844 handen geweſenen Steinhülle ſind, welche letztere ebenſo zum
Schutze
der Samen diente, wie in anderen Fällen noch jetzt die
um
Samen entwickelten Steinſchichten, z.
B. bei der Pflaume oder
der
der Birne verwandteren Miſpel, deren Frucht bekanntlich
fünf
Steine enthält.
Die Berechtigung der erwähnten Auf-
faſſung
geht aus Folgendem hervor.
93[Figure 93]Fig. 4.
Turchſchnitt
durch die holzige Schicht des Pflaumenſteins unter dem Mikroſkop
geſehen
.
r = die Hohlräume der Zellen. a = die Verdicktungsſchichten der Zellhäute.
t
= die verzweigten, die Zellwände durchlaufenden Kanäle quer durchſchnitten
geſehen
.
T a E a T
Außer der ſchon erwähnten Ubereinſtimmung im ana-
tomiſchen
Bau der Steinkörper und der die Samen ſchützenden
Steinſchicht
bei Früchten anderer Pflanzen ſpricht für unſere
(P.
’s.) Auffaſſung die Anordnung der Steinkörperchen in dem
Fruchtfleiſche
.
Achtet man auf dieſelbe in den verſchiedenen
Birnenraſſen
, ſo findet man, daß die Steinkörper keineswegs
gleichmäßig
durch das ganze Fruchtfleiſch verteilt ſind,
52945 vielmehr vorzugsweiſe in einer konzentriſch das Kernhaus
umgebenden
Zone Platz greifen, während nach der Peripherie
hin
die Zahl der Körperchen bedeutend abnimmt.
Sie ſind
alſo
da am reichlichſten vertreten, wo wir die kontinuierliche
Steinſchicht
erwarten würden, wenn wir uns die Birnenfrucht,
die
man botaniſch zweckmäßig zu den Beeren rechnet, in eine
Steinfrucht
verwandelt denken.
Vergleichen wir nun darauf-
hin
die Kulturbirnen mit den Früchten der nicht kultivierten,
nicht
unter menſchlichem Schutze wachſenden Birnen, den Holz-
birnen
, ſo können wir eine Formenreihe von Früchten auf-
ſtellen
, welche von dem einen Extrem mit nur ganz wenigen
Steinkörperchen
in der um das Kernhaus ſich herumziehenden
Zone
hindurchgeht durch verſchiedene Stadien bis zu einer Frucht,
die
in der nämlichen Zone ſo dicht mit Steinkörperchen beſetzt
iſt
, daß dieſe ſich gegenſeitig berühren und nach dem Aus-
trocknen
der Frucht ſo feſt aneinander haften, daß auch das
ſchärfſte
Meſſer die Zone nicht durchzuſchneiden vermag.
Vgl.
zu dem Geſagten die Abbildung Fig. 2 b.
Schließlich wird unſere Anſicht dadurch unterſtützt, daß
die
nächſtverwandten Gattungen der Birne wirklich Stein-
früchte
beſitzen, und zwar iſt entweder, wie bei der Miſpel,
jedes
Fruchtfach von einer Steinſchicht für ſich umgeben, ſo
daß
mehrere getrennte Kerne vorhanden ſind, oder es findet
ſich
in der Frucht durch Verſchmelzung der Steinſchichten unter-
einander
nur ein einziger Kern, wie bei einigen Weiß-
dornarten
, oder endlich es wird das ganze Kernhaus von einer
gemeinſamen
Steinſchicht umſchloſſen, wie es hier für die
Urbirne
angenommen wird, und dieſen Fall zeigen z.
B. die
Früchte
der oſtindiſchen Gattung Stranvaesia.
Wichtig iſt es
nun
, daß ſich auch für die pergamentartige, innerſte Schicht der
Fruchtfächer
der Birnen Schichten nachweiſen laſſen, welche die
inneren
Flächen der Fruchtfächer der Miſpel, des Weißdorns
und
von Stranvaesia bekleiden;
ſie beſtehen in allen
53046 aus dickwandigen, geſtreckten Zellen, während, wie ſchon geſagt,
die
reichlicher entwickelte, äußere Schicht des Kernes aus genau
denſelben
Zellen zuſammengeſetzt iſt, wie die der Steinkörper
im
Fleiſch der Birnen.
Die Bedeutung der Steinkörperchen, die wir ſo ſpeziell
für
die Birne wahrſcheinlich gemacht zu haben glauben, läßt
ſich
ungezwungen auf alle apfelfrüchtigen Pflanzen, ſowie
überhaupt
auf alle diejenigen Pflanzen übertragen, die im
Fruchtfleiſche
Steinkörper beſitzen.
Die Anordnung der Stein-
körper
iſt immer dieſelbe, wie die vorhin bei der Birne an-
gegebene
.
Ja, es giebt Quitten, deren Früchte wie die in
Fig
.
2 b dargeſtellte Birne gebaut ſind: um das Kernhaus
findet
ſich eine aus dicht gedrängten Steinkörpern beſtehende
Schicht
, die ihrerſeits von einer verhältnismäßig ſchwach ent-
wickelten
Fleiſchſchicht umgeben iſt.
XVIII. Die Eigenſchaften der Skelettzellen.
Die Eigenſchaften der Skelettzellen entſprechen natürlich
ihrer
Funktion.
Sie ſind vor allen Dingen das feſteſte Gewebe,
welches
die Pflanzen überhaupt entwickeln.
Um die Feſtigkeit und die Elaſtizitätsverhältniſſe des Skelett-
gewebes
zu prüfen, entfernt man aus baſtreichen Geweben, alſo
ſolchen
, die viel Skelettgewebe enthalten, einen Streifen aus
Baſt
reſp.
Collenchymzellen von beſtimmter Dicke. Ein ſolcher
Streifen
wird an dem einen Ende befeſtigt und an dem frei
herabhängenden
Ende mit einer Vorrichtung zur Aufnahme
von
Gewichten verſehen.
Aus ſolchen Experimenten hat ſich
ergeben
, daß ein Faden friſcher Baſtzellen von einem Quadrat-
millimeter
Querſchnitt 15—20, zuweilen ſogar 25 kg zu tragen
vermag
, ohne daß die Elaſtizitätsgrenze überſchritten
53147 d. h. ohne daß nach der Entfernung der Gewichte eine bleibende
Verlängerung
die Folge wäre.
Wenn man dieſes Tragver-
mögen
mit demjenigen des Eiſens vergleicht, welches bei gleichem
Querſchnitt
13,13 bis 24,6 kg beträgt, ſo ergiebt ſich die über-
raſchende
Thatſache, daß das Tragvermögen des ſtärkſten
Skelettgewebes
demjenigen des Eiſens nicht nachſteht.
Allein
ſobald
die Elaſtizitätsgrenze des Baſtes um ein ganz Geringes
überſchritten
wird, tritt nicht wie beim Eiſen eine dauernde
Verlängerung
ein, ſondern er reißt ſofort.
Hierin alſo liegt
der
Unterſchied zwiſchen Eiſen und Baſt.
Die Zugfeſtigkeit
des
Collenchyms ſteht der des Baſtes nur um ein Geringes
nach
.
Bei dieſem Gewebe wird die Elaſtizitätsgrenze ſchon bei
1
{1/2} bis 2 kg überſchritten und es tritt eine dauernde Ver-
längerung
ein, eine Eigenſchaft, die mit der Wachstumsfähigkeit
des
Collenchyms im Zuſammenhang ſteht.
Ein weiterer weſentlicher, mechaniſcher Unterſchied zwiſchen
dem
Baſt und dem Eiſen iſt der, daß die Dehubarkeit inner-
halb
der Elaſtizitätsgrenze bei den genannten beiden Mate-
rialien
eine durchaus verſchiedene iſt.
Während nämlich die
ohne
Überſchreitung der Elaſtizitätsgrenze zuläſſige Belaſtung
des
Eiſens dasſelbe nur um {1/1000} ausdehnt, erfahren die Baſt-
zellen
unter gleichen Bedingungen eine Dehnung von wenigſtens
1
pCt.
Es iſt wichtig, ſich klar zu machen, daß auf die Differenz
der
Dehnbarkeit die ſchöne und angenehme und, wir dürfen
auch
wohl ſagen, zweckmäßige Biegſamkeit der pflanzlichen
Konſtruktionen
beruht;
andernfalls wären alle mit einem Skelett
verſehenen
Gewächſe ſo ſtarr und unbeugſam wie eiſerne Gerüſte.
Das Spielen des Windes mit einer Baumkrone wäre dann
gar
nicht möglich, und ein Spaziergang durch Wieſe und Wald
wäre
ziemlich gewiß mit Unannehmlichkeiten verknüpft, wenn man
es
unterließe, ſich durch eine beſondere feſte Fuß- und Bein-
kleidung
gegen die dann wie Nadeln ſtechenden Grasblätter und
Halme
zu ſchützen.
53248
Ein weiterer, höchſt vorteilhafter Umſtand beſteht in dem
geringen
ſpezifiſchen Gewicht der Subſtanz der Pflanzenſkelette,
welche
eine Leichtigkeit und Schlankheit der pflanzlichen Kon-
ſtruktionsformen
ermöglicht, wie ſie der Menſch aus Mangel an
ſo
vorzüglichem Material auch nicht einmal annähernd zu er-
reichen
vermag.
Denn das Eiſen iſt ungefähr 5 Mal ſchwerer
als
das Material des Pflanzenſkelettes, und dies bedingt die
gedrungene
Konſtruktion der menſchlichen Bauten gegenüber den
pflanzlichen
Geſtaltungen.
Um einem Mißverſtändniſſe vorzubeugen, ſei ausdrücklich
erwähnt
, daß das dem Menſchen vom Pflanzenreich gelieferte,
ihm
unentbehrliche Holz zwar allerdings ſeine Feſtigkeit und
Brauchbarkeit
dem in demſelben vorhandenen Skelettgewebe ver-
dankt
, aber doch nicht ausſchließlich aus Skelettgewebe, aus
echten
Holzzellen beſteht, ſondern daneben noch andere pflanzliche
Gewebe
enthält.
Stände uns reines Skelettgewebe in ſo großen
Stücken
wie wir das Holz erhalten können zur Ver-
fügung
, ſo wäre uns das unſchätzbarſte Baumaterial geboten,
welches
dem Eiſen den Rang ſtreitig machen würde.
Aus dem Geſagten geht hervor, daß es eine außerordent-
liche
Errungenſchaft wäre, wenn es dem Menſchen gelänge, die
Subſtanz
des Pflanzenſkelettes zu kompakten Maſſen zu ver-
arbeiten
, um alſo als Material für Bauten und Apparate ver-
wendet
zu werden;
denn das Material iſt um kurz zu re-
kapitulieren
weit leichter als Eiſen und ſteht dieſem trotzdem
in
Bezug auf ſein Tragvermögen nicht nach.
XIX. Anordnung des Skelettgewebes im Pflanzen-
körper.
Die Pflanze ordnet nun ihre Skelettgewebe nach denſelben
Bauprinzipien
an, welche auch der Techniker als
53349 erkannt hat und daher bei ſeinen Bauten zur Anwendung bringt.
Je nach der verſchiedenen mechaniſchen Inanſpruchnahme eines
Gliedes
erfährt das widerſtandsfähige Material eine beſondere
Anordnung
.
Es handelt ſich hierbei immer darum, mit möglichſt
geringem
Materialaufwande die erforderliche Feſtigkeit zu er-
reichen
, und man kann dies natürlich mehr oder minder zweck-
mäßig
ausführen.
Die Bauprinzipien, welche bei den Pflanzen ganz beſonders
in
Betracht kommen, ſind diejenigen, welche bei biegungsfeſten,
alſo
bei Gebilden, die gebogen werden, zugfeſten und druck-
feſten
Konſtruktionen Verwendung finden.
Schon ein flüchtiger Blick lehrt, daß viele Organe auf
Biegungsfeſtigkeit
in Anſpruch genommen werden:
der Stamm
wird
vom Winde ſeitlich, der Blattſtiel durch die Schwere der an
demſelben
ſitzenden Blattſpreite herab gebogen.
Zur Herſtellung
der
Biegungsfeſtigkeit ordnet der Ingenieur das feſte Material
nach
außen, und zwar aus folgenden Gründen.
Wird ein langer
Gegenſtand
, etwa ein Balken gebogen, ſo erleidet wie man
ſich
leicht vorſtellen kann die konvex werdende Seite
einen
Zug, während die konkave Seite gedrückt wird, zwiſchen
dieſen
beiden am ſtärkſten in Anſpruch genommenen Teilen
nimmt
von außen nach innen die Spannung allmählich ab und
in
der Mitte iſt ſie gleich Null.
Dieſe mittlere Lage wird als
die neutrale Faſer bezeichnet.
Es iſt daher zweckmäßig, das
feſteſte
und beſte Material an die Stellen der ſtärkſten mecha-
niſchen
Inanſpruchnahme, alſo nach außen hin zu verlegen,
und
dieſe beiden Teile irgendwie miteinander zu verbinden.
Den gezogenen Teil nennt man dann die Zuggurtung, den
gedrückten
die Druckgurtung, und das Verbindungsmaterial
zwiſchen
den beiden Gurtungen wird als Füllung bezeichnet.

Wegen
der Querſchnittsform, die man gewöhnlich einem ſolchen
Apparat
zu geben pflegt, welche einem Doppel-T gleich iſt,
nennt
man denſelben T-Träger;
ſind die Gurtungen weniger
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
53450
breit, ſo ſagt man I-Träger. Da die Druckgurtung, wenn ſie
ſtark
gedrückt wird, leicht ſeitlich ausbiegt oder einknickt, ſo giebt
94[Figure 94]Fig. 5. man ihr die Querſchnittsform eines liegenden
I-Trägers
(Fig.
5).
Es iſt klar, daß die geſchilderte Konſtruk-
tion
nur bei vorzugsweiſe einſeitig biegungs-
feſten
Apparaten Wert hat, und in dieſer Weiſe
in
Anſpruch genommene Organe giebt es auch
bei
den Pflanzen.
Es giebt ja ſehr viele
wagerecht
oder nahezu wagerecht abſtehende
Pflanzenteile
, deren Eigengewicht immer in derſelben Richtung
wirkt
, die alſo einen vorzugsweiſe einſeitig-biegungsfeſten
Apparat
bilden;
auch eine mehr oder minder aufrechte Blatt-
95[Figure 95]Fig. 6.
Fig
. 6. Querſchnitt durch den Blattſtiel von Polypodium vulgare. Die
3
centralen punktierten Partieen ſtellen Meſtombündel dar. Das dieſelben um-
gebende
Gewebe berührt an zwei ſymmetriſch gelegenen Stellen die Haut, wo-
durch
der ſchraffiert dargeſtellte Skelettcylinder in eine obere Zuggurtung und eine
untere
hufeiſenförmige Druckgurtung geteilt wird. 24 mal vergrößert.
96[Figure 96]Fig. 7.
Fig
. 7. Querſchnitt durch einen Teil des Blattes (Blattſcheide) von Saccha-
rum
strictum. Die 4 unteren Druckgurtungen enthalten je ein Meſtombündel.
Im
Centrum ſowie rechts und links drei große Luftlücken, von welchen die beiden
letzteren
nur zum Teil angedeutet ſind. Etwa 50 mal vergrößert.
1
11 Wie in Fig. 6 iſt auch in den folgenden Figuren das Skelett-
gewebe
ſchraffiert, das Meſtom punktiert dargeſtellt worden.
53551 ſläche wird ihren Stiel vorwiegend einſeitig biegen, da der
Wind
begreiflicherweiſe ſenkrecht zur Blattfläche am ſtärkſten
wirkt
.
Die Unterſuchung ſolcher auf mehr einſeitige Biegung
in
Anſpruch genommener Organe zeigt in der That oftmals
die
für ſolche Fälle typiſche, zweckmäßigſte mechaniſche Kon-
ſtruktion
:
T-Träger, wie ſie wohlentwickelter kaum gedacht
werden
können.
Man vergleiche z. B. nur die Figuren 6 u. 7:
beide zeigen deutlich T-Träger mit unterſchiedenen Druck-
und
Zuggurtungen, ganz wie der Ingenieur es verlangt.
In
Fig
.
6 beſitzt der obere Teil des Skelettgewebes, der die Zug-
gurtung
vorſtellt, die Form einer einfachen Lamelle, während
die
Druckgurtung auf dem Querſchnitt faſt hufeiſenförmig er-
ſcheint
.
Der ſo entſtehende Träger läßt ſich auf das Schema
Fig
.
5 zurückführen. Auch Fig. 7 zeigt formverſchiedene Zug-
und
Druckgurtungen.
Als Füllungen der Träger dienen oft-
mals
nahrungleitende Bündel (Meſtombündel), denen in dieſer
Weiſe
durch Anlehnung an die eine oder an die beiden
Gurtungen
ein mechaniſcher Schutz zu teil wird.
Meſtom-
bündel
ordnen ſich gern in der neutralen Schicht, weil ſie dort
wie wir ſahen am wenigſten mechaniſchen Angriffen
ausgeſetzt
ſind.
XX. Allſeitig biegungsfeſte Organe.
Denken wir uns mehrere T- und I-Träger derartig ver-
einigt
, daß ſie ihre neutrale Achſe gemeinſam haben (Fig.
8),
ſo
erhalten wir einen mehrſeitig biegungsfeſten Apparat.
Die
beſte
, allſeitig-biegungsfeſte Konſtruktion, nämlich den hohlen
Cylinder
reſp.
die hohle Säule, erhält man hieraus durch eine
einfache
Ableitung.
Nach dem Prinzip der hohlen Säule ſind nun auch
53652 allſeitig-biegungsfeſten Stämme und Stengel der Pflanzen ge-
baut
.
Schon die hohlen Blütenſchäfte und hohlen Grashalme
97[Figure 97]Fig. 8.
Mehrſeitig
biegungs-
feſte
Konſtruktion.
deuten, ohne daß man mikroſkopiſche Unter-
ſuchungen
anzuſtellen braucht, auf den er-
wähnten
Bau.
Eine eingehendere Prüfung
jedoch
zeigt, daß die Pflanze in der mannig-
faltigſten
Art und Weiſe baut, daß ſie
verſchiedenartige
Konſtruktionsſyſteme aus-
bildet
, von denen wir einige Beiſpiele be-
trachten
wollen.
Es ſei gleich vorausge-
ſchickt
, daß unſere in die Dicke wachſenden
Bäume
wegen der komplizierten Verhält-
niſſe
beſonders beſprochen werden ſollen und daß ſie vorläufig
unberückſichtigt
bleiben.
98[Figure 98]Fig. 9.
Halber
Querſchnitt durch den hohlen
Stengel
von Molinia coerulea. In den
gerippten
Skelett-Hohlcylinder ſind klei-
nere
Meſtombündel eingebettet. Die ſich
an
die Innenfläche des Cylinders anleh-
nenden
größeren Bündel ſind von Stereom
umgeben
, welches mit dem Cylinder in
Verbindung
ſteht. Etwa 20 mal ver-
größert
.
Wie eben geſagt, wenden
alſo
die Pflanzen in ihren
Organen
, um einen beſtimm-
ten
mechaniſchen Effekt zu
erzielen
, die mannigfaltigſten
Konſtruktionen
ihrer Skelett-
teile
an.
Man kann ja über-
haupt
in vielen Fällen, um
dasſelbe
zu erreichen, ver-
ſchiedene
Wege einſchlagen.
Auch die Ingenieure wenden
verſchiedene
Konſtruktions-
arten
, z.
B. beim Brückenbau
an
:
es giebt außer den ge-
wöhnlichen
Brücken noch
Hängebrücken
, ſchwimmende Brücken u.
ſ. w.
Betrachten wir unter dem Mikroſkop den Querſchnitt eines
Grashalmes
(Fig.
9), ſo finden wir ſein mechaniſches Gewebe
in
der Peripherie angeordnet, und die Meſtombündel legen
53753 innen an den Skelettcylinder an oder ſind auch oft in dem-
ſelben
eingebettet, wodurch ihnen alſo ein beſonderer Schutz zu
teil
wird.
Die peripheriſche Skelettröhre berührt jedoch nicht
die
Oberfläche des Organes unmittelbar.
In vielen Fällen
wird
dieſelbe allerdings, wie in dem abgebildeten Fall, mit
derſelben
durch längsverlaufende Rippen aus Skelettgewebe
verbunden
, und in den außen von der Organoberfläche, innen
vom
Skelettcylinder und ſeitlich von den Rippen begrenzten
99[Figure 99]Fig. 10.
Halber
Querſchnitt durch den hohlen Stengel
von
Equisetum hiemale. Skelettcylinder ganz
peripheriſch
gelegen. Etwa 20 mal vergrößert.
Längsſtreifen befindet
ſich
ein Gewebe, welches
die
Aufgabe hat, die
aus
der Luft aufge-
nommene
, gasförmige
Nahrung
, nämlich Koh-
lenſäure
, in organiſche
Subſtanz
umzuarbeiten:
zu aſſimilieren. Man
könnte
nun die berech-
tigte
Frage auſwerfen,
warum
nicht ſtets, wie
z
.
B. in Fig. 10, das
Skelettgewebe
die äu-
ßerſte
Peripherie einnimmt, wie dies nach dem Vorher-
gehenden
für biegungsfeſte Organe mechaniſch am günſtigſten
iſt
, ſondern warum dasſelbe vielmehr in Fig.
9 zum Teil einem
anderen
Gewebe Platz macht.
Nun, man muß bedenken, daß
die
Pflanze ja nicht bloß ein mechaniſches Gerüſt iſt.
Die
Gewächſe
haben nicht allein für die Herſtellung der nötigen
Feſtigkeit
zu ſorgen, ſondern ſie müſſen ſich auch, wenn ſie
beſtehen
bleiben ſollen, ernähren, und haben außerdem für die
Fortpflanzung
u.
a. Sorge zu tragen. Solche Lebensverrichtungen
ſind
aber bei den höheren Gewächſen, welche ſich durch eine
weitgehende
Arbeitsteilung in den Funktionen
53854 eigenen Organen übertragen, deren räumliche Anordnung in
den
Pflanzengliedern in vielen Fällen für eine ausgiebige und
genügende
Leiſtungsfähigkeit ebenſowenig gleichgültig iſt, wie
für
die ſpezifiſch mechaniſchen Konſtruktionsteile.
Nun aber
erfordert
gerade das aſſimilierende, grüne Gewebe bei ſeiner
Funktion
den Einfluß des Lichtes, weil die Produktion organi-
ſcher
Subſtanzen aus der Kohlenſäure und dem Waſſer nur
bei
einer hinreichenden Beleuchtung geſchieht.
Am ergiebigſten
100[Figure 100]Fig. 11.
Fig
. 11. Hälfte des Querſchnitts durch den Blütenſchaft von Anthericus
Liliago
. Zwiſchen der Skelettpartie und der Epidermis befindet ſich ein Ring
von
Aſſimilationsgewebe. Im Grundparenchym finden ſich Meſtombündel, von
denen
ſich einige an die Innenflächen des Skelettcylinders anlegen. Etwa 15 mal
vergrößert
.
101[Figure 101]Fig. 12.
Fig
. 12. Hälfte des Querdurchſchnitts durch den Blütenſchaft von Arum
maculatum
mit mit peripheriſchen Stereomſträngen. Über den ganzen Querſchnitt
zerſtreut
nahrungleitende Stränge. Etwa 10 mal vergrößert.
werden aber die zu äußerſt gelegenen Partieen der Organe
beleuchtet
, und aus dem Lichtbedürfnis des Aſſimilations-
gewebes
erklärt es ſich, daß dasſelbe die peripheriſchen Orte
aufſucht
.
Das Skelettgewebe beanſprucht alſo in biegungsfeſten
Organen
die peripheriſchen Orte aus den früher dargelegten
mechaniſchen
, das Aſſimilationsgewebe aus den eben erörterten
Gründen
.
Beide alſo machen ſich die gleichen Orte im Orga-
nismus
ſtreitig, und es entſteht ſomit zwiſchen ihnen eine
53955 kurrenz um dieſelben Plätze. Entweder regelt ſich dies dadurch,
daß
ſich die in Rede ſtehenden Gewebeſyſteme ungefähr gleich-
102[Figure 102]Fig. 13.
Hälfte
des Querſchnitts durch einen die Blüten-
ſtände
tragenden Stengelteil von Calamus specta-
cilis
, einer Schling-Palmen-Art. Etwa 15 mal
vergrößert
.
mäßig in den Raum
zunächſt
der Oberfläche
teilen
, oder aber die
Anſprüche
der Aſſimi-
lation
wiegen vor, und
das
Aſſimilationsge-
webe
drängt das Ske-
lettgewebe
etwas von
der
Oberfläche zurück:
Fig. 11.
Nicht immer bil-
det
das Stereomgewebe
einen
kontinuierlichen
Cylinder
, wie in den
betrachteten
Fällen, oftmals ſind es peripheriſch angeordnete
Pfoſten
, welche das feſte Gerüſt darſtellen, wie in Fig.
12.
103[Figure 103]Fig. 14.
Hälfte
des Querſchnitts durch den Stengel
von
Scirpus caespitosus. Etwa 60 mal
vergrößert
.
Die Meſtombündel ver-
laufen
hier allein im zen-
tralen
Teil des Stengels.
Oftmals lehnen ſich aber
wie dies der Querſchnitt
Fig
.
13 durch den Stengel-
teil
einer Palme zeigt
die
Meſtombündel zu ihrem
Schutze
an die Skelettſtränge,
ſie
in ihrem Verlaufe be-
gleitend
.
In Fig. 14 endlich
wird
jedes Meſtombündel
von
je zwei gegenüberliegenden Skelettſträngen umſchloſſen und
hierdurch
ebenſo geſchützt wie das Rückenmark in der Wirbel-
ſäule
.
In den beiden letztbeſchriebenen Fällen (Fig. 13 und
54056 bilden, wie man ſofort ſieht, die Skelettſtränge gleichzeitig das
biegungsfeſte
Gerüſt der ganzen Stengel.
Beſonders bemerkenswert erſcheint die Anordnung des
Stereoms
in einer Form, die worauf Potonié aufmerkſam
gemacht
hat an die Wellblechkonſtruktionen der Ingenieure
erinnert
.
Fig. 15 zeigt den Querſchnitt durch den aufrechten
Stamm
eines Baumfarn aus der Familie der Cyatheaceen.
Die peripheriſch angeordneten V-förmigen Meſtombündel ſind
von
ſtarken Stereomſchichten umgeben, die zuſammengenommen
104[Figure 104]Fig. 15.
Hälfte
des Querſchnitts durch den aufrechten,
ziemlich
hohen Stamm eines Baumfarn aus der
Familie
der Cyatheaceen. Etwa um {1/2} ver-
kleinert
.
einen doppeltenWell-
blechmantel”
herſtellen.
Daß die Anwendung
des
widerſtandsfähigen
Materials
in dieſer
Art
ſehr zweckmäßig
iſt
, geht aus der Well-
blechtheorie
hervor.

Dieſe
beſagt, daß der
Widerſtand
, welchen
eine
wellenförmig ge-
bogene
Platte von
einer
gewiſſen Wand-
dicke
einer biegenden Kraft entgegenſetzt, bedeutend größer iſt
als
der Widerſtand, den bei demſelben Materialaufwand eine
ebenſolche
, jedoch ungewellte Platte derſelben Kraft entgegen-
ſetzt
.
Die Widerſtandsfähigkeit ſteigert ſich mit der Höhe der
Wellenberge
und der Tiefe der Wellenthäler.
Es folgt hieraus,
daß
zur Erzielung des nämlichen Effektes der wellenförmige
Körper
weniger Material gebraucht als der ungewellte.
Natür-
lich
muß der gewellte Körper dabei der einwirkenden Kraft
eine
ſeiner beiden Wellenflächen zuwenden.
Was nun unſere nachträglich in die Dicke wachſenden
Pflanzen
, alſo unſere Laub- und Nadelhölzer angeht, ſo iſt
54157 bei dieſen das widerstandsfähige Material im Holze durch den
ganzen
Stamm verbreitet.
Im erſten Jahre werden allerdings
auch
hier öfter peripheriſche Skelettrippen oder Skelettcylinder
gebildet
, die das vorläufige biegungsfeſte Syſtem darſtellen;
ſobald jedoch die Pflanze anfängt in die Dicke zu wachſen,
wird
durch Korkbildung meiſt dieſes ganze Syſtem abgeworfen,
da
von dem Cambiumring im Holze neue Stereïden, die nun-
mehr
die Feſtigung des Ganzen übernehmen, gebildet werden.

Das
Holz der Laubhölzer beſteht 1.
aus Stereïden (Libriform-
zellen
), 2.
einem ſtärkeleitenden und ſpeichernden Gewebe:
Amylom
(Holzparenchym und Markſtrahlen), ſowie endlich
3
.
aus dem Hydrom (Gefäße), welches der Waſſerzirkulation
dient
.
Die Nadelhölzer hingegen haben in ihrem Holz eine
einfachere
Zuſammenſetzung, indem die Funktion der Stereïden
und
des Hydroms den Hydroſtereïden (Tracheïden) zufällt und
zwar
in der Weiſe, daß die im Frühjahr gebildeten Zellen
mehr
der Waſſerzirkulation dienen, alſo Hydroïdennatur zeigen,
die
im Herbſt gebildeten hingegen vermöge ihrer Dickwandig-
keit
Stereïdencharakter beſitzen.
XXI. Bau der auf Zug in Anſpruch genommenen
Organe.
Zugfeſte Organe ſind ſehr häufig. Wurzeln und unter-
irdiſche
Organe überhaupt haben oft einen bedeutenden Zug
auszuhalten
.
Eine ſeitliche Baumwurzel wird mächtig gezogen,
wenn
der zugehörige Stamm vom Winde gebogen wird.
Die
Anordnung
der mechaniſchen Elemente wäre in ſolchen Organen
aus
theoretiſchen Gründen gleichgültig, da es für zugfeſte Kon-
ſtruktionen
einzig auf die Querſchnittgröße des
54258 widerſtandsfähigen Materiales ankommt; aber es iſt wichtig,
die
Einrichtung ſo zu treffen, daß eine möglichſt gleichmäßige
105[Figure 105]Fig. 16.
Größerer
Teil des Querſchnitts durch die
Wurzel
von Chamaedorea oblongata.
Die
centrale Skelettpartie wird von
Meſtom-Elementen
umgeben, die bis zu
der
durch einen einfachen kreisförmigen
Strich
angedeuteten Umgrenzung reichen.
Etwa 30 mal vergrößert.
Einwirkung der Zugkraft
auf
alle vorhandenen Ste-
reompartieen
erreicht wird.
Die Erfahrung der Techniker
lehrt
, daß für ſolche Fälle
die
Anwendung eines ſo-
liden
, kompakten Stranges
vor
zerſtreuten Strängen
den
Vorzug verdient.
Aus dem Geſagten er-
giebt
ſich, daß die auf Zug
in
Anſpruch genommenen
Organe
, im Gegenſatz zu
den
auf Biegung in An-
ſpruch
genommenen, ihre
Skelettteile
mehr dem Centrum nahe oder im Centrum ſelbſt
anzubringen
beſtrebt ſein werden, um die mechaniſch wirkſamen
106[Figure 106]Fig. 17.
Hälfte
des Querſchnitts durch das Rhizom einer
Carex-Art
. Etwa 40 mal vergrößert.
Elemente möglichſt
dicht
aneinander zu
bringen
.
Die Unter-
ſuchung
maßgebender
Fälle
zeigt in der That
die
geforderten Quer-
ſchnittsanſichten
.
Man
vergleiche
zu dem Ge-
ſagten
nur die Figuren
16
und 17.
Die äuße-
ren
Skelettcylinder in
den
beiden Figuren
ſind
Schutzmittel gegen den Druck des die Organe umgebenden
Bodens
, alſo druckfeſte Konſtruktionen.
54359
Daß Skelettzellen außer den angeführten Hauptfällen noch
mannigfache
Verwendung finden und auch oft lokalmechaniſchen
Zwecken
dienen, iſt ſelbſtverſtändlich.
Die Leitbündel werden
oftmals
von Skelettſträngen begleitet, die die Feſtigkeit der
ganzen
Pflanze kaum unterſtützen:
in anderen Fällen ſind ſolche
Bündelbelege
, wie wir geſehen haben, allerdings gleichzeitig das
biegungsfeſte
Gerüſt des Organs, in welchem die Bündel ver-
laufen
.
Daß in Fruchtwandungen zum Schutz der Samen
häufig
mechaniſche Zellen vorkommen, haben wir bereits er-
wähnt
.
In vielen Fällen ermöglichen ſie eine beſtimmte Art
des
Aufſpringens der Früchte (dynamiſche Zellen).
XXII. Das Leben eines Baumes.
Das Leben eines Baumes iſt dem Leben einer einzelligen
Pflanze
ganz gleich;
es findet nur der Unterſchied ſtatt, daß
in
einem Baume gewiſſermaßen ein ganzer großer Staat von
vielen
Millionen Zellen vorhanden iſt, die gemeinſam leben,
und
in welchen deshalb eine höhere Organiſation eintritt.
Ein einfaches Pflänzchen, das nur aus einer einzigen Zelle
beſteht
, nimmt ebenſo gut Speiſen in ſich auf, wie ein großer
Baum
, wächſt ebenſo wie dieſer und bildet gleich dieſem auch
neue
Zellen, welche neue Pflänzchen hervorrufen.
Aber es
gleicht
das Leben eines ſolchen Pflänzchens dem Leben eines
einzelnen
Menſchen auf einer wüſten Inſel, während das Zellen-
leben
in einem Baume, wie uns die vorausgehenden Abſchnitte
klar
gemacht haben, dem Leben des Einzelnen in einem großen
Staate
gleicht.
Ein Einſiedler muß alles, was er zum Leben
bedarf
, ſich ſelber zu beſchaffen ſuchen.
Er muß für ſich ſelber
Bäcker
und Koch, Baumeiſter, Schneider, Schuhmacher,
54460 u. ſ. w. , alles in einer Perſon ſein; in einer geordneten Staats-
geſellſchaft
iſt dies nicht nötig, hier verrichtet der Einzelne nur
eine
Art Arbeit, die allen Übrigen zu Gute kommt.
Die
Menſchen
teilen ſich in die Arbeiten.
Einige übernehmen das
Backen
für alle Übrigen, andere übernehmen das Schneidern,
wieder
andere verſorgen alle Übrigen mit Schuhwerk, und dieſe
Teilung
all’ der Arbeiten, die eigentlich jeder für ſich ſelber
machen
müßte, geht ſo weit, daß ein Menſch ſich ſehr wohl
befindet
, ſobald er ſich nur die Fertigkeit in einer einzelnen
Arbeit
erworben hat und dieſe auch ausübt.
Den Zellen eines Baumes geht es ebenſo.
Wurzelzellen nehmen die Nahrung aus dem Boden; aber
nicht
für ſich allein, ſondern für alle Zellen des Baumes.
Sie verrichten eine Arbeit, die die übrigen Zellen nicht ver-
ſtehen
.
Die Nahrung teilt ſich den Zellen des Stammes mit,
und
dieſe leiſten dafür eine andere Arbeit.
Sie bilden ſich
zu
maſſiven Trägern der Krone des Baumes aus.
Die
Zellen
des Stammes führen ein ganz eigenes Leben und ver-
richten
eine ganz eigentümliche Arbeit, die wir in Kürze kennen
gelernt
haben.
Wer ſchon einmal beobachtet hat, wie es Bäume in
Wäldern
giebt, welche inwendig ganz und gar ausgefault
und
hohl ſind, die aber trotzdem Blätter und Früchte tragen,
der
wird ſchon die Bemerkung gemacht haben, daß eigentlich
die
Nahrung des Baumes nicht durch den ganzen, dicken
Stamm
aufſteigt, ſondern nur durch die unter der Borke des
Stammes
liegende Schicht.
Und ſo iſt es auch. Ein Baum
ſtirbt
ab, ſobald man an irgend einer Stelle des Stammes
einen
Schnitt rings durch die Borke und die unter ihr liegende
Schicht
macht.
In der That nimmt an dem eigentlichen Leben des Baumes
nur
immer die äußere Schicht des Stammes teil.
Die Zellen
dieſer
Schicht befinden ſich in Thätigkeit.
Die früher
54561 nun innen liegenden Schichten, Jahresholzringe, dienen nur
dazu
, den ganzen Bau zu tragen.
Durchſchneidet man einen
Baumſtamm
, ſo kann man auf der Schnittfläche ſehr deutlich
die
Kreiſe ſehen, welche mit jedem Jahr entſtanden ſind, ſo daß
man
an der Zahl derſelben das Alter des Baumes ab-
zählen
kann.
Verrichten ſo die Zellen des Stammes eine ganz andere
Arbeit
als die der Wurzeln, und kann man die Hauptmaſſe
derſelben
als die feſten Stützen des ganzen Zellenſtaates an-
ſehen
, ſo haben die Blätter wieder eine ganz andere Arbeit zu
verrichten
, die Beſtimmung ihres Lebens iſt wiederum eine
andere
.
Ein Baum zieht ſeine Nahrung einerſeits aus der Erde,
anderſeits
, und zwar einen Hauptnahrungsſtoff, die Kohlen-
ſäure
, entnimmt er der Luft, und dies geſchieht vornehmlich
durch
die grünen Blätter.
Der Luft iſt ja immer ein kleiner Teil Kohlenſäure bei-
gemiſcht
.
Dieſe Kohlenſäure bildet eine höchſt wichtige Speiſe
der
Pflanze, und zu dieſem Behuf beſitzen die Blätter außer-
ordentlich
feine Öffnungen, durch welche die Kohlenſäure von
den
Pflanzen aufgenommen wird.
(Vergl. Teil VII, S. 14
und
15, Fig.
3 und 4.) Der große Reichtum an Blättern,
welche
jeder Baum beſitzt, iſt deshalb nötig, damit der Baum
ſtets
von einer großen Maſſe Luft umgeben iſt.
Jedes einzelne
Blatt
eines Baumes iſt mit unzähligen Öffnungen zur Ein-
nahme
der Kohlenſäure ausgeſtattet, und es vermag daher ein
Baum
hinreichend dieſe ſeine Speiſe aus der Luft zu beziehen,
obwohl
die Kohlenſäure nur in ſehr geringer Portion der
Luft
beigemiſcht iſt.
Aber auch eine Ausſcheidung unbrauchbarer Stoffe geſchieht
durch
die Blätter.
Die Blätter dunſten Waſſer aus und geben
Sauerſtoff
von ſich.
Die Blätter alſo, die ebenfalls nichts ſind
als
aneinandergefügte, feine Zellen, verrichten eine
54662 Arbeit, die dem ganzen Baum zu gute kommt, und bilden
daher
den nützlichen und thätigen Bürger im Haushalt des
großen
, ganzen Zellenſtaates, den ein Baum darſtellt.
XXIII. Das Wunder der Blüte.
Das Leben eines Baumes iſt von ſeiner Entſtehung bis
zur
Zeit ſeiner Blüte und Befruchtung einigermaßen erklärlich
durch
das gemeinſame Leben der Zellen, aus welchen er beſteht.
Das Rätſelhafte im Leben eines Baumes iſt nicht viel größer
als
das Rätſel im Leben einer einzelnen Zelle.
Denn ein
Baum
iſt nichts als ein Staat einzelner Zellen.
Bei der Blüte und Befruchtung aber tritt ein neues Rätſel
ein
, deſſen Löſung ſchon bei weitem ſchwieriger iſt.
Ein jeder Baum, ſowie jede höhere Pflanze überhaupt,
entwickelt
zu einer beſtimmten Zeit eigentümliche Blüten.
Dieſe
Blüten
ſind in Wahrheit auch nur ein Gewebe von Zellen.
So verſchieden ſie auch an Farbe, Geſtalt, Geruch und Inhalt
ſind
, ſo entſtehen ſie doch an ſich nicht anders als diejenigen
Zellen
, die etwa die als Laubblätter bezeichneten grünen Blätter
bilden
;
aber in der Blüte liegt ein beſtimmter Zweck, wenn
man
ſo ſagen darf, der nicht mehr mit dem Leben des Baumes
in
Verbindung ſteht, ſondern einzig und allein darauf ausgeht,
einen
Teil des Baumes vom Baume zu trennen und einen
neuen
Baum entſtehen zu laſſen, der mit dem alten nicht mehr
im
Zuſammenhang iſt.
So lange man von dem Zweck der Blüte abſieht, kann
man
ſich vorſtellen, daß in jeder Zelle des Baumes einzig und
allein
Kräfte thätig ſind, durch welche neue Zellen gebildet
werden
.
Entſtänden auch aus dieſen Zellen ohne weiteres
54763 und Früchte, ſo würde man ſich vorſtellen können, daß ein
gewiſſer
Überſchuß, den der Baum an Säften und Kräften
habe
, durch die Früchte abgethan werde.
Allein das iſt nicht
der
Fall;
es geht vielmehr mit einer Blüte, die Frucht werden
ſoll
, etwas Rätſelhaftes vor, das nicht mehr in der Zelle ſelber
ſteckt
, ſondern von außen her in ſie zu dieſem beſtimmten Zweck
hineingetragen
wird.
Wir meinen die Befruchtung.
Um dieſes Rätſelhafte ſo recht einzuſehen, müſſen wir noch
an
Folgendes erinnern.
Jedermann weiß es ſicherlich, daß man von einem Baum
nur
einen kleinen Zweig abzuſchneiden und dieſen in die Erde
zu
ſtecken braucht, um einen jungen Baum entſtehen zu laſſen.
In der Rinde des Zweiges ſitzen nämlich Wurzelzellen, in dem
Zweige
ſelbſt exiſtieren Stammzellen, an dieſen befinden ſich
auch
Stengel- und Blattzelleu, ſo daß ein kleiner Zweig eigent-
lich
ein kleiner Baum iſt.
Steckt man ihn in die Erde, ſo
giebt
man ihm Gelegenheit, ſeine Wurzelzellen reicher zu ent-
wickeln
und ſchlägt er erſt Wurzel, ſo vermehren ſich ſeine
übrigen
Zellen ganz naturgemäß;
er wächſt alſo und wird ein
neuer
Baum.
Durch ſolcheAbleger” könnte ſich alſo das Daſein der
Pflanzen
ganz gut fortpflanzen und vermehren;
und in der
That
geſchieht dies auch ſo, ſowohl künſtlich wie natürlich.
Sowohl Menſchenhände, wie auch viele Pflanzen und Bäume
ſelber
bilden ſolcheAbleger”.
Gewiſſe Blüten tragen zwar die Möglichkeit in ſich, zu
Früchten
zu werden;
aber ſie werden dies nun und nimmer-
mehr
, ſobald nicht noch etwas Eigentümliches dazu kommt,
nämlich
die Befruchtung.
Wie dies zuſtande kommt, hat man ſehr genau beobachtet;
was aber noch dahinterſteckt, das iſt bis jetzt nur geahnt, und
wir
haben in Teil I S.
118 das Nötige hierüber geſagt.
Es giebt verſchiedene Blüten. Es giebt Blüten,
54864 in der Mitte ihres Kelches einen Teil haben, der befruchtet
werden
muß, dieſen nennt man den weiblichen Teil der
Blüte
;
rings um dieſen Teil befinden ſich feine Staubbehälter,
welche
man den männlichen Teil der Blüte nennt.
Dieſer
Blütenſtaub
beſteht wiederum auch nur aus einzelnen Zellen,
Bläschen
, die Protoplasma in ſich einſchließen.
Soll nun der
weibliche
Teil der Blüte zur Frucht werden, ſo muß durchaus
ſolch’
ein männliches Blütenſtäubchen zu ihm gelangen und es
wie man es nennt befruchten.
Es giebt aber auch Blüten, die an ſich keinen ſogenannten
männlichen
Teil haben;
dafür aber wachſen auf demſelben
Baum
noch andere Blüten, die nur männlich ſind, und der
Fruchtſtaub
muß hier von dieſer männlichen Blüte zur andern
gelangen
, um dieſe zu befruchten.
Es giebt aber auch Bäume,
die
nur weibliche Blüten tragen;
ſie werden aber befruchtet
durch
Bäume derſelben Gattung, welche nur männliche Blüten
haben
, und deren Blütenſtaub durch Inſekten u.
ſ. w. zu den
weiblichen
Bäumen getragen wird, in der Weiſe, wir wie das
in
Teil I S.
94—118 eingehend auseinandergeſetzt haben.
Sehen wir auch von all den oft ſehr wunderbaren Um-
ſtänden
ab, durch welche eine Zelle, der Blütenſtaub, zur andern
Zelle
, den weiblichen Fruchtknoten, gelangt, ſo findet man feſt-
ſtehend
, daß jede weibliche Blüte den Zweck hat, eine Frucht
zu
werden, daß aber in ihr nicht die Kraft liegt, dieſen Zweck
zu
erreichen, ſobald ihr nicht von einer andern, mit ihr gar
nicht
in Verbindung ſtehenden Zelle, die ſogar oft erſt von einem
andern
Baume herkommen muß, noch etwas hinzugetragen wird.
Hier ſehen wir alſo nicht mehr das Entwickelungsleben
einer
Zelle, ſondern die weit weniger erklärliche Einwirkung
zweier
Zellen von verſchiedener Natur und Beſchaffenheit zu
einem
beſtimmten Zwecke.
Dies iſt ein neues Moment im Pflanzenleben, das wir
näher
betrachten müſſen.
54965
XXIV. Ein ſich klärendes Rätſel.
Das Rätſelhafte in dem Daſein einer Blüte beſteht darin,
daß
ebenſo die männliche Blüte wie die weibliche Blüte für
ſich
ſelber ganz zwecklos erſcheinen oder anders ausgedrückt
weder
den Pflanzen-Individuen noch der Pflanzenart (d.
h.
der Erhaltung derſelben) irgendwie nützen, und daß ſie gleich-
wohl
einen ganz beſtimmten Zweck haben, der nur dann erreicht
wird
, ſobald ein Teil der männlichen Blüte zur weiblichen
gelangt
.
Denken wir uns nun den vielfach in der Pflanzenwelt
vorkommenden
Fall, daß weibliche und männliche Blüten nicht
auf
einem und demſelben Baume, ſondern getrennt auf zwei
oft
weit von einander entfernten Bäumen wachſen, ſo ſehen
wir
auf jedem dieſer Bäume eine Schöpfung, die allein ihren
ganz
beſtimmten Zweck, eine Frucht zu erzeugen, nicht er-
reichen
kann und des andern Baumes bedarf, um ihren Zweck
zu
erfüllen.
Dies iſt aber etwas, das nur in der lebenden Natur
vorkommt
;
in der nichtlebenden Natur finden wir nichts
dergleichen
, ja nicht einmal eine Erſcheinung, die nur entfernt
eine
Ähnlichkeit damit hat.
Die männlichen Blüten ſind außerordenlich reich an Blüten-
ſtaub
, und viele Billionen Körner dieſes Staubes gehen ver-
loren
, ohne zu befruchten;
es genügt, wenn nur ein einziges
ſolches
Stäubchen auf eine weibliche Blüte gelangt, um daſelbſt
eine
Frucht zu erzeugen.
Dieſer Umſtand iſt zwar wunderbar
genug
, aber es läßt ſich doch mindeſtens begreifen, und man
braucht
für die Wanderung eines ſolchen Blütenſtäubchens
keine
geheime beſondere Kraft anzunehmen, ſondern kann ſie
auf
Rechnung des Windes, der Inſekten u.
ſ. w. ſchreiben, die
die
Stäubchen von Blüte zu Blüte tragen, was auch wirklich
der
Fall iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
55066
Aber hierdurch iſt keineswegs das Rätſel gelöſt, daß auf
dem
einen Baume ein Ding ſich ausbildet, welches ganz un-
zweifelhaft
keinen andern Zweck hat, als eine Frucht zu werden,
daß
aber dieſer Zweck nicht erreicht werden kann, wenn nicht
auf
einem andern, oft meilenweit entfernten Baume etwas
wächſt
, das zu dieſem Zweck verhilft!
Die Naturwiſſenſchaft bemühte ſich bisher vergeblich, eine
Auflöſung
dieſes Rätſels zu finden;
ja, man war nicht einmal
imſtande
, ein richtiges Wort für dieſen unbegreiflichen Zu-
ſammenhang
zwiſchen zwei ganz von einander getrennten
Bäumen
zu erſinnen, aber wir ſind jetzt der Löſung nahe, da
ſchon
durch die Annahme, daß die Vererbungstendenzen der
beiden
ſich durch die Befruchtung vermiſchenden Individuen,
lebenſtörende
Eigentümlichkeiten ausgelöſcht werden können, der
Vorgang
durchaus begreiflich wird.
XXV. Das Rätſel des Lebens und das Rätſel
des Todes.
Auch derjenige, der nur oberflächlich die Natur betrachtet,
wird
bereits wahrgenommen haben, daß das Blühen und Früchte-
erzeugen
ſo eigentlich der Kern des Lebens der Pflanze iſt.
Wenn die Pflanze die Zeit der Blüte hat, dann iſt ſie
am
friſcheſten und kräftigſten.
Wenn die Blüte ſich zur Frucht
ausbildet
, beginnt ein Stillſtand im Wachstum der Pflanze.
Wenn die Frucht ſtark zunimmt, merkt man es der Pflanze an,
daß
ſie an Kraft verliert.
Wenn die Frucht reif geworden iſt,
dann
fällt ſie ab und mit dieſem Moment beginnt auch die
Pflanze
abzuſterben, ein großer Teil der Pflanzen für immer,
ein
anderer Teil, z.
B. die Bäume, dieſes Jahr oder
55167 deſtens doch für einige Zeit, ſodaß es ſich hier genauer
ausgedrückt
nur um eine Herabſetzung der Lebensthätigkeit
handelt
.
Wir beobachten alſo an einer Pflanze eine ganze Ge-
ſchichte
.
Zuerſt erwacht in ihr das Leben, und ſie wächſt für
ſich
ſelber;
ſodann, wenn ſie eine gewiſſe Stufe ihrer Ent-
wickelung
erreicht hat, treibt ſie Blüten.
Sind dieſe ausgebildet,
ſo
findet die Begattung derſelben ſtatt, die die Blüte fähig
macht
, zur Frucht zu werden.
Iſt es ſo weit gekommen, ſo
hat
die Pflanze meiſt aufgehört, für ſich zu leben;
ihre Haupt-
fähigkeit
iſt der Ausbildung der Frucht gewidmet.
Iſt die
Frucht
fertig, ſo iſt auch die Geſchichte der Pflanze, oder min-
deſtens
ein zeitweiliger Abſchnitt derſelben beendet.
Da aber die Frucht an ſich noch nicht die Hauptſache,
ſondern
der in ihr enthaltene Samen der unverkennbar wichtigſte
Teil
der Frucht iſt, da dieſer Samen wiederum die Beſtimmung
hat
, die ganze Geſchichte der vorhergegangenen Pflanze zu
wiederholen
, ſo iſt es vollkommen richtig, wenn man ſagt, daß
die
Pflanzen einen gewiſſen Lebenslauf fort und fort wieder-
holen
, einen Lebenslauf, der ein Entſtehen, ein Heranbilden,
ein
Ableben und ein Vergehen in ſich trägt;
aber zugleich dafür
ſorgt
, daß, ehe noch das Abſterben erfolgt, ein neuer Keim
des
künftigen Lebens vorhanden iſt, der eine ganz gleiche Ge-
ſchichte
des Lebens zu durchlaufen haben wird.
Auch der Tod der Pflanze iſt eifrig beobachtet worden;
man kennt die Erſcheinungen desſelben ziemlich genau.
Die Wurzelzellen fangen an unwirkſam zu werden. Stamm
und
Blätter der Pflanzen dunſten reichlicher Waſſer aus und
vertrocknen
deshalb.
Zum Teil werden ſie zu Holz, zum Teil
zu
Stroh, zum Teil fallen ſie welk zuſammen, ſodaß nicht nur
das
Waſſer verdunſtet, ſondern auch die Luftarten, aus welchen
ſie
beſtehen, entweichen und nur der nicht luftartige Beſtand-
teil
als ſtaubig mürbe Maſſe übrig bleibt.
Die
55268 Fabrik der Pflanze, in welcher aus Kohlenſäure, Waſſer u. ſ. w.
der organiſche Pflanzenſaft fabriziert wurde, gerät ins Stocken.
Das
Protoplasma verliert ſeine ehemalige Kraft, und mit ihnen
ſtirbt
alles andere ab.
So weit kennt man den Vorgang; aber man kennt den
Grund
desſelben nicht!
Die Wiſſenſchaft weiß nicht zu ſagen, was der Entwicke-
lung
einer Pflanze ein Halt! zuruft, ſobald ſie ſoweit iſt,
Früchte
hervorzubringen.
Man ſchließt nur aus all den Er-
ſcheinungen
, daß die reife Frucht der Zweck des Lebens der
Pflanze
iſt, und daß ihr Tod erfolgt, wenn ihr Zweck erfüllt iſt.
Es erfolgt der Tod der Pflanze, wenn ſie für das fernere
Leben
der Nachkommenſchaft, und zwar nur einmal in ihrem
Leben
oder wiederholt, wie bei unſeren Bäumen, geſorgt hat.
An der Wiege des künftigen Lebens baut ſich der Sarg des
gegenwärtigen
auf.
Die Pflanze ſtirbt, aber nicht die Pflanzen-
welt
.
Der Zweck der Pflanze, die Frucht der Pflanze, das
Kind
der Pflanze hat von der Mutter einen neuen Lebens-
zweck
geerbt;
es wird ſich bemühen, ebenfalls dieſen Zweck zu
erfüllen
, ebenfalls ſterben und ebenfalls denſelben Zweck weiter
vererben
!
XXVI. Vom Leben des Tieres.
Wir kommen jetzt zum Leben der Tiere, müſſen aber vor-
erſt
den innigen Zuſammenhang, welcher zwiſchen dem Daſein
der
Tiere und der Pflanzen ſtattfindet, recht deutlich zu machen
ſuchen
.
Alle Welt weiß, daß es Tiere giebt, welche Pflanzenkoſt
allein
eſſen.
Hierzu gehören u. a. im Weſentlichen unſere Haus-
tiere
.
Es giebt auch andere Tiere, welche man Fleiſcheſſer nennt.
55369 Unter dieſen verſteht man meiſtens die wilden Tiere. Sie
eſſen
nicht nur Fleiſch allein, ſondern überhaupt tieriſche Stoffe,
wie
Milch, Eier u.
ſ. w. Endlich giebt es Tiere, die gemiſchte
K
oſt verzehren, das heißt zum Teil Pflanzenkoſt, zum Teil
Tierſtoffe
.
Ein Tier dieſer Art iſt namentlich der Menſch.
Pflanzenſtoffe ſowohl wie Tierſtoffe ſind, wie wir bereits
wiſſen
, organiſche Stoffe.
Es ſind Stoffe, die nur durch lebende
Weſen
gebildet werden, entweder durch Pflanzen oder durch
Tiere
;
und ſolche, bereits dem Leben angehörige Stoffe können
zur
Speiſe für Tiere dienen.
Es giebt aber kein typiſches
Tier
, das unbelebte, oder einfacher ausgedrückt, unorganiſche
Stoffe
als ausſchließliche Speiſe zu ſich nimmt.
Nur Pflanzen leben von unorganiſchen Stoffen allein;
ſie ſpeiſen Waſſer, Kohlenſäure, Salze (mineraliſche Beſtand-
teile
), die im Waſſer der @Erde gelöſt ſind.
Ein Tier kann
jedoch
von ſolcher Speiſe allein nicht leben.
Der Voll-
ſtändigkeit
halber ſei noch erwähnt, daß es Pflanzen giebt,
deren
Nahrung ebenfalls der organiſchen Natur entſtammt;

die
Pilze z.
B. leben entweder als Schmarotzer (Paraſiten)
auf
oder in anderen Organismen, oder aber von Teilen bereits
geſtorbener
Lebeweſen, die letzteren nennt man Fäulnis-
bewohner
(Saprophyten).
Beiſpiele bietet die Fig. 181—6;
wir
ſehen Inſektenkörper, aus denen Pilze herauswachſen.

Die
Tiere werden zu ihren Lebzeiten von den Pilzen befallen,
die
den Tieren den Tod bringen.
Hier haben wir den Fall,
daß
ſich die Pilze zuerſt von lebender, dann von toter orga-
niſcher
Subſtanz nähren, ſodaß wir alſo Übergänge zwiſchen
Paraſiten
und Saprophyten vor uns haben:
nirgends in der
Natur
giebt es eben ſcharfe Grenzen.
Der Einfachheit wegen wollen wir für jetzt nur ein Tier
betrachten
, das nichts als Pflanzenſtoff genießt, alſo irgend ein
Haustier
, ein Pferd, einen Ochſen u.
ſ. w. , und einmal zeigen,
in
welchem Verhältnis ſolch ein Tier zur Pflanzenwelt ſteht.
55470107[Figure 107]Fig. 18.3 1 2 5 4 6
55571
Ein ſolches Tier hat einen Verdauungsapparat (Magen und
Darm
) in ſich, der die Speiſen verdaut, das heißt in einen Brei
umwandelt
.
Vom Magen geht dieſer Brei in den Darm, in
welchem
derſelbe noch feiner verarbeitet und eine Art Milch-
ſaft
wird.
Alles, was zur Ernährung nicht tauglich iſt, wie
die
unverdaulichen Teile der Speiſe, ſcheidet der Darm durch
ſeine
untere Öffnung, den After, wieder aus, während der
Milchſaft
durch die Haut des Darmes hindurch in feine Kanäle
einſtrömt
, die ſich zu einem einzigen Schlauch vereinigen.
Dieſer Schlauch führt aber in eine Hauptader, in welcher ſich
Blut
befindet, das zum Herzen ſtrömt.
Der milchähnliche Saft
(Lymphe oder Chylus genannt) geht alſo ins Blut über und
wird
ſchließlich wirkliches Blut.
So wird denn aus Speiſe wirklich Blut. Nun aber wird
durch
die Thätigkeit des Herzens das Blut in alle Teile des
Körpers
getrieben, und hier entſteht an jeder Stelle aus dem
Blut
tieriſcher Körper.
Aus den in dem Blut enthaltenen
Beſtandteilen
werden Fleiſch, Knochen, Auge, Gehirn, Sehne,
Haut
, Haare, Hufe u.
ſ. w.
So iſt es; wahr und wirklich. So lehrt es die gewiſſen-
hafteſte
Forſchung des Lebens, die Phyſiologie;
ſo beſtätigt ſie
die
Erfahrungen der Chemie, die wir bereits erwähnt haben.
XXVII. Der Übergang von den Pflanzen zur
Tierwelt.
Bekanntlich giebt es auch Tiere, welche nur Fleiſch eſſen,
und
man könnte von ſolchem Tiere meinen, daß es mit der
Pflanzenwelt
nicht im Zuſammenhange ſtehe.
Allein, wenn man
erwägt
, daß der Löwe, der ein Lamm verzehrt, im Grunde
genommen
kein anderes Fleiſch zu eſſen bekommt als
55672 woraus das Lamm beſteht; wenn wir hierzu bedenken, daß
das
Lamm ſein Fleiſch nur aus der Pflanzenkoſt erhalten hat,
die
es gegeſſen, ſo liegt es klar am Tage, daß der fleiſch-
freſſende
Löwe zwar nicht direkt Pflanze gegeſſen hat, aber
doch
nichts als verwandelte Pflanze, die Lamm-Körper ge-
worden
iſt.
Noch einfacher läßt ſich einſehen, daß ein Tier, welches
von
gemiſchter Koſt, alſo zum Teil von tieriſchen, zum Teil
von
Pflanzenſtoffen lebt, im Grunde genommen auch nichts iſt
als
ein Weſen, das ſein Leben und ſeinen Leib der Pflanze
zu
verdanken hat;
oder was dasſelbe iſt: ein Weſen, das man
als
verwandelte Pflanze anſehen kann.
Hieraus aber ergiebt ſich der innigſte Zuſammenhang
zwiſchen
der Pflanzenwelt und der Tierwelt.
Die Tierwelt
kann
ohne die Pflanzenwelt nicht exiſtieren.
Das Leben des
Tieres
iſt vom Leben der Pflanze abhängig.
Es knüpft ſich
hier
Leben an Leben, es zeigt ſich eine naturgemäße Ent-
wickelung
, die bis zum höchſten Leben in ſeiner höchſten Form
aufſteigt
, bis zum Leben des Menſchen, deſſen Weſen ſo
himmelweit
vom Weſen einer Pflanze verſchieden erſcheint.
Demjenigen, dem dieſer Gedanke trotz all’ der ſicherſten
Ergebniſſe
der Wiſſenſchaft fremdartig, ja ſogar unwahr vor-
kommt
, dem wird er hoffentlich näher geführt werden, wenn
wir
nunmehr zeigen, wie es ſelbſt in der Tierwelt Weſen
giebt
, die kaum von den Pflanzen unterſchieden werden können,
und
was wir ſpäter ſehen werden, wie ſelbſt wir Menſchen
im
bedeutendſten Teil unſeres Daſeins eine Art Pflanzenleben
führen
, was man wiſſenſchaftlich mit dem Namendas vegetative
Leben”
bezeichnet.
Daß eine Katze ein ganz anderes Weſen iſt als eine
Mohrrübe
, das brauchen wir ſchwerlich jemandem zu ſagen;
aber es giebt wirklich Weſen, von denen ſelbſt die bedeutendſten
Naturforſcher
nicht zu ſagen wiſſen, ob ſie Pflanze
55773 Tier ſind. Mit anderen Worten: es giebt Weſen, die genau
ihrem
ganzen Weſen nach die Mitte zwiſchen echten, zweifel-
loſen
Tieren und echten, zweifelloſen Pflanzen halten.
Sie ſind weder vollſtändig Tier noch vollſtändig Pflanze,
ſondern
ſtehen auf der Stufe zwiſchen beiden Lebensformen, die
ſich
in ihnen vereinigen.
108[Figure 108]Fig. 19.
Geſtielte
Infuſorien, ſtark
vergrößert
.
Sollte einer oder der andere un-
ſerer
Leſer meinen, die mit ſelbſt-
ſtändiger
Bewegung begabten Lebe-
weſen
müßten wohl ſtets Tiere ſein,
weil
ſie ſonſt irgendwo angewachſen
wären
, wie dies bei den Landpflanzen
der
Fall iſt, ſo wollen wir durch einige
Beiſpiele
zeigen, wie es wirkliche
Tiere
giebt, welche feſt angewachſen
ſind
und wie Pflanzen nach Tierart
leben
.
Es giebt ganze Maſſen kleiner
Tierchen
, die man zu den Infuſorien
zählt
, welche an feine Fäden ange-
wachſen
ſind, die ſich pfropfenzieher-
artig
zuſammenziehen und wieder
fadenartig
ausdehnen können (Fig.
19).
Durch dieſes Zuſammenziehen und
Dehnen
iſt es den Tieren gegönnt, ſich eine kleine Strecke im
Waſſer
hin und zurück zu bewegen.
Sie vermögen ſich auch
nach
rechts und links hin zu begeben, ſoweit es ihnen der Faden,
an
dem ſie angekettet ſind, geſtattet.
Meiſthin ſind mehrere
ſolcher
Tierchen mit ihren Fäden an einen gemeinſchaftlichen
Faden
gefeſſelt.
Sie bilden alſo eine Kolonie, eine Familie,
eine
Geſellſchaft, oder wenn man will, einen Staat, und führen
ein
höchſt ſozialiſtiſches Leben.
Genug, ſie ſind feſtgewachſen
und
ſind nach jetziger Anſicht aller Gelehrten doch keine Pflanzen.
55874 Sie ſind unverkennbar Tiere, und doch von Lebensbedingungen
gefeſſelt
, die ſonſt den Pflanzen eigen ſind.
Es iſt zwiſchen Tier und Pflanze gar nicht ſo leicht zu
unterſcheiden
, als man glauben ſollte, und man hat daher ein
Reich
, das man das Protiſtenreich nennt, neben dem Tier-
und
Pflanzenreich aufgeſtellt, in welchem man alle Übergangs-
weſen
unterbringt.
XXVIII. Die Entwickelung der Tierwelt.
Nicht allein in dem faſt unſichtbaren Reich der Infuſorien
giebt
es Tiere, die gleich Pflanzen feſtgewachſen an einem
Orte
leben, ſondern reiche Tiergattungen, deren Daſein von
der
größten Bedeutung für die Bildung des feſten Landes
vieler
Inſeln iſt, teilen ein gleiches Schickſal.
Im Meere, und namentlich in warmen Ländern giebt es
großartige
Inſeln, bewohnbar und oft auch bewohnt, welche
ihr
Fundament von dem Wirken der Polypen erhalten haben.
Die Polypen nämlich ſind Tierchen, welche aus ihrem Körper
eine
Subſtanz abſondern, die zu einem ſteinartigen, feſten Gerüſt
erhärtet
.
Die Tierchen leben aber in einzelnen Kolonien, und
ihr
Geſteins-Gerüſt iſt verbunden, ſodaß viele Millionen
eigentlich
einen Stein bilden, an deſſen Rinde die Einzel-
tierchen
angewachſen ſind (Fig.
20). Bei der Vermehrung der
Tierchen
wächſt der Stein baumartig in wunderlichen Zweigen,
und
da der Stein zurückbleibt, wenn die älteren Geſchlechter
der
Tierchen abſterben, ſo wächſt das neue Geſchlecht ſtets auf
dieſen
Leichenſteinen der alten Geſchlechter und vermehrt die
Steinzweige
derart, daß ſie vom Grunde des Meeres bis zur
Oberfläche
aufſteigen, daß ſie ſich meilenweit ins Meer er-
ſtrecken
und die gefürchteten Korallenfelſen bilden, an denen
Schiffe
zerſchellen können.
55975109[Figure 109]Fig. 20.
Vier
verſchiedenartige Korallen.
56076
Ganze Inſelgruppen ſind auf ſolchen Korallenfelſen ent-
ſtanden
, deren Spitzen bis an die Oberfläche des Meeres empor-
geſtiegen
ſind;
und ſie entſtehen, ſie bilden ſich noch immer
weiter
, denn dieſe Felſen ſind in ihrem ganzen Umfang der
Sitz
von Polypen, die mit ihrem Leibe an den Felſen an-
gewachſen
ſind, und die nur den vorderen Teil, woſelbſt ſich
der
Mund mit ſeinen Fangwerkzeugen befindet, hin und her
110[Figure 110]Fig. 21.
Schema
eines Atolls.
bewegen können, um ihre Speiſe
im
Meerwaſſer zu erhaſchen.
Beſonders auffallend und da-
her
bekannt ſind die ringförmigen
Koralleninſeln
, die Atolle (Fig.
21).
Charles Darwin ſprach nach
ſeiner
berühmten Reiſe um die
Erde
die Vermutung aus, daß
die
Korallen ſich zunächſt an
ſeichten
Stellen anſiedeln;
während
dann
der Boden ſich
unter
ihnen ſenkt,
werden
die neuen Ge-
nerationen
gezwun-
gen
, um im warmen
und
klaren Waſſer
zu
bleiben, auf den
oberen
Rändern des
Korallenriffes
weiter zu bauen.
Durch weitere Senkung ent-
ſtanden
dann die verſchiedenen Arten von Koralleninſeln, die
wir
als Saumriffe, Barrièreriffe und Atolle unterſcheiden.
Vergleicht man einen Baumzweig mit einem Korallen-
zweig
, ſo findet man eine bedeutende Ähnlichkeit zwiſchen beiden.
In einem dicken Baumzweig leben die älteſten, innerſten Zellen
auch
nicht mehr, ſie ſind verholzt und bilden nur die Träger
lebender
Zellen an der Oberfläche;
ganz ſo iſt es mit
56177 Korallenzweig der Fall. Sie ſind an der Oberfläche mit
lebenden
Tierchen beſetzt, während die geſtorbenen Tierchen aus
älterer
Zeit nur ihr ſteinernes Gehäuſe zurückgelaſſen haben,
um
die Träger der jungen Geſchlechter zu bilden.
Erwägt man hierzu, was wir bereits ausgeſprochen haben,
daß
ſelbſt die ausgebildeten Tiere, die ſich ganz unverkennbar
von
den Pflanzen unterſcheiden, doch aus den verſpeiſten
Pflanzen
erſt gebildet werden, daß der Leib aller lebenden
Tiere
nur aufgebaut iſt aus den Pflanzenſtoffen, die die Tiere
verzehren
, ſo wird ein wenig Nachdenken jeden unſerer Leſer
einſehen
laſſen, daß man die ganze Tierwelt als eine ent-
wickeltere
Lebenserſcheinung des Pflanzenreiches anſehen kann.
Hält man an dieſem Gedanken feſt, ſo drängt ſich jedem
Denkenden
die Frage auf, ob nicht vielleicht die ganze Tier-
welt
erſt aus der Entwickelung einer Pflanzenwelt entſtanden
ſein
mag?
So auffallend dieſe Frage im erſten Augenblick klingen
mag
, ſo ſehr hat ſie doch die ſcharfſinnigſten Forſcher ernſtlich
beſchäftigt
;
weshalb wir ſie auch hier nicht mit Stillſchweigen
übergehen
wollen.
Dieſe Frage erhielt durch manche Umſtände
eine
weſentliche Stütze;
wir haben ja bereits in Teil I bei
Beſprechung
der Abſtammungslehre auf den Gegenſtand hin-
gewieſen
.
XXIX. Die Selbſtzeugung.
Obwohl die gründliche Beobachtung und Unterſuchung,
z
.
B. der Infuſorien gezeigt hat, daß ſelbſt die kleinſten
tieriſchen
Weſen nicht, wie man ehedem glaubte, aus zerfallenden
Pflanzenſtoffen
entſtehen, ſondern aus Keimen hervorgehen;
obwohl es bewieſen iſt, daß die Vermehrung der
56278 nur eine Folge der Teilung oder Begattung derſelben iſt (vgl.
Teil IX, S. 3 u. 4), haben dennoch lange einige Thatſachen
zu
dem Glauben veranlaßt, daß es trotzdem Tiere gebe, welche
ohne
elterliche Zeugung in Folge unbekannter Einwirkungen
von
ſelber entſtehen.
Es giebt nämlich eigentümliche Würmer, die einzig und
allein
in den Eingeweiden anderer Tiere oder in beſonderen
Körperteilen
derſelben leben, Würmer, deren Entſtehung lange
unerklärt
war.
Es iſt eine bekannte Thatſache, daß viele
Kinder
an Würmern leiden, die ſich im Darm derſelben be-
finden
.
Man findet in Darm-Ausleerungen dieſer Kinder nicht
nur
feine Würmchen, ſondern auch oft mehrere Zoll lange
Spulwürmer
;
ja der Bandwurm, der eine bekannte Krankheit
einzelner
Menſchen iſt, iſt ein viele Meter langes Tier, das
nirgend
als im Darm des Menſchen und von Tieren vorkommt.
Bedenkt man, daß der Weg zum Darm nur durch den
Mund
und den Magen geht, daß in dem Magen namentlich
die
Erweichung und Verdauung alles deſſen, was in denſelben
hineinkommt
, ſtattfindet, ſo iſt es freilich rätſelhaft, wie ſolche
Tiere
lebend in den Darm gelangen.
Erwägt man ferner,
daß
z.
B. der im Menſchen vorkommende Bandwurm nirgend
ſonſt
lebend angetroffen wird, ſo iſt es natürlich, daß man auf
den
Gedanken kam, er werde in dem Darm ſelber erzeugt, und
zwar
ohne daß Eltern ſich urſprünglich in ihm befinden.
Man
hätte
alſo hier eine elternloſe Zeugung, alſo die Entſtehung
eines
Tieres und eines Lebens, das einer Neuſchöpfung gleich-
käme
.
Wenn ſolche Eingeweide-Tiere noch die Erklärung zuließen,
daß
ſie vielleicht trotzdem von außen her in den Darm gelangen,
ſo
diente der Umſtand, daß auch Würmer in anderen Tieren
lebend
gefunden werden, und zwar in Teilen, die nirgend eine
nach
der Außenwelt führende Öffnung haben, bisher als Be-
weis
, daß wirklich lebende Weſen von ſelber ohne Eltern
56379 Eier entſtehen könnten. Man findet nicht nur in der Leber
vieler
Tiere ſolche Würmer, ſondern auch im Gehirn und im
Fleiſch
.
Die Drehkrankheit der Schafe, eine Krankheit, die ſich
unter
anderem dadurch äußert, daß die geplagten Schafe ſich
fortwährend
nach einer Richtung hin herumdrehen, rührt be-
kanntlich
von Würmern her, die man im Gehirn derſelben
findet
.
Nun aber iſt ſowohl die Leber wie das Gehirn der
Tiere
nirgend mit der Außenwelt in Verbindung;
weder durch
Mund
, Naſe, Augen, Ohr und ſonſt eine Öffnung kann man
zur
Gehirnmaſſe oder der Leber gelangen, wenn man nicht
durch
Körper und Häute ein Loch bohrt.
Dasſelbe iſt von
der
Trichine zu ſagen, die mitten im Fleiſch ſitzend ſich vorfindet.
Da ſich nun trotz ſorgfältiger Unterſuchungen kein Loch fand,
ſo
mußte man ſchließen, daß dieſe Würmer, die man ſonſt
nirgend
lebend antrifft, hier geſchaffen, alſo ohne Eltern, als
neue
Schöpfung entſtanden ſein müſſen.
Wäre dieſe Vorausſetzung gegründet, ſo wäre dies nicht
allein
für die Geſchichte der Würmer von Bedeutung, ſondern
man
würde berechtigt ſein, den Schluß zu ziehen, daß über-
haupt
unter gewiſſen Umſtänden lebendige Tiere ohne Eltern
entſtehen
können, und dies würde auf die Möglichkeit hinführen,
daß
die erſten lebendigen Geſchöpfe in ähnlicher Weiſe ent-
ſtanden
ſein könnten.
Allein die Unterſuchungen des Naturforſchers Siebold
(1804—85), die im höchſten Grade intereſſant ſind, haben den
Beweis
geführt, daß auch die Eingeweidewürmer aus Eiern
entſtehen
, die in der wunderbarſten Weiſe Wanderungen durch-
machen
, bevor ſie an einen Ort gelangen, wo ſie ſich zu wirklichen
lebenden
Würmern ausbilden.
Siebold hat künſtlich in Hunden
Bandwürmer
erzeugt, indem er ſie Schafshirn verzehren ließ,
das
mit den Würmern behaftet war, welche die Drehkrankheit
erzeugen
.
Er führte aufs ſorgfältigſte den Beweis, daß dasſelbe
Tier
, welches im Gehirn des Schafes oder in der Leber
56480 Ochſen kaum wie ein Nadelknopf groß iſt und dort nur eine
von
einer harten Schale umſchloſſene Finne bildet, im Darm
des
Hundes ein vollſtändiger Bandwurm wird.
Ja, er zeigte,
daß
es die Beſtimmung dieſes Tieres iſt, auf ſolche oder ähn-
liche
Weiſe durch den Magen des Hundes unverdaut und un-
verletzt
zu wandern, bis es in den Darm gelangt, woſelbſt es
ſich
in ſeiner wahren Geſtalt entwickeln kann.
Wenn man den
Bandwurm
des Hundes bisher nirgend ſonſt lebend fand und
deshalb
glaubte, er müſſe erſt hier erzeugt, neu geſchaffen
werden
, ſo war das nur deshalb der Fall, weil man dasſelbe
Tier
nicht wiedererkannte, wenn man es unentwickelt an anderen
Stellen
fand.
Verfolgen wir einmal den Lebenslauf eines dieſer Tiere
etwas
genauer.
Die Bandwürmer, die ein fein verſchmälertes Ende be-
ſitzen
, welches in den ſogenanntenKopf” von Sandkorn- bis
Stecknadelknopfgröße
ausgeht, und aus einer langen Kette gegen
das
andere Ende größer werdenderGlieder” beſteht, leben
alſo
ſtets im Darme höherer Tiere, in welchem die Würmer
ihre
Nahrung durch Aufſaugung durch die äußere Körperhaut
aufnehmen
.
Der Kopf iſt mit Haftorganen (Saugnäpfen und
Haken
) verſehen, womit er ſich in den Därmen des Tieres, das
der
Wurm bewohnt, desWirttieres”, befeſtigt.
In den Glie-
dern
werden ſehr kleine, zahlreiche Eier gebildet, die dadurch
nach
außen gelangen, daß die älteſten Glieder am freien Ende
der
Wurmkette ſich löſen und durch den After des Wirttieres
ins
Freie gebracht werden.
Sie können ſo unter Umſtänden
z
.
B. mit der Nahrung in den Darmkanal anderer Tiere ge-
langen
, und die aus den Bandwurmeiern ſchlüpfenden Jungen
durchbohren
hier die Darmwandungen des nunmehrigen Wirt-
tieres
, gelangen in die Blutbahnen desſelben und erreichen
durch
Vermittelung derſelben die Stellen im Körper, wo die
betreffende
Bandwurmart ihre weitere Entwickelung findet.
56581 Hier bilden ſie ſich zu Würmern aus, Blaſenwürmern oder
Finnen, ſo genannt, weil ſie einer mit Flüſſigkeit gefüllten
Blaſe
gleichen, auf deren Wand ein oder mehrere Bandwurm-
köpfe
erſcheinen.
Die Finnen, z. B. im Gehirn der Schafe,
müſſen
nun von den erſten Wirten, z.
B. den Hunden, gefreſſen
werden
, um ſo viele Bandwürmer zu erzeugen, als die Finne
Köpfe
beſaß.
Für unſer Thema iſt es im übrigen hinreichend zu wiſſen,
daß
auch die Eingeweide-Würmer Tiere ſind, die nicht von
ſelber
entſtehen.
Sie geben alſo über die Entſtehung des
tieriſchen
Lebens keineswegs den Aufſchluß, den man früher
bei
ihnen ſuchte.
XXX. Zur Geſchichte des Tierlebens auf der Erde.
Auf die Frage: wie das tieriſche Leben auf der Erde
entſtanden
iſt?
bleibt die Wiſſenſchaft die Antwort ſchuldig.
Ein lebendes Tier entſteht nach allen neueſten Zeugniſſen der
gewiſſenhafteſten
Forſchung immer nur durch Zeugung von
vorhandenen
Eltern, und deshalb iſt man in neueſter Zeit, wo
die
Vorausſetzung einer unelterlichen Entſtehung ganz und
gar
ſchwindet, im tiefſten Dunkel über die Entſtehung der
erſten
Tiere.
Gleichwohl giebt es ja alſo andererſeits Unterſuchungen,
welche
beweiſen, daß nicht alle jetzt lebenden Tiere urſprünglich
vorhanden
waren, ſondern daß die verſchiedenen Gattungen zu
verſchiedenen
Zeiten entſtanden ſein müſſen.
Daß das Menſchengeſchlecht zu den jüngſten, das heißt,
den
am ſpäteſten entſtandenen Gattungen auf Erden gehört,
hat
man ſchon in den älteſten Zeiten geahnt und iſt durch
Forſchungen
der neueſten Zeit zur Gewißheit geworden.
Man
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
56682
hat aber aus gründlichen Unterſuchungen überhaupt die Uber-
zeugung
gewonnen, daß eine geordnete Reihenfolge in der
Entſtehung
der verſchiedenen Tiergeſchlechter auf Erden ſtatt-
gefunden
haben müſſe.
Die Erdrinde nämlich, dieſes Grab alles Lebenden, birgt
in
ihrer Tiefe die Spuren und die Überreſte mancher Weſen,
die
einſt auf Erden gelebt haben.
Man findet Abdrücke, ver-
ſteinerte
Schalen, Schuppen, Zähne und Knochen der ver-
ſchiedenſten
Tiere in jetzt feſten Geſteinen, die aber ehedem
weicher
Erd- und Meeresboden geweſen ſind.
Endlich finden
ſich
auch Inſekten, welche z.
B. in Bernſtein eingeſchloſſen
wurden
, als er noch flüſſig war.
Die Geſteine der Erdſchichten, in welchen man dieſe Über-
reſte
von Tieren findet, ſind ſehr verſchiedenen Alters und ſehr
verſchiedener
Natur.
Wäre die Erde eine allenthalben gleich-
mäßige
Kugel, ſo würden wir ſelbſt durch Nachgrabungen nicht
tief
genug eindringen können, um dieſe verſchiedenen Schichten
kennen
zu lernen.
Zum Glück für den Forſchergeiſt der Men-
ſchen
ſind jedoch auf der Erde Gebirge, und zwar, wie wir an
anderer
Stelle ſahen, durch die Schrumpfung der Erdkruſte
entſtanden
, wodurch vielfach das, was tief verborgen war, ans
Tageslicht
oder mindeſtens in erreichbare Tiefe gebracht wor-
den
iſt.
Eine genaue Unterſuchung der Gebirge hat nun gelehrt,
die
älteren Steine von den jüngeren zu unterſcheiden.
Sondert
man
nun ſo die Geſteine nach ihrem Alter und dieſes reicht
für
jedes einzelne Geſtein oft bis auf viele Millionen Jahre
hinaus
ſo findet man mit ziemlicher Sicherheit heraus,
welcher
Art die Pflanzen und Tiere waren, die auf den älteſten
Geſteinen
lebten, welche zu den Bewohnern der jüngeren Ge-
ſteine
gehören, und welche Gattung von Tieren auf den neueren
und
jüngſten Geſteinsſchichten ihr Daſein hatte.
Man beſitzt alſo an dieſen Geſteinen eine Art
56783 der Tierwelt und Pflanzenwelt; und aus dieſer Geſchichte er-
giebt
ſich, daß in den älteſten Zeiten Pflanzen und Tiere
niedrigerer
Gattung lebten, daß erſt mit den ſpäteren Zeiten
Pflanzen
und Tiere höherer Gattung ſich zeigen, und daß end-
lich
erſt in den oberſten Geſteinen die Spuren von Tieren und
Pflanzen
der Gattung ſich finden, die gegenwärtig leben.
Reſte
menſchlicher
Weſen finden ſich erſt in der Erdſchicht, welche
jetzt
noch die Oberfläche der Erde bildet, zum Zeichen, daß die
Entſtehung
des Menſchen am ſpäteſten vor ſich ging.
Freilich herrſchen im Einzelnen noch Zweifel und Dunkel-
heiten
über dieſe Geſchichte der Entwickelung des tieriſchen
Lebens
;
allein im allgemeinen ſteht es ganz unzweifelhaft feſt,
daß
die Entſtehung der Tiergattungen ſtets aufſteigt vom Nie-
drigen
zum Höheren, das heißt:
daß Tiere niederer Gattung
zuerſt
exiſtierten, bevor die höhere Gattung ins Leben gerufen
wurde
.
Nun aber ſind Tiere niederer Gattung ſolche, die pflanzen-
artig
leben, wie z.
B. die Polypen, deren wir ſchon gedacht
haben
.
Es ſind dies Tiere, die fortleben, wenn man ſie zer-
ſchneidet
, wie das bei Pflanzen unter Umſtänden der Fall iſt,
von
denen jeder Zweig einen Ableger bilden kann.
Erſt ſpäter
treten
höhere Tiere auf.
Aus etwas ſpäterer Zeit erſt ſtammen
Tiere
mit Knochengerüſten im Innern, die Wirbeltiere, Fiſche,
Fröſche
, Schildkröten.
Dann erſt entſtand das Vogelgeſchlecht;
wiederum ſpäter erſt das Säugetier, das lebende Junge gebärt,
und
endlich in der ſpäteſten Zeit der Menſch.
Die Betrachtung dieſer Entwickelungsgeſchichte gewährt
höchſt
wundervolle und intereſſante Ergebniſſe der Forſchung,
und
berührt ſehr innig die Frage über die Entwickelung der
lebenden
Tiere.
Für unſer ſpezielles Thema jedoch würde ein
näheres
Eingehen zu weit führen.
Jedenfalls alſo iſt es klar, daß die Entſtehung der Tier-
welt
eine Geſchichte hat, die vom Niedern zum Höhern
56884 ſteigt, die unzweifelhaft beweiſt, daß niedere Gattungen mehr-
fach
untergegangen ſind, um höheren Weſen Platz zu machen.
Wir wiſſen zwar mit voller Sicherheit, daß eine Geſchichte
des
Lebens und der Entwickelung der Tierwelt vorhanden iſt;
aber wir kennen die Kräfte und auch die Urſachen nicht, oder
doch
nicht genügend, durch welche ſie bewirkt worden iſt.
Nach dieſen flüchtigen Vorbetrachtungen ſehr wichtiger
Fragen
wollen wir nun zum Charakteriſtiſchen des Tierlebens
kommen
.
XXXI. Empfindungen und Bewegungen der Tiere.
Die. Grenzen zwiſchen der Tier- und Pflanzenwelt ſind,
wie
wir bereits gezeigt haben, nicht ſo entſchieden ausgeſprochen,
als
man im gewöhnlichen Leben annimmt.
Es giebt, wie wir
geſehen
haben, Tiere, die den Namen Pflanzentiere führen und
auch
nach ihren äußeren Verhältniſſen verdienen;
ja es giebt
Weſen
, von denen man nicht einmal weiß, ob ſie Tiere oder
Pflanzen
ſind.
Gleichwohl jedoch iſt das Leben der Pflanzen-
welt
und das Leben der Tierwelt, wenn wir von ſolchen Zwiſchen-
formen
abſehen, deutlich unterſchieden.
Das Leben der Pflanze beſteht in der Ernährung und in
der
Vermehrung.
Ein Baum kann nur wachſen und ſich fort-
pflanzen
.
Das Leben des Tieres beſteht in zwei höheren
Eigenſchaften
, die zu dieſen Eigenſchaften der Pflanzen noch
hinzukommen
.
Das Leben des Tieres beſteht nicht nur in der
Ernährung
und der Vermehrung, ſondern es kommt noch hierzu
Empfindung
und Bewegung, freilich iſt dabei zu berückſichtigen,
daß
die beiden letztgenannten Eigenſchaften im Dienſte der Er-
nährung
und Fortpflanzung ſtehen.
Empfindung und Bewegung ſind die hauptſächlichſten
56985 allgemeinſten Unterſchiede des lebenden Tieres von der Pflanze;
aus dieſen zwei Eigenſchaften aber entwickeln ſich noch höhere
Begabungen
, die ſich in ſolchem Maße ſteigern, daß ſie beim
Menſchen
, dem vorzüglichſten Tiere auf Erden, alles über-
ragen
, was man ſonſt als Vorzüge lebender Weſen kennt.
Empfindung und Bewegung finden ſich zwar in unter-
geordnetem
Grade auch bei den Pflanzen.
Die Pflanzen ſind
für
das Licht empfindlich;
es übt einen Reiz auf ſie aus,
welcher
die Blätter und Zweige dahin richtet, wo das Licht
herkommt
.
Die Pflanzen bewegen ſich auch aus inneren Kräften
getrieben
, wie dies z.
B. bei den Blüten ſtattfindet, wo ſich
die
Staubfäden zur Zeit der Befruchtung oft in höchſt wunder-
barer
Weiſe bewegen.
Allein dieſe Empfindlichkeit iſt inſofern
nicht
die tieriſche Empfindung, als nur die letztere mit ſeeliſchen
Werten
verknüpft iſt.
Mit anderen Worten: Die Empfindung
des
Tieres iſt anderer Art als die Reizbarkeit einer Pflanze,
denn
ſie iſt beim Tier mit einem Bewußtſein verbunden;
die
Bewegung
des Tieres iſt anderer Art als die der Pflanze,
denn
ſie iſt vom Willen des Tieres abhängig, die Bewegung
iſt
beim Tier einewillkürliche”.
Wer über das, was wir hier geſagt haben, ein wenig
nachdenkt
, der wird von ſelbſt auf den Gedanken geführt, daß
Empfindung
und Bewegung eigentlich nur die Kennzeichen
anderer
Vorzüge ſind, die das Tier beſitzt.
Wenn die Haupt-
ſache
bei der Empfindung das Bewußtwerden derſelben iſt, ſo
hätten
wir eigentlich ſagen ſollen, daß die Tiere mit Bewußt-
ſein
begabt ſind und die Pflanzen nicht.
Wenn der Wille die
Hauptſache
an der tieriſchen Bewegung iſt, ſo hätten wir gewiß
richtiger
gethan, wenn wir geſagt hätten, daß der Vorzug des
Tieres
vor den Pflanzen im Beſitz eines Willens liege.
Allein
Wille
und Bewußtſein ſind Dinge, die jedermann zwar aus
Erfahrung
kennt, die aber, offen geſtanden, der Erkenntnis der
Naturwiſſenſchaft
noch völlig verſchloſſen ſind.
Es ſind
57086 über die wir uns gern den Kopf zerbrechen würden, wenn
nicht
die Philoſophie ſie in Beſchlag genommen hätte, die
Philoſophie
, die bekanntlich immer dort anfängt, wo das
menſchliche
Wiſſen aufhört.
Da es aber eine Thatſache iſt,
die
man nicht laut genug verkünden kann, daß die Natur-
wiſſenſchaft
nur an der Hand der Unterſuchung und Erfahrung
ihren
hohen Wert erhalten hat, während auf dem Wege der
Philoſophie
nicht viel gewonnen worden iſt, ſo werden es
unſere
Leſer verzeihen, wenn wir etwas unphiloſophiſch zu
Werke
gehen, und ſo weit es ſich nur thun läßt, lieber
von
der Empfindung als vom bloßen Bewußtſein, lieber von
der
Bewegung als vom freien Willen ſprechen.
Zum Troſt
für
diejenigen, die dem verzeihlichen Drang nicht widerſtehen
können
, ſich in dieſe ſehr rätſelhaften Gebiete zu begeben,
wollen
wir hier nur ſagen, daß wir beim Leben des Menſchen
oder
der ſogenannten Seelenthätigkeit desſelben noch zeitig
genug
Ausflüge in dieſes Gebiet werden machen müſſen.
Wenn wir von der Empfindung ſprechen, welche Tiere
beſitzen
, ſo meinen wir, wie geſagt, die bewußte Empfindung;
wenn wir von den Bewegungen der Tiere ſprechen, ſo ver-
ſtehen
wir darunter die willkürlichen Bewegungen, Eigentüm-
lichkeiten
, die die Pflanzen nicht beſitzen.
Eine Pflanze lebt, aber ſie lebt, ohne daß ſie es weiß,
und
ohne daß ſie zu leben verlangt.
Sie wächſt, ſie gedeiht,
ſie
verkümmert und ſtirbt ab, ohne etwas davon zu empfinden.
Sie hat weder Luſt noch Schmerz, ſie empfindet weder Hunger
noch
Durſt.
Ein Tier, ſelbſt das niedrigſte, ja ſogar das
Kind
im Mutterleibe empfindet Schmerz.
Ein Tier ſucht das
Leben
, flieht den Tod, und hat hierbei eine Beziehung zur
Welt
außer ihm, die förderlich oder zerſtörend auf dasſelbe
einwirkt
.
Eine Pflanze lebt; aber ſie bewegt ſich nicht aus eigenem
Willen
, nach eigenem Wohlgefallen;
das Tier, namentlich
57187 Tier höherer Gattung beſitzt das Vermögen, ſich nach ſeinent
Willen
, nach ſeiner Luſt und Neigung von Ort zu Ort zu be-
wegen
und iſt mit Organen ausgeſtattet, die dieſe Bewegung
ihm
in gewiſſen Grenzen geſtattet und möglich macht.
Die Grundquelle dieſer Eigentümlichkeiten kennt man nicht.
Wenn man ſich nicht in philoſophiſche Redensarten einlaſſen
will
, ſo muß man ſagen, man weiß nicht, woher Empfindungen
ſtammen
;
auch iſt es eine Thatſache, daß die Naturforſcher
ſehr
genau die Bewegungen eines Planeten um die Sonne
berechnen
können, aber nicht imſtande ſind, die Bewegungen
einer
Fliege über den Tiſch vorauszuſagen.
Man hat es
jedoch
durch gründliche Unterſuchungen und ganz und gar
ohne
Philoſophie herausgebracht, wo der Hauptſitz dieſer
Eigentümlichkeiten
im Tiere iſt, und von dieſen Unterſuchungen
und
ſehr lehrreichen Entdeckungen wollen wir nun ein Näheres
unſeren
Leſern vorführen.
XXXII. Der Wohuſitz der Empfindung im Tiere.
Der Hauptſitz der Empfindungen wie der Bewegungen der
Tiere
iſt in den Nerven und vornehmlich in dem Orte, wo
alle
durch den ganzen Körper verteilte Nerven ſich zur Bildung
eines
einzigen Organs vereinigen, in dem Gehirn.
Will man daher den Unterſchied zwiſchen dem Tierleben
und
Pflanzenleben in der verſchiedenen leiblichen Beſchaffen-
heit
derſelben ſuchen, ſo kann man mit Recht ſagen:
die
Pflanzen
ſind Weſen ohne Nerven, ohne Gehirn;
die meiſten
Tiere
dagegen ſind mit Nerven und mindeſtens die Tiere
höherer
Gattung mit einem Gehirn begabt.
Es klingt für den Uneingeweihten gewiß ſehr
57288 daß das Gehirn es ſein ſoll, welches Schmerz, Luſt, Hunger,
Durſt
u.
ſ. w. empfindet, ja es hat ſogar vor nicht langer
Zeit
noch Naturforſcher gegeben, welche dieſe Behauptung in
Abrede
geſtellt und die Vorſtellung ins Lächerliche gezogen
haben
, daß man ſeine Leibſchmerzen im Kopfe haben ſolle.
Und doch iſt es ſo; Verſuche der neueren Zeit haben dies voll-
ſtändig
zur Gewißheit erhoben.
Nur das Gehirn empfindet. Bei Tieren, die ein weniger
ausgebildetes
Gehirn als die Säugetiere haben, vertritt unter
Umſtänden
das Rückenmark in dieſer Beziehung die Stelle des
Gehirns
;
aber es ſteht immer ſo viel feſt, daß die Empfindung
nur
in dieſen Centralteilen der Nerven ihren Sitz hat;
obgleich
jeder
, der einen ſchlimmen Finger hat, darauf ſchwören möchte,
daß
er den Schmerz im Finger habe.
Die Verſuche, die das gelehrt haben, ſind ſo überzeugend
wie
nur irgend möglich.
In allen bedeutenden Krankenanſtalten werden alltäglich
Menſchen
, an denen man ſchmerzhafte Operationen vollziehen
will
, durch Dämpfe von Chloroform bewegungs- und em-
pfindungslos
gemacht.
Das Chloroform iſt eine chemiſche
Flüſſigkeit
, die man auf ein Tuch gießt und dem Patienten
vor
Mund und Naſe bringt.
Dieſe Flüſſigkeit verdampft, und
der
Patient atmet dieſen Dampf oder richtiger dieſes Gas ein.
Es gelangt ſomit das Gas in die Lunge; aber es geniert dieſe
nicht
, und die Atmung geht ungeſtört fort.
In den Lungen
tritt
dieſes Gas ins Blut über;
aber auch das Blut wird
davon
nicht ſichtbar angegriffen.
Es wandert ſeinen vorge-
ſchriebenen
Weg zurück zum Herzen und bringt das Gas mit,
ohne
den Pulsſchlag des Herzens zu vernichten.
Vom Herzen
wandelt
das Blut vermittelſt der Schlagadern durch den ganzen
Körper
, und mit dem Blute macht auch das Chloroform-Gas
dieſen
Rundlauf;
aber kein Teil des Körpers wird direkt durch
das
Gas irgendwie beläſtigt.
Allein mit dem Blute
57389 das Gas auch nach dem Gehirn, und hier bringt es eine
Wirkung
hervor, deren Grund man ſich nicht wiſſenſchaftlich
klar
machen kann, die aber zur Folge hat, daß der Menſch das
Vermögen
verliert, zu empfinden und ſich zu bewegen.
Iſt der Patient ſo weit, ſo kann man ihm mit der größten
Gemütlichkeit
Arme oder Beine abſchneiden, Knochen zerſägen,
in
ſeinem Fleiſche mit Meſſern herumwühlen;
er fühlt davon
nichts
;
er iſt wie eine Pflanze, er lebt während dieſer Zeit
wie
eine Pflanze;
er hat ebenſowenig Schmerz von all dem,
ſo
wenig wie eine Pflanze irgend welchen hat.
Treibt man es mit dem Chloroform nicht zu weit, was
lebensgefährlich
werden kann, und läßt man den Patienten
nun
ein anderes Gas riechen, das Ammoniak-Gas, ſo erwacht
er
wie aus ſchwerem Schlaf, und wundert ſich über die Über-
raſchungen
, die man ihm bereitet hat, und behielte er nicht
Wunden
zurück, die freilich während der Heilung Schmerz, ja
auch
Wundfieber verurſachen, ſo könnte man wirklich einem
Operierten
zumuten, er möge ſeine Glieder aufnehmen und
damit
heimwandern.
Wäre man nur imſtande, in ſo kurzer
Zeit
, wie man einen Patienten ohne Nachteil chloroformieren
kann
, auch zugleich die gemachten Wunden zu heilen, wozu
freilich
keine Ausſicht iſt ſo gäbe es weder Schmerz noch
Gefahr
nach vorſichtig unternommenen Operationen.
Freilich hört man Viele die Behauptung aufſtellen, daß
der
Patient wohl Schmerz habe;
aber er fühle ihn nur nicht;
das Schneiden in ſein Fleiſch und Gebein thue ihm wehe;
aber
er ſchlafe einen feſten Schlaf, und wiſſe es nur nicht.

Dies
jedoch iſt nichts als Wortklauberei:
in Wahrheit iſt der
Schmerz
nicht vorhanden.
Es wird niemandem einfallen zu
behaupten
, daß man einem feſt Schlafenden ein Vergnügen
macht
, wenn man ihm ein ſchönes Buch vorlieſt, oder ein
hübſches
Bild vor die Naſe hält.
Das Vergnügen iſt nicht
vorhanden
, weil die Fähigkeit es zu empfinden, dem
57490 fenden fehlt; ganz ebenſo iſt der Schmerz nicht vorhanden,
wenn
das Gehirn in einen Zuſtand verſetzt wird, in welchem
es
die Fähigkeit zu empfinden zeitweiſe verliert.
Man hat aber noch ſchlagendere Beweiſe, daß die Em-
pfindungen
ihren Sitz nur im Gehirn haben, daß der Zuſtand
eines
ſchlimmen Fingers nur die Urſache iſt, daß man Schmerz
im
Gehirn empfindet, und daß es nur durch einen beſondern
Umſtand
, den wir noch näher kennen lernen werden, hervor-
gebracht
wird, daß der Menſch ſeinen Schmerz in dem Finger
glaubt
.
Von dieſen höchſt auffallenden Beweiſen, die man
ſehr
leicht zu führen imſtande iſt, wollen wir im nächſten Ab-
ſchuitt
ſprechen.
XXXIII. Wo man die Schmerzen hat.
Es kommt ſehr oft vor, daß Bleſſierte oder Operierte, die
einen
Fuß nebſt Knie und halbem Oberſchenkel verloren haben,
über
heftige Schmerzen klagen, die ſie in den Zehen, in der
Sohle
, oder ſonſt einem Teil ihres gar nicht mehr exiſtierenden
Beines
empfinden.
In früheren Zeiten hatte man davon
abergläubiſche
Vorſtellungen und redete ſich die ſonderbarſten
Dinge
ein von den Gliedern, die auch nach der Trennung vom
Leibe
in gewiſſer geiſterhafter Beziehung zum Leibe ſtänden;
wer ſolchen Aberglauben nicht teilte, der meinte, daß die
Klagenden
nur an Einbildungen litten, oder ihre Umgebung
belögen
.
Jetzt weiß man es anders und richtiger.
Die Verletzung irgend einer Stelle des Körpers, ein
Schnitt
im Finger zum Beiſpiel, iſt die Urſache eines Schmerzes,
und
zwar deshalb, weil mit der Verletzung auch Nerven ver-
letzt
worden ſind, die ſich in allen Teilen des Körpers in
äußerſt
feinen Fädchen verteilt befinden.
Dieſe Nerven
57591 alle nach dem Gehirn, und führen demſelben jede Art von
Reiz
, der auf die Nerven ausgeübt wird, zu.
Hier im Gehirn
entſteht
erſt die Empfindung deſſen, was Schmerzhaftes auf
irgend
ein Glied ausgeübt worden iſt;
der Schmerz hat alſo
ſeinen
Sitz wirklich im Gehirn, und nur die Gewohnheit, die
fortwährende
Erfahrung, daß das betreffende Glied die Urſache
des
Schmerzes iſt, verurſacht in uns die unüberwindliche Vor-
ſtellung
, daß auch der Schmerz dort in dem Gliede ſeinen Sitz
habe
.
Es geht uns hiermit wie mit dem Sehen und Hören.
Wer den Bau des Auges kennt, der weiß, daß dasſelbe ſo
eingerichtet
iſt, daß auf der Hinterwand des Auges ein kleines
Bildchen
aller Gegenſtände, die ihre Lichtſtrahlen ins Auge
ſenden
, entſteht.
Dieſe Hinterwand iſt eine Art Tapete aus
lauter
feinen Nervenfäſerchen, welche vereinigt in einem Nerven-
zweig
bis zum Gehirn gehen.
Durch dieſen Nerv gelangt der
Eindruck
jenes kleinen Bildchens, das im Auge exiſtiert, zum
Gehirn
.
Man ſieht alſo eigentlich nicht die Gegenſtände
draußen
, ſondern nur das Bildchen der Gegenſtände, das auf
der
Hinterwand des Auges eriſtiert.
Gleichwohl iſt die Ge-
wohnheit
, die unausgeſetzte Erfahrung, daß die Gegenſtände
draußen
die Urſache von dem ſind, was wir im Gehirn wahr-
nehmen
, hinreichend, um uns zu belehren, daß das, was wir
ſehen
, nicht im Auge vorgeht, ſondern in der Welt um uns.
Ähnlich iſt es mit allem, was wir hören. Eine Muſik
zum
Beiſpiel wird nur deshalb vernommen, weil jeder Ton
das
Trommelfell unſeres Ohrs nebſt den anderen Gehör-
werkzeugen
erſchüttert.
Wir hören alſo eigentlich nur die ver-
ſchiedenartigen
Erſchütterungen, die im Innern des Ohrs vor-
gehen
;
gleichwohl wiſſen wir durch Gewohnheit und Erfahrung,
daß
die Muſikanten nicht in unſerem Ohr ſtecken, ſondern
außerhalb
desſelben exiſtieren.
Wir verſetzen das, was wir
eigentlich
im Innern des Ohres hören, im Innern des
57692 ſehen, an den Ort, von welchem die Urſache des Gehörten und
Geſehenen
herrührt.
Ganz in derſelben Weiſe verſetzen wir
auch
den Schmerz eines ſchlimmen Fingers, der eigentlich nur
im
Gehirn empfunden wird, an die Stelle der Urſache, das
heißt
an die Stelle, wo die Nerven des Fingers verletzt ſind.
Hat man nun auch einem Menſchen den ganzen Fuß ab-
geſchnitten
, ſo exiſtiert in ſeinem Körper immer ein Stück des
Nerven
, der früher vom Gehirn hinunterlief bis zur Zehe des
einſtmaligen
Fußes.
Verurſacht nun irgend etwas einen Reiz
auf
dieſen Nervenfaden, ſo kann er ebenſo Schmerz im Gehirn
verurſachen
, wie in früherer Zeit, wo der Faden bis zur Zehe
lief
;
der Bleſſierte und Operierte wird alſo ganz ebendenſelben
Schmerz
haben, als ob er noch ſeinen ganzen Fuß beſäße,
und
ganz in Wahrheit über Schmerz in ſeiner längſt nicht
mehr
exiſtierenden Fußzehe klagen.
Der intereſſanteſte Verſuch über den Sitz der Empfindungen
iſt
jedoch folgender, der von den Operateuren ſo oft angeſtellt
wird
, als ſich nur die Gelegenheit dazu darbietet.
Das Reſultat
iſt
bisher immer dasſelbe geweſen.
Es kommt nämlich oft vor, daß man Menſchen eine künſt-
liche
Naſe macht.
Zu dieſem Zweck ſchält man von der Stirn
über
der Naſe einen hinreichenden Lappen der Haut ab, und
läßt
dieſen Lappen nur an der Stelle, wo die Augenbrauen
zuſammenlaufen
, hängen.
Hier dreht man den Lappen um,
ſodaß
die blutige Seite desſelben auf die Stelle der Naſe
kommt
, und näht ihn ſo geſchickt vorläufig an, daß er eine
Naſe
vorſtellt.
Später wächſt wirklich dieſe Haut ſo an, daß
ſie
die Naſe bildet, während die Wunde an der Stirn ausheilt.
Hat man den Patienten während derOperation mit Chloro-
form
behandelt, ſo weiß er, wenn er erwacht, nichts davon,
was
mit ihm vorgegangen iſt.
Man läßt ihn nun die Augen
ſchließen
und ſtellt mit ihm folgenden Verſuch an.
Man berührt mit einer Nadel ſeine neue Naſenſpitze
57793 fragt ihn, wo er Schmerz emfinde. Die Antwort lautet: oben
auf
der Stirn am Haar! Man geht nun mit der Nadel
immer
weiter hinauf an ſeiner neuen Naſe, und der Patient
giebt
auf Befragen die Antwort, daß er die Nadel immer
tiefer
abwärts an der Stirn fühle.
Man kann dies nun ſo
oft
man will wiederholen, immer fühlt der Patient jeden Reiz,
der
an ſeiner Naſe verſucht wird, an der Stirn, und zwar
deshalb
, weil er von jeher gewohnt iſt, jeden Reiz dieſer
Nerven
, die man mit der Nadel berührt, an der Stirn zu
empfinden
und die Urſache des Schmerzes dorthin zu ver-
ſetzen
.
Erſt dann, wenn die neue Naſe wirklich vollſtändig
verwächſt
mit ihrer neuen Umgebung, und man auch die Stelle
zwiſchen
den Augenbrauen durchſchneidet, welche die Haut
noch
mit der Stirn in Verbindung erhielt, hört für ihn die
Empfindung
auf, als ob er ſeine Naſe umgekehrt auf der
Stirn
trage.
XXXIV. Weitere Verſuche über die Empfindungen.
Wir wollen hier noch einen Verſuch anführen, den jeder
ſelber
anzuſtellen vermag, und der hinreicht zu beweiſen, wie
das
, was wir empfinden, oder richtiger:
fühlen, vom Urteil
des
Gehirns abhängt, woſelbſt der wahre Sitz der bewußten
Empfindung
iſt.
Man verſuche es, den Mittelfinger, alſo den größten
Finger
der Hand, ſo über den Zeigefinger derſelben Hand zu
legen
, daß die Fingerſpitzen ſich kreuzen.
In dieſer Lage
wird
die Spitze des Mittelfingers dem Daumen näher ſein als
die
Spitze des Zeigefingers.
In dieſer Stellung lege man
eine
Erbſe oder ein etwa ebenſo großes Brotkügelchen
57894 Papierkügelchen auf den Tiſch, und verſuche, das Kügelchen
mit
den beiden gekreuzten Fingerſpitzen auf dem Tiſch herum-
zurollen
.
Nach einiger Übung gelingt dies ganz gut; aber
jeder
, der dies richtig anſtellt, wird, nach ſeinem Gefühl zu
urteilen
, darauf ſchwören mögen, daß er zwei Erbſen oder
Kügelchen
unter ſeinen Fingern habe.
Man wiederhole den
Verſuch
;
jedesmal wird man ſich durch den Augenſchein über-
zeugen
, daß man in der That nur ein einziges Kügelchen
unter
den Fingern habe, und doch fühlt man ganz deutlich in
den
Fingern, daß es zwei ſein müſſen, die ſogar nahe einen
halben
Zoll weit von einander lägen.
Man verſuche es nun, das Kügelchen mit denſelben Fingern
auf
dem Tiſch zu rollen, ohne daß man dieſe Finger kreuzt,
und
man wird ganz deutlich nur ein einziges Kügelchen fühlen;
ſobald man aber die Finger in die bezeichnete ungewohnte Lage
bringt
, fühlt man das Kügelchen wiederum doppelt.
Daß hier eine Täuſchung im Spiel iſt, das iſt klar; aber
woher
kommt dieſe Täuſchung?
Der Grund derſelben iſt folgender.
Wenn wir einen Gegenſtand mit dem Finger berühren, ſo
verurſacht
der Druck auf denſelben einen Reiz auf die feinſten
Nervenfäden
des Fingers, und da jeder dieſer Fäden hinauf-
geht
bis zum Gehirn, ſo wird dieſer Reiz daſelbſt in bewußter
Weiſe
empfunden.
Berührt man nun mit zwei Fingern einen
und
denſelben Gegenſtand, z.
B. ein Kügelchen, ſo kommen
aus
den Nervenfäden beider Finger zwei Rapporte nach dem
Gehirn
, und man ſollte eigentlich auch hier die Empfindung
haben
, als ob man zwei Kügelchen berührte.
Allein die Er-
fahrung
und die Gewohuheit macht es, daß man die beiden
Eindrücke
für einen hält, und bei uatürlicher Stellung der
Finger
nur ein Kügelchen fühlt.
Kreuzt man aber die Finger
in
der angegebenen Weiſe, ſo nimmt man eine ungewohnte
Stellung
derſelben an, in welcher man noch keine
57995 gemacht hat, und man erhält deshalb den Eindruck von beiden
Fingern
, als ob er von zwei Kügelchen herrührte.
Bei wiederholten Verſuchen und einigem Nachdenken wird
man
das, was wir meinen, richtiger herausfühlen, als wir
durch
viele Worte hier beſchreiben können.
Man wird ſich
überzeugen
, daß man alles, was man empfindet, durch die
Thätigkeit
des Gehirus empfindet, das über die Eindrücke auf
die
Nerven ein Urteil fällt, und dann die Empfindung dorthin
verſetzt
, wo die Urſache derſelben vorhanden iſt.
Liegt nun der Unterſchied des Pflanzen- und Tierlebens
darin
, daß die Pflanzen nichts empfinden, während die Tiere
Empfindung
beſitzen, ſo muß man weil man das eigentliche
Weſen
der Empfindung naturwiſſenſchaftlich nicht zu ergründen
imſtande
iſt ſagen, daß die Tiere nervenbegabte und mit
Gehirn
verſehene Weſen ſind, während die Pflanzen weder
Nerven
noch Gehirn beſitzen.
Indem aber, wie bereits geſagt, zwiſchen Tier und Pflanze
noch
der Unterſchied beſteht, daß die Tiere im allgemeinen ſich
willkürlich
von Ort zu Ort bewegen können, während dies den
Pflanzen
nicht möglich iſt, werden wir noch nachzuweiſen
haben
, daß dies ebenfalls von dem Daſein der Nerven in den
Tieren
abhängt, wir wollen jedoch für jetzt nur noch Eins
hervorheben
, worin ſich Tier und Pflanze unterſcheiden, ſelbſt
wenn
man von Empfindung und Bewegung abſieht.
Jedes Tier verfällt naturgemäß in einen Zuſtand, worin
es
für einige Zeit weder empfinden noch ſich willkürlich be-
wegen
kann;
wir meinen den Schlaf. Das Tier wird in dieſem
Zuſtand
einer Pflanze inſofern ähnlich, als es dann lebt, ohne
das
Vermögen zu empfinden und ſich zu bewegen.
Noch mehr
Ähnlichkeit
erhält dieſer Zuſtand mit dem der Pflanze, wenn
die
Empfindungs- und Bewegungsloſigkeit durch einen Druck
auf
das Gehirn verurſacht wird, durch welchen die Thätigkeit
des
Gehirns geſtört iſt.
58096
Es kommt im Kriege öfter vor, daß einem Menſchen eine
Kugel
durch den Schädel geht und auf dem Gehirn liegen
bleibt
.
In ſolchem Zuſtande ſtürzt der Getroffene nieder, und
wenn
er zeitig noch ins Lazarett gebracht wird, lebt er mit
der
Kugel im Kopfe, aber ohne zu empfinden oder ſich be-
wegen
zu kön@.
Er lebt wirklich wie eine Pflanze. Er ver-
langt
nicht nach Speiſe und Trank, bringt man ihm etwas in
den
hinteren Teil des Mundes, ſo ſchlingt er es hinab;
thut
man
dies nicht, ſo ſtirbt er nach Tagen, ganz ſo wie eine
Pflanze
abſtirbt, die keine Nahrung erhält.
Er atmet, er ver-
daut
, ſcheidet auch Stoffe von ſich aus, was auch die Pflanze thut.
Zieht man aber die Kugel aus dem Kopfe, ſo geſchieht es
zuweilen
, daß er ſofort die Augen öffnet, um ſich blickt und
fragt
, wo er ſich befinde?
Offenbar hat er in dieſer Unglückszeit eine Art Pflanzen-
leben
geführt;
aber dennoch iſt ein bedeutender Unterſchied
zwiſchen
dieſem Leben und dem Pflanzenleben, und dieſen
Unterſchied
müſſen wir jetzt näher betrachten.
XXXV. Das Pflanzenleben der Tiere.
Haben wir geſehen, daß das tieriſche Leben eine Art
Pflanzenleben
in ſich begreift, haben wir durch ein Beiſpiel
dargethan
, daß ein Menſch, der durch einen Druck auf das
Gehirn
der Empfindung und der Bewegung beraubt iſt, dennoch
lebt
, und zwar wie eine Art Pflanze lebt, ſo wollen wir nun-
mehr
zeigen, daß einerſeits ſelbſt im geſunden Zuſtand dieſes
Pflanzenleben
im Tiere vorhanden iſt, und andererſeits, daß
dennoch
ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen dieſem Leben und
dem
wirklichen Leben der Pflanze beſteht.
58197
Das Tier unterſcheidet ſich hauptſächlich von der Pflanze
dadurch
, daß es fähig iſt zur bewußten Empfindung und will-
kürlichen
Bewegung;
dennoch giebt es eine ganze Maſchinerie
im
Körper des Tieres, die thätig iſt, ohne daß das Tier etwas
davon
empfindet, und ohne daß die Bewegungen dieſer Ma-
ſchine
und ihre Thätigkeit vom Willen des Tieres abhängen.

Man
nennt dieſe Maſchinerie, oder richtiger deren Lebens-
thätigkeit
im Tierkörper, das vegetative Leben.
Da der Menſch in dieſer Beziehung dem Tiere gleicht, ſo
wollen
wir die Beiſpiele hierfür aus dem Leben des menſch-
lichen
Körpers entnehmen.
Jeder Menſch muß z. B. eſſen, trinken, atmen und auch
gewiſſe
Stoffe von ſich ausſcheiden.
Während des Eſſens hat
er
die bewußte Empfindung von dem, was er thut, und thut
dies
auch mit freiem Willen.
Er kann ſich eine Zeitlang des
Eſſens
und Trinkens enthalten, ja er kann ſogar eine kurze
Weile
den Atem einhalten, er vermag die Ausſcheidung der
Stoffe
bis zu einem gewiſſen Punkte zu unterdrücken.
Aber
dauernd
iſt dies nicht möglich;
er wird vielmehr von einer
inneren
Kraft, der er keinen Widerſtand leiſten kann, ge-
zwungen
zu dieſen Lebensthätigkeiten.
Man ſieht, daß Eſſen,
Trinken
, Atmen und Ausſcheiden gewiſſer Stoffe bis zu einer
gewiſſen
Grenze von ſeinem Willen abhängen, und daß er dies
auch
mit bewußter Empfindung thun oder laſſen kann;
iſt dieſe
Grenze
aber überſchritten, ſo nötigt ihn eine innere Maſchinerie,
dies
ſelbſt und ohne ſein Bewußtſein und, noch mehr, ſelbſt
gegen
ſeinen Willen zu thun.
Schon in dieſen Beziehungen iſt das Tier, und auch der
Menſch
, halb und halb, das heißt über eine gewiſſe Grenze
hinaus
, der Pflanze gleich, die ohne Bewußtſein und Willen
leben
muß.
Es geht dies aber mit der inneren Maſchinerie
noch
weiter.
Haben wir z. B. einen Biſſen im Munde, ſo
können
wir denſelben mit Bewußtſein und Willen wieder aus-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
58298
ſpucken, ſo lange er nicht bis zu einer gewiſſen Stelle an den
Schlund
gelangt iſt;
hat der Biſſen jedoch dieſe Stelle erreicht,
ſo
müſſen wir ihn verſchlucken, wir mögen wollen oder nicht.

Haben
wir dies nun gethan, ſo gehört der Biſſen der inneren
Maſchinerie
an, über die wir nicht mehr Herr ſind.
Er geht
durch
die Speiſeröhre in den Magen, ohne unſer Wiſſen und
ohne
unſeren Willen.
Der Magen verdaut ihn, ohne nach
unſerem
Wiſſen und Willen zu fragen.
Er verrichtet alſo eine
Arbeit
, die wir nicht befehlen und nicht hindern können.
Der
verdaute
Biſſen geht in den Darm, ohne ſich um unſer Wiſſen
und
Wollen zu bekümmern.
Der Darm iſt in fortwährenden,
wurmförmigen
Windungen und Bewegungen, und verrichtet
ſein
Geſchäft nach einer Lebensvorſchrift, über die wir nichts
zu
befehlen haben.
Er verwandelt den Biſſen teils in un-
verdauliche
Stoffe, die er, ohne uns zu fragen, ausſondert,
teils
in einen Milchſaft, der ſeiner Beſchaffenheit nach dem
Blute
gleicht.
Dieſer Milchſaft wird von feinen Röhrchen, die
von
außen um den Darm liegen, durch die Darmwand auf-
geſogen
und in einen Schlauch geführt, der aus der Bauch-
höhle
hinauf in die Bruſthöhle zu einer Hauptader des Herzens
führt
.
Dieſes Geſchäft wird verrichtet, ohne daß unſer Be-
wußtſein
oder Wille eine Rolle dabei mitſpielt.
Durch dieſe Hauptader geht der Milchſaft, in wirkliches
Blut
verwandelt, zum Herzen, das wiederum ein Teil der
inneren
Maſchine iſt, die ſich fortwährend in unausgeſetzter
Thätigkeit
befindet, die Tag und Nacht von der Geburt bis
zum
Tode, bei manchen Menſchen alſo über hundert Jahre ar-
beitet
, und ganz gewaltig wie eine äußerſt ſtarke Saug- und
Druckpumpe
arbeitet, auch ohne daß wir es wiſſen und ohne
daß
wir es wollen.
Eine andere Abteilung des Herzens drückt das Blut in
die
feinſten Äderchen der Lunge und nötigt uns hier zu atmen,
um
ohne unſer Wiſſen und Wollen dem Blute Sauerſtoff
58399 zumiſchen. Iſt dies geſchehen, ſo ſaugt eine dritte Abteilung
des
Herzens das Blut wieder aus der Lunge, und preßt es
in
eine vierte Abteilung, die es aufnimmt, um es durch einen
gewaltigen
Druck durch alle Schlagadern des Leibes und deren
feinſte
Zweige, die den ganzen Leib durchweben, zu treiben.

Hier
in dieſen feinſten Zweigen des Gewebes findet die eigent-
liche
Ernährung des ganzen Leibes ſtatt, durch welche wir an
Körperfülle
zunehmen und wachſen.
Hier nimmt das Blut
auch
verbrauchte Stoffe auf, um ſie wieder zur erſten Abteilung
des
Herzens zu führen, das ſein Geſchäft in angegebener Weiſe
fortwährend
fortſetzt.
Und all’ das: Ernährung, Säfte-Umtrieb,
Stoffwechſel
, Wachstum u.
ſ. w. geſchieht von einer inneren
Maſchinerie
, ganz ohne daß wir dabei was zu ſagen haben,
ohne
unſere Empfindung, ohne unſeren Willen.
Es iſt ein
Leben
, das dem Pflanzendaſein ſehr ähnlich iſt.
Und doch beſteht, wie geſagt, ein großer Unterſchied ſelbſt
zwiſchen
dieſer vegetativen Lebensthätigkeit und der Thätigkeit
des
Pflanzenlebens, und dieſer Unterſchied beſteht darin, daß
auch
dieſe innere Maſchinerie des Tierlebens von einer eigen-
tümlichen
Nerventhätigkeit abhängig iſt, was wir bei den
Pflanzen
nicht finden.
XXXVI. Das ſympathiſche Nervenſyſtem.
Man nennt dieſes Nervenſyſtem, welches ohne unſer Be-
wußtſein
und unſeren Willen die innere Maſchinerie erhält,
das
ſympathiſche Nervenſyſtem”, und hat ſeinen Hauptſitz aus-
findig
gemacht in gewiſſen Nervenknoten, die ſich in verſchiedenen
Stellen
der Bruſt- und Leibhöhle befinden.
Während man alſo im Gehirn den Hauptſitz des
584100 ſyſtems findet, von welchem die bewußte Empfindung und die
willkürliche
Bewegung abhängt, während die ganze Maſchinerie
des
Leibes, ſoweit ſie empfunden wird, und ſoweit ſie aus
Gliedern
beſteht, die man nach Willkür bewegen kann, ihren
Hauptdirektor
im Gehirn hat, beſitzt man für das Leben,
welches
man das Pflanzenleben des Tieres nennt, keinen ſolchen
einzigen
Hauptdirektor an einer einzigen Stelle, ſondern dieſe
innere
Maſchinerie, die ohne Empfindung und Willen thätig
iſt
, wird von einer ſehr zerſtreuten Direktion geleitet, die in
der
Nähe jedes wichtigen Organs ihren beſonderen Sitz hat.
Am Unterleib, am Magen, an den Lungen, mitten im Herzen
und
an anderen Stellen findet man ſolche Nervenknoten, die
man
ſympathiſche nennt.
Aus ihrer Geſtalt und Lage kann
man
ſie zwar von den anderen Nervenfäden wohl unterſcheiden;

allein
ihr innerſtes Weſen iſt ſehr geheimnisvoll, und es iſt
nicht
erſichtlich, daß ſie an irgend einer Stelle ein Haupt-
Bureau
haben, wie dies bei den anderen Nerven der Fall iſt.
Dieſe ſehr rätſelhaften Nervenknoten, die den Namen
Ganglien” führen, ſtehen zwar unter einander durch Nerven-
fäden
in Verbindung, auch ſind ſie ſo mit anderen Nerven-
fäden
verflochten, daß ſie bis zum Gehirn hinaufführen;
allein
die
innere Maſchinerie, die ſie treibt, iſt offenbar ſehr ſelbſtändig
vom
Gehirn;
denn wir haben ſchon dargethan, wie dieſe Ma-
ſchinerie
auch fortfährt, thätig zu ſein, ſelbſt wenn die Thätig-
keit
des Gehirns, durch einen Druck z.
B. , zeitweiſe aufhört.
Gleichwohl genügt dieſe Verbindung des ſympathiſchen
Nervenſyſtems
, um unter Umſtänden den Einfluß des Gehirns
auf
die Thätigkeit dieſer eigentümlichen Nerven zu bewirken.
Wir wollen einige auffallende Beiſpiele hiervon unſeren Leſern
vorführen
.
Wie wir bereits wiſſen, iſt die Thätigkeit des Magens
nicht
von unſerem Bewußtſein und unſerem Willen abhängig.
Der Magen verrichtet ſein Geſchäft, die Verdauung, ohne
585101 wir es wiſſen, und ohne daß wir es durch unſeren Willen
hindern
können.
Eigentlich ſollten wir auch hiernach gar nicht
das
Gefühl des Hungers haben, und würden dieſen auch nicht
haben
, wenn wir nicht einen beſonderen Nervenfaden beſäßen,
der
vom Gehirn ausläuft, und in auffallender Weiſe ver-
ſchiedene
Organe der inneren Maſchinerie des Leibes und auch
unter
dieſen den Magen berührt.
Wir haben früher (Teil II)
geſehen
, daß die Nervenfäden große Ähnlichkeit mit den Drähten
des
elektriſchen Telegraphen haben.
Dieſer Nerv, von dem wir
eben
ſprechen, und der von Organ zu Organ hinſtreift, und
deshalb
derVagus”, das heißt ſo viel, wie derHerumtreiber”
genannt
wird, iſt der elektriſche Draht, welcher dem Gehirn
den
Rapport bringt, wie es mit dem Magen ſteht.
Wenn es
dem
Magen gut geht, erzählt er dem Gehirn gar nichts;
aber
wenn
er Speiſe verlangt und der Magen iſt in dieſem
Punkte
durchaus nicht beſcheiden , ſo ſtattet dieſer Nerv
ſeinen
Rapport dem Gehirn ab, und wir empfinden und werden
uns
eines Gefühles bewußt, das man Hunger nennt.
Hätte dieſer Nervenfaden nicht außerdem viel zu thun,
und
würde ſeine Verletzung nicht den Tod herbeiführen, ſo
würde
man einem Menſchen allen Appetit, allen Hunger be-
nehmen
, wenn man den Faden in irgend einem Punkte ſeines
Verlaufes
, z.
B. am Halſe, durchſchnitte.
An dieſem Faden, oder richtiger an deſſen Thätigkeit hängt
ſo
zu ſagen wirklich das Leben.
Er ſteht mit der Lunge in
Verbindung
, und deshalb iſt die Lunge, die im gewöhnlichen
Zuſtand
nichts nach dem Gehirn zu fragen hat, in außer-
ordentlichen
Zuſtänden dem Gehirn unterworfen.
Bei einem
entſetzlichen
Anblick, der ja eigentlich nur durch das Auge und
deſſen
Nerv zum Gehirn rapportiert wird, ſtockt der Atem,
wobei
freilich noch andere Umſtände mit einwirken.
Auch zum Herzen, das ſein Saug- und Druck-Geſchäft im
gewöhnlichen
Zuſtand ganz unabhängig vom Gehirn
586102 geht der herumſtreifende Nerv hin; und dies bewirkt, daß
dieſer
Nerv die Herzbewegung fortdauernd reguliert.
Denn
durchſchneidet
man einem lebenden Tiere denſelben zu beiden
Seiten
des Halſes, ſo entſteht ein ſtürmiſches Herzpochen, in
welchem
ſich das Herz bis zum Tode erſchöpft.
Wenn man
ihn
aber galvaniſch reizt, ſo kann man dadurch das Herz
ganz
zum Stillſtand bringen.
Daraus geht denn hervor, daß
das
Gehirn durch dieſen Nerven dem Herzen gleichſam einen
Zügel
anlegt, und ſeine Bewegung ſo lenkt wie etwa ein
Wagenlenker
den Lauf der mutigen Roſſe, damit ſie nicht allzu
ſtürmiſch
davonjagen.
Und ſo erklärt es ſich auch, daß Herz
und
Gehirn häufig in Rapport treten.
Freude, Schreck, Auf-
regung
, lauter Dinge, die nur im Gehirn vorgehen, erregen
Herzpochen
.
Aus all’ dem Geſagten entnehmen wir für unſer Thema
jedenfalls
als unbeſtrittene Hauptſache, daß ſelbſt in jenen
Lebensthätigkeiten
, wo ſcheinbar das Tier ein Pflanzenleben
führt
, doch ein beſonderes Nervenſyſtem dieſe Thätigkeit leitet
und
dirigiert.
Daß ferner dieſes Nervenſyſtem mit den be-
wußten
und willensfreien Bewegungen des Tieres nicht in
direkter
Verbindung ſteht;
daß aber gleichwohl für außer-
ordentliche
Fälle telegraphiſche Korreſpondenzen nach dem
Gehirn
gebracht werden und von hier aus gewiſſe Kabinets-
ordres
auf das vegetative Leben ihren Einfluß ausüben.
XXXVII. Von der Innen- und Außenwelt.
Aus all’ dem Vorhergehenden wird wohl jedermann ent-
nehmen
können, daß man auf die Natur und Wirkſamkeit der
Nerven
ſein Augenmerk zu richten habe, wenn man
587103 weſentlichen Unterſchied zwiſchen dem Leben des Tieres und
der
Pflanze genauer verſtehen will.
Leider aber befinden wir uns hier wiederum vor einer
verſchloſſenen
Pforte, welche die Wiſſenſchaft noch nicht zu
öffnen
vermocht hat.
Über die Natur der Nerven und
namentlich
des Gehirns weiß die Wiſſenſchaft nur ſehr wenig
zu
ſagen;
dafür aber hat man über die Wirkſamkeit der Nerven
und
des Gehirns reichhaltige Beobachtungen angeſtellt und ſehr
wichtige
Schlüſſe gezogen, ſo daß man über die Rolle, die ſie
im
Körper des Tieres ſpielen, im allgemeinen im Klaren iſt,
wenn
auch über Einzelheiten noch Zweifel obwalten.
Will man von der Wirkſamkeit des geſamten Nerven-
ſyſtems
, von der wir ſogleich ein Näheres unſern Leſern vor-
führen
werden, auf die Natur der Nerven, auf ihr innerſtes
Weſen
einen Schluß ziehen, ſo wird man leicht geneigt, die
Nerven
für das eigentliche Lebensprinzip zu halten.
Es hat
auch
nicht wenige Forſcher gegeben, die in den Nerven die
Grundquelle
des Lebens geſucht haben.
Betrachtet man
indeſſen
das Daſein der Pflanzen als die Grundlage des
tieriſchen
Daſeins, und erwägt man, daß die Pflanzen ohne
Nervenſyſtem
leben, ſo wird man dahin geführt, die Nerven
zwar
als die Hauptorgane des tieriſchen Lebens, aber keines-
wegs
das Leben als eine bloße Wirkung der Nerven zu be-
trachten
.
Auch eine unbeſtreitbare Beobachtung an der Entwickelung
des
tieriſchen Lebens führt zu dem Schluß, daß eine Lebens-
thätigkeit
ſchon im Ei vorhanden iſt, bevor noch Nerven
exiſtieren
.
In einem Hühner-Ei ſtellt ſich’s zwar ſchon nach
wenigen
Stunden der Bebrütung heraus, daß Rückenmark und
Hirn
des Hühnchens die erſten Dinge ſind, auf welche es bei
der
Entwickelung abgeſehen iſt;
aber es iſt unbeſtreitbar, daß
eine
Lebensthätigkeit im Ei wirkſam iſt, bevor dieſe Hauptſitze
des
Nervenſyſtems ſich zu bilden anfangen, daß alſo
588104 Leben nicht eine bloße Wirkſamkeit eines vorhandenen Nerven-
ſyſtems
ſein könne.
Das innerſte Weſen der Nerven iſt nicht minder dunkel
als
das innerſte Weſen des Lebens;
wir wollen daher unſere
Leſer
nicht mit dieſen tiefen Rätſeln behelligen, und ſie lieber
auf
das Gebiet führen, auf dem die Beobachtung bereits
reichliche
Erfahrungen und ergiebige Reſultate geſammelt hat,
auf
das Gebiet jenes Teils der Wiſſenſchaft, welcher von der
Wirkſamkeit
der Nerven handelt.
Wir haben bereits gezeigt, daß ſelbſt das Pflanzenleben
des
Tieres, daß das Wachstum, die Ernährung, der Säfte-
Umlauf
, die Atmung, die Ausſcheidung unbrauchbarer Stoffe
u
.
ſ. w. von einem Nervenſyſtem dirigiert werden. Wir wiſſen
auch
ferner, daß Empfindung und Bewegung von der Wirk-
ſamkeit
des Gehirns abhängen, welches das Zentral-Bureau
des
Nervenſyſtems iſt.
Man hat nun ſehr ſorgſame Unter-
ſuchungen
angeſtellt, um dieſer Wirkſamkeit etwas näher auf
die
Spur zu kommen, und iſt, namentlich in neuerer Zeit,
ziemlich
glücklich in dieſen Forſchungen geweſen.
Bevor wir jedoch von dieſen Forſchungen ſpeziell ſprechen,
müſſen
wir auf die Verſchiedenartigkeit der Empfindungen und
auf
die Natur der Bewegungen des lebenden Tieres einen
kurzen
Blick werfen.
Von allem, was im Innern des Tieres vorgeht, hat das
Tier
im gewöhnlichen Zuſtand keine Empfindung.
Wir Menſchen,
die
wir die klügſten Tiere ſind, ſpüren in geſunden Verhält-
niſſen
nichts von dem Herzſchlag, nichts von der Arbeit der
Lungen
, des Magens, des Darms, der Thätigkeit der Leber,
der
Nieren u.
ſ. w. Was man von dieſen Dingen weiß, hat
man
erſt durch weitläufige Forſchungen herausſtudieren müſſen.
Ja, man beſitzt unter anderm im Leibe ein Ding, daß den
Namen
Milz trägt, und das gewiß etwas zu thun hat, da es
ſchwerlich
ohne Lebenszweck exiſtieren würde;
aber
589105 Forſchungen haben es bisher noch nicht herausgebracht, wozu
dies
Ding da iſt.
Hätte man Empfindung vom Wirken der
inneren
Organe des Leibes, ſo würden wir ganz unzweifelhaft
ſpüren
, wann und unter welchen Umſtänden die Milz ihr
Geſchäft
treibt, und würden ſicherlich über dieſes Rätſel voll-
gültigen
Aufſchluß erhalten.
Und ebenſo wie wir von dem, was im Innern des Leibes
vorgeht
, nichts empfinden, ſo ſind wir auch nicht imſtande, die
inneren
Organe nach unſerem Willen zu bewegen.
Empfindung und Bewegung des Tieres hat alſo ſeine
Beziehung
nicht zum Innern des Tieres, ſondern zur Welt
draußen
, zur Außenwelt.
Wir empfinden oder richtiger wir empfangen Eindrücke
von
den Dingen, die draußen, außerhalb unſeres Körpers vor-
gehen
.
Wir bewegen unſere Glieder! aber dieſes Kunſtſtück
können
wir im allgemeinen nur mit denjenigen Teilen unſeres
Leibes
vollſtrecken, die mit der Außenwelt in Berührung ſtehen.
Iſt aber Empfindung und Bewegung wirklich das, was
hauptſächlich
das Tier von der Pflanze unterſcheidet, ſo wird
jeder
einſehen, daß das Tierleben einen hauptſächlichen Wert
in
der Beziehung zur Außenwelt hat, während in dem Pflanzen-
leben
mehr die Innenwelt wirkſam iſt.
Dies iſt nun wiederum ein Gedanke, dem wir ein wenig
nachſpüren
müſſen.
XXXVIII. Das Tier und die Außenwelt.
Ein Baum weiß nicht, daß er exiſtiert; aber in ihm geht
ein
Wirken und Schaffen vor, das ganz zur Sicherung ſeiner
Exiſtenz
nötig iſt;
und ſo iſt es in der ganzen Pflanzenwelt.
Ein Tier iſt aber ſchon ein anderes Ding, es iſt offenbar
590106 eingerichtet, die Welt außer ihm kennen zu lernen. Ja, der
Bau
des Tieres iſt ſo beſchaffen, daß es genötigt iſt, eine Art
Kenntnis
der Welt in ſich aufzunehmen.
Die innere Maſchinerie
des
Tieres, ſein vegetatives Leben, wäre rein unmöglich, wenn
das
Tier nicht Werkzeuge in ſeinem Körper beſäße, durch
welche
es imſtande iſt, Eindrücke der Außenwelt ſich zu merken.
Ein Baum z. B. iſt feſtgewurzelt in der Erde. Seine
Wurzeln
ſind gewiſſermaßen die Ketten, die ihn an einer Stelle
gefeſſelt
halten, ſelbſt wenn er ſonſt imſtande wäre, ſich von
Ort
zu Ort zu bewegen;
aber gerade ſeine Wurzeln ſind
die
Kanäle, durch welche ſeine Nahrung einſtrömt.
Er braucht
ſich
nicht von der Stelle zu bewegen, um Nahrung zu empfangen
und
zu leben, und deshalb weiß er nichts, und braucht auch
nichts
davon zu wiſſen, ob und was mit ihm los iſt, und ob
und
wo noch Dinge außer ihm vorhanden ſind.
Ein Tier hat keine ſolche Wurzeln, die ihm Nahrung zu-
führen
.
Es muß ſich die Nahrung ſelber herbeiſchaffen.
Darum muß es ſich von Ort zu Ort bewegen können, darum
muß
es alſo mit der Welt außer ihm in Beziehung treten, und
deshalb
bedarf es einer Leibeseinrichtung, die es in den Stand
ſetzt
, etwas von der Welt kennen zu lernen.
Ein Tier iſt ein Weſen, das ſofort genötigt iſt, ſich mit
der
Welt bekannt zu machen, ſobald es nur in die Welt hinein
verſetzt
wird, und welches deshalb auch eingerichtet iſt zu dieſer
Bekanntſchaft
.
Wer ein Tier beobachtet im Moment, wo es aus dem
Mutterleibe
, oder aus dem Ei herauskommt, der hat am beſten
Gelegenheit
wahrzunehmen, wie ſich in dieſem Moment ge-
wiſſermaßen
ein Pflanzen-Leben in ein Tier-Leben umwandelt,
und
in welch’ wunderbarer Weiſe dieſe Umwandlung vor
ſich
geht.
Ein Tier im Mutterleib und auch der Menſch iſt in
dieſer
Beziehung nicht beſſer lebt wie eine Pflanze.
591107 Tier iſt durch die Nabelſchnur mit dem Mutterleib verwachſen.
Die Nahrung ſtrömt zu ihm ein durch den Nabel. Einem
Hühnchen
im Ei geht es ebenſo.
Es iſt zwar nicht mit der
Mutter
verwachſen, aber es beſitzt am Ei einen Speiſevorrat,
der
ebenfalls durch den Nabel in den Leib des Hühnchens
einſtrömt
, und der ausreicht, bis das Tierchen ans Tageslicht
treten
kann.
Man ſieht alſo beim neugebornen Tier eine
Art
Pflanzen-Daſein, wenigſtens ſo weit es das Einſtrömen
der
Nahrung betrifft.
Man nennt es mit Recht eine Frucht,
denn
es lebt an der Nabelſchnur wie eine Frucht an einem
Stengel
.
Mit dem Moment jedoch, wo das Tier in die Welt
hinaustritt
, hört dies Pflanzenleben auf.
Die Nabelſchnur
wird
mit dem erſten Aufatmen des jungen Geſchöpfes un-
wirkſam
.
Das Muttertier beißt auch, geſchickter als manche
Hebeamme
, und beſſer unterrichtet als Millionen von Menſchen,
die
überflüſſig gewordene Nabelſchnur entzwei und überläßt
das
junge Tier der Welt als einen Weltbürger;
und dieſes
Tier
, es weiß ſofort, daß eine Welt außer ihm da iſt.
Das
Kälbchen
geht, ohne zu zweifeln, auf die Mutter zu, um den
Mund
, der noch niemals Speiſe empfangen hat, an die Zitzen
derſelben
zu legen und Muttermilch zu ſaugen.
Es wartet
nicht
ab, wie die Pflanze, daß die Nahrung ihm noch ferner
zufließe
, ſondern ſucht ſie in der Umgebung außerhalb.
Es iſt für die Wiſſenſchaft äußerſt ſchwierig, für dieſes
ſofortige
Erkennen des Tieres, für die ſofortige richtige Be-
nutzung
ſeiner Füße, ſeines Mundes, ſeiner Saugwerkzeuge die
Erklärung
zu geben.
Man hat all’ dies mit dem Namen
Inſtinkt” bezeichnet, und verſteht darunter eine angeborene
Kenntnis
und Geſchicklichkeit ſolcher Verrichtungen, die dem
Tiere
unumgänglich nötig ſind zum Leben.
Durch dieſe Be-
zeichnung
eines unbekannten Dinges mit einem nicht ſehr
klaren
Namen iſt aber leider wiſſenſchaftlich ſo gut wie nichts
erklärt
.
Es läßt ſich im allgemeinen nur ſagen: Ein
592108 Tier iſt beſtimmt, ein Leben zu führen, das mit der Außen-
welt
in Beziehung ſteht.
Dieſe Beſtimmung liegt in ſeiner
ganzen
Leibesbeſchaffenheit ausgeprägt, und es tritt in bis jetzt
nicht
erklärter Weiſe mit der Außenwelt in Verkehr, ſobald es
in
die Welt geſetzt iſt.
XXXIX. Wie die Eindrücke der Außenwelt den
Weg zum Gehirn finden.
Ein Tier tritt überhaupt in die Welt, ausgeſtattet für eine
große
Reihe von Eindrücken, die die Außenwelt auf dasſelbe
macht
;
ein Tier, das aus dem Mutterleibe kommt, iſt ausge-
rüſtet
für das Leben in einer Außenwelt.
Ein Tier hat Augen, um zu ſehen, was außerhalb ſeines
Leibes
vorgeht.
Was in ſeinem Leibe paſſiert, weiß es nicht,
es
hat kein Auge, kein Organ, das ihm dies zum Bewußtſein
bringen
ſoll.
Es empfängt einen Eindruck des Lichtes von
Sternen
, die viele, viele Millionen Meilen von ihm entfernt
ſind
, und wird ſich deſſen mehr oder weniger klar bewußt, daß
dieſer
Eindruck von außen her auf es einwirkt.
Das Auge iſt
ein
Organ zum Verkehr mit der Außenwelt.
Bedenken wir, daß das Auge im Mutterleibe ausgebildet
wird
, woſelbſt kein Sonnenlicht eindringt.
Bedenken wir, daß
ein
Auge ein ganz zweckloſes Ding wäre, wenn es keine Sonne
gäbe
, ſo ſehen wir im Auge eines Tieres eine innige Be-
ziehung
eines ſolchen Geſchöpfes zu einem Himmelskörper, der
zwanzig
Millionen Meilen von ihm entfernt iſt, ein Band, das
Leib
und Leben eines Würmchens mit der Exiſtenz der unend-
lich
fernen Himmelskörper verknüpft.
Nicht minder iſt das Ohr ein Organ zum Verkehr mit
593109 Außenwelt, wenn auch deſſen Wirkungskreis nicht ſoweit reicht
wie
der des Auges.
Wir hören höchſtens nur Botſchaften
ſolcher
Vorgänge, die im Bereich der Luft vorgehen, die die
Erde
umgiebt.
Der Geruch ſetzt ebenfalls das Tier in Verkehr mit der
Außenwelt
;
aber das Bereich dieſes Organs iſt im allgemeinen
noch
kleiner als das des Ohres.
Der Geſchmack macht uns ebenfalls mit Eigenſchaften von
Dingen
bekannt, die außer uns exiſtieren;
aber dieſe Dinge
müſſen
ſchon in nahe Berührung mit Zunge und Gaumen
treten
.
Endlich giebt uns das Gefühl oder der Taſtſinn gleich-
falls
eine Kenntnis von Dingen, die außerhalb unſers Leibes
exiſtieren
;
aber hierzu iſt ſchon nötig, daß der Eindruck durch
eine
unſern ganzen Leib überziehende Oberhaut hindurchdringt.
Gleichwohl ſind alle dieſe genannten angebornen Eigen-
tümlichkeiten
des Tieres, die man die fünf Sinne desſelben
nennt
, Werkzeuge, um dem Tier einen Einfluß der Außenwelt
zum
Bewußtſein zu bringen, eine Beziehung des Tieres zu der
Außenwelt
zu unterhalten.
Den Pflanzen fehlen die Sinne. Sie haben nur ein
innerliches
Leben;
und die Tiere, ſoweit ihr innerliches Leben
reicht
, haben auch mit den fünf Sinnen nichts zu thun.
Es
giebt
auch untergeordnete Tiere, bei denen man weder Augen
noch
Ohren oder einen Erſatz dieſer Organe bemerkt.
Aber
ebenſo
wie wir bereits dargethan haben, daß das innere Leben
des
Tieres ſich dadurch unterſcheidet von einem wirklichen
Pflanzenleben
, daß das Tierleben von einem Syſtem von
Nerven
dirigiert wird, ſo iſt auch die Thätigkeit der fünf Sinne
des
Tieres, dieſer höhere Vorzug derſelben vor den Pflanzen,
von
den Nerven abhängig, die mit den Organen der fünf Sinne
in
Verbindung ſtehen und die Eindrücke der Sinne zum Gehirn
leiten
.
594110
Von der Hinterwand des Auges geht ein Nerv, ein weißer,
fettartig
ausſehender Strang, bis an eine gewiſſe Stelle des
Gehirns
.
Hier iſt der Nerv mit dem Gehirn verwachſen,
während
er am andern Ende mit der Hinterwand des Auges
verwachſen
iſt, welche von feinen Fäden dieſer Nerven aus-
tapeziert
iſt.
Auge, Nervenfaden und Hirn ſind alſo in un-
mittelbarem
Zuſammenhang, und wenn dies der Fall iſt,
erregt
irgend ein leuchtender oder beleuchteter Gegenſtand, deſſen
Strahlen
ein Bildchen auf der Hinterwand des Anges erzeugen,
das
Bewußtſein des Sehens.
Das heißt, ſo lange Auge und
Gehirn
durch den Nerven in Verbindung ſtehen, ſo lange macht
jeder
Lichteindruck auf das Auge einen bewußten Eindruck auf
das
Gehirn;
durchſchneidet man aber den Nerven, ſo fällt zwar
das
Licht ins Auge;
aber weil die Verbindung mit dem Ge-
hirn
zerſtört iſt, hört auch jede Art von Sehen auf.
Das
Sehen
geſchieht nur im Gehirn, nur an der Stätte des Be-
wußtſeins
, und der Weg vom Bild des Auges zum Gehirn
geht
nur durch dieſen beſtimmten Nerven.
Man nennt dieſen Nerven den Seh-Nerven und er iſt
auch
in der That zu nichts anderm da, als Lichteindrücke ins
Gehirn
zu leiten.
Verſetzt man Jemandem einen Schlag aufs
geſchloſſene
Auge, ſo reizt man dieſen Nerven und macht, daß
der
Mißhandelte Flammen, Funken zu ſehen glaubt.
Es rührt
dies
daher, daß dieſer Nerv jede Art Reiz, den man auf ihn
ausübt
, mag man ihn ſtoßen, ſtechen, brennen, drücken oder
elektriſieren
, immer nur als einen Licht-Eindruck zum Gehirn
bringt
.
Der Nerv verurſacht keine andere Empfindung als
Licht
;
er verurſacht beim Durchſchneiden keinen Schmerz, ſon-
dern
läßt den Operierten nur einen blendenden Blitz ſehen,
auf
den für ihn ewige Finſternis folgt.
In ganz gleicher Weiſe geht ein Nerv von einer be-
ſtimmten
Stelle des Gehirns nach der Naſe, und verbreitet ſich
hier
in ſeinen Zweigen in der Naſenhöhle.
Es iſt dies
595111 Riech-Nerv, der es vermittelt, daß die der Luft beigemiſchten
feinen
Teilchen verdunſtender Dinge, welche mit dem Ein-
atmen
durch die Naſe die Nervenzweige berühren, den Nerven
reizen
, und ſo eine Geruchs-Empfindung zum Hirn leiten.
Unterbricht man die Leitung, verletzt man dieſen Nerven, ſo
hört
die Gabe des Riechens vollkommen auf.
Wir werden ſehen, daß es mit den übrigen Sinnen ebenſo
iſt
, und wie die Nerven im Tiere die Fäden bilden, welche die
Außenwelt
mit der Innenwelt verbinden.
XL. Von den übrigen Sinnesnerven.
Ganz ſo wie es mit den Seh-Nerven und Riech-Nerven
beſchaffen
iſt, ſo iſt es auch mit den Gehör-, Geſchmacks- und
den
Gefühlsnerven der Fall.
Nicht allzu fern von der Stelle des Gehirus, wo der
Seh-Nerv
und Geruchs-Nerv nach Auge und Na@e abgehen,
geht
der Hör-Nerv zum Ohr.
Das Ohr iſt nur ein Werkzeug,
um
den Schall, der außerhalb entſteht, aufzunehmen;
der Nerv
wird
durch den Schall angeregt und leitet ihn zum Gehirn, in
welchem
er erſt mit Bewußtſein vernommen wird.
Auch auf
dieſen
Nerven wirkt jede Art Reiz als Schall;
wird er durch-
ſchnitten
, ſo hört der Operierte im Augenblick des Durch-
ſchneidens
einen Schall, auf welchen ewige Stille einer ſtummen
Welt
folgt.
1
11 Es ſei übrigens bemerkt, daß der Geruchsſinn vielleicht als der
feinſte
Sinn betrachtet werden muß, den wir überhaupt beſitzen: wie fein
er
iſt, erhellt aus der Thatſache, daß wir von einem der fürchterlichſten
Stinkſtoffe
, dem ſogenannten Mercaptan, noch ein dreihundertundſechzig
Millionſtel
Milligramm durch den Geruch wahrnehmen können.
596112
Merkwürdig iſt noch beim Hören Folgendes.
Vom Lichte wiſſen wir, daß es nicht in die undurchſichti-
gen
Körper eindringt.
Es läßt ſich alſo erklären, daß, wenn
der
dazu eingerichtete Seh-Nerv den Eindruck des Lichtes nicht
nach
dem Gehirn führt, auch dort das Bewußtſein des Lichtes
nicht
entſtehen kann.
Beim Schall dagegen iſt es anders. Der
Schall
wird zwar durch dicke Mauern und noch mehr durch
weiche
Maſſen, die er durchdringen muß, gedämpft, aber er
durchdringt
ſie dennoch, ſobald er nur ſtark genug iſt.
Daher kommt es, daß wenn auch durch eine Verletzung
oder
Mißbildung des Ohrs und ſeiner Einrichtung der Schall
nicht
auf dieſem Wege zum Gehör-Nerv dringt, das Gehirn
dennoch
hören kann, weil dann der Schall durch die Schädel-
wände
zum innern Ohre geht.
So hört der Taube, ſo lange
ſein
Gehörnerv unverletzt iſt, das Ticken einer Uhr, wenn er
ſie
in den Mund nimmt.
Er vernimmt die Töne eines Klaviers,
wenn
er mit den Zähnen einen ſtählernen Stab feſthält, der
das
Inſtrument berührt.
Ja jeder Geſunde kann ſich davon
überzeugen
, daß der Schall zum Gehirn gelangt ohne ſeinen
Weg
durch das Ohr zu nehmen.
Hält man nämlich eine an-
geſchlagene
Stimmgabel vor ſich, ſo vernimmt man gar nichts,
oder
nur ein ſehr ſchwaches Tönen.
Sowie man aber die
Stimmgabel
auf den Kopf ſetzt und den Stiel feſt gegen die
Kopfknochen
andrückt, hört man den Ton ſehr laut und deutlich.
Ähnlich wie mit den bisher erwähnten Nerven iſt es mit
dem
Geſchmacksnerven der Fall.
Auch dieſer geht in der Nähe
der
Stelle, wo die andern Sinnesnerven vom Gehirn aus ent-
ſpringen
, nach den Organen des Geſchmacks, nach Zunge und
Gaumen
, und verbreitet ſich hier in feine Äſte.
Vernichtet
man
dieſen Nerv, ſo verliert man das Vermögen, den ver-
ſchiedenen
Geſchmack verſchiedener Dinge zu empfinden, obwohl
ſonſt
Zunge und Gaumen zu allen andern Dingen, die ſie ver-
richten
, noch die Fähigkeit behalten.
597113
Nicht ganz wie mit dieſen Nerven iſt es mit den Gefühls-
Nerven
.
Das Gefühl hat nicht ſeinen Sitz an einem beſtimmten
Organ
des Körpers, ſondern iſt, wenn auch ſehr verſchieden,
auf
der ganzen Oberfläche des Körpers verbreitet;
und deshalb
iſt
auch die Zahl der Gefühlsnerven größer und ihre Ver-
teilung
im Körper verſchieden.
Die Gefühls-Nerven entſpringen
zwar
alle aus dem Gehirn, aber ſie gehen nicht alle direkt von
dort
ab bis zu allen Teilen des Körpers, in welchen man Ge-
fühl
beſitzt;
es iſt vielmehr die Einrichtung getroffen, daß die
Teile
des Kopfes mit Gefühlsnerven verſorgt werden, welche
direkt
vom Gehirn abgehen, während der Rumpf mit Nerven-
fäden
verſehen wird, die, gemeinſam in einem dicken Nerven-
ſtrang
vereinigt, das Rückenmark bilden, welches durch das
hohle
Rohr der Wirbelſäule durch Hals- und Rücken hinab-
läuft
bis in die Tiefe der Bauchhöhle.
Das Rückgrat, deſſen Knochenwirbel wir ſehr deutlich mit
der
Hand fühlen können, beſteht nämlich aus eigentümlichen
Knochenringen
, die aufeinander liegend ein hohles Rohr bilden.
Dieſes hohle Rohr geht hinauf bis an den Schädel, woſelbſt
im
Knochen ein ziemlich großes Loch iſt, durch dieſes Loch
hängt
ein dicker Nervenſtrang, der oben mit dem Gehirn ver-
wachſen
iſt, herunter, der eben das Rückenmark heißt, und der
das
hohle Rohr faſt bis hinab ausfüllt.
Das Rückenmark iſt
alſo
eine Fortſetzung des Gehirns, oder richtiger ein dickes
Bündel
einzelner Nerven, die eingeſchloſſen von der knochigen
Wirbelſäule
gemeinſam dem Rücken entlang abwärts gehen.
In der Wirbelſäule aber ſind zu beiden Seiten jedes
Wirbels
Löcher, durch welche Nervenfäden vom gemeinſamen
Strang
ſich entfernen und nach den nächſten Gliedern des
Leibes
gehen;
und dieſe Nerven bewirken es, daß wir im
ganzen
Körper Gefühl haben, das heißt, wir werden durch
die
Nerven, die äußerſt fein an der Oberfläche des ganzen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
598114
Leibes verteilt ſind, uns im Gehirn bewußt, wenn irgend ein
Gegenſtand
außer uns unſern Körper berührt, wir empfinden
Kälte
, Wärme, Hitze, Stechen, Brennen und ſo weiter durch
dieſe
Nervenfäden, die von den Gliedern zum Rückenmark, von
dort
zum Gehirn führen.
XLI. Die Fähigkeit der Bewegung des Tierleibes.
Wir ſehen, wie das ganze Tierleben, ſo weit es ſich vom
Leben
der Pflanze unterſcheidet, dirigiert wird von der Exiſtenz
eines
Gehirns und der von ihm auslaufenden Nerven;
wie
ſowohl
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen her-
rühren
von einer Thätigkeit des Gehirns und einer Leitung
der
Nerven, welche die Eindrücke der Außenwelt dem Tiere
zum
Bewußtſein bringen.
Wir wollen nunmehr zeigen, wie
auch
das Tier ebenfalls durch das Gehirn und durch Nerven
in
den Stand geſetzt iſt, ſich mit der Außenwelt in ein Ver-
hältnis
zu ſetzen, wie es nicht nur Eindrücke von außen her
empfängt
, ſondern auf die Außenwelt mit mehr oder weniger
freiem
Willen einwirken kann.
Dieſe Einwirkung geſchieht durch die Fähigkeit des Tieres,
ſich
in der Welt zu bewegen und thätig zu ſein, ſoweit es zum
Leben
in der Außenwelt nötig iſt.
Ein jedes Tier iſt ſo gebaut, daß es Körperteile beſitzt,
welche
es nach eigenem Willen zuſammenziehen und wieder in
die
natürliche Lage der Erſchlaffung übergehen laſſen kann;
und auf dieſer einzigen Fähigkeit, die im Grunde genommen
äußerſt
einfach iſt, beruht die ganze Maſchinerie, durch welche
ein
Tier ſich in Bewegung zu ſetzen vermag, und zwar geſchickter
und
durchdachter als alle künſtlichen Maſchinerien der Welt.
599115
Wir wollen der Deutlichkeit halber den Menſchen als
Beiſpiel
anführen, inſoweit er hierin dem Tiere gleicht;
denn
das
Gehen, Stehen, Hinlegen, Aufrichten, Laufen, Springen,
Schwimmen
und Hantieren des Menſchen iſt in allen natur-
gemäßen
Fällen dem des Tieres gleich.
Das Prinzip iſt das-
ſelbe
, wenn auch die menſchliche Fähigkeit in den meiſten
Dingen
eine ſehr geſteigerte iſt.
Alle Bewegungen, die wir auszuführen imſtande ſind,
beruhen
nur darauf, daß wir Muskeln beſitzen, das ſind die
Partieen
, die man gewöhnlich unter dem Namen Fleiſch
bezeichnet
.
Viele Menſchen glauben freilich, daß das Fleiſch
eine
Art empfindliches Polſter um die Knochen iſt;
das iſt
aber
ein Irrtum.
Das Fleiſch iſt Muskel, ein Stück Fleiſch,
das
auf unſern Tiſch gebracht wird, und das wir uns wohl-
ſchmecken
laſſen, iſt ein Stück Muskel des Tieres, welches uns
zur
Nahrung dient, das aber dem Tiere als das Hauptwerkzeug
der
Bewegung gedient hat.
Die Muskeln ſind ſehr ver-
ſchieden
geformt, und es giebt Stellen, wo eine Partie Muskeln
ſich
auf einem kleinen Raum befinden.
Wenn wir jemanden
gefällig
in die Backen kneifen, ſo haben wir nicht etwa ein
einziges
Stück Fleiſch zwiſchen den Fingern, ſondern eine
ganze
Partie Muskeln, zwiſchen denen Fett gelagert iſt, und
die
gemeinſchaftlich von der Haut überzogen ſind.
Die Muskeln
ſelber
ſind kleinere oder längere, dickere oder zartere, ſchmalere
oder
breitere fleiſchige Lappen, die meiſt von einem Knochen
zum
andern laufen und mit dem einen Ende an dem einen,
mit
dem andern an dem zweiten Knochen angewachſen ſind,
ohne
jedoch in ihrer Länge mit den Knochen verwachſen zu ſein.
Dadurch nun, daß man mit ſeinem Willen dieſe mit den
Enden
an zwei Knochen angewachſenen Muskeln zuſammen-
ziehen
, verkürzen kann, zwingt man die Knochen, ſich im Gelenk,
wie
eine Thür in ihrer Angel, zu bewegen, und hierauf einzig
und
allein, auf dieſem äußerſt einfachen Mechanismus
600116 jede natürliche und künſtliche Bewegung, die wir mit dem
Körper
vornehmen können.
Ein einziges Beiſpiel wird das, was wir hiermit meinen,
deutlich
machen.
Man laſſe den linken Arm ruhig hängen, und man wird
mit
der rechten Hand fühlen können, daß der dicke Muskel in
der
Mitte des linken Oberarms weich und ſchlaff iſt.
Sowie
man
aber die Hand nach der Schulter bringen will, alſo ge-
nötigt
iſt, den ruhenden Arm im Ellenbogen wie in einem
Gelenk
zu bewegen, ſo wird man mit der rechten Hand fühlen,
auch
mit dem Auge ſehen können, daß der dicke Muskel des
linken
Oberarms ſich zuſammenzieht, daß er bauchiger, dicker
und
deshalb kürzer und feſter wird.
Viele werden nun glauben,
daß
dies nur geſchehen iſt, weil man den Arm im Ellenbogen
bewegt
habe;
ſie werden die Bewegung als die Urſache, und
das
Dickwerden des Muskels als die Folge betrachten;
dies
iſt
aber umgekehrt der Fall.
Wir haben den Unterarm nur zu heben vermocht, weil
wir
den Muskel des Oberarms zuſammengezogen haben.
Das
untere
Ende des dicken Muskels iſt nämlich an den Knochen
des
Unterarmes angewachſen, und indem wir den Muskel zu-
ſammengezogen
, alſo kürzer gemacht haben, haben wir den
Unterarm
gezwungen, ſich dem Oberarm zu nähern, ſich zu
heben
und im Ellenbogen-Gelenk zu drehen.
Freilich haben wir beim Heben des Unterarmes garnicht
an
den dicken Muskel über ihm gedacht, und es kommt uns
auch
ſo vor, als hätte ſich dieſer Muskel garnicht um den
Unterarm
zu kümmern, und doch beweiſen es die tauſend-
fältigen
Verſuche, daß nur, wenn wir dieſen Muskel zuſammen-
ziehen
können, wir imſtande ſind, den Unterarm zu heben;
iſt
der
Muskel bedeutend verwundet, ſo daß wir ihn nicht zu-
ſammenziehen
können, ſo iſt es rein unmöglich, die Bewegung
des
Unterarmes auszuführen.
601117
Da aber ein ähnliches Verhältnis im ganzen Körper ſtatt-
findet
, ſo iſt es durch tauſendfältige Unterſuchungen nach-
gewieſen
, daß alle Bewegungen unſerer Glieder nur bewerk-
ſtelligt
werden durch die Fähigkeit, die Muskeln zuſammen-
zuziehen
, ſo daß hauptſächlich hierauf die ganze Maſchinerie
der
Beweglichkeit beruht.
Wir werden aber ſogleich ſehen, daß auch hierbei das
Gehirn
und die Nerven die eigentliche Hauptrolle ſpielen.
XLII. Wie die Muskeln zur Bewegung angereizt
werden.
Die Fähigkeit der einzelnen Muskeln, ſich zuſammen-
zuziehen
, und dadurch Bewegungen der Glieder des Tieres zu
veranlaſſen
, liegt zwar in der Beſchaffenheit der Muskeln ſelbſt;
es haben jedoch unzählige Verſuche den Beweis geführt, daß
ſich
ein Muskel durchaus nur infolge eines Reizes zuſammen-
zieht
, der ihm vom Gehirn zukommt.
Außer den Nerven, welche die Eindrücke der fünf Sinne
zum
Gehirn führen, gehen nämlich vom Gehirn noch andere
Nerven
ab, und zwar nach jedem Muskel unſeres Leibes;
und
dieſe
Nerven bringen vom Gehirn den Reiz zu den Muskeln,
auf
welchen ſie ſich zuſammenziehen.
Der Weg, den dieſe Nerven vom Gehirn zu den Muskeln
nehmen
, iſt ebenſo wie der der Gefühlsnerven verſchieden für
Kopf
und Rumpf.
Die Muskeln des Kopfes werden von
Bewegungsnerven
verſorgt, die direkt vom Gehirn zu ihnen ab-
gehen
;
die Muskeln des Rumpfes werden von Bewegungsnerven
durchwebt
, welche gemeinſam einen Teil des Rückenmarks
bilden
, das vom Gehirn abwärts der Wirbelſäule
602118 und von hier Nervenfäden nach jedem Muskel des Leibes
abſendet
.
Man nennt dieſe Nerven mit Recht: Bewegungs-Nerven”,
denn
nur ſie ſind es, welche vom Gehirn aus den Befehl nach
jedem
beſonderen Muskel bringen, wenn dieſer ſich zuſammen-
ziehen
ſoll.
Iſt das Gehirn nicht imſtande, ſolche Befehle zu
erteilen
, ſo z.
B. im Schlafe, in Ohnmachten, während der
Betäubung
durch Chloroform u.
ſ. w. , ſo ruhen die Muskeln
und
bewegen ſich nicht aus eigenem Antrieb.
Der Patient,
der
wegen einer vorzunehmenden Operation mit Chloroform
ſtark
betäubt wird, fühlt nicht nur keinen Schmerz, ſondern er
iſt
auch nicht imſtande, die Glieder zu bewegen.
Die Betäubung
des
Gehirns bewirkt, daß dieſes nicht jenen Reiz auf die
Muskeln
ausüben kann, den es ſonſt vermittelſt der Nerven
ausübt
.
Nach einem heftigen Schlage auf den Schädel, der
imſtande
iſt, das Gehirn zu erſchüttern, ſtürzen die kräftigſten
Tiere
nieder;
ſie vermögen ſich nicht auf den Beinen zu erhalten,
denn
ihre Muskeln erſchlaffen ſofort, ſobald das Gehirn in
ſeiner
Thätigkeit geſtört iſt.
Ein ſchrecklicher, entſetzenvoller
Anblick
vermag die vollkommen geſunden Glieder eines Menſchen
erſchlaffen
zu machen, zu lähmen, ja ſogar dauernd zu lähmen.
Der Anblick hat zwar nur durch das Auge auf das Gehirn
gewirkt
;
aber die Erſchütterung, die dieſes hierbei erlitten hat,
iſt
oft groß genug, um die Einwirkung des Gehirns auf die
Nerven
und Muskeln des Leibes zu unterbrechen.
Iſt die
Unterbrechung
nur ſehr kurz, ſo zuckt der ganze Leib bloß zu-
ſammen
und richtet ſich bald wieder auf, wie dies beim
heftigen
Erſchrecken gewöhnlich iſt.
Dauert die Unterbrechung
der
Gehirnthätigkeit länger, ſo erſchlaffen die Muskeln, die
Füße
knicken ein, und der Menſch wird ohnmächtig, das heißt,
zeitweiſe
an allen Gliedern gelähmt.
Iſt der ſtörende Eindruck
auf
das Gehirn noch heftiger geweſen, war er z.
B. ſo ſtark, daß
er
mittelſt des herumſchweifenden Nerven, des Vagus, deſſen
603119 bereits früher erwähnt haben, auch die Herzthätigkeit ſtört, ſo
kann
ebenſowohl eine Blut-Entleerung, wie auch das Gegenteil,
ein
Bluterguß im Gehirn ſtattfinden, und eine dauernde Lähmung,
oder
gar den Tod zur Folge haben.
Man nennt dies vom
Gehirn-Schlage
getroffen werden, weil wirklich der erſchütternde
Eindruck
auf das Gehirn die Haupturſache dieſer unglücklichen
Vorfälle
iſt.
Aus all’ dem aber ergiebt ſich, daß die Bewegung der
Glieder
, der Muskeln alſo, nur durch die Thätigkeit des Gehirns
erfolgt
, und daß alle Glieder ſamt und ſonders unbeweglich
ſind
, wenn ſie nicht vom Gehirn aus zur Bewegung angeregt
werden
.
Und dieſe Anregung eben geſchieht durch die Boten des
Gehirns
, durch die Nerven, die wie elektriſche Drähte vom
Gehirn
, dem Zentralbureau, nach jedem Muskel gehen, und
auf
eine Anreizung das Zuſammenziehen der Muskeln in
zweckmäßiger
Weiſe anordnen.
XLIII. Eine Nervendurchſchneidung.
Den mächtigen Einfluß, welchen die Nerven auf diejenigen
Körperteile
ausüben, in denen ſie ſich ausbreiten, kann man
auf
eine ſehr überraſchende Weiſe zur Anſchauung bringen.
Es
iſt
dazu nur nötig, an einem lebendigen Tiere einen Verſuch
anzuſtellen
, der in ſeiner Ausführung allerdings nicht ſehr zart
iſt
.
Mag auch manche nervöſe Seele vor dieſem Gedanken er-
zittern
, die Wiſſenſchaft darf ſich durch keinen Skrupel von den
Verſuchen
an lebenden Weſen abſchrecken laſſen;
denn dies iſt
der
einzige Weg, auf welchem ſie zur Erkenntnis der Lebens-
vorgänge
gelangt.
604120
Wir durchſchneiden nämlich an einem lebenden Tiere einen
Nerven
und ſehen zu, welche Veränderungen in demjenigen
Körperteile
eintreten, der von dem durchſchnittenen Nerven
verſorgt
wird.
Wir wählen als Opfer unſerer Wißbegierde einen Froſch,
der
ſolche Operationen außerordentlich gut verträgt und deshalb
ſchon
ſeit langer Zeit das Opferlamm der Phyſiologie iſt, und
durchſchneiden
ihm denjenigen Nerven, welcher in das rechte
Hinterbein
hineingeht.
Der operierte Froſch, nachdem wir ihn
freigelaſſen
, ſucht mit gewaltigen Sprüngen den Händen ſeines
Peinigers
zu entfliehen;
aber, ſiehe da, während er mit dem
linken
Beine kräftig vom Boden abſtößt, verſagt das rechte
ſeinen
Dienſt vollſtändig.
Auch nicht ein einziger Muskel
ſetzt
ſich in Bewegung, um der Flucht ſeines Herrn zu Hülfe
zu
kommen.
Vielmehr liegt das Bein ſchlaff da und wird
von
dem hüpfenden Froſch wie ein toter Gegenſtand nach-
geſchleppt
.
Dieſe auffallende Erſcheinung, welche die Nervendurch-
ſchneidung
hervorruft, giebt uns eine Vorſtellung von einer
wichtigen
Leiſtung, welche dem Nerven im Körper auferlegt iſt.
Ohne Zweifel hat nämlich der operierte Froſch ebenſo wie
vor
der Operation den Willen, das rechte Bein in derſelben
Weiſe
zu bewegen wie das linke.
Das rechte Bein aber
unterwirft
ſich dieſem Befehle nicht mehr, ſondern bleibt
unbeweglich
und es iſt daher klar, daß dieſer Befehl nicht in
dem
Beine ſelber, ſonder außerhalb desſelben ſeinen Urſprung
haben
muß.
Nun wiſſen wir, daß der Wille, der ſolche Befehle
austeilt
, im Gehirn ſeinen Sitz hat, und wenn derſelbe zur
Ausführung
kommen ſoll, was ja in den entfernteſten Teilen
des
Körpers geſchieht, ſo muß auf irgend eine Weiſe der
Befehl
dorthin überbracht werden.
Der bloße Wille des Tieres,
das
Bein zu bewegen, genügt keineswegs, damit dies in
Wirklichkeit
geſchehe, ebenſowenig wie der Wille des
605121 ausreicht, das Roß zu lenken. Vielmehr exiſtiert zwiſchen Roß
und
Reiter ein Zwiſchenglied, der Zügel, das der Vollſtrecker
des
gefaßten Willens iſt.
Eine ähnliche Rolle nun wie die
des
Zügels übernehmen im Körper die Nerven.
Sie gehen
vom
Gehirn aus und ſetzen ſich ununterbrochen fort bis zu
dem
Muskel, für den ſie beſtimmt ſind.
Dieſem überbringen ſie
den
Befehl, ſich in Bewegung zu ſetzen und ſogleich geſchieht
dies
.
Sie ſind die willigen und ergebenen Diener des Gehirns,
das
ſich ihrer zu allen Lebensäußerungen bedient, ſie ſind die
Zügel
, mit denen es nach ſeinem Willen den Körper lenkt.
Wenn die Nerven zu dieſem Zwecke gebraucht werden,
ſieht
man an ihnen allerdings nicht die Spur einer Benutzung,
wie
man dies vielleicht vermutet.
So grob mechaniſch iſt alſo
in
ihnen der Vorgang nicht wie in dem Zügel des Roſſes, der
durch
Zug wirkt.
Daß aber nichts deſto weniger ein geheim-
nisvoller
Bote vom Gehirn durch die Nerven zu den Muskeln
hinabeilt
, das können wir ganz ſicher aus dem operierten
Froſche
ſchließen.
Auch hier wird im Gehirn der Befehl ausgeteilt: das
rechte
Bein ſoll ſich bewegen.
Der Bote geht auch ab, fährt
das
Rückenmark entlang und kommt in dem Beinnerven an.
Während er nun in dieſem ſeinem Beſtimmungsorte zueilt,
ſtellt
ſich ihm ein ganz unerwartetes Hindernis entgegen.
Der
ſchöne
, geebnete Weg, auf dem er bis dahin gefahren, iſt
plötzlich
durch eine tiefe Kluft geſpalten, über die ihn kein
Steg
nach dem jenſeitigen Ufer führt.
Vergebens kommt ein
Bote
hinter dem andern an, denn das Gehirn wundert ſich,
was
da los iſt, aber es ergeht keinem beſſer.
Sie bleiben
alle
an derſelben Stelle ſtecken.
Dieſe Boten können nämlich nur in Nervenſubſtanz vor-
wärts
kommen, alle anderen Gebilde des Körpers ſind für ſie
unwegſame
und unüberſteigbare Felſen.
Sie ſind dabei ſo be-
quem
, daß ſelbſt die kleinſte Unterbrechung der
606122 ſie trotzig macht und zum Stillſtand zwingt. Und wenn wir
auch
die durchſchnittenen Nervenenden noch ſo nahe an einander
brächten
, daß kaum ein Härchen dazwiſchen kann, ſo würden
die
Boten des Gehirns, die wahrſcheinlich nicht Turnen gelernt
haben
, doch nicht von einem Ende zum anderen hinüberſpringen
können
.
Der angeſtellte Verſuch belehrt uns alſo über die ſehr
wichtige
Thatſache, daß die Nerven die Aufgabe haben, den
Befehl
zur Bewegung vom Gehirn den Muskeln zu über-
tragen
.
Wir werden ſehen, daß ſie außerdem noch andere
wichtige
Dienſte leiſten.
XLIV. Eine weitere Folge der Nerven-
durchſchneidung.
Der Froſch, dem wir einen Nerven durchſchuitten haben,
bietet
uns noch eine andere intereſſante Erſcheinung dar, die
uns
weiteren Aufſchluß über das Leben und Treiben der
Nerven
giebt.
Wir bemerken nämlich, daß das Bein der
operierten
Seite nicht allein bewegungslos daliegt, ſondern
daß
es auch vollſtändig gefühllos geworden iſt.
Wenn wir
den
Froſch an irgend einer anderen Hautſtelle kneipen oder
ſtechen
, ſo erfolgt eine ſehr kräftige Reaktion des Tieres, indem
es
entweder das Bein gegen das angreifende Inſtrument ſtemmt
oder
ſich durch die Flucht dem Angriffe zu entziehen ſucht.
Verſuchen wir dies dagegen an dem gelähmten Beine, ſo
kümmert
ſich der Froſch nicht im Geringſten darum.
Mögen
wir
es noch ſo ſehr kneipen und quetſchen, ja ſelbſt das ganze
Bein
mit der Scheere abſchneiden, es erfolgt darauf nicht die
mindeſte
Schmerzensäußerung von ſeiten des Froſches.
Dieſe auffallende Erſcheinung läßt ſich nur in einer
607123 erklären. Vor allen Dingen wird es uns auf den erſten Blick
nicht
zweifelhaft ſein, daß die Nerven, außer daß ſie die Be-
wegung
leiten, auch noch einen bedeutenden Anteil an dem
Zuſtandekommen
der Empfindung nehmen.
Denn dieſelbe wird
vollkommen
aufgehoben in einem Gliede, deſſen Nerv durch-
ſchnitten
iſt.
Bei unſerem operierten Froſch liegt nun die Sache ſehr
einfach
.
Hier findet in der Haut des rechten Schenkels, deſſen
Nerv
durchſchnitten iſt, derſelbe Vorgang ſtatt, wenn wir ſie
kneipen
, als in der des linken.
Auch hier werden die Aus-
breitungen
der Hautnerven erregt, auch hier geht ſofort ein
Bote
ab, der durch den Verlauf der Nerven ſeinen Weg zum
Gehirn
einſchlägt.
Allein er kommt ebenfalls wie jene Gehirn-
boten
an die Stelle, über die ihm keine mitleidige Kraft hin-
weghilft
.
Da, wo wir den Nerven durchſchnitten haben, bleibt
er
unfehlbar ſtecken und hat vielleicht nicht einmal den Troſt
zu
ſehen, daß es ſeinen Kollegen am jenſeitigen Rande des
unüberſteigbaren
Abgrundes ebenſo ergeht.
Das Gehirn er-
hält
alſo keine Nachrichten von dem, was mit dem operierten
Schenkel
vor ſich geht, und kümmert ſich auch nicht darum,
was
wir mit demſelben vornehmen.
In den Nerven laufen demnach Erregungen zwiefacher
Art
auf und ab.
Die eine beginnt im Gehirn und endet in
den
Muskeln, wo ſie Bewegung hervorruft, die andere nimmt
in
entgegengeſetzter Richtung von äußeren Teilen des Körpers
ihren
Lauf nach dem Gehirn und erzeugt dort Empfindung.
XLV. Die Teilung der Nervenarbeit.
Die Nerven, welche in die Glieder unſeres Körpers ein-
treten
, verrichten dort, wenn ſie unverſehrt ſind, ihre
608124 mit wunderbarer Genauigkeit. Wir wiſſen jetzt, daß ihre Lei-
ſtung
zwiefacher Natur iſt, indem ſie einmal Empfindung, das
andere
Mal Bewegung vermitteln.
Wir wiſſen auch, daß beide
Erregungen
in ein und demſelben Nervenſtamme zu gleicher
Zeit
aneinander vorbeigleiten können, ohne daß ſie ſich im Ge-
ringſten
aufhalten.
Dies ſcheint auf den erſten Blick höchſt
ſonderbar
und rätſelhaft.
Denn wenn wir uns jene Boten,
welche
die Nervenbahn auf- und ablaufen, noch ſo geiſterhaft
vorſtellen
, ſo iſt es doch nicht recht denkbar, daß ihre Be-
gegnung
in ein und demſelben Nerven ohne Einfluß auf ihren
Lauf
ſein ſollte.
Nichts iſt indes einfacher als dies, und es wird ſich zeigen,
daß
die Natur auch hier ein Prinzip zur Geltung gebracht hat,
das
jetzt im ſozialen Leben eine große Anwendung findet, das
Prinzip
der Arbeitsteilung.
Nehmen wir wieder einen Froſch
zur
Hand und betrachten einmal genau die Stelle, wo jener
Nerv
, mit dem wir bereits ſchon ein Experiment gemacht haben,
aus
dem Rückenmark heraus kommt.
Wir bemerken ſogleich,
daß
hier eine ganz eigentümliche Anordnung getroffen iſt.
Der
Nerv
entſpringt nämlich nicht einfach, ſondern gleichſam aus
zwei
Wurzeln, die ſich ſehr bald zu einem einzigen Stamme
vereinigen
.
Die eine Wurzel kommt von der vorderen, die
andere
von der hinteren Seite des Rückenmarks, und ſie be-
ſitzen
bis zu ihrer Vereinigung nur eine geringe Länge.
Dieſe
Wurzeln
werden uns über das Weſen der Nerven weiteren
Aufſchluß
geben.
Um zu erfahren, welche Bedeutung die Wurzeln haben,
machen
wir folgendes Experiment.
Wir durchſchneiden dem
Froſch
an der rechten Seite die vordere Wurzel und an der
linken
Seite die hintere Wurzel und ſehen nun zu, was ſich
darauf
ereignet.
Wenn wir den Froſch nur oberflächlich betrachten, ſo
könnten
wir meinen, daß ſich ſein Zuſtand von dem im
609125 Experimente gar nicht unterſcheidet. Denn während er beim
Hüpfen
mit dem linken Beine kräftig vom Boden abſtößt,
ſchleppt
er das rechte Bein ſchlaff hinter ſich her, ohne es nur
im
Mindeſten zu bewegen.
Aber wenn wir die Sache ge-
nauer
prüfen, ſo werden wir einen Unterſchied herausfinden,
der
höchſt merkwürdiger Natur iſt.
Wir bemerken nämlich, daß, wenn wir wieder das rechte
Bein
, welches unbeweglich daliegt, kneipen oder ſtechen, der
Froſch
wunderbarer Weiſe durchaus nicht gleichgültig dagegen iſt.
Vielmehr ſucht er mit allen Kräften dem Angriff zu entfliehen.
Nur
vermag er nicht das angegriffene Bein ſelbſt durch direkte
Bewegungen
desſelben dem Reize zu entziehen.
Aber noch
ſeltſamer
, wenn wir jetzt das linke Bein, das der Froſch ſehr
gut
bewegen kann, irgend einer Reizung ausſetzen, ſo hat dies
auch
nicht den geringſten Einfluß auf das Tier.
Wir können
ſelbſt
, wie wir es damals an dem gelähmten Beine gemacht
haben
, dasſelbe ganz abſchneiden, der Froſch hat davon auch
nicht
die leiſeſte Empfindung.
Dieſer Zuſtand des Froſches iſt ſehr ſonderbar. Im linken
Bein
, das er ungeſtört bewegen kann, fühlt er nichts, und das
rechte
Bein, in welchem er Alles fühlt, kann er nicht bewegen.
Wie geht das zu?
Hierfür giebt es nur eine Erklärung. Die Boten, welche
vom
Gehirn kommen und Bewegung erzeugen, können nur
durch
die vorderen Wurzeln aus dem Rückenmark heraus-
kommen
, und die Boten, welche zum Gehirn gehen und Empfin-
dung
hervorrufen, können nur durch die hintere Wurzel ins
Rückenmark
hineingelangen.
Auf der rechten Seite, wo wir
die
vordere Wurzel durchſchnitten haben, iſt daher die Be-
wegung
nicht möglich, weil der Befehl des Gehirns über die
Durchſchneidung
nicht fort kann, wohl aber wird die Empfin-
dung
durch die unverſehrte hintere Wurzel weiter geleitet.
Auf
der
linken Seite dagegen, wo die hintere Wurzel
610126 iſt, iſt umgekehrt die Empfindung unmöglich, weil jede Nach-
richt
ſchon im unteren Schnittende ſtecken bleibt, während die
Bewegung
ungeſtört durch die vordere Wurzel vermittelt wird.
Ausgang und Eingang zum Rückenmark ſind alſo wohl
von
einander geſchieden, und dieſe Einrichtung iſt immer da
praktiſch
, wo Gedränge und Verwirrung entſtehen könnte.
Eine
ſolche
Teilung der Arbeit findet jedoch nicht bloß hier in den
Wurzeln
ſtatt, ſondern reicht noch weiter über die ganzen
Nerven
hinaus.
All’ die vielen, feinen Nervenfaſern nämlich,
welche
in den Wurzeln enthalten ſind, vereinigen ſich zwar in
einen
Stamm, bleiben aber darin ſtreng von einander getrennt,
und
nur die der vorderen gehen zu den Muskeln, während die
der
hinteren nur zur Haut gehen.
Was in den erſteren vor-
geht
, davon erfahren die letzteren Nichts und umgekehrt.
So
giebt
es denn zwei Arten von Nervenfaſern, Bewegungsnerven
und
Gefühlsnerven, die einen entſpringen aus den vorderen,
die
anderen aus den hinteren Wurzeln des Rückenmarks.
XLVI. Gin Nervengift.
Die Thätigkeit der Nerven iſt ſo unerläßlich für das Be-
ſtehen
des Organismus, daß das Leben ſehr bald erliſcht,
wenn
ſie aufhören zu wirken.
Doch kommt ein ſolcher Fall
nicht
vor, wo plötzlich alle Nerven des Körpers durch irgend
eine
krankhafte Veränderung ihren Dienſt verſagten.
Denn
das
, was man gewöhnlich Nervenſchlag nennt, hat ſeine Ur-
ſache
im Gehirn und nicht in den Nerven.
Dagegen giebt es
ein
eigentümliches Gift, das ganz beſonders auf die Nerven
ſchädlich
einwirkt und höchſt intereſſante Erſcheinungen an ihnen
hervorruft
, die wir hier betrachten wollen.
611127
Die indianiſchen Volksſtämme Nord-Amerikas bereiten aus
dem
Saft von Pflanzen auf noch unbekannte Weiſe ein Gift,
in
welches ſie die Spitzen ihrer Pfeile tauchen.
Dieſes Gift,
Pfeilgift
genannt, tötet, wenn es auch nur in ſehr kleiner
Menge
in eine Hautwunde eindringt, in wenigen Minuten.
Der Tod tritt anſcheinend in ſehr milder Form auf. Denn
der
Getroffene ſinkt lautlos zuſammen, ohne das geringſte
Zeichen
des Schmerzes von ſich zu geben.
Kein Zucken und
kein
Stöhnen verrät einen inneren Kampf zwiſchen Tod und
Leben
.
Dieſes fürchterliche und geheimnisvolle Gift iſt nach
Europa
gebracht und hier unterſucht worden.
Es hat ſich
hierbei
ergeben, daß dasſelbe ein Nervengift ſei.
Zugleich
aber
hat die Wiſſenſchaft dabei den Triumph gefeiert, ein
Mittel
ausfindig zu machen, durch welches das ſonſt unrettbar
verlorene
Leben eines Vergifteten ſicher erhalten werden kann.
Um die Wirkungen des Pfeilgiftes näher kennen zu lernen,
vergiften
wir einen Froſch damit.
Wir bringen ihm eine
äußerſt
geringe Menge davon durch eine kleine Wunde unter
die
Rückenhaut und ſehen nun zu, was ſich darauf ereignen
wird
.
Der Froſch bietet uns dasſelbe Bild dar, wie es von
jenen
Unglücklichen geſchildert wird, die von einem vergifteten
Pfeile
getroffen wurden.
Seine Bewegungen werden ſchwächer
und
ſchwächer, das Atmen hört ganz auf und bald merken
wir
, daß er nicht mehr imſtande iſt, die geringſte Bewegung
auszuführen
.
Wir können ihn kneipen und ſtechen, wo wir
wollen
und ſo ſtark wir wollen, es erfolgt darauf nicht das
leiſeſte
Zeichen irgend einer Schmerzempfindung.
Man ſollte nun meinen, daß der Froſch tot ſei. Keines-
wegs
.
Unſer Froſch lebt noch, er iſt nur ſcheintot. Trotz-
dem
kein Zeichen des Lebens an ihm wahrzunehmen iſt, iſt
dieſes
dennoch nicht in ihm erloſchen.
Es iſt nur in einer
höchſt
ſonderbaren Weiſe gehindert, ſich auf irgend eine Art
zu
äußern.
Wie dies zugeht, werden wir gleich ſehen.
612128
Wir müſſen nämlich wiſſen, daß das Gift aus der Wunde
in
das Blut aufgeſogen wird.
Mit dieſem wird es durch die
Blut-Adern
dem Herzen zugeführt und aus dem Herzen ver-
breitet
es ſich durch die Schlagadern, an denen wir den Puls
fühlen
, in alle Teile des Körpers.
Sobald dies geſchehen iſt,
tritt
die Vergiftung ein und erzeugt jene ſchnelle Wirkung, die
wir
geſchildert haben.
Nun nehmen wir uns einen zweiten Froſch vor, ſchnüren
ihm
mit einem Faden diejenige Schlagader zu, welche das
Blut
in das rechte Hinterbein hineinleitet und vergiften ihn
dann
auf die vorige Weiſe mit Pfeilgift.
Bald ſehen wir auch hier ähnliche Erſcheinungen eintreten,
wie
wir ſie am erſten Froſche beobachtet haben.
Der Froſch
hört
auf zu atmen und macht keine willkürlichen Bewegungen
mehr
.
Aber ſiehe da, während alle Glieder des Körpers voll-
ſtändig
gelähmt daliegen, macht das rechte Hinterbein allein
eine
Ausnahme.
Der Froſch zieht es an ſich heran, wenn wir
es
berühren, er zuckt damit, wenn wir es drücken, ja, wenn
wir
ein Tröpfchen Eſſigſäure auf die Haut des Schenkels
bringen
, die dort einen brennenden Schmerz erzeugt, ſo wiſcht er
die
Säure mit der Pfote ab, wie dies ein geſunder Froſch thut.
Während der Froſch alle dieſe complicirten Verrichtungen
mit
dem rechten Beine ausführt, ſieht man weder im linken
Beine
noch in den übrigen Teilen ſeines Körpers irgend eine
Spur
der leiſeſten Bewegung.
Hier herrſcht anſcheinend die
Gewalt
des Todes, während alles Leben ſich nur auf das
eine
Bein zu beſchränken ſcheint, deſſen Schlagader wir unter-
bunden
haben.
Dem iſt jedoch nicht ſo. Auch in den übrigen
Körperteilen
iſt das Leben nicht vollſtändig gewichen, ſondern
ein
ſehr wichtiges Merkmal desſelben iſt noch zurückgeblieben.
Wenn wir die gelähmten Teile des Froſches irgend einem
heftigen
Reize ausſetzen, ſo entſteht in dieſen zwar keine ab-
wehrende
Bewegung, dafür aber erſcheinen ſolche in dem
613129 Hinterbeine. In dieſem giebt der Froſch zu erkennen, daß er
jeden
Schmerz wohl fühle und wir müſſen daraus ſchließen,
daß
ſeine Empfindlichkeit durch das Gift keineswegs gelitten
habe
.
Wir müſſen ferner zugeben, daß ſein Gehirn noch ſehr
wohl
imſtande ſei, Empfindungen wahrzunehmen, ja daß es
auch
die Bewegungsnerven zur Thätigkeit anzuregen vermöge,
denn
das rechte Bein, welches von der allgemeinen Lähmung
ausgeſchloſſen
iſt, gehorcht ſeinen Befehlen.
Das Gift hat alſo
auf
das Gehirn und Rückenmark keinen ſchädlichen Einfluß
ausgeübt
.
Nunmehr müſſen wir überzeugt ſein, daß auch unſer erſter
Froſch
, den wir vergiftet haben, nicht tot ſein kann, wenn er
auch
nicht imſtande iſt, ſein Leben in irgend einer Weiſe zu
verraten
.
Der Erfolg lehrt denn auch, daß dem wirklich ſo
iſt
.
Denn wenn die Vergiftung nicht zu ſtark war, ſo nehmen
wir
nach einigen Stunden mit Erſtaunen wahr, daß der Froſch
allmählich
anfängt aus ſeinem Todesſchlummer zu erwachen, und
es
dauert gar nicht lange, ſo hüpft er wieder eben ſo munter
herum
, als wenn gar nichts geſchehen wäre.
Wie nun dieſe wunderbaren Dinge alle zu erklären ſind,
das
werden wir bald ſehen.
XLVII. Das Pfeilgift und ſeine Gegenmittel.
Die Wirkungen des Pfeilgiftes ſind, wie wir geſehen haben,
höchſt
ſonderbarer Natur.
Ein Froſch, welcher damit vergiftet
iſt
, bietet anſcheinend das vollendete Bild des Todes dar, in-
dem
er nicht imſtande iſt, die geringſte Bewegung auszuführen,
und
dennoch wiſſen wir, daß er ſehr wohl jeden Schmerz fühlt,
der
ihn trifft, daß ſein Gehirn imſtande iſt, ſich deſſen bewußt
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
614130
zu werden und infolgedeſſen einen Entſchluß zu faſſen, in der
Abſicht
dieſen Schmerz abzuwehren.
Nichtsdeſtoweniger aber
iſt
es ihm unmöglich, dieſen Entſchluß zur Ausführung zu
bringen
.
Alle Hilfsmittel verſagen ihm, denn ſeine Glieder
ſind
untauglich geworden zu irgend welcher Dienſtleiſtung.
Dagegen haben wir bemerkt, daß ein Glied, von welchem
der
Blutſtrom vor der Vergiftung abgeſchnitten war, in das
alſo
kein Gift eindringen konnte, vollkommen bewegungsfähig
blieb
;
der Froſch zuckte jedesmal mit dem nicht gelähmten
Gliede
, ſobald wir in irgend einem Punkte des Körpers
Schmerz
erregten, und dies war das einzige noch übrig-
gebliebene
Zeichen des ſonſt überall in ſchwere Feſſeln ge-
ketteten
Lebens.
Dieſe merkwürdigen Erſcheinungen laſſen ſich alle aus der
Annahme
erklären, daß das Pfeilgift nur ein Gift für die Be-
wegungsnerven
des Körpers iſt, daß es ihre Fähigkeit, die
Befehle
des Gehirns den Muskeln zu überbringen, aufhebe,
ſie
alſo vollſtändig lähme, und zwar geſchieht dieſe Lähmung
der
Bewegungsnerven nicht dort, wo ſie aus dem Gehirn und
Rückenmark
herauskommen, ſondern da, wo ſie in den Glied-
maßen
endigen.
Nun iſt es klar, weshalb ein Glied des Körpers, in welches
das
Gift nicht hineingekommen iſt, zu jeder Bewegung fähig
iſt
;
denn ſeine Nerven ſind nicht gelähmt und leiten die Bot-
ſchaften
des Gehirns ohne Störung zu den Muskeln.
In den
übrigen
Körperteilen dagegen oder in allen Körperteilen eines
Froſches
, deſſen Blutſtrom das Gift überall hingetragen hat,
iſt
dies nicht möglich.
Alle Bewegungen ſind hier aufgehoben,
weil
die Boten des Gehirns durch die vergifteten Enden der
Bewegungsnerven
nicht hindurchdringen können.
Es iſt grade
ſo
, als wenn alle Bewegungsnerven gleichzeitig durchſchnitten
worden
wären.
Die Empfindungsnerven dagegen leiden durch das
615131 ebenſowenig wie das Gehirn und Rückenmark, ſie leiten jeden
Reiz
zu dieſen hin und vermitteln hier die Empfindung von
Schmerz
ganz ſo wie bei einem unverſehrten Tiere.
Empfindung
und
Bewußtſein iſt geblieben, nur die Bewegung fehlt, in
welcher
wir gewöhnlich das Daſein der beiden andern erſt zu
merken
imſtande ſind.
So iſt denn in der That ein vergifteter Froſch nur ſchein-
tot
.
Er bewegt ſich zwar nicht, aber er fühlt und empfindet,
und
ſo ſehen wir denn, wenn das Gift ſich im Körper auf-
gezehrt
hat, daß er von den Toten wieder auferſteht und ſich
weiter
des Lebens freut.
Wie verhält ſich nun aber die Sache mit einem Menſchen,
der
mit Pfeilgift vergiftet worden iſt?
Iſt ein ſolcher etwa
auch
nur ſcheintot?
Keineswegs. Die Dinge geſtalten ſich
hier
tragiſcher als bei Fröſchen.
Man hat ſolche Menſchen
niemals
wieder aufleben ſehen.
Der Grund, weshalb dies
nicht
geſchieht, iſt ein ſehr einfacher.
Der Froſch iſt durch
ſeine
Amphibiennatur vor dem drohenden Untergange geſchützt
und
zwar in dieſem Falle beſonders dadurch, daß er ſtunden-
lang
zubringen kann, ohne einen Atemzug zu thun.
Ja, man
kann
einen Froſch in einen luftleeren Raum bringen, ohne daß
es
ihm etwas ſchadet, während ein warmblütiges Tier, Ka-
ninchen
oder Hund, darin ſofort aus Luftmangel ſtirbt.
Und
ebenſo
würde es einem Menſchen ergehen.
Nun hat das Pfeilgift einen ſehr weſentlichen Einfluß auf
die
Atmung.
Denn bei jedem Atemzuge erweitern wir unſern
Bruſtkaſten
und ſaugen dadurch Luft in die Lungen ein.
Dieſes
Erweitern
der Bruſt wird durch Muskeln beſorgt und dieſe
Muskeln
werden wiederum von Nerven regiert, in denen fort-
während
in beſtimmten Zwiſchenpauſen Boten herbeieilen, welche
die
Muskeln zur Thätigkeit erregen und dadurch einen Atemzug
veranlaſſen
.
Werden dieſe Nerven an ihren Enden von dem
Pfeilgift
gelähmt, ſo ſteht die Atmung ſofort ſtill, und
616132 Folge davon iſt, daß warmblütige Tiere und ebenſo der Menſch
hierdurch
unfehlbar nach wenigen Minuten an Erſtickung zu
Grunde
gehen müſſen.
Im weſentlichen verhalten ſich demnach bei den höheren
Tieren
die Wirkungen des Pfeilgiftes ganz ebenſo wie beim
Froſche
.
Es geſchieht auch bei ihnen nichts anderes als eine
vollſtändige
Lähmung aller Bewegungsnerven, die nur deshalb
den
Tod herbeizieht, weil die Atmung aufhört.
Und dies
kann
man folgendermaßen beweiſen.
Wenn es möglich iſt, das Atmen auf eine künſtliche Weiſe
zu
bewerkſtelligen, ohne daß das Tier dabei irgend einen
Muskel
anzuſtrengen braucht, ſo muß dasſelbe trotz der Ver-
giftung
am Leben bleiben.
Dies hat man verſucht, und es iſt
vollſtändig
gelungen.
Bläſt man einem vergifteten Kaninchen
oder
Hunde Luft durch die Luftröhre in die Lungen ein mit
Hilfe
eines gewöhnlichen Blaſebalges, und ſetzt man dies
ſtundenlang
fort, ſo ſieht man das Tier ſich allmählich in der-
ſelben
Weiſe erholen wie dies beim Froſch der Fall iſt, trotz-
dem
es für ein unbefangenes Auge bereits das vollendete Bild
des
Todes dargeboten hat.
Die künſtliche Atmung, die man mit vollkommner Sicher-
heit
ausführen kann, iſt demnach ein unfehlbares Mittel gegen
dieſes
ſchreckliche Gift.
Auch bei Menſchen angewendet muß
es
ſchließlich über die Gewalt desſelben ſiegen.
Entſetzlich
aber
muß der Zuſtand ſein, in welchem ſich ein vergifteter
Menſch
befindet, deſſen Atmung künſtlich unterhalten wird.
Derſelbe fühlt jede Berührung der Haut, er ſieht alles, was
um
ihn herum vorgeht, er hört alles, was in ſeiner Gegen-
wart
geſprochen wird, aber er iſt nicht imſtande, die geringſte
Bewegung
zu machen.
Durch keinen Laut kann er verraten,
was
in dieſer Stunde der Gefahr ſeine Seele bewegt, denn
auch
zum Sprechen gehört die Thätigkeit von Nerven und
Muskeln
, und trotzdem hat er das volle Bewußtſein
617133 fürchterlichen Lage. Auch ſeine Miene giebt nicht zu erkennen,
was
in ſeinem Innern vorgeht, wo gewiß ein Strom von Ge-
danken
ihn unabläſſig quält.
Seine Züge hängen ſchlaff herab,
wie
die eines Toten, denn kein Geſichtsmuskel iſt zur Thätig-
keit
fähig.
Das einzige Merkmal, an dem wir das verborgene Leben
erkennen
, iſt der Pulsſchlag des Herzens.
Es iſt die einzige
Äußerung
des noch nicht erloſchenen Lebensfunkens, und ſeine
Thätigkeit
erhält das ganze Getriebe des menſchlichen Orga-
nismus
.
Allmählich hört die lähmende Gewalt des Giftes auf, in-
dem
es ſich im Körper zerſetzt.
Die erſte Bewegung, die wir
wahrnehmen
, iſt ein Atemzug, das Zeichen der gelungenen
Rettung
.
Tritt die Atmung wieder vollſtändig ein, dann iſt
alle
Gefahr vorüber, und die übrigen Bewegungen ſtellen ſich
in
kurzer Zeit ebenfalls ein.
Auf dieſe Weiſe iſt es möglich, ein tötliches Gift unſchäd-
lich
zu machen.
Wie würden jene Indianer, von denen es be-
reitet
wird, ſtaunen, wenn wir einen vom Pfeile Getroffenen,
den
ſie für unwiderruflich tot halten, vor ihren Augen ins
Leben
zurückriefen! Sie würden uns für Zauberer halten und
doch
wiſſen wir, daß es nur mit natürlichen Dingen zugeht.
Die Macht der fortſchreitenden Erkenntnis verleiht uns
ſolche
Gewalt über die Naturkräfte.
Wir machen ſie nicht nur
unſern
Zwecken dienſtbar, ſondern wir nehmen ihnen auch
jenen
Schrecken, welchen ſie einem in Aberglauben und Un-
wiſſenheit
verſunkenen Menſchengeſchlecht erregen.
XLVIII. Die Nervenverwachſung.
Die Wirkung des Pfeilgiftes iſt ein neuer Beweis dafür,
daß
Gefühls- und Bewegungsnerven ſtreng von einander
618134 ſchieden ſind. Während letztere durch das Gift zur Thätigkeit
unfähig
gemacht werden, bleiben erſtere von demſelben voll-
kommen
verſchont.
Sie haben mit einander nichts weiter ge-
mein
, als daß ſie ſich zu einem gemeinſamen Nervenſtamm ver-
einigen
, der ſie beide erhält.
An ihrem Urſprung ſowohl wie
an
ihren Enden trennen ſie ſich und verfolgen verſchiedene Wege.
Wenn wir uns des Verſuchs erinnern, in welchem wir
den
ganzen Nervenſtamm, der in das Hinterbein des Froſches
hineingeht
, durchſchnitten, ſo wiſſen wir, daß dadurch Bewegung
und
Empfindung in dieſem Gliede vernichtet wird.
Denn es
wurden
durch dieſe Operation beide Nervengattungen in ihrem
Zuſammenhange
getrennt.
Wir haben aber auch damals geſehen,
daß
nach einiger Zeit eine Verwachſung der beiden Schnitt-
enden
eintritt, und daß dadurch die Verbindung mit dem Ge-
hirn
in ganz richtiger Weiſe wieder hergeſtellt wird.
Nun iſt
es
wunderbar, daß bei dieſer Heilung die Natur niemals einen
Irrtum
begeht, d.
h. daß jedesmal diejenigen Nervenfaſern
wieder
mit einander verwachſen, welche ſchon vorher zu ein-
ander
gehörten.
Wir müſſen nämlich wiſſen, daß nicht nur Bewegungs-
und
Gefühlsnerven gegenſeitig nichts davon erfahren, was in
ihnen
vorgeht, ſondern daß auch jede einzelne der vielen Nerven-
faſerchen
, aus denen ſie beide zuſammengeſetzt ſind, ein Ge-
heimniskrämer
für ſich iſt.
Keine Nervenfaſer geſtattet es, daß
ein
Bote, der in ihr läuft, mag er vom Gehirn oder von der
Haut
kommen, zu ihrer Nachbarin überginge und derſelben
verrate
, was in ihr vorgeht.
Vielmehr iſt dieſer Bote ge-
zwungen
, ſtreng den Weg innezuhalten, der ihm innerhalb einer
Nervenfaſer
vorgeſchrieben iſt.
Das iſt der Grund, weshalb wir ſo genau wiſſen, an
welcher
Hautſtelle wir eine Empfindung haben.
Nehmen wir
z
.
B. an, daß wir, ohne es zu ſehen, an der Spitze unſeres
kleinen
Fingers einen Nadelſtich erhalten, ſo wird ſogleich
619135 dort endigende Nervenfaſer einen Boten abſenden, der die Nach-
richt
davon zum Gehirn bringt.
Da, wo dieſe Nervenfaſer im
Gehirn
aufhört, hat dieſer Bote ſein Ziel erreicht.
Nun braucht
das
Gehirn den Boten nicht erſt zu fragen:
Wo kommſt du
her
?
Sondern es weiß ſchon, daß, wenn ein Bote durch
dieſe
beſtimmte Nervenfaſer anlangt, er nur von der Spitze
des
kleinen Fingers kommen kann und nicht von anders woher.
Hätte aber der Bote während ſeiner Reiſe ſein Geheimnis
einer
Nervenfaſer verraten, die in der Spitze des Zeigefingers
endigt
, ſo würden wir bei geſchloſſenen Augen unmöglich ent-
ſcheiden
können, ob der Nadelſtich im Zeigefinger oder im
kleinen
Finger ſtattgefunden hat.
Ebenſo, wie mit den Faſern der Gefühlsnerven, verhält
es
ſich auch mit denen der Bewegungsnerven.
Jeder Muskel,
der
nur ſtets ein und dieſelbe Bewegung auszuführen hat,
erhält
ſeine eigenen Nervenfaſern, die nur für ihn beſtimmt
ſind
.
Will das Gehirn, daß ſich ein Muskel bewegen ſoll, ſo
weiß
es ganz genau, wo diejenigen Nervenfaſern zu finden
ſind
, die zu dem Muskel hingehen;
es ſendet ſeine Boten durch
dieſe
Nervenfaſern ab und kann ſicher ſein, daß ſie am richtigen
Orte
ankommen.
Daher können wir einzelne Bewegungen mit
Sicherheit
ausführen.
Wollen wir z. B. unſern Arm beugen,
ſo
wendet ſich das Gehirn an diejenigen Nervenfaſern, welche
in
den Muskel hineingehen, den wir bei der Beugung am
Oberarm
ſtark angeſpannt fühlen.
Die Boten, welche ihm den
Befehl
überbringen, bleiben genau innerhalb dieſer Nerven-
faſern
.
Würden ſie allen übrigen Bewegungsfaſern des Arm-
nerven
von ihrem Auftrage Mitteilung machen, ſo würde ſtatt
einer
Beugung ein allgemeines Zucken des ganzen Armes ent-
ſtehen
.
Das Gehirn iſt alſo ganz genau in der Verteilung
der
Nerven im Körper bewandert.
Es unterſcheidet nicht nur
zwiſchen
Bewegungs- und Gefühlsnerven, ſondern auch zwiſchen
den
einzelnen Faſern beider Nervengattungen, und
620136 müſſen annehmen, daß derjenige Teil des Gehirns, der dieſe
Kenntniſſe
beſitzt, ſich dieſelben durch langjährige Übung und
Erfahrung
erworben habe.
Dieſelben ſind auch rein praktiſcher
Natur
, denn unſer Bewußtſein, das gewiß in einem andern
Teil
des Gehirns ſeinen Platz hat, hat durch ſich ſelbſt keine
Ahnung
von der Exiſtenz der Nerven und Muskeln überhaupt.
Zu dieſer Erkenntnis iſt es erſt durch mühſame Forſchungen
geführt
worden.
Nun iſt es in der That ſehr merkwürdig,
wenn
ein durchſchnittener Nervenſtamm, der aus unzähligen
Nervenfaſern
beſteht, von denen jede eine beſondere Beſtimmung
hat
, doch wieder in der Weiſe zuſammenwächſt, daß jede Faſer
das
zu ihr gehörige Ende wiederfindet.
Es verwachſen nicht
allein
Bewegungsfaſern wieder mit Bewegungsfaſern und
Empſindungsfaſern
mit Empfindungsfaſern, ſondern es ver-
wächſt
auch jedes Hirnende einer durchſchnittenen Bewegungs-
faſer
mit demjenigen Muskelende, mit welchem es ſchon vorher
eine
einzige Faſer bildete und ebenſo jedes Hirnende einer
durchſchnittenen
Empfindungsfaſer mit demjenigen Hautende,
zu
dem es ſchon vorher gehörte.
Dieſe Erſcheinung iſt deshalb ſo wunderbar, weil wir
ſelber
nicht einmal imſtande ſind, Bewegungsfaſern von
Empfindungsfaſern
dem Anſehen nach zu unterſcheiden.
Denn
die
in einem Nervenſtamm enthaltenen Faſern gleichen einander
wie
ein Haar dem andern.
Selbſt bei der ſtärkſten Vergröße-
rung
iſt es unmöglich, einen Unterſchied zwiſchen dieſen Faſer-
gattungen
zu entdecken.
Es bleibt daher noch ein Rätſel, woran die durchſchnittenen
Faſern
ſich gegenſeitig wieder erkennen.
Sie vermögen dies,
wie
die Erfahrung lehrt, ohne Mikroſkop oder ſonſtige Apparate,
deren
wir uns zu Unterſuchungen bedienen müſſen.
Welches
geheime
Mittel ſie aber beſitzen, hat die Wiſſenſchaft noch nicht
herausgebracht
.
621137
XLIX. Die Nervenverheilung.
Die Heilung eines durchſchnittenen Nerven in derjenigen
Anordnung
der einzelnen Faſern, wie ſie bereits vorher be-
ſtanden
hat, iſt eine ſehr bedeutungsvolle Thatſache für den
Organismus
.
Sie iſt von enormer Wichtigkeit für diejenigen
Fälle
, in welchen beim Menſchen eine Durchſchneidung von
Nerven
vorkommt.
Es ereignet ſich bei Operationen nicht
ſelten
, daß Nerven durchſchnitten werden müſſen.
Ja, man
macht
ſogar abſichtlich Nervendurchſchneidungen, um dadurch
gewiſſe
Arten von Schmerzen oder Krämpfen zu beſeitigen.
In allen dieſen Fällen iſt die Heilung ſtets in der Weiſe er-
folgt
, wie wir ſie beſchrieben haben.
Ginge die Heilung nicht
in
der angegebenen Art vor ſich, verwachſen die einzelnen
Nervenfaſern
ſo wie ſie ſich zufällig einander gegenüber liegen,
ſo
würde eine heilloſe Verwirrung aller Bewegungen und
Empfindungen
die Folge davon ſein.
Nehmen wir z. B. an,
daß
nach Durchſchneidung unſeres Armnerven durch einen ſonder-
baren
Zufall alle Bewegungsfaſern, die vom Hirn kommen, mit
den
Nervenenden der Haut anheilten und umgekehrt alle Nerven-
enden
der Muskeln mit den Empfindungsfaſern, die ins Hirn
gehen
, ſo würde die ganze Verwachſung vollkommen zwecklos
ſein
.
Denn die Befehle des Gehirns würden, anſtatt zu den
Muskeln
hinzueilen, ſich in die Haut verirren, und da dieſe
ſich
beim beſten Willen nicht bewegen kann, würden ſie voll-
kommen
nutzlos ſein.
Ebenſo iſt eine Empfindung mit Hilfe
dieſes
Armes unmöglich.
Die Haut nimmt zwar Eindrücke
auf
wie vorher, ſendet auch ihre Boten durch die in ihr endigen-
den
Faſern zum Gehirn, aber dieſe Boten geraten in der Ver-
wachſungsſtelle
in die Bewegungsfaſern und werden von dieſen
in
einen Teil des Gehirns geführt, das von Empfindung
nichts
verſteht, weil es ſich ſtets nur mit Bewegung
622138 hat. Dieſer Gehirnteil iſt ebenſowenig imſtande zu empfinden
wie
die Haut imſtande iſt, ſich zu bewegen.
Derjenige
Gehirnteil
aber, der empfinden kann, erhält ſeine Faſern
nicht
mehr von der Haut, ſondern von den Muskeln, und da
dieſe
Eindrücke von außen her empfangen, ſo laſſen ſie auch
das
Gehirn ohne alle Nachricht von dem, was mit dem Arm
vorgeht
.
Eine ſolche Verwachſung wäre daher ebenſo gut wie
gar
keine, denn der Arm bleibt dabei bewegungslos und ge-
fühllos
.
Anders verhält es ſich ſchon, wenn auch nicht viel beſſer,
wenn
Faſern gleicher Gattung mit einander verheilten, die
vorher
nicht mit einander in Verbindung waren.
In einem
ſolchen
Falle würden lauter fatale Verwachſungen in unſern
Bewegungen
und Empfindungen vorkommen.
Nehmen wir
z
.
B. an, daß diejenigen Nervenfaſern, die früher in die Streck-
muskeln
der Hände und Finger gingen, jetzt ihren Weg in die
Beugemuskeln
dieſer Glieder nähmen und umgekehrt, ſo könnte
es
ſich ereignen, daß wir in der wohlmeinenden Abſicht, die
Hand
zum Gruße auszuſtrecken, ſtattdeſſen eine recht drohende
Fauſt
machten, was doch wahrlich nicht gleichgiltig iſt.
Statt
einen
Gegenſtand loszulaſſen, den wir in der Hand halten,
würden
wir ihn noch derber packen und was dergleichen Un-
geſchicklichkeiten
mehr ſind.
Ebenſo unangenehm wären die
Gefühlstäuſchungen
, wenn die Empfindungsfaſern nicht in ge-
höriger
Ordnung wieder verheilten.
Nehmen wir an, daß die-
jenigen
Faſern, deren Enden früher die Haut des kleinen
Fingers
verſorgten, jetzt mit denen des Zeigefingers in Ver-
bindung
ſtünden, und daß umgekehrt alle Nervenenden, die im
kleinen
Finger ſich ausbreiten, mit den Faſern zuſammenhängen,
die
ſonſt in den Zeigefinger gingen, ſo wäre es uns unmög-
lich
, mit dieſen beiden Fingern eine Empfindung richtig an-
zugeben
.
Alles, was wir mit dem Zeigefinger fühlten, würde
als
eine Empfindung des kleinen Fingers erſcheinen, und
623139 der kleine Finger z. B. einen Nadelſtich erhielte, ſo würden
wir
glauben, daß ihn der Zeigefinger bekommen hätte.
Man ſieht, daß wenn die durchſchnittenen Nervenfaſern
kunterbunt
durcheinander wüchſen, wie es gerade käme, eine
Verwirrung
aller Bewegungeu und Empfindungen hereinbrechen
würde
, wie ſie beim babyloniſchen Turmbau unter den Völkern
verſchiedener
Sprache nicht größer geweſen ſein kann.
Erſt
ſehr
langſam und ſehr ſchwer würde ſich das Gehirn an die
neue
Ordnung der Dinge gewöhnen, indem es ſeine alten Er-
fahrungen
aufgiebt.
Dann erſt wären wir wieder imſtande,
richtige
Bewegungen auszuführen und die Empfindungen richtig
zu
beurteilen.
L. Ein künſtlicher Nerv.
Die Verwachſung durchſchnittener Nervenfaſern geht, wie
wir
geſehen haben, in bewunderungswürdiger Ordnung vor
ſich
.
Jedes Nervenende ſucht ſich ſeinen alten Bekannten
wieder
auf, mit dem es vor der Trennung eine einzige Faſer
bildete
.
Derſelbe eilt ihm auch von der gegenüberliegenden
Seite
ſchon ſehnſüchtig entgegen, und es muß wahrlich keine
geringe
Anziehungskraft zwiſchen ihnen herrſchen, wenn ſie ſich
in
dem ungeheuren Gewirre der Faſern mit ſo großer Sicher-
heit
wiederfinden.
Wie wohlthätig die Einrichtung der Natur
in
denjenigen Fällen iſt, in welchen beim Menſchen Nerven-
durchſchneidungen
vorkommen, das haben wir aus jenen unheil-
vollen
Störungen geſehen, die eintreten müßten, wenn die
durchſchnittenen
Nervenfaſern aneinanderheilten, wie es gerade
der
Zufall mit ſich brächte.
In der augegebenen Weiſe geht nun ſtets die
624140 vor ſich, ſo lange man die Natur frei ſchalten und walten
läßt
.
Dann geſellen ſich die verſchiedenen Nervenfaſern jedes-
mal
wieder zu ihres Gleichen, und die Natur ſchreckt vor dem
Gedanken
zurück, daß eine regelwidrige Verbindung zweier
nicht
gleichartiger Nervenfaſern zuſtande kommen könne.
Deſſen ungeachtet hat der Forſchergeiſt der Menſchen nicht
abgelaſſen
zu probiren, ob es denn durchaus nicht möglich ſei,
Empfindungs-
und Bewegungsfaſern dennoch einmal mit ein-
ander
zur Verwachſung zu bringen, und nach vielen vergeblichen
Verſuchen
iſt es endlich franzöſiſchen Forſchern gelungen, dieſes
Wunder
zu produzieren.
Sie haben es mit ſinnreichen Kunſt-
griffen
ſchließlich dahin gebracht, die Natur gleichſam zu hinter-
gehen
, indem ſie dieſelbe hinterliſtiger Weiſe zu dem ſchweren
Entſchluß
zwangen, ihre Einwilligung zu einer Mesalliance
zwiſchen
jenen beiden Faſergattungen herzugeben.
Wie iſt es nun möglich geweſen, jene Mesalliance zu er-
zwingen
?
Die Verſuche, die dazu geführt haben, ſind an den-
jenigen
Nerven angeſtellt worden, welche in die Zunge hinein-
gehen
.
Die Zunge erhält nämlich vom Gehirn drei verſchieden-
artige
Nerven, von denen jeder ſeine beſondere Aufgabe hat.
Der erſte iſt der Bewegungsnerv, er geht zu den Muskeln der
Zunge
, welche in ſehr großer Zahl vorhanden ſind und durch
ihre
mannigfaltige Anordnung dieſem Organe eine hohe Be-
weglichkeit
verleihen.
Dieſen Muskeln überbringt er die Be-
fehle
des Gehirns und leiſtet dadurch dem Körper ſehr wichtige
Dienſte
.
Der zweite Nerv iſt der Gefühlsnerv der Zunge.
Er
ſteht zu ihr in demſelben Verhältnis, wie die übrigen
Gefühlsnerven
des Körpers zur Haut, d.
h. er vermittelt die
Wahrnehmung
von Gegenſtänden, die die Zunge berühren, die
Wahrnehmung
von Schmerz, von Kälte und Wärme.
Mit
ſeiner
Hülfe verſchafft ſich das Gehirn ganz genaue Kenntuis
von
den Lokalitäten unſerer Mundhöhle, von der Geſtalt unſerer
Zähne
und dergleichen, indem er von der Oberfläche der
625141 in der er endigt, Botſchaften dem Gehirn zuſendet. Der dritte
Nerv
endlich iſt der Geſchmacksnerv.
Er ſteht einzig und allein
im
Dienſte einer beſtimmten Empfindung, die wir Geſchmack
nennen
.
Doch da wir ihn zu unſerem Verſuch nicht brauchen,
ſo
laſſen wir ihn vorläufig beiſeite.
Die erſten beiden Nerven
ſind
es nun, an denen jenes ſonderbare Experiment gelungen
iſt
, denn ſie ſind dazu durch ihr Verhalten ganz beſonders ge-
eignet
.
Sie machen nämlich eine Ausnahme von der feſt durch-
gehenden
Regel, daß die Bewegungs- und Empfindungsfaſern,
welche
in ein Glied des Körpers eintreten, zu einem einzigen
Stamme
verſchmelzen, in welchem ſie ſich mit einander miſchen,
vielmehr
verlaufen ſie vollkommen getrennt, aber doch ſo nahe
bei
einander, daß man leicht den einen mit dem anderen in
Berührung
bringen kann.
Hierdurch wird es denn nicht ſchwer,
an
ihnen die erforderliche Operation auszuführen.
Zuerſt ſtellte man nun den Verſuch ſo an, daß man an
Hunden
dieſe beiden Nerven durchſchnitt.
Nun hatte man vier
Schnittenden
vor ſich, zwei, welche mit dem Hirn, und zwei,
welche
mit der Zunge zuſammenhingen.
Darauf fügte man
durch
eine Naht das Zungenende des Bewegungsnerven zu-
ſammen
mit dem Hirnende des Gefühlsnerven und umgekehrt
das
Hirnende des Bewegungsnerven zuſammen mit dem Zungen-
ende
des Gefühlsnerven und überließ dann das Tier ſich ſelbſt.
Natürlich war nach der Operation zunächſt Bewegung und
Empfindung
der Zunge aufgehoben.
Als nun aber die Zeit
herankam
, in welcher Nervenwunden zu verheilen pflegen, be-
merkte
man mit großem Erſtaunen, daß wider alle Erwartung
dennoch
Bewegung und Empfindung in ganz normaler Weiſe
wiederkehrte
.
Was war der Grund hiervon? Man ſah nach
und
überzeugte ſich, daß trotz künſtlicher Trennung der Nerven-
enden
ſich die natürliche Ordnung wiederhergeſtellt hatte.
Die
aneinander
gefügten Nervenenden hatten ſich förmlich von ein-
ander
losgeriſſen und hatten ſich wieder ſo vereinigt, daß
626142 entſprechenden Enden mit einander verwachſen waren. So groß
war
doch noch immer die Abneigung verſchiedenartiger Faſern
gegen
einander oder die Neigung gleichartiger zu einander.
Um nun aber dennoch zum Ziele zu gelangen, haben es
jene
Forſcher auf eine ſehr ſchlaue Weiſe angefangen.
Sie
ſchnitten
nämlich das Hirnende des Bewegungsnerven voll-
kommen
fort und ebenſo das Zungenende des Empfindungs-
nerven
ſo weit, wie ſie konnten, und vereinigten dann die
zurückbleibenden
zwei Nervenenden mit einander, nämlich das
Zungenende
des Bewegungsnerven mit dem Hirnende des Ge-
fühlsnerven
.
Nun blieb der Natur nichts weiter übrig, als
ſich
in das Unvermeidliche zu fügen.
Die Beweglichkeit und
die
Empfindung der Zunge kehrten nicht wieder, und als jene
Forſcher
nach einiger Zeit nachſahen, was geſchehen war, zeigte
es
ſich, daß die beiden verſchiedenen Enden zu einem einzigen
Nerven
verwachſen waren.
So war alſo das Unerhörte ge-
ſchehen
, und wir werden ſehen, welche wunderbaren Reſultate
ſich
daraus ergaben.
LI. Nervenreize.
Das Aneinanderheilen des Gefühls- und Bewegungs-
nerven
der Zunge zu einem einzigen Nerven ſcheint auf den
erſten
Blick mehr eine Spielerei zu ſein als ein Experiment,
aus
dem wir etwas Weſentliches über das Leben und Treiben
der
in den Nerven waltenden Kräfte erfahren könnten.
Denn
ein
ſo zuſammengeflickter Nerv, deſſen Hirnende bis dahin der
Empfindung
und deſſen Zungenende ſtets der Bewegung ge-
dient
hat, iſt nicht imſtande, während des Lebens irgend eine
Wirkung
zu äußern.
Der Teil des Gehirns, in welchem
627143 ſeinen Urſprung hat, beſitzt nicht die Fähigkeit, Befehle zu er-
teilen
, ſondern iſt von Natur einzig und allein dazu beſtimmt,
die
ihm zugeleiteten Empfindungen wahrzunehmen.
Es werden
alſo
durch unſere künſtlichen Nerven niemals Boten vom Ge-
hirn
zu den Zungenmuskeln gehen, um dieſelbe in Bewegung
zu
ſetzen.
Aber ebenſowenig wird das Gehirn durch dieſen
Nerven
von den Eindrücken erfahren, welche die Zunge erleidet.
Denn dieſer Nerv ſendet ſeine letzten Ausläufer nicht zur Ober-
fläche
der Zunge, wo ausſchließlich die Aufnahme von Empfin-
dungen
ſtattfindet, ſondern er ſenkt dieſelben in das Innere
der
zahlreichen Muskelgebilde ein, und dieſe können natürlich
hier
weder den Taſtempfindungen dienen, noch irgend welches
Gefühl
von außen her empfangen.
Daher ſehen wir auch, daß
trotz
der wiederhergeſtellten Verbindung zwiſchen Gehirn und
Zunge
letztere dennoch bewegungslos und gefühllos bleibt.
So könnten wir denn Zweifel hegen, ob dieſer Baſtard
von
Nerv, gegen deſſen Erzeugung ſich die Natur ſo gewaltig
geſträubt
hat, überhaupt noch die Eigenſchaften eines gewöhn-
lichen
Nerven beſitzt, da er uns vorläufig noch kein Zeichen
ſeiner
Lebensfähigkeit gegeben hat.
Die Hauptfrage, auf die
es
hier ankommt, iſt:
Können denn auch in dieſem Nerven
Boten
hinauf- und hinunterlaufen, um an ſeinem Gehirnende
Empfindung
, an ſeinem Zungenende Bewegung zu erzeugen,
und
was das Wichtigſte iſt können dieſe Boten auch
über
die Verwachſungsſtelle unbehindert hinfortkommen?
Die Antwort auf dieſe Fragen lautet einfach und über-
raſchend
:
Ja, ſie können es. Denn unſer künſtlicher Nerv
unterſcheidet
ſich eigentlich in ſeinem Weſen gar nicht von einem
gewöhnlichen
, und wir werden ſehen, daß ſeine Unthätigkeit
während
des Lebens nicht etwa auf einem Mangel an Weg-
ſamkeit
, ſondern einzig und allein darauf beruht, daß weder
Gehirn
noch Zunge die Fähigkeit beſitzt, ihm Aufträge zur
Ausführung
zu erteilen.
Durch bloße Beobachtungen
628144 operierten Tieres würden wir nie zu einem ſolchen Schluß ge-
langen
können.
Der Nerv verharrt in ſeinem ſcheintoten Zu-
ſtande
, und ſo lange wir auch warten würden, das Gehirn
vermag
nicht, ihn daraus zu erwecken.
Aber wir beſitzen ein
ſehr
wirkſames Mittel, mit welchem wir künſtlich ſolche ſchlum-
mernden
Nervenkräfte in überraſchender Weiſe zum Vorſchein
bringen
können.
Dieſes Mittel erſetzt bis zu einem gewiſſen
Punkte
gleichſam die befehlserteilende Gewalt des Gehirns,
indem
es vermöge der Nerven die Muskeln zur Bewegung
zwingt
.
Dieſes Mittel iſt die Elektrizität.
Der elektriſche Schlag, den wir mit Hülfe mannigfacher
Apparate
erzeugen können, iſt ein ſtarker Reiz für jeden Nerven,
mag
er nun mit dem Gehirn noch zuſammenhängen oder nicht.
Von dem Punkte aus, wo der Nerv einen ſolchen Schlag em-
pfangen
hat, verbreitet ſich die Nachricht der erlittenen Reizung
durch
die ganze Länge des Nerven, in dem jene geheimnis-
vollen
Boten ſofort ihre Reiſe innerhalb der Nervenfaſern an-
treten
, die einen aufwärts zum Gehirn, die anderen abwärts
zu
den Muskeln.
Sobald ſie das Gehirn erreicht haben, erregen
ſie
in demſelben Empfindungen und machen ihm glauben, ſie
kämen
von der Haut, weil es nun einmal daran gewöhnt iſt,
ſtets
nur von dort Nachrichten zu erhalten.
Ebenſo veranlaſſen
ſie
, in den Muskeln angelangt, Bewegung, denn ſie unter-
ſcheiden
ſich nicht von den Boten, welche das Gehirn ſelbſt
auszuſenden
pflegt, und müſſen daher auch gleiche Wirkungen
erzeugen
.
Die Elektrizität iſt nicht das einzige Mittel, den Nerven
künſtlich
in Thätigkeit zu verſetzen.
Ein viel einfacheres iſt die
mechaniſche
Reizung, die darin beſteht, daß man den Nerven
mit
einem ſpitzen Inſtrument ſticht, oder ihm au einer Stelle
einen
leiſen Schlag verſetzt oder endlich ihn durchſchneidet.
In
allen
dieſen Fällen verbreitet ſich von der gereizten Stelle aus
wie
ein Lauffeuer die Botſchaft der erduldeten
629145 und ruft im Gehirn Schmerz, in den Muskeln Zuckung hervor.
Probieren wir dieſe Mittel erſt einmal an bereits bekannten
Verſuchsgegenſtänden
.
Mit Hülfe dieſer Nervenreize, deren es
noch
andere giebt, würden wir nämlich imſtande ſein, in dem
gelähmten
Bein jenes Froſches, deſſen Nerv durchſchnitten iſt,
Bewegungen
zu erzeugen, von denen das Tier nichts weiß
und
die es nicht beabſichtigt, und Empfindungen in ihm zu er-
regen
, die es eigentlich nicht hat.
Im erſten Falle brauchen
wir
nur das Muskelende, im zweiten nur das Hirnende des
durchſchnittenen
Nerven zu reizen.
Stellen wir uns vor, wir hätten jenen Froſch mit dem
gelähmten
Bein und dem durchſchnittenen Nerven vor uns
liegen
und erteilen nun demjenigen Nervenende, das abwärts
in
das Glied hineingeht, einen Nadelſtich oder, was heftiger
und
ſicherer wirkt, einen elektriſchen Schlag.
In demſelben
Augenblick
macht plötzlich unſer Froſch mit dem gelähmten
Beine
, das ſonſt unbeweglich daliegt, einen ſo mächtigen Satz,
daß
wir glauben könnten, er hätte einen heftigen Schmerz
empfunden
.
Wenn wir aber genauer zuſehen, ſo bemerken wir,
daß
nur das gelähmte Bein an dem Sprunge aktiv teilgenommen
hat
, während die übrigen Körperteile nur mechaniſch mit fort-
geſtoßen
wurden.
Der Vorgang beſchränkte ſich einzig und
allein
auf das gelähmte Glied, und da dieſes dem Willen des
Tieres
entzogen iſt, ſo hat das Gehirn hierbei offenbar keine
Rolle
geſpielt.
Vielmehr iſt für dieſes Glied das Gehirn
gleichſam
erſetzt worden durch ein künſtliches Mittel, das mit
ihm
die Eigenſchaft teilt, dem Nerven Aufträge zu erteilen,
die
er auch getreulich ausführt.
Der von der gereizten Stelle
forteilende
Bote überbringt den Befehl innerhalb der Be-
wegungsnerven
den Muskeln, die, wenn ſie Überlegung be-
ſäßen
, glauben würden, er käme vom Gehirn, und in ihrer
Gewohnheit
, demſelben blindlings zu gehorchen, nun nichts
Eiligeres
zu thun haben, als ſich ſofort in Bewegung zu ſetzen.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher X.
630146
Von dieſem ganzen Vorgang aber hat das Tier ſelbſt nicht
die
geringſte Ahnung und iſt wahrſcheinlich ſehr überraſcht,
daß
es ohne allen Grund plötzlich eine ſo heftige Bewegung
macht
.
Ähnlich verhält ſich die Sache, wenn wir dem Hirnende
des
durchſchnittenen Nerven einen elektriſchen Schlag verſetzen,
doch
mit dem Unterſchiede, daß hier ſofort die heftigſte Reaktion
von
ſeiten des ganzen Tieres erfolgt.
Es ſucht ſo ſchnell als
möglich
mit Hülfe aller Muskeln, die ihm noch zur Verfügung
ſtehen
, ſich unſeren Händen zu entziehen, und beweiſt dadurch,
daß
eine Schmerzempfindung in ihm ſtattgefunden hat.
Wie
eine
ſolche zuſtande gekommen iſt, iſt nunmehr klar.
Von der
durch
den Schlag erregten Stelle des Nerven hat ſich die Nach-
richt
einer an ihm verübten Reizung innerhalb der Empfindungs-
faſern
bis nach dem Gehirn fortgepflanzt und hat hierſelbſt
Schmerzgefühl
verurſacht.
Zugleich aber hat dieſe Nachricht
dem
Gehirn vorgetäuſcht, ſie käme von der Haut.
Denn da
bis
zur Operation die Sache ſich ſo verhielt, daß ſtets nur
die
Haut ſolche Nachrichten abſendete, ſo iſt das Gehirn nun
einmal
der Meinung, daß dieſe die einzige Quelle der Em-
pfindungen
ſei.
Und ſo fühlte auch unſer Froſch jenen Schmerz,
der
ihn zum Entfliehen veranlaßte, ganz gewiß nur in der
Haut
des operierten Schenkels.
Es giebt alſo außer den natürlichen auch künſtliche Mittel,
Nerven
in Thätigkeit zu verſetzen.
Wir können durch dieſe
einerſeits
die Wirkſamkeit des Gehirns, andererſeits die der
Haut
entbehrlich machen.
Wir wollen nun ſehen, wie ſich unſer
künſtlicher
Zungennerv zu ſolchen Mitteln verhält.
631147
LII. Nervenleitung.
Da wir nun nicht mehr abhängig ſind von der Thätigkeit
des
Gehirns oder der Haut, um Nervenerregungen zu beob-
achten
, ſondern Mittel gefunden haben, dieſelben künſtlich zu
erzeugen
, ſo ſind wir jetzt imſtande, unſeren künſtlichen Zungen-
nerven
gründlich zu unterſuchen.
Ja, wir vermögen ſogar an
jeder
beliebigen Stelle desſelben unſere Reizmittel wirken zu
laſſen
und können von jedem Punkte aus, wohin wir wollen,
Botſchaften
abſenden.
Die Annahme ſolcher Depeſchen findet
überall
ſtatt, die Ausgabe erfolgt nur im Gehirn oder in den
Muskeln
.
Wir werden uns erinnern, daß unſer künſtlicher Zungen-
nerv
zwiſchen Gehirn und Verwachſungsſtelle aus Empfindungs-
faſern
und zwiſchen dieſer und der Zunge aus Bewegungs-
faſern
beſteht.
Wenn wir dieſe Empfindungsfaſern an einer
Stelle
elektriſch reizen, ſo wird es uns nicht Wunder nehmen,
daß
der Hund Zeichen von Schmerz dabei zu erkennen giebt.
Aber mit Erſtaunen erfüllt es uns, wenn wir ſehen, daß
gleichzeitig
Bewegungen in der gelähmten Zunge auftreten.

Wie
ſind dieſelben entſtanden?
Es giebt hierfür nur eine Er-
klärung
.
Die Botſchaft der ſtattgefundenen Reizung hat ſich
von
dem gereizten Punkte aus nicht nur nach aufwärts zum
Gehirn
, ſondern auch nach abwärts in dem Empfindungsnerven
fortgepflanzt
und iſt an der Verwachſungsſtelle auf den Be-
wegungsnerv
übergegangen, der ſie wie immer den Muskeln
der
Zunge zugeleitet hat.
Ohne jede Schwierigkeit iſt der
Übergang
der abgeſendeten Boten von der einen Nervengattung
auf
die andere bewerkſtelligt worden.
Es hat an der Grenze
derſelben
weder ein Aufenthalt ſtattgefunden, noch war eine
beſondere
Anſtrengung nötig, um über dieſelbe hinwegzukommen.

Vielmehr
war der Vorgang gerade ſo, als wenn er in
632148 ununterbrochenen Bahn eines Bewegungsnerven vor ſich ge-
gangen
wäre.
So ſchnell alſo haben jene ſonſt ſich abſtoßenden Naturen
der
beiden Nervengattungen ſich mit einander ausgeſöhnt, und
ſo
innig iſt ihre Verbindung vor ſich gegangen, daß ſie ohne
Hehl
und Unterſchlagung die an ihrer Grenze ankommenden
Botſchaften
zur Weiterbeförderung freundſchaftlich übergeben.
Ebenſo zuvorkommend wie der Empfindungsnerv gegen
den
Bewegungsnerv, iſt auch der letztere gegen den erſteren.
Denn bringen wir zwiſchen der Verwachſung und der Zunge
irgend
einen Reiz an dem Nerven an, ſo ſehen wir nicht allein
Zuckungen
in der Zunge entſtehen, was ja ganz natürlich iſt,
ſondern
der Hund giebt auch durch deutliche Zeichen zu ver-
ſtehen
, daß dieſe Reizung ihm Schmerz verurſacht.
Der Be-
wegungsnerv
, der diesmal allein vom Reiz getroffen wurde,
hat
dieſe Schmerzempfindung veranlaßt und zwar dadurch, daß
er
die ihm mitgeteilte Erregung ſowohl abwärts zu den Muskeln
als
auch aufwärts zu dem Gefühlsnerv fortgeleitet hat, und
indem
dieſer dem Gehirn davon Kunde gab, erzeugte er dem
Tiere
den Wahn, daß ſeine Zunge einem heftigen Schmerze
ausgeſetzt
ſei, während doch in Wirklichkeit dieſelbe von keinem
Gegenſtande
berührt worden iſt.
Wir ſehen, unſer künſtlicher Nerv verhält ſich ganz ſo wie
ein
natürlicher, denn es können Botſchaften zwiſchen Gehirn
und
Zunge ganz frei hin- und herlaufen.
Ja, er leiſtet noch
mehr
als jeder einzelne von den Nerven, aus denen wir ihn
zuſammengeſetzt
haben.
Während der Bewegungsnerv nur in
der
Richtung zur Zunge wirkte, wo er Bewegung hervorrief,
und
der Empfindungsnerv nur in der Richtung zum Gehirn,
in
welchem er Empfindungen erregte, thut unſer Nerv beides
zu
gleicher Zeit, wenn er an irgend einem Punkte einen Reiz
empfängt
.
Er könnte ſo viel leiſten als jene beiden, aus denen
er
entſtanden iſt, zuſammengenommen, und dennoch leiſtet
633149 dem Tiere gar nichts, und zwar aus dem Grunde, weil nir-
gends
ein natürlicher Reiz auf ihn einwirken kann, weder in
dem
der Empfindung vorſtehenden Teil des Gehirns, wo er
entſpringt
, noch in den Muskeln, wo er endigt.
Er iſt alſo
trotz
ſeiner Vielſeitigkeit vollkommen ohne Nutzen für das Tier.
Wir aber wollen eine ſehr wichtige Nutzanwendung aus
ſeinem
Verhalten ziehen.
Vor allem ſehen wir, daß eine ſo
große
Verſchiedenheit zwiſchen Gefühls- und Bewegungsnerv
doch
wohl nicht exiſtieren kann, wenn es möglich iſt, daß die-
ſelben
ſich zu einem einzigen Nerven von ungeſtörtem Leitungs-
vermögen
vereinigen können, und wenn wir ſogar durch das
Mikroſkop
nachweiſen, daß die Nervenfaſern des einen mit den
Nervenfaſern
des andern wirklich zu ununterbrochenen Faſern
zuſammengewachſen
ſind.
Wir ſehen aber ferner noch, daß
beide
Nervengattungen die Eigenſchaft haben, in irgend einem
Punkte
erregt, nach beiden Seiten hin dieſe Erregungen fort-
zupflanzen
.
Hieraus ergeben ſich neue Anſchauungen über das
Weſen
der Nerven.
Man iſt bis jetzt der Meinung geweſen, daß die Empfin-
dungsfaſern
nur imſtande ſeien aufwärts zum Gehirn hin,
die
Bewegungsfaſern dagegen nur abwärts vom Gehirn her
Erregungen
zu leiten.
Allerdings ſind die Verhältniſſe im
Körper
derart, daß ſtets nur Boten von der Haut zum Gehirn
und
vom Gehirn zu den Muskeln gehen.
Aber wir können
auf
künſtliche Weiſe einen Zuſtand herſtellen, in welchem jene
Nervenboten
nachweisbar den umgekehrten Weg einſchlagen, in
den
Empfindungsfaſern abwärts und in den Bewegungsfaſern
aufwärts
, und ſie behalten trotzdem ihre volle Wirkſamkeit.
So kann ſich der Vorgang, der bei der Thätigkeit der Nerven
ſtattfindet
, nach beiden Seiten hin in ihnen fortpflanzen, und
wenn
dies in natürlichem Zuſtande nicht geſchieht, ſo liegt es
nur
daran, daß die einen nur an ihrem Hirnende, die andern
nur
an ihrem Hautende gereizt werden.
634150
Noch einen zweiten wichtigen Schluß können wir aus jenem
Verſuch
machen.
Wir ſehen, daß die Nervenboten unbehindert
von
einer Nervengattung auf die andere übergehen, d.
h. der
Vorgang
, welcher in einer erregten Nervenfaſer entſteht, ſetzt
ſich
unmittelbar auf die mit ihr verwachſene Faſer der andern
Gattung
fort.
So geheimnisvoll dieſer Vorgang auch bis jetzt
iſt
, ſo leuchtet doch hiernach ein, daß er in beiden Gattungen
derſelbe
ſein müſſe, denn unter künſtlich geſchaffenen Umſtänden
können
ſich beide gegenſeitig vertreten.
Ob alſo ein Nadelſtich unſere Hand trifft, oder ob wir
willkürlich
die Muskeln der Hand bewegen, in beiden Fällen
geht
in den Bewegungs- und Empfindungsnerven der Hand
ein
und derſelbe Prozeß vor ſich.
Der verſchiedene Erfolg,
den
er hervorbringt, entſteht nur dadurch, daß er einmal in
den
empfindenden Teilen des Gehirns anlangt und das andere
Mal
in den Muskeln.
In den erſteren ruft er Schmerz, in
den
letzteren Bewegung hervor.
So erzeugt ein und dieſelbe
Urſache
, nach demſelben Prinzip in den Nerven waltend, an
verſchiedenen
Orgauen verſchiedene Wirkungen.
LIII. Fortpflanzung der Nervenleitung.
Was wohl in einem Nerven vorgehen mag, wenn er auf
irgend
eine Weiſe in Thätigkeit gerät, dieſe Frage beſchäftigt
den
Forſchergeiſt der Menſchen ſchon ſeit langer Zeit.
Weder
mit
bloßem Auge vermag man eine Veränderung an demſelben
wahrzunehmen
, während er Botſchaften vom und zum Gehirn
hin-
und herträgt, noch hat das ſtärkſte Mikroſkop bis jetzt eine
ſolche
gezeigt.
Die Natur dieſer geheimnisvollen Boten, welche
in
den Nervenfaſern auf- und abfahren, iſt daher bis jetzt
635151 wenig ergründet. Wir werden indes ſpäter ſehen, wie nahe
die
Vermutung liegt, daß ſie elektriſcher Natur ſeien.
Trotzdem man alſo den Vorgang der Nervenerregung noch
ſo
wenig kennt, hat man doch eine Eigenſchaft derſelben er-
mittelt
, die einen Einblick in das Weſen derſelben gewährt.
Man hat nämlich genau die Geſchwindigkeit gemeſſen, mit
welcher
ſie ſich in den Nerven fortpflanzt, d.
h. man hat be-
obachten
können, wie ſchnell jene Boten in den Nerven entlang
laufen
.
Wenn wir den Entſchluß faſſen, die Hand zu bewegen, ſo
wiſſen
wir jetzt, daß das Gehirn die betreffenden Nerven erregt
und
daß in dieſen die Erregung als Bote hinabeilt zu den
Muskeln
, welche die Hand regieren.
Wir möchten nun glauben,
daß
in demſelben Augenblick, in welchem die Nerven den Auf-
trag
empfangen, er auch ſchon den Muskeln übergeben wird.
Dem iſt aber nicht ſo. Es vergeht eine gewiſſe Zeit dazwiſchen,
welche
die Erregung braucht, um die Länge des Nerven zu
durchlaufen
, und dieſelbe iſt, wie wir ſehen werden, gar nicht
ſo
klein, als man glauben ſollte.
Freilich ſind wir nicht im-
ſtande
, zwiſchen Entſchluß und Ausführung desſelben irgend
einen
Zeitraum mit unſern Sinnen wahrzunehmen, dennoch
aber
iſt ein ſolcher ganz ſicher vorhanden.
Die Geſchwindigkeit, mit welcher die Erregung in einem
Bewegungsnerven
fortſchreitet, kann man mit Hilfe eines ſehr
ſinnreichen
Apparates mit großer Genauigkeit meſſen.
Man
entlehnt
die Nerven und Muskeln hierzu wiederum vom Froſch,
weil
dieſelben, auch wenn ſie aus dem Körper entfernt werden,
noch
lange Zeit hindurch ihre Lebenseigenſchaften beibehalten.
Man kann einen ſolchen Muskel mit dem dazugehörigen Nerven
in
der Kälte tagelang aufbewahren, ohne daß ihre Erregbarkeit
verloren
geht.
Wenn wir dem Nerven einen elektriſchen Schlag
erteilen
, ſo entſteht jedesmal eine Bewegung im Muskel.
Hier-
bei
verändert derſelbe ſeine Geſtalt in auffallender Weiſe.
636152 Muskeln beſitzen nämlich eine begrenzte Geſtalt und ſind gleich-
ſam
wie dicke, elaſtiſche Bänder von beſtimmter Länge und
Breite
zwiſchen zwei Punkten des Knochengerüſtes ausgeſpannt.
Gerät ein Muskel in Thätigkeit, ſo wird er plötzlich kürzer und
dicker
, nähert ſeine beiden Anſatzpunkte und erzeugt dadurch
Bewegung
der einzelnen Teile des Körpers.
Auf dieſe Weiſe
werden
die komplizierteſten Bewegungen unſerer Gliedmaßen
nur
durch Verkürzungen der Muskeln erzeugt, die in der
mannigfaltigſten
Art angeordnet ſind.
In der einfachſten Form ſehen wir dieſen Vorgang an
einem
aus dem Körper entnommenen Froſchmuskel mit ſeinem
dazugehörigen
Nerven, in welchem wir die Fortpflanzungs-
Geſchwindigkeit
der Erregung meſſen wollen.
Wir können an
einen
ſolchen Muskel ein Gewicht anhängen und werden ſehen,
daß
er jedesmal, wenn der Nerv einen elektriſchen Schlag er-
hält
, das Gewicht emporhebt, dadurch, daß er ſelbſt kürzer
wird
.
Dieſe Verkürzung entſteht mit ziemlicher Geſchwindigkeit
und
verſchwindet ebenſo ſchnell wieder, indem der Muskel ſeine
frühere
Länge wieder einnimmt.
Man nennt eine ſolche Ver-
kürzung
deshalb Zuckung.
Bei dieſem Verſuche iſt der Vorgang ganz derſelbe, wie
dies
im Körper des lebenden Tieres der Fall iſt.
Ein Punkt
des
Nerven wird auf elektriſchem Wege gereizt.
Sofort eilt
ein
Bote von dort ab, oder wiſſenſchaftlicher ausgedrückt, die
Erregung
, in welche der Nerv durch den Schlag verſetzt iſt,
pflanzt
ſich weiter von der erregten Stelle aus fort und erreicht
ſchließlich
den Muskel, wo ſie eine Zuckung erzeugt.
Wenn wir
nun
ein Mittel beſäßen, die ganze Zeit zu meſſen, welche ver-
ſtreicht
zwiſchen dem Moment, in welchem der Nerv den
elektrſchen
Schlag empfängt, und dem Moment, in welchem
der
Muskel eben anfängt das Gewicht zu heben, ſo wäre unſre
Aufgabe
gelöſt.
Dies kann man nun mit gewöhnlichen Hilfs-
mitteln
nicht ausführen.
Für das bloße Auge fällt der
637153 mit der Zuckung unmittelbar zuſammen. Jedoch auf folgende
Weiſe
kann man zeigen, daß dem nicht ſo iſt.
Man ſtellt neben dem aufgehängten Muskel einen Cylinder
auf
, der ſich um ſeine ſenkrechte Axe mit großer, genau be-
kannter
Geſchwindigkeit drehen kann.
Der Muskel trägt außer
dem
Gewicht, das ihn belaſtet, noch einen Stift in wagerechter
Richtung
, deſſen Spitze den Cylinder berührt und auf dem-
ſelben
zeichnet.
Dreht ſich der Cylinder um ſeine Axe, ſo ent-
ſteht
auf ihm eine Kreislinie, die in ſich ſelbſt wieder zurück-
läuft
, ſo lange als der Muskel dieſelbe Länge behält.
Verkürzt
ſich
dieſer aber durch eine Zuckung, ſo hebt ſich der Zeichen-
Stift
mit, verläßt die Kreislinie und zeichnet eine in die Höhe
gehende
Linie.
An einem Punkte des Cylinders befindet ſich nun ein
kleiner
Vorſprung.
Dieſer öffnet an einem Punkte der Um-
drehung
durch Stoß eine elektriſche Kette und erregt ſo einen
elektriſchen
Schlag.
Dieſer Schlag trifft den Nerven des auf-
gehängten
Muskels, es entſteht eine Zuckung, und der Zeichen-
Stift
geht in die Höhe.
Nun kann man ganz genau denjenigen Punkt der Kreis-
linie
ermitteln, welchen der Stift berührt in dem Augenblick,
in
welchem jener Vorſprung den Schlag erregt.
Würde die
Zuckung
in demſelben Momente beginnen, ſo würde die in die
Höhe
ſteigende Linie an dieſem Punkte die Kreislinie verlaſſen.
Das thut ſie aber nicht, wenn ſich der Cylinder mit großer
Geſchwindigkeit
dreht, ſondern ſteigt erſt eine kleine Strecke
dahinter
auf.
Es hat ſich alſo der Cylinder nach dem Schlage
noch
ein Stückchen gedreht, bevor die Zuckung begonnen hat,
und
zwar können wir die Zeit, die zwiſchen dieſen beiden Mo-
menten
liegt, ganz genau berechnen, da uns die Geſchwindig-
keit
des Cylinders bekannt iſt.
Dies iſt nun die Zeit, welche die Erregung braucht, um
den
Nerven entlang zu laufen, auf den Muskel
638154 und ihn zur Thätigkeit anzuregen. Wollen wir aber nur das
erſte
wiſſen, d.
h. die Geſchwindigkeit der Erregung im Nerven,
ſo
müſſen wir zwei Verſuche anſtellen.
Das eine Mal ſo, daß
der
Schlag den dem Muskel nächſten Punkt des Nerven trifft,
und
dann ſo, daß er den entfernteſten Punkt trifft.
Der Unter-
ſchied
beider Zeiten giebt die Zeit, welche die Erregung braucht,
um
die ganze Länge des Nerven zu durchlaufen.
LIV. Geſchwindigkeit und Nervenleitung.
Die Geſchwindigkeit, mit der die Erregung ſich in den
Nerven
fortpflanzt, hat man vor jener Unterſuchung für viel
größer
gehalten als ſie wirklich iſt.
Es ging hiermit ebenſo,
wie
mit den Geſchwindigkeiten der phyſikaliſchen Kräfte.
Die
Schnelligkeit
des Lichtes ſchien unendlich groß, und doch iſt
längſt
ſicher feſtgeſtellt, daß es eine Sekunde Zeit braucht, um
40
000 Meilen zurückzulegen.
Denken wir uns einen Nerven von 30 Meter Länge, ſo
würde
es ungefähr eine Sekunde dauern, bis die Erregung
ihn
ganz durchlaufen hätte.
Dies wäre ſchon eine ganz leicht
merkbare
Zeit, wenn Nerven von dieſer Länge im Tierreiche
vorkämen
.
Das größte Tier, der Wallfiſch, hat eine Länge
von
12—20 Metern, und man hat in der That an ihm ſchon
lange
, bevor man die Geſchwindigkeit der Nervenerregung kannte,
eine
ſonderbare Erſcheinung bemerkt, die jetzt erſt vollkommen
klar
geworden iſt.
Die Wallfiſchfänger werfen nämlich nach
dieſem
Fiſch mit einer Harpune, einer mit einem Widerhaken
verſehenen
Lanze, an der ein Strick befeſtigt iſt, mit welchem
das
Tier herangezogen wird.
Wenn dasſelbe getroffen iſt,
taucht
es ſenkrecht unter, um zu entfliehen.
Dabei hat
639155 beobachtet, daß zwiſchen dem Augenblick, in welchem die Har-
pune
in den Körper eindringt, und der erſten Bewegung des
Tieres
eine deutlich wahrnehmbare Zeit vergeht.
Dann erſt
ſchießt
der Wallfiſch in die Tiefe.
Der Vorgang, der hier ſtattfindet, iſt etwas complizierter
als
in dem Verſuch am Froſchnerven.
Denn wir haben hier
drei
Zeiten zu unterſcheiden.
Erſtens die Zeit, welche die Er-
regung
braucht, um durch die getroffenen Empfindungsnerven
der
Haut bis zum Gehirn hinzulaufen.
Zweitens die Zeit,
welche
der Vorgang im Gehirn des Wallfiſches in Anſpruch
nimmt
, denn auch dazu gehört Zeit.
Und drittens die-
jenige
Zeit, in welcher die Erregung in den Bewegungsverven
vom
Gehirn zu den Muskeln gelangt.
Dieſe drei Zeiten zu-
ſammen
, die bei der Größe des Wallfiſches nicht ſo unbedeutend
ſind
, geben zuſammen den ganzen Zeitraum, der zwiſchen jenen
beiden
Momenten verſtreicht.
Je größer ein lebendes Weſen iſt, deſto größer müſſen
auch
dieſe Zeiten ſein.
Stellen wir uns einen Menſchen vor
von
100 Meter Höhe, ſo werden wir an dieſem Menſchen ſehr
intereſſante
Betrachtungen anſtellen können.
Wir würden uns
wundern
, wie lange es dauert, ehe dieſer Rieſe auf unſre
Fragen
antwortet, denn ſein Gehörnerv und ſeine Zungen-
nerven
ſind ſchon von ſehr beträchtlicher Länge.
Noch länger
wird
es dauern, bevor er einen Eindruck merken würde, der
einen
entfernten Teil ſeines Körpers trifft.
Verſetzen wir ihm
in
die Fußſohle einen Stich, ſo wird es ungefähr 5 {1/2} Sekunde
dauern
, bis er dieſen Stich fühlt.
Und wenn er ſo unedel
wäre
, dafür Rache nehmen zu wollen und uns durch einen
Fußtritt
zu vernichten, ſo würde ihm dieſer Entſchluß in ſeinem
Gehirn
vielleicht noch eine Sekunde Zeit koſten;
bis derſelbe
aber
zur Ausführung käme, würden wiederum 5 {1/2} Sekunden
vergehen
, denn ſo lange Zeit braucht die Erregung, um die
Bewegungsnerven
des Fußes zu durchlaufen.
Und ſo
640156 wir ungefähr 12 Sekunden Zeit, um unſer Leben in Sicher-
heit
zu bringen.
Die Zeit, in welcher die Bewegung in den Nerven fort-
ſchreitet
, iſt offenbar noch zu klein, um beim Menſchen merkbar
zu
werden.
Es ſcheint uns, als ob wir einen Stich ſofort
empfinden
, wenn er unſre große Zehe trifft.
Ja, wir bezeichnen
nach
dem Sprachgebrauch den kleinſten Zeitraum, den wir uns
vorſtellen
können, durch das Wort Augenblick, deſſen eigentliche
Bedeutung
eine Nervenerregung iſt.
Augenblick iſt die Zeit,
welche
vergeht zwiſchen dem Öffnen der Augen und einem
ſchnell
darauf folgenden Schließen derſelben.
Dazu gehört nicht
nur
die Zeit, welche die Muskeln der Augenlider zur Bewe-
gung
brauchen, ſondern auch die Zeit, in welcher die Nerven-
erregung
vom Gehirn bis zu dieſen Muskeln läuft.
Und
dennoch
erſcheint uns dieſe Zeit noch ſo klein, daß wir ſie nicht
mehr
zu teilen vermögen.
Unter gewöhnlichen Verhältniſſen iſt die Dauer der Fort-
pflanzung
von Erregungen vom und zum Gehirn ohne Einfluß
auf
unſre Empfindungen und Bewegungen.
Die Geſchwindig-
keit
iſt immer noch groß genug, um keine Störungen in den
Funktionen
unſerer Körperteile hervorzurufen.
Aber unter ge-
wiſſen
Bedingungen wird ſie ſehr wohl merkbar.
Es iſt
nämlich
den Aſtronomen bei ihren Beobachtungen aufgefallen,
daß
gewiſſe Zeit-Meſſungen verſchiedener Beobachter immer um
ein
Beſtimmtes von einander abweichen, was nicht auf Irr-
tümer
zurückgeführt werden konnte.
Bei dieſen Meſſungen
bedienen
ſie ſich elektriſcher Uhren;
ſobald diejenige Erſcheinung
eintritt
, deren Zeit beobachtet werden ſoll, ſo geben ſie dies
durch
einen Fingerdruck zu erkennen, der die elektriſche Kette
öffnet
, welche die Uhr treibt, und man lieſt nun die Zeit an
der
Uhr ab.
Trotz dieſer exakten Einrichtung waren die Zeiten
doch
nicht immer dieſelben, und es mußte daher der
641157 dieſer Abweichung außerhalb der Apparate, alſo in den Beob-
achtern
liegen.
Nun vergeht zwiſchen dem Moment, in welchem der
Aſtronom
eine Erſcheinung ſieht, bis zu dem Augenblick, wo
er
den Finger bewegt, in der That eine für aſtronomiſche
Meſſungen
nicht unbedeutende Zeit.
Die Erregung muß durch
den
Sehnerven zum Gehirn, von hier ins Rückenmark hinab
zum
Armnerven und kommt erſt durch dieſen zum Finger-
muskel
.
Dieſe Zeit iſt nun nicht für jeden Beobachter gleich,
und
zwar weichen hauptſächlich diejenigen Zeiten von einander
ab
, während deren ſich der empfangene Eindruck im Gehirn
aufhält
.
Ja, ſelbſt bei ein und demſelbeu Beobachter iſt ſie
nicht
immer gleich, je nachdem er mehr oder weniger zur Auf-
merkſamkeit
disponiert iſt.
Auf ſehr ſinnreiche Weiſe hat man auch am lebenden
Menſchen
die Geſchwindigkeit gemeſſen, mit welcher die Empfin-
dungen
von der Haut aus zum Gehirn dringen, und man iſt
auf
ein Reſultat gekommen, das ganz übereinſtimmt mit jenem
Verſuch
, der an den Bewegungsnerven des Froſches angeſtellt
worden
iſt.
Auch hier hat ſich ergeben, daß die Geſchwindig-
keit
ungefähr 30 Meter in der Sekunde beträgt.
LV. Neueſtes über den Aufbau des Nervenſyſtems.
Wir haben in den vorausgehenden Abſchnitten nur der
Einfachheit
wegen angenommen, daß die Geſamtheit von
Gehirn
, Rückenmark und Nerven mit einem reichverzweigten
Telegraphenſyſtem
zu vergleichen ſei, in welchem die Nerven-
faſern
als die Leitungsdrähte, die Nervenzellen als die End-
und
Zwiſchenſtationen funktionieren.
Dies Bild dürfen
642158 nach neueren Unterſuchungen nicht ſtreng nehmen, denn es fehlt
dem
Nervenſyſtem jener Charakter des Geſchloſſenſeins, wie er
einem
arbeitenden Telegraphenſyſtem notwendig zukommt.
So
treffen
wir in den Centralorganen und zum Teil ſchon in den
Sinnesorganen
neben den in eine große Leitungsbahn ein-
geſchalteten
Nerveneinheiten ſolche, welche ſich den Hauptbahnen
nicht
einordnen.
Es ſind dies Zellen kleineren oder mittleren
Kalibers
, deren Nervenfortſätze den betreffenden Bezirk nicht
überſchreiten
, ſondern die ſich darin verlieren.
Dieſe Elemente
ſcheinen
eine vorwiegend lokale Bedeutung zu haben, ſei es,
daß
ſie Reizausgleichungen vermitteln, daß ſie gewiſſe all-
gemeine
Stimmungen des Organes unterhalten oder in irgend
einer
anderen Weiſe am Geſamtvorgang ſich beteiligen.
In
manchen
Centralteilen ſind dieſe Nebenapparate beſonders reich-
lich
vorhanden, und ihre Bedeutung darf demnach in keiner
Weiſe
unterſchätzt werden.
Wir haben alſo kurz und bündig das Geſamtnervenſyſtem
thatſächlich
zerfallend in eine große Anzahl nicht, wie man das
früher
glaubte, direkt mit einander verbundener Einheiten,
ſondern
in Teile, die keine direkten Verbindungen mit einander
haben
.
Wollen wir daher das von der Elektrizität entnommene
Bild
genauer den Verhältniſſen anpaſſen, ſo wird man die
gegenſeitige
Einwirkung der in Rede ſtehenden Einheiten mit
derjenigen
auf dem Wege elektriſcher Induktion vergleichen:
ein Vorgang, den wir in einem früheren Teil bei Beſprechung
der
elektriſchen Erſcheinungen ausführlich beſprochen haben.
Ein zutreffenderes Bild haben wir nach einem von dem
Leipziger
Anatomen His gegebenen Vergleich in der Verwal-
tung
eines größeren Landes, bei welcher zahlreiche Behörden
in
beſtimmter Gliederung einander bei- und übergeordnet ſind.
Wohl ſendet eine Ortsbehörde in gegebenem Falle ihre Depeſche
nach
der übergeordneten Inſtanz, um ſich Verwaltungsbefehle
zu
erbitten;
allein die Antwort erfolgt nicht durch
643159 Umſchaltung einer Leitung, ſie iſt das Ergebnis einer beſon-
deren
Verarbeitung innerhalb der Oberbehörde.
Oberbehörden,
Zwiſchen-
und Unterbehörden umfaſſen mehr oder minder um-
fängliche
Bureaux mit Beamten ungleicher Stellung.
Die Um-
wandlung
einer Meldung in einen Befehl verknüpft ſich mit
verſchiedenen
Nebenvorgängen, mit Protokollierungen, mit Ver-
gleichung
von Präcedenzfällen, mit Rückſichtnahme auf gleich-
zeitige
Vorgänge, mit ausgleichenden Nebenbefehlen an andere
Unterbehörden
u.
a. m. Das Endergebnis einer Entſcheidung
wird
durch augenblickliche Stimmungen der beanſpruchten Be-
hörde
, durch vorangegangene oder gleichzeitige Befehle höher
ſtehender
Behörden beeinflußt werden und was dergleichen Um-
ſtände
mehr ſind.
Der in einander greifenden Thätigkeit der einzelnen Nerven-
elemente
wird durch die neueren Unterſuchungen mehr Raum
gelaſſen
, und die Individualität eines jeden Elementes kommt
mehr
zu ihrem Recht.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
644
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645
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Eifter Teil.
111[Figure 111]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
646
Das Necht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
647
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Vom Leben der Pſlanzen, der Tiere und der Menſchen. II.
I
. # Das Band des Lebens . . . . . . . . . . . # 1
II
. # Der Zuſammenhang der drei Nervenſyſteme . . . . # 3
III
. # Beſehen wir uns einmal ein Gehirn . . . . . . . # 5
IV
. # Das Gehirn von der untern Seite . . . . . . . # 9
V
. # Ob man im Gehirn etwas von ſeinem Thätigkeits-
# vermögen ſehen kann . . . . . . . . . . . # 13
VI
. # Die Thätigkeit des großen Gehirns . . . . . . . # 17
VII
. # Eine Taube ohne Gehirn . . . . . . . . . . # 19
VIII
. # Was das kleine Gehirn zu thun hat . . . . . . . # 22
IX
. # Von der Schädellehre . . . . . . . . . . . . # 25
X
. # Thätigkeit und Ruhe . . . . . . . . . . . . # 31
XI
. # Der Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . # 37
XII
. # Einſchlafen und Aufwachen . . . . . . . . . . # 40
XIII
. # Die Träume . . . . . . . . . . . . . . . # 43
XIV
. # Die Träume durch äußerliche Anregungen . . . . . # 46
XV
. # Denken im Traum . . . . . . . . . . . . . # 49
XVI
. # Inſtinkt und Geiſtesleben . . . . . . . . . . # 52
XVII
. # Das Menſchenleben ein Geiſtesleben . . . . . . # 53
XVIII
. # Die Sprache der Menſchen . . . . . . . . . . # 57
XIX
. # Die Herrſchaft der Menſchen . . . . . . . . . . # 59
XX
. # Der Menſchengeiſt und der Luftkreis . . . . . . . # 62
XXI
. # Was im Gehirn während des Denkens vorgeht . . . # 65
XXII
. # Der angeborene Geiſt und die Erfahrung . . . . . # 68
XXIII
. # Von den Vorſtellungen und deren Entwickelung . . . # 71
XXIV
. # Ruheloſigkeit und Ruhe der Gedanken . . . . . . # 74
XXV
. # Gedächtnis- und Erinnerungs-Vermögen . . . . . . # 77
XXVI
. # Wie ſich das Gehirn beſinnt . . . . . . . . . # 80
XXVII
. # Vom Vergeſſen alter und dem Erzeugen neuer Gedanken # 84
XXVIII
. # Wie man im Gehirn etwas überlegt . . . . . . . # 87
XXIX
. # Die Energie . . . . . . . . . . . . . . . # 90
XXX
. # Eigentümlichkeiten der Energie . . . . . . . . . # 93
648
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649
Vom Leben der Pſlanzen, der Tiere und
der Menſchen. II.
I. Das Band des Lebens.
Nachdem wir bisher die Hauptunterſchiede zwiſchen dem
Tier-
und Pflanzenleben aufgeführt haben, ſoweit ſich ſolche
ſtatuieren
laſſen, wollen wir zunächſt an dieſe Thatſache einige
für
den erſten Augenblick gewiß ſonderbar klingende Behaup-
tungen
knüpfen.
Wir wiſſen, daß der tieriſche Körper ſich nur aufbaut durch
das
Blut, welches in demſelben herumkreiſt;
wir wiſſen ferner,
daß
das Blut nur die verwandelte Speiſe des Tieres iſt, und
endlich
iſt es eine bereits ausgemachte Thatſache, daß die Tier-
welt
nur direkt oder indirekt von Pflanzenſpeiſe leben kann.

Ebenſo
aber wie das Blut den geſamten Körper bildet, ebenſo
bildet
es auch Gehirn- und Nervenmaſſe, nnd zwar in gleicher
Weiſe
, wie in jedem Umlauf das Blut in den Knochen, in den
Muskeln
dasjenige ablagert, was neue Knochen, neue Muskeln
zu
bilden beſtimmt iſt.
Wir können daher den Ausſpruch mit
voller
Sicherheit thun, daß der Stoff für Gehirn und Nerven
bereits
in den Pflanzen vorhanden ſein muß, d.
h. die chemiſchen
Stoffe
, die zur Bildung von Gehirn und Nerven nötig ſind.
Wenn die Exiſtenz von Gehirn und Nerven den Haupt-
unterſchied
zwiſchen dem höheren tieriſchen und dem Pflanzen-
leben
bildet, ſo muß man ſich nicht vorſtellen, als ob Gehirn
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XI.
6502
und Nerven etwas ſeien, was in den Pflanzen gar nicht exiſtiere,
ſondern
eine unbefangene Vetrachtung ergiebt nur, daß die
Pflanzen
ſich während ihres eignen Lebens nicht ausbilden,
daß
die Stoffe dazu aber unausgebildet darin liegen, und erſt
dieſe
Formen und Eigenſchaften annehmen, nachdem ſie im
tieriſchen
Körper zu Blut geworden ſind, und dadurch die
Fähigkeit
erhalten haben, unter dem Einfluß noch weiterer
Umſtände
wirklich Gehirn und Nerven zu werden.
Man kann ſich vorſtellen, daß in der Pflanze ſowohl
die
Gehirn- als auch Nerven-Maſſe, die ſie zu bilden fähig
iſt
, ſobald ſie in den Tierleib als Speiſe gelangt iſt, nur
unentwickelt
ruhe.
Inſofern als alle chemiſchen Elemente,
die
die Pflanzen und Tiere zuſammenſetzen, auch in der un-
organiſchen
Natur vorkommen, kann man dasſelbe freilich auch
von
der letzteren ſagen.
Man hat mit vollem Recht das
Blut
eines Tieres den flüſſigen Leib des Tieres genannt.
Im
Blut
iſt der Stoff ebenſo zu den Knochen, den Muskeln, den
Hörnern
, den Nägeln, wie zu dem Gehirn und den Nerven
vorhanden
.
Die Stoffe haben ſich nur noch nicht geſondert
und
geordnet, und ſind in der Flüſſigkeit unter einander ge-
miſcht
.
Das Blut iſt der allgemeine bildungsfähige Bauſtoff
für
jeden Teil des tieriſchen Leibes.
Macht man ſich aber
mit
dieſem Gedanken vertraut, ſo muß man dasſelbe auch von
der
Speiſe, dasſelbe auch von den Pflanzen ſagen.
In dieſem Sinne kann man den Ausſpruch thun, daß
Pflanze
und Tier nur zwei Weſen ſind, die auf verſchiedener
Stufe
ihrer Ausbildung und Entwickelung ſtehen.
In der
Pflanze
ruht der Stoff und die Möglichkeit, zu einem Weſen
umgewandelt
zu werden, welches alle Eigenſchaften des tieriſchen
Lebens
annimmt, um bis zu einem Leben höherer Gattung,
bis
zum Leben des Tieres erhoben zu werden.
6513
II. Der Zuſammenhang der drei Nervenſyſteme.
Das Eigentümliche des Tierlebens beſteht, wie wir be-
reits
im Einzelnen hervorgehoben haben, im Gehirn- und
Nervenleben
.
Dieſes Gehirn- und Nervenleben zerfällt aber
in
drei geſonderte Eigentümlichkeiten, ſo daß man wiſſenſchaft-
lich
von drei verſchiedenen Arten von Nerven ſpricht.
Dieſe erſte Nervengattung bildet das vegetative Nerven-
ſyſtem
oder, deutlicher ausgedrückt, eine Nervenpartie, die das
innerliche
Pflanzenleben der Tiere reguliert und erhält, ſelbſt
gegen
den Willen und ohne Bewußtſein des Tieres.
Die
Verdauung
, der Blut-Umlauf, die Ernährung und die Ab-
ſonderung
ſind ganz auf dieſem Syſtem begründet.
Es ſind
dies
die innern Thätigkeiten der Maſchinerie des Leibes, von
denen
ähnliche Vorgänge auch in den Pflanzen vorkommen.
Die zwei andern Nerven-Gattungen beſtehen aber in dem
Verkehr
mit der Außenwelt, und zwar leitet die eine Gattung
der
Nerven, die Sinnesnerven, durch welche wir mit beſon-
deren
Organen ſehen, hören, ſchmecken, riechen und am ganzen
Körper
fühlen, die Eindrücke der Außenwelt zu unſerm Ge-
hirn
, während die andere Gattung von Nerven, durch welche
wir
die Glieder unſeres Leibes in Bewegung ſetzen können,
vom
Gehirn Befehle hierzu nach jedem Muskel leitet.
Der innige Zuſammenhang dieſer drei Nervenſyſteme er-
giebt
ſich im ganzen ſchon von ſelber, das heißt, es iſt jedes
dieſer
Nervenſyſteme unumgänglich an das andere gekettet.
Ein Weſen, das ſo geſchaffen iſt, daß die Nahrung ihm
nicht
von ſelber zufließt, und das dennoch nur leben kann,
wenn
es Nahrung zu ſich nimmt, das muß ſelber die Nahrung
aufzuſuchen
imſtande ſein.
Ein Tier iſt ein ſolches Weſen.
Beſitzt es nun ein ſolches Nervenſyſtem, das die innere Er-
nährung
reguliert, ſo muß die Natur es auch mit
6524 verſorgen, durch welche es imſtande iſt, in der Außenwelt ſeine
Nahrung
aufzufinden, und es verſteht ſich von ſelbſt, daß es
ſich
dorthin muß bewegen können, wo die Nahrung vorhanden
iſt
.
Man wird hiernach leicht einſehen, daß das Nerven-
ſyſtem
, welches das Pflanzenleben des Tieres leitet, auch ein
Syſtem
von Sinnesnerven, wie von Bewegungsnerven vor-
ausſetzt
.
Man wird es daher begreiflich finden, wie ein junges
Tier
, das eben erſt den Mutterleib verlaſſen hat, von der
Natur
angeleitet wird, richtig zu ſehen, wo ſeine Nahrung,
die
Milch der Mutter, vorhanden iſt, und daß es auch mit
der
Kenntnis von dem richtigen Gebrauch ſeiner Beine ver-
ſorgt
iſt, um dort hinzugehen und die Milch einzuſaugen.
Man wird begreiflich finden, daß es ſo ſein muß, wenn auch
die
Wiſſenſchaft eingeſteht, daß ſie auf tauſend Rätſel ſtößt,
wenn
ſie erklären ſoll, wie dies zugeht?
Wie kommt es, daß ein neugeborenes Kalb es weiß, daß
die
Mutter wenige Schritte von ihm exiſtiert?
Es hat zwar
Augen
, mit welchen es die Mutter, wie man ſo ſagt, ſieht;
aber es ſteht wiſſenſchaftlich feſt, daß dies ſogenannte Sehen
nur
darin beſteht, daß auf dem Hintergrund des Kalbsauges
ein
kleines Bildchen der Mutter ſich abbildet.
Nimmt nun
auch
das Gehirn des Kalbes durch den Sehnerven dieſes
Bildchen
wahr, ſo begreift man doch immer noch nicht, woher
das
Kalb zu der Erkenntnis kommt, daß das, was es ſieht,
nicht
in ſeinem Auge, ſondern draußen in der Welt exiſtiert.

Unbegreiflichkeiten dieſer Art giebt es tauſendfache, welche
die
Wiſſenſchaft nicht wirklich zu erklären weiß;
es läßt ſich
hierüber
nur ſo viel ſagen, daß dieſelbe angeborne innere
Direktion
der Maſchine im Tierleibe, die die Thätigkeit des
Magens
, des Darms, des Herzens u.
ſ. w. reguliert ohne
Willen
und Bewußtſein des Tieres, beim neugebornen Kalbe
auch
noch die Sinnes- und Bewegungsnerven in
6535 verſetzt und reguliert und dirigiert, ſo daß wichtige zweckent-
ſprechende
Handlungen des Kalbes hieraus erfolgen.
Über die Wirkungen und Thätigkeiten des vegetativen
Nervenſyſtems
und deſſen Einfluß auf die übrigen Nerven
herrſchen
überhaupt noch in der Wiſſenſchaft große Dunkelheiten.
Es rührt dies daher, daß es den Naturforſchern nicht leicht
gemacht
iſt, mit dieſen Nerven Verſuche an lebenden Tieren
anzuſtellen
.
Dieſe Nerven liegen hauptſächlich an den innerſten
Organen
der Tiere, die man ohne Gefahr für das Leben
der
Tiere nicht leicht bloß legen kann;
außerdem ſind die
Nervenfäden
dieſes Syſtems ſo innig verzweigt mit Fäden der
andern
Nerven, daß es kaum möglich iſt, auf reine Reſultate
bei
den Verſuchen zu kommen.
Es ſind deshalb die Verſuche
über
die Thätigkeit und das Gebiet der zwei andern Nerven-
gattungen
viel erſprießlicher geweſen, und dieſe Verſuche haben
ergeben
, daß auch die Sinnes- und Gefühlsnerven mit den
Bewegungsnerven
nicht nur in den Muskeln nachbarlich ſo
gelagert
ſind, daß ſie nicht mehr zu unterſcheiden ſind, ſondern
daß
ſie aufeinander einwirken, ſelbſt wenn der eigentliche Ver-
einigungspunkt
, das Gehirn, nicht mehr vorhanden iſt.
Aus all’ dem Geſagten aber geht trotz der vielen Rätſel,
die
in dieſem Gebiete noch vorhanden ſind, ſo viel hervor,
daß
das eigentliche Tierleben im Nerven- und Gehirnleben
auftritt
, und es iſt deshalb Zeit, daß wir uns einmal das
Gehirn
, dieſes Zentralbureau des Lebens anſehen, ob wir viel-
leicht
an demſelben dem Geheimnis des Lebens näher nach-
ſpüren
können.
III. Beſehen wir uns einmal ein Gehirn.
Nach all dem Geſagten ſollte man wirklich meinen, es
müßte
das Gehirn eines Tieres mit all ſeinen
6546 etwas von dem tiefen Geheimnis des Lebens an ſich erſpähen
laſſen
, wenn man es bloßgelegt vor das Auge des denkenden
Menſchen
bringt.
Leider aber iſt dies durchaus nicht der Fall.
Man kann mit vollem Rechte ſagen, daß der Naturforſcher
vor
keinem ſonſtigen Leibesteil ſo unwiſſend, oder offen geſagt,
ſo
dumm daſteht, wie vor einem Gehirn.
An dem Herzen eines Tieres kann man die ſinnreiche
Einrichtung
dieſer vorzüglichen Saug- und Druckpumpe leicht
nachweiſen
;
man verſteht ſeinen Bau, man begreift die Be-
ſchaffenheit
, die Aufgabe ſeiner einzelnen Abteilungen, ſeiner
Ventile
.
Man iſt imſtande, ſeine Thätigkeit ſich klar zu machen
und
ſelbſt in Einzelheiten zu erläutern.
Lunge, Magen, Darm
und
ſonſtige innere Werkzeuge ſind nicht nur in ihren weſent-
lichen
Verrichtungen von der Naturwiſſenſchaft erforſcht, ſondern
man
vermag auch ihre beſondere Beſchaffenheit und Eigentüm-
lichkeiten
gründlich zu erklären.
Selbſt das Auge und deſſen
ſinnreiche
Einrichtung iſt vollſtändig begreiflich.
Im Bau des
Ohres
, hauptſächlich ſeiner innern Werkzeuge, iſt noch manches
unerklärt
, aber im Ganzen iſt man über dasſelbe im Klaren.
Nur vor einem Gehirn, und wäre es ſelbſt das einer recht
dummen
Gans, ſteht der Naturforſcher wie vor einem ver-
ſchloſſenen
Rätſel und folgt nur den ſchwachen Spuren der
Erklärungen
, welche bisherige unzählige Verſuche ermittelt
haben
.
Wer aber glaubt, daß das weit ausgebildetere Gehirn eines
Menſchen
etwas mehr von der geiſtvollen Einrichtung desſelben
verraten
müßte, iſt im Irrtum.
Wer ein Gehirn eines Menſchen
vor
ſich hat, der wird ſelbſt unter Anleitung des gelehrteſten
Naturforſchers
immer wiederum in unwillkürliches Sinnen ver-
ſinken
, und trotz der augenſcheinlichſten Beweiſe ſich nicht des
Zweifels
erwehren können, daß auch in ſeinem Kopfe ein
ſolches
ſonderbares Gebilde ſeinen Sitz habe, und daß dies es
ſei
, welches das Regiment führt über Sinnen, Trachten,
6557 Liebe, Leben, Thun, Laſſen, Wollen, Streben, Begehren, Em-
pfinden
und Bewußtwerden ſeines lieben Ichs.
Die Naturwiſſenſchaft hat freilich bereits tüchtige Fort-
ſchritte
in der Kenntnis des Baues, der Ausbildung und der
Beſtimmung
einzelner Teile des Gehirns gemacht, aber es iſt
und
blieb bisher doch noch immer ein Rätſel, das in ſeinen
Hauptſachen
nicht einmal aufgelöſt iſt.
Man weiß von weſent-
lichen
einzelnen Teilen des Gehirns, welche Geſchäfte ſie im
Körper
zu verſorgen haben;
aber wie, wodurch, in welcher
Weiſe
ſie dies thun, hierüber herrſcht ſelbſt jetzt noch tiefes
Dunkel
, nachdem man des einen Reſultats einigermaßen ſicher
iſt
, daß die Elektrizität hierbei eine Rolle ſpielen mag.
Sehen wir uns einmal ein Menſchengehirn an, oder rich-
tiger
:
verſuchen wir, ob wir hier imſtande ſind, ein ungefähres
Bild
davon durch eine Beſchreibung zu geben;
wir wollen
dann
in aller Kürze die weſentlichſten Reſultate vorführen,
welche
die Wiſſenſchaft durch unzählige Unterſuchungen an
Gehirnkranken
und durch Verſuche mit Tieren bereits ge-
wonnen
hat.
Ein Menſchengehirn (Fig. 1) iſt verhältnismäßig ſehr
groß
.
Wenn man es vor ſich hat, ſo ſieht man eine weiß-
graue
Maſſe, von der man im gewöhnlichen Leben nicht glauben
ſollte
, daß man ſie im Schädel mit ſich herumſchleppe.
Die
Maſſe
iſt ſo groß, daß man merkt, ſie müſſe den ganzen Vorder-
und
Hinterkopf von den Augenbrauen bis zu der Nackengrube
ausfüllen
, was auch richtig der Fall iſt.
Bei näherer Betrachtung dieſer Maſſe, die von außen auch
die
Form eines Schädels hat, ergiebt es ſich, daß man ſie
naturgemäß
in verſchiedene Teile ſondern kann, obgleich ſie im
ganzen
eine zuſammengewachſene Maſſe bildet.
Vor allem bemerkt man, daß das Gehirn durch einen
Spalt
in zwei Hälften geſondert iſt.
Der Spalt geht von der
Stirngegend
nach dem Hinterkopf zu, ſo daß die Hirnkugel
6568 eine rechte und eine linke Halbkugel geteilt erſcheint. Allein
dieſer
Spalt iſt nur vorn an der Stirngegend tief genug, um
wirklich
hier die Halbkugeln von einander zu ſondern, weiter
nach
oben zu wird der Spalt weniger tief, und man überzeugt
ſich
leicht, daß die zwei Halbkugeln hier zwar geſpalten, aber
in
der Tiefe mit einander verwachſen ſind.
Weiter nach hinten,
112[Figure 112]Fig. 1.
Gehirn
des Mathematikers Gauß, von der Seite.
F Stirnlappen, P Scheitellappen, O Hinterhauptslappen, T Schläfenlappen,
C
Kleinhirn, PO Varolsbrücke, VM Verlängertes Mark, S Sylviſche Grube,
R
Rolandoſche Furche, a1, a2, a3 Falte der Stirnwindung, b1, b2, b3 Falte der
Scheitelwindung
, c1, c2, c3 Falte der Schläfenwindung, d1, d2, d3 Falte der Hinter-
hauptswindungen
.
R P a1 b1 A a1 B b1 d1 a a2 a2 a2 b2 F B b2 b3 d1 a2 a2 a1 a2 d2 a1 a2 a3 A b3 O a2 B a3 a3 d3 a3 c1 c2 a a3 c1 c1 c2 c2 c3 S C T
alſo dem Hinterkopf zu, wird der Spalt wieder tiefer und
bildet
ungefähr ſo wie vorn wiederum zwei vollſtändig getrennte
Hälften
.
Dieſe zwei Halbkugeln nennt man zuſammen das große
Gehirn
;
denn ſowie man ſich die Hintere Seite näher beſieht,
merkt
man, daß ungefähr dort am Hinterkopf, in der
6579 wo ſich die Damen den Zopf zuſammenbinden, ein ziemlich
geſondertes
Ding liegt, das man das kleine Gehirn nennt.
Der hintere Teil des großen Gehirns liegt wie eine Art
Mütze
auf dem kleinen Gehirn.
Das kleine Gehirn iſt kaum
ein
Drittel ſo groß wie das große.
Der Farbe nach ſieht es
dem
großen ähnlich;
allein während das große Gehirn Win-
dungen
zeigt, die wie Därme ausſehen, zeigt ſich das kleine
Gehirn
in ſo regelmäßig gekniffene Furchen geſtreift, daß es
ſich
wie eine hübſch gepreßte Art Muſchelſchale anſieht.
Dies ungefähr der äußere Anblick; wir wollen nun das
Ding
ein wenig inwendig und in der Tiefe anſehen.
IV. Das Gehirn von der untern Seite.
Hebt man ſolch ein Gehirn hoch, ſo ſieht man an ſeiner
untern
Fläche (Fig.
2), daß es ſo ziemlich in der Mitte einen
Stiel
hat, eine Art Stamm oder Strang, der abwärts läuft
und
in ſeiner Verlängerung eben das Rückenmark bildet.
Der
Anblick
des Gehirns ſamt dieſem Stiel iſt dem eines großen
Pilzes
ähnlich, wo eben das große Gehirn den Kopf des Pilzes
bildet
, während hinten, und zwar unter demſelben in der
Gegend
des Hinterkopfes noch ein Teil ſich befindet, eben das
kleine
Gehirn, das ſich anſieht wie ein Auswuchs, der ebenfalls
auf
dem Stiel des Pilzes angewachſen iſt.
Da dieſer Stiel, der das verlängerte Mark heißt (Fig. 3),
noch
zum Gehirn gehört und eigentlich eine Hauptrolle ſpielt,
ſo
wollen wir es uns merken, daß ſeine Verlängerung nach
unten
zu das Rückenmark heißt, welches mit ſeinen nach beiden
Seiten
auslaufenden Nervenzweigen auch Ähnlichkeit mit einer
langen
Wurzel hat, die nach zwei Seiten hin Äſte ausſendet.
65810
Das verlängerte Mark und das Rückenmark iſt alſo eigent-
lich
ein Stück;
nur nennt man das Stück, welches wir als den
Stiel
bezeichnet haben, das verlängerte Mark, weil es noch
im
Schädel liegt.
Erſt dort, wo es durch ein großes Loch des
113[Figure 113]Fig. 2.
Untere
Fläche des Gehirns.
A Stirnlappen, B Schläfenlappen, cc Balken, Cb kleines Gehirn, M verlängertes
Mark
, P Hirnanhang, I Riechnerb, II Sehnerv, III, IV, VI Nerven der Augen-
muskelu
, V Trigeminus, (Dreigeteilter Nerv), VII Facialis (Bewegungsnerv des
Geſichts
), VIII Hörnerv, IX Zungenſchlundkopfnerv, X Lungenmagennerv, XI Bein-
nerv
, XII Zungenfleiſchnerv. Zwiſchen III und IV Hirnſchenkel
A CC I II P B III IV V VI VII VIII X IX XI XII Cb M
65911 Schädels abwärts in die Halswirbel niederſteigt, beginnt es
den
Namen Rückenmark zu führen.
Sehen wir uns nun das große Gehirn von unten an, ſo
bemerken
wir, daß ganz vorn ein paar weiße Schnüre hervor-
kommen
, die eben nichts ſind als Nervenfäden, welche aus dem
114[Figure 114]Fig. 3.
Hirnteile
, ſchematiſch nach Lagerung und
Urſprung
der Hirnnerven.
H Eroßhirnhemiſphäre, CS Streifenhügel,
Th
Sehhügel, P Zirbeldrüſe, Pt Hirnanhang,
CQ
Vierhügel, Cb Kleinhirn, M verlängertes
Mark
, I—XII die 12 Hirnnervenpaare, Sp 1,
Sp
2 die oberſten Rückeunervenpaare.
H. P C.S. C.Q. Th. I II Pt Ch. III IV VI M V VII VIII IX XI XII X Sh1 Sh2
großen Gehirn im natür-
lichen
Zuſtand direkt nach
vorn
, nach der Naſen-
wurzel
gehen und dort
die
Geruchsnerven bilden.
Man ſollte meinen,
daß
ſo ein Geruchsnerv
mindeſtens
hohl ſei, damit
der
Geruch, wie ſich die
Leute
einbilden, wirklich
ins
Gehirn gehen kann;
aber dem iſt nicht ſo. So
ein
Nerv ſieht wie eine
Schnur
aus, und iſt auch
durchaus
nicht hohl, ja
die
Stelle, wo er aus
dem
Gehirn hervorkommt,
läßt
ebenfalls nicht er-
kennen
, wodurch gerade
dieſer
Nerv das Kunſtſtück
verſteht
, Gerüche, die ihm
an
der Naſe begegnen,
nach
dem Gehirn zu rapportieren.
Etwas tiefer hinten kommen aus beiden Seiten des großen
Gehirns
die Sehnerven, die ſich zu den Augenhöhlen begeben
und
dort die Hinterwand des Auges austapezieren.
Auch dies
ſind
Nervenſchnüre, die durchaus nicht von anderen Nerven-
ſchnüren
zu unterſcheiden ſind.
Warum jene
66012 und dieſe Lichteindrücke zum Gehirn transportieren, läßt ſich
wahrhaftig
nicht ſagen.
Man weiß nur, es iſt ſo, und man
muß
ſich damit beruhigen.
Eigentümlich iſt es, daß dieſe zwei
Nervenſchnüre
auf ihrem Wege zu den Augen ſich kreuzen, das
heißt
, der von der rechten Hirnhälfte geht ſcheinbar zum linken
Auge
, der von der linken Hirnhälfte zum rechten Auge.
Wir
werden
ſpäter ſehen, daß überhaupt ein eigentümliches Kreuzungs-
ſyſtem
im Gehirn ſtattfindet, ſodaß Verletzung der rechten Seite
des
Gehirns die linke Seite des Geſichts lähmt.
Warum
das
ſo iſt, weiß man wiederum nicht anzugeben.
In gleicher Weiſe wie dieſe Nervenſchnüre entſpringen aus
dem
Gehirn und namentlich aus der Gegend, wo das ver-
längerte
Mark ſowohl am großen wie am kleinen Gehirn an-
gewachſen
iſt, noch weitere Nerven.
Paare, die teils Gefühls-
nerven
, teils Bewegungsnerven, teils ſpezielle Sinnesnerven
ſind
, die aber in ihrem Anſehen ſich durchaus nicht unter-
ſcheiden
laſſen, ſodaß man ihre ganz verſchiedenartige Wirkung
und
ihr apartes Weſen nicht imſtande iſt, in ihnen ſelber zu
finden
.
Man kommt vielmehr auf den Gedanken, daß ſie
eigentlich
nur Boten ſind, die ſelber nichts von der Botſchaft
wiſſen
, die ſie überbringen, und nur je nach der Stelle, wo ſie
vom
Gehirn abgehen und dem Körperteil, wo ſie hingehen, iſt
ihre
Botſchaft anders.
Die Nervenfäden ſehen in der That ſo
harmlos
aus wie die Drähte eines elektriſchen Telegraphen,
die
ſich ganz gleich bleiben, mögen ſie nun freudige oder un-
glückſelige
Depeſchen von einer Station zur anderen befördern.
Vielleicht aber kommen wir hinter dies Geheimnis, wenn
wir
einmal tiefer nachſpüren, wohin dieſe Nervenfäden, wenn
ſie
ins Gehirn gehen, ſich verlaufen;
ſehen wir einmal zu, ob
wir
etwas zu ſehen bekommen, wenn wir das Gehirn auf-
ſchneiden
, und ſo gewiſſermaßen ins Zentralbureau des Lebens
hineingucken
.
66113
V. Ob man im Gehirn etwas von feinem
Thätigkeitsvermögen ſehen kann.
Schneidet man eine Scheibe von dem großen Gehirn ab,
ſo
merkt man, daß die weiche, markartige Maſſe, aus welcher
das
Gehirn beſteht, aus zwei deutlich an Farbe verſchiedenen
Maſſen
gebildet iſt.
Von außen hat dieſe Maſſe eine weiß-
graue
Farbe;
inwendig jedoch ſieht man, daß die graue Maſſe
nur
eine Art Umhüllung einer gelblich-weißen Maſſe iſt.
Ferner bemerkt man, daß die darmartigen Windungen, welche
man
ſehr deutlich von außen ſieht, ſich auch im Innern zeigen,
ohne
daß man jedoch imſtande iſt, im Gehirn die Windungen
zu
verfolgen, und ohne daß man berechtigt iſt, die ganze Ge-
hirnmaſſe
als eine vielfache Verſchlingung eines einzigen langen
Stranges
anzuſehen, wie das beim wirklichen Darm der Fall
iſt
.
Es zeigt vielmehr eine Vergleichung verſchiedener Ge-
hirne
viele Verſchiedenheiten in dieſen Windungen, und es
ſtellt
ſich als ſehr charakteriſtiſch heraus, daß, je ſtärker die
geiſtige
Fähigkeit der Tiere, deſto reicher die Windungen ſind;

wie
denn auch der erwachſene Menſch die reichſten Windungen
am
Gehirn zeigt, während das neugeborene Kind davon wenig
ſehen
läßt.
Unſere Figur 4 veranſchaulicht das Geſagte, wenn
wir
ſie mit Figur 1 vergleichen.
Am kleinen Gehirn zeigen ſich dieſe Windungen nicht; es
ſind
vielmehr ſehr ſauber gepreßte, regelmäßige Furchen, welche
ihm
im Anſehen eine Ähnlichkeit mit der Außenſeite einer
großen
Muſchel geben.
Schneidet man von dieſem Gehirn
ein
Stück ab, ſo ſieht man, daß ſeine oberflächlächliche, graue Maſſe
eine
weiße Maſſe umſchließt, und dieſe iſt ſo in die graue
Maſſe
hineingebettet, daß ſie von der Stelle an, wo das kleine
Gehirn
am verlängerten Mark angewachſen iſt, wie ein viel-
zweigiger
Baum ſich ausbreitet, ſo daß man, wenn man
66214 kleine Gehirn in zwei Hälften teilt, die weiße Maſſe inwendig
wie
einen Baum ſieht, deſſen feines Gezweige von grauer Maſſe
umhüllt
iſt.
Vergleicht man in dieſer Beziehung das Rückenmark mit
dem
Gehirn, ſo zeigt ſich eine merkwürdige Abweichung.
115[Figure 115]Fig. 4.
Hundegehirn
. I obere, II Seitenanſicht (linke).
A Sehſphäre, A’ centrale Region derſelben, B Hörſphäre, B’ Region für Perception
artikul
. Laute, C—J Fühlſphäre, D Hinterbeinregion, E Kopfregion, F Augen-
region
, G Ohrregion, H Nackenregion, Rumpfregion, a—g motoriſche Stellen.
I II A A A B A B B F F G G e f C C E e D E D J f a b a H H J
Während im Gehirn die graue Maſſe die weiße umſchließt,
iſt
es im Rückenmark umgekehrt.
Es beſteht dasſelbe aus-
wendig
aus weißer Maſſe, in welcher inwendig graue Maſſe
eingeſchloſſen
iſt.
Diegraue” Nervenſubſtanz beſteht aus Zellen (Fig. 5 D),
deren
Fortſätze ſich in derweißen” Subſtanz vereinigen
66315 durch den Körper verlaufend dieNervenfaſern” bilden
(Fig.
5 A, B und C).
Macht man nunmehr tiefere Einſchnitte in das große
Gehirn
, ſo kommt man an Stellen, woſelbſt ſich Höhlungen
116[Figure 116]Fig. 5.
Nervenfaſern
und Ganglien.
A
Nervenfaſer im friſchen, unveränderten Zuſtande. B Nervenfaſer, an welcher
ein
Teil der Scheide und des geronnenen Inhaltes (a b) von dem Axencylinder (c)
abgeſtreift
iſt. C Nervenfaſer mit herausragendem Axencylinder (a). D Ganglien-
zelle
, a Kern mit Kernkörperchen.
A B C D a a c b a a a c
zeigen, von denen man ſich jedoch nicht vorſtellen darf, daß
ſie
mit der Außenwelt irgendwie eine offene Verbindung haben.
Es ſind vielmehr dieſe Höhlen nur wie Lücken in der
66416 maſſe; aber Lücken, die ſich ſehr regelmäßig zeigen; Höhlen, deren
unterer
Boden hügelig und deren Wölbungen ſo beſtimmt ausge-
prägte
Formen ſehen laſſen, daß man nicht zweifelhaft ſein kann,
es
liege dieſen Bildungen ein wichtiges Naturgeſetz zu Grunde.
Es iſt ſchwer, die Lage dieſer Höhlen, wie deren Form
und
die Einzelnheiten, die ſich hierbei beobachten laſſen, durch
bloße
Beſchreibung deutlich zu machen.
Wir müſſen uns mit
der
Bemerkung begnügen, daß vier ſolcher Höhlen vorhanden
ſind
, die mit einander durch feine Kanäle in Verbindung ſtehen.
Dieſe Höhlen ſind im Vergleich mit dem Gehirn ſehr klein und,
um
irrige Vorſtellungen zu vermeiden, wollen wir gleich vor-
weg
ſagen, daß man keine Urſache hat anzunehmen, daß in
ihnen
etwa der Geiſt oder das Lebensprinzip oder die Seele,
oder
wie man ſonſt die Direktion des Gehirns und des Lebens
nennen
mag, ſeine Privatwohnung aufgeſchlagen habe.
Die Höhlen liegen tief unten im Gehirn, in der Nähe des
verlängerten
Markes und erſtrecken ſich derart von vorn nach
hinten
, daß die erſten beiden ſeitlichen Höhlen unter dem Mittel-
ſtück
liegen, auf welchem die beiden Halbkugeln des großen
Gehirns
ruhen.
Die dritte Höhle liegt weiter nach hinten in
der
Mitte und über dem verlängerten Mark;
die vierte befindet
ſich
hinten, wo das kleine Gehirn mit dem verlängerten Mark
verwachſen
iſt.
Es läßt ſich denken, daß man jede kleine Erhöhung, jede
Biegung
, jede Verbindung, jeden Gang, jedes Knötchen, das
ſich
an und um dieſe Höhlen zeigt, ſowie überhaupt jede mar-
kierte
Stelle dieſes Teils des Gehirns mit einem beſonderen
Namen
bezeichnet hat, zumal an dieſen Stellen die wichtigſten
Nervenzweige
Wurzel ſchlagen;
für unſern Zweck indeſſen würde
eine
weitere Ausführung nur das allgemeine Verſtändnis ſtören,
und
wir wollen deshalb zu den Reſultaten kommen, zu welchen
die
Unterſuchung über die Thätigkeit und Aufgabe der einzelnen
Hirnteile
bereits gelangt iſt.
66517
VI. Die Thätigkeit des großen Gehirns.
Wer es weiß, daß der Kopf der edelſte Teil des Menſchen
und
das Gehirn das eigentlich Wertvollſte am Kopfe iſt, der
wird
ſtaunen, wenn wir ihm ſagen, daß man ſowohl Menſchen
wie
Tieren ganze Stücke Gehirn abgeſchnitten hat, ohne daß der
Tod
erfolgte;
ja, wir werden ſehen, daß man Katzen, Kanin-
chen
, beſonders aber Vögeln, namentlich Tauben, nicht nur
Teile
, ſondern ganze Partien des Gehirns abſchnitt, das ganze
große
Gehirn und das kleine dazu herausnahm, um an ihrem
Thun
und Laſſen zu erproben, wozu ihnen eigentlich das
Gehirn
nütze.
Die Tiere, namentlich die Vögel, kann man lange Zeit ſo
ohne
großes und kleines Gehirn am Leben erhalten, freilich ein
Leben
, wozu dem armen Tier aller Appetit vergangen iſt.
Nur in einem Punkte verſteht das Gehirn keinen Spaß,
und
das iſt im verlängerten Mark.
Das verlängerte Mark,
dieſer
Stiel, in welchem ſich faſt alle Nervenfäden vereinigen,
die
nach dem ganzen Körper gehen, iſt der Strang, an dem
das
Leben hängt;
eine Zerſtörung dieſes Teils führt den
ſchnellſten
Tod herbei.
Ja man hat eine Stelle an dieſem
Strang
ausgemittelt, die man nur zu verletzen braucht, um
ſofort
die Atmung zu vernichten und die geſamte Lebensmaſchine
außer
Thätigkeit zu ſetzen, die keine Kunſt wieder in Gang
bringen
kann.
Es iſt dies die Stelle, in deren Nähe der ſo-
genannte
herumſchweifende Nerv”, deſſen wir bereits erwähnt
haben
, abgeht, und zwar auch nach dem Herzen, woſelbſt er
eine
Art Regulator der Bewegungen bildet, eine ſolide Rolle,
die
man dieſemHerumtreiber” gar nicht zumuten ſollte.
Bis auf das verlängerte Mark alſo iſt eine Abtragung
des
Gehirns bei Tieren, ſowohl des großen wie des kleinen,
möglich
, ohne das Leben ganz zu vernichten.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XI.
66618
Wie weit dies aber auch bei Menſchen geht, hierüber mag,
ſtatt
vieler Beiſpiele, ein einziges hier angeführt werden.
Dieſes
Beiſpiel
wird zugleich den tröſtlichen Beweis führen, daß zu-
weilen
die unvernünftigſten Handlungen eines Patienten zu
glücklich
vollführten Operationen werden.
Der Fall iſt folgender.
Ein Bedienter, der durch einen ſtarken Steinwurf eine Wunde
am
Kopfe erhielt, erkrankte derart daran, daß die Hirnmaſſe der
einen
Seite des großen Gehirns anſchwoll, durch die Schädel-
wunde
hervorragte und ſo ſtückweiſe abgeſchnitten werden mußte.

Am
35.
Tage der Krankheit, bis zu welchem die Anſchwellung
immer
noch fortſchritt, machte ſich der Patient das Vergnügen,
ſich
zu betrinken, und führte in ſeiner Trunkenheit eine glück-
liche
Operation an ſich ſelber aus, zu der die Ärzte mit gutem
Recht
den Mut nicht haben mochten.
Er riß ſich nämlich nicht
nur
den Verband, ſondern an dem hervorragenden Stück Gehirn
auch
das ganze inwendige, kranke Stück gewaltſam ab.
Am
andern
Tage zeigte ſich alles Kranke entfernt und ſein Gehirn
im
beſſern Zuſtand, obgleich ihm eine ſo ſtarke Portion der
einen
Seite des großen Gehirns fehlte, daß man durch die
Wunde
den ſogenannten Querbalken ſehen konnte, auf welchem
beide
Halbkugeln des großen Gehirns angewachſen ſind.
Der
Bediente
blieb zwar für ſein Lebelang auf einer Seite ge-
lähmt
und litt zuweilen an Krämpfen;
aber er genas doch,
und
auch ſeine geiſtigen Fähigkeiten wurden wieder vollſtändig
hergeſtellt
.
Wer jemals Kopfſchmerzen gehabt, der wird ſich vorſtellen,
daß
das Abſchneiden oder auch nur Einſchneiden in die Maſſe
des
großen Gehirns furchtbaren Schmerz verurſachen müſſe.
Dem iſt aber nicht ſo.
Die Öffnung des Schädels iſt mit Schmerz verbunden;
nicht aber ein Einſchneiden ins große Gehirn. Es liegt dies
nicht
daran, daß bei der erſten Verletzung desſelben bereits
Bewußtloſigkeit
eintritt, denn Vögel, denen man das große
66719 kleine Gehirn abgetragen hatte, verrieten den heftigſten Schmerz,
ſobald
man gewiſſe Empfindungsnerven reizte.
Es iſt ganz unzweifelhaft, daß in dieſen Halbkugeln des
großen
Gehirns die Denkkraft wohnt.
Tiere, die von Natur
wenig
Gehirn im Verhältnis zu ihrer Körpergröße beſitzen,
ſind
dumm.
Je mehr Gehirnmaſſe im allgemeinen ein Tier
im
Verhältnis zu ſeinem Körpergewicht beſitzt, deſto klüger iſt
es
.
Das neugeborene Menſchenkind bringt für ſeine Größe
eine
außerordentliche große Portion Gehirn mit zur Welt, und
wenn
auch das Gehirn nicht im gleichen Verhältnis während
des
Wachſens zunimmt wie der übrige Körper, ſo iſt doch der
Menſch
am bedeutendſten mit Gehirnmaſſe verſorgt, und auch
deshalb
das gedankenreichſte Weſen.
Bei blödſinnigen Kindern
findet
mit der Zunahme ihres Verſtandes auch die Zunahme
der
Gehirnmaſſe ſtatt.
Daß jedenfalls das geiſtige Verſtändnis in den beiden
Halbkugeln
des großen Gehirns wohnt, das zeigen zahlreiche
Verſuche
an Tieren.
VII. Eine Taube ohne Gehirn.
Wir haben bereits mitgeteilt, daß die Vögel am geeignetſten
ſind
, um Verſuche über die Thätigkeit des Gehirns mit ihnen
anzuſtellen
;
denn ſie können nach den Operationen noch lange
am
Leben erhalten werden.
Um die Erfahrungen, die man hierdurch über die Thätig-
keit
des großen Gehirns gemacht hat, näher kennen zu lernen,
wollen
wir den Bericht des Naturforſchers Rudolf Wagner
(1805—1864) hier vorführen, der an einer Taube mehrere
Monate
Beobachtungen dieſer Art angeſtellt hat.
66820
Dieſem Tiere, das man gemeinhin für äußerſt empfindſam
und
zartgebaut hält, wurde ſorgfältig der Schädel geöffnet
und
ſodann beide Halbkugeln des großen Gehirns ausgeſchnitten.
Die Operation ging ſo weit, daß die Riechnerven mit zerſtört
wurden
, auch ein Teil des Querbalkens, worauf die Halbkugeln
liegen
, wurde mit fortgeſchnitten, wobei jedoch einzelne Partien
der
hintern Seite erhalten wurden, woſelbſt die Höhlen ſich be-
finden
.
Die Taube ſchien bei dieſer Operation des Gehirns durch-
aus
nicht leidend;
in der erſten Zeit ſank ſie zuſammen, ver-
mochte
ſich aber nach einiger Zeit wieder zu bewegen.
Allein dieſe Bewegungen hörten auf, Bewegungen des
freien
Willens zu ſein.
Die Taube war, was man ſtumpf-
ſinnig
nennt, geworden.
Sie ſaß tage-, wochen-, monatelang
auf
einer Stelle.
Nur zuweilen machte ſie einen Gang durch
das
Zimmer, wobei ſie jedoch oft an Gegenſtände, die ihr im
Weg
lagen, anſtieß.
Sie konnte weder eſſen noch trinken,
ſondern
mußte künſtlich gefüttert werden, das heißt man mußte
ihr
Speiſe und Trank tief in den Mund einbringen, dort wo
man
unwillkürlich alles hinunterſchluckt, was man vor dem
Schlund
hat.
Sie pickte zuweilen mit dem Schnabel auf die
Erde
;
aber nur mechaniſch aufs Geratewohl, nie fand ſie das
ausgeſtreute
Futter.
Die Taube ſah nichts, obgleich die Pupille
ſich
ſtark zuſammenzog, ſobald man derſelben helles Licht vor-
hielt
.
Das Auge war demnach für das Licht empfindlich;
aber es fehlte das Begreifen des Geſehenen, was man eigent-
lich
das wirkliche Sehen nennt.
Da die Geruchsnerven zer-
ſtört
waren, ſo reichten die heftigſten Gerüche nicht hin, einen
Eindruck
auf das Tier zu machen.
Ohr und Ohrnerven waren
unverletzt
;
aber doch war das Tier taub, das heißt: es verſtand
nichts
von dem Gehörten, ſchreckte nicht zuſammen beim plötz-
lichen
Schall.
Die Taube ſaß die meiſte Zeit mit geſchloſſenen
Augen
und öffnete ſie nur zuweilen, wenn man ſie anſtieß.
66921 Das Gehen verſtand ſie; aber ſie bewegte ſich nur, wenn ſie
hierzu
von außen her gereizt wurde.
Wenn man ſie in die
Luft
warf, ſo fiel ſie unter Flugbewegungen nieder, vermochte
aber
nicht Zäune, Mauern oder, was ihr ſonſt im Wege war,
zu
meiden.
Wo ſie hinfiel, blieb ſie ſitzen, und war nur zu
einem
Geſchäft aufgelegt, nämlich ſich zuweilen zu kratzen und
ihre
Federn zu putzen.
Hierbei atmete das Tier, wie ſich’s von
ſelbſt
verſteht, das Herz ſchlug, der Magen verdaute, der Darm
verrichtete
ſeine Dienſte;
es war mit einem Worte ein Weſen,
das
nur ein Leben im fortwährenden Schlafe führte, ein Leben
ohne
Bewußtſein, ohne Schmerz, ohne Luſt, ohne Hunger, ohne
Durſt
, ohne Bewegung, ohne Empfindung, eine Art Pflanzen-
leben
, das man das vegetative Leben nennt.
Hieraus geht hervor, daß die beiden Halbkugeln des großen
Gehirns
ſo eigentlich nichts mit der Bewegung des Tieres und
mit
der Empfindung desſelben zu thun haben;
es iſt vielmehr
das
große Gehirn der Sitz des Bewußtſeins, ein Bureau für
das
, was man Geiſt nennt, für das, mit welchem Alles, was
die
Sinne dahin rapportieren, verſtanden wird.
Wenn die
Taube
ohne großes Gehirn doch noch Bewegungen machte, ſo
ſind
ſie den Bewegungen, die auch Schlafende ausführen, gleich
zu
achten, Bewegungen, die nicht aus dem Willen entſpringen,
ſondern
hervorgehen aus einem Reiz, der von innen oder außen
auf
den Körper wirkt und ihn veranlaßt, ſeine Lage zu ändern.
Zu welchem Zwecke nun ſind zwei ſolche Halbkugeln des
großen
Gehirns nötig?
Dieſe Frage läßt ſich aus der bloßen
Beſtimmung
des großen Gehirns nicht beantworten.
Es läßt
ſich
vielmehr leicht einſehen, daß zwei beſondere Bureaus für
den
Verſtano zuweilen ſogar ſtörend ſein könnten.
Wenn in
dem
einen Bureau, in der rechten Hirnhälfte z.
B. der Ver-
ſtand
ein wenig anders urteilte als in der linken, ſo könnte
freilich
manche Konfuſion daraus entſtehen.
Indeſſen zeigen
Beiſpiele
, daß es ſich mit den zwei Hälften des
67022 Gehirns ungefähr ſo verhält wie mit den zwei Augen. Man
ſieht
mit zwei Augen zwar anders, aber doch nicht mehr als
mit
Einem, und Schielende ſehen ſogar mit einem Auge ſchärfer
als
mit beiden;
aber dennoch unterſtützen die Augen ſich inſofern,
als
ſie ſich ablöſen können, und wenn eins beſchädigt iſt, freut
man
ſich gewiß ſehr, noch ein zweites als vortreffliche Reſerve
zu
beſitzen.
Es ſcheint mit den beiden Halbkugeln des großen
Gehirns
auch ſo zu ſein.
In ihnen wohnt das Bewußtſein,
und
zwar in beiden zugleich und, wie es ſcheint, übereinſtimmend.
Möglicherweiſe kann in der That Geiſtesverwirrung entſtehen
aus
einer Ungleichheit in der Thätigkeit beider Hälften, eine
Art
geiſtigen Schielens, in welchem der Verſtand die Sachen
ſchief
ſieht.
Das aber ſteht feſt, daß, wenn eine Halbkugel ver-
loren
geht, doch die andere ſtatt ihrer die ganze Arbeit über-
nimmt
und ebenſo für den ganzen Körper denkt, als es früher
beide
thaten.
Das Beiſpiel des Bedienten, deſſen wir bereits erwähnten,
bei
welchem der volle Verſtand ſich wieder einſtellte, trotzdem
er
ſich eine Halbkugel des großen Gehirns faſt ganz zerſtört
hatte
, wird hinreichen, zu zeigen, daß man keineswegs mit
einem
halben Gehirn nur etwa bei halbem Verſtande zu ſein
braucht
;
ebenſowenig wie man mit nur einem Ohr, einem
Auge
etwa nur halb ſo viel hört und ſieht als mit beiden.
VIII. Was das kleine Gehirn zu thun hat.
Die Verſuche, die man über die Thätigkeit des kleinen
Gehirns
angeſtellt hat, ſind weder ſo zahlreich noch ſo ſicher
wie
die über das große.
Das kleine Gehirn liegt zu ſehr ver-
ſteckt
unter dem großen, um ihm beikommen zu können,
67123 das große bedeutend zu verletzen, und verletzt man das große
Gehirn
ſamt dem kleinen, ſo läßt ſich nicht mit Sicherheit ſagen,
welche
Erſcheinungen von der Verletzung des großen oder von
der
Vernichtung des kleinen Gehirns abhängen.
Auf anderm
Wege
dem kleinen Gehirn beizukommen, wie etwa durch Öffnung
des
Hinterkopfes, gehört zu den ſchmerzhafteſten Operationen,
die
das Leben des Tieres gefährden, und iſt ein ſo heftiger
Eingriff
in das Leben, daß man dann erſt recht nicht weiß,
wie
viel man von den Erſcheinungen, die ſich zeigen, auf Rech-
nung
der Verſuche am kleinen Gehirn zu ſchreiben hat.
Dieſer Umſtand dient freilich den Naturforſchern zur Ent-
ſchuldigung
, wenn ſie erſt ſpät über die ſpezielle Thätigkeit des
kleinen
Gehirns etwas ſagen konnten.
Die Forſcher haben es nicht an Ausdauer und Mühe fehlen
laſſen
, und es ſtellt ſich übereinſtimmend bei ihnen folgendes
Reſultat
ziemlich ſicher feſt.
Das kleine Gehirn zeigt in ſeinen oberflächlichen Teilen
gar
keine Empfindung.
Man kann Scheiben davon abſchneiden,
ja
es teilweiſe abſchälen, ohne dem Tier Schmerz zu verurſachen.
Das kleine Gehirn hat direkt nichts mit dem zu thun,
was
man den Geiſt nennt.
Das Tier, dem man ohne ſtarke
Verletzung
des großen Gehirns das kleine abgetragen, beſitzt
Willen
, Bewußtſein und Empfindung.
Es macht Verſuche zu
entfliehen
, es weicht aus, wenn man es ſchlagen will, es ſchreit,
wenn
man ihm an irgend einer Stelle des Leibes Schmerz
verurſacht
.
Das kleine Gehirn iſt alſo keineswegs eine Art
Zugabe
zum großen Gehirn, denn Wille, Bewußtſein und Em-
pfindung
, die im großen Gehirn wohnen, haben im kleinen
keineswegs
ein beſonderes Abſteigequartier.
Auch auf die Bewegungsfähigkeit des Tieres hat das kleine
Gehirn
keinen direkten Einfluß, das heißt, das Tier, dem man
das
kleine Gehirn abgetragen, iſt imſtande, nach ſeinem Willen
oder
auf äußere Anregung jedes Glied ſeines Leibes
67224 zu bewegen. Aber dennoch zeigt ſich ein bedeutender Einfluß
auf
die Bewegungen des Tieres, und zwar derart, daß man
auf
die Vermutung kommt, daß im kleinen Gehirn die Zu-
ſammenſtellung
und Anordnung der Bewegungen ſtattfindet.
Die Tiere verlieren mit dem kleinen Gehirn die Fähigkeit,
ihre
Bewegungen zweckmäßig zu ordnen.
Ihr Gang wird
unbeſtimmt
, drehend, ſchwankend, nach rechts, nach links, ſogar
rückwärts
.
Sie können die Glieder beliebig bewegen und haben
auch
den Willen hierzu, indem ſie offenbar die Abſicht haben,
nach
einer beſtimmten Stelle hinzugehen;
allein um dies aus-
führen
zu können, dazu gehört eine genaue Anordnung in der
Zuſammenziehung
der Muskeln, in der Stellung der Beine,
in
der Haltung des Schwerpunktes.
Im kleinen Gehirn ſcheint
dieſe
Fähigkeit, dieſer Ordnungsſinn, dieſes Wiſſen, was früher
und
was ſpäter geſchehen muß, um den beſtimmten Zweck zu
erreichen
, zu liegen;
man geht, läuft, ſpringt, man macht die
mannigfachſten
Bewegungen mit ſeinem Körper, und alles mit
einem
richtigen Aufeinanderfolgen, ſobald das kleine Gehirn
geſund
und thätig iſt.
Fehlt dieſe Thätigkeit, oder vernichtet
man
das kleine Gehirn, ſo hört dieſe Fähigkeit, die Einzel-
heiten
der Bewegungen ſo zu ordnen, daß eine zweckmäßig
zuſammengeſetzte
Bewegung daraus entſpringt, auf;
und die
Bewegungen
werden widerſprechend und reſultatlos.
Der unſichere Gang der Betrunkenen rührt vielleicht von
einer
Schwächung der Thätigkeit des kleinen Gehirns her, und
auch
die Unordnung ihrer Gedanken hat möglicherweiſe hierin
ihren
Urſprung.
Wer ſich ſelbſt bei einem leichten Rauſch auf-
merkſam
beobachtet hat, der wird auch wahrgenommen haben,
daß
man die Fähigkeit, die Worte richtig zu ordnen, auf
Momente
verliert, ja ſogar die Buchſtaben eines Wortes wider
Willen
verkehrt, z.
B. ſtattfalſche”Flaſche” ſpricht, obwohl
man
ſeinen Irrtum einſieht, und mit einiger Anſtrengung die
richtige
Ordnung herausbringt.
67325
Im kleinen Gehirn ſcheint demnach das Bureau für das
zu
ſein, was man die Zuſammenſtellung der Einzelheiten nennt
die
bei allen Lebensthätigkeiten nöthig iſt.
IX. Von der Schädellehre.
Faßt man das, was wir von der Wirkſamkeit des großen
und
kleinen Gehirns geſagt haben, zuſammen, ſo läßt ſich nicht
in
Abrede ſtellen, daß von ſeiner Ausbildung, ſeiner Form
die
geiſtige Befähigung der Geſchöpfe abhängt.
Es iſt klar,
daß
man hierdurch dem Gedanken nahe geführt wird, es möge
wohl
die Geſtalt des menſchlichen Gehirns auch maßgebend
für
die geiſtigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Menſchen ſein.
Allein wenn man dieſem Gedanken die Ausdehnung giebt,
welche
in der ſogenannten Schädellehre liegt, wie ſie noch jetzt
hin
und wieder betrieben wird, ſo iſt man von einem kleinen,
richtigen
Prinzip auf einen weiten, großen Irrtum geraten.
DieSchädellehre”, wie ſie Gall (1758—1828) und ſeine
Jünger
ausbildeten, hegt den Irrtum, daß man aus der Form
des
Schädels eines Menſchen auch alle ſeine beſonderen geiſtigen
Fähigkeiten
, moraliſchen Eigenſchaften und natürlichen Triebe
herausfühlen
könne.
Zu dieſem Zweck wurde der Schädel des
Menſchen
ziemlich willkürlich in ganz ſpezielle Teile
eingeteilt
und jeder beſonderen Erhöhung und Vertiefung,
Biegung
und Neigung ein beſonderer Charakter beigelegt, in
welchen
man hier den Geiz, dort die Verſchwendung, hier das
Gedächtnis
, dort die Grauſamkeit u.
ſ. w. ſuchen und finden
ſollte
und wollte.
Gall unterſchied 27 im Gehirn lokaliſierte Fähigkeiten, für
die
er zur Bezeichnung bald die Worte Sinn, bald auch
67426 ſtinkt und Talent, ſogar Gedächtnis gebraucht, ohne ſich auf
deren
verſchiedene Bedeutung näher einzulaſſen.
Er unter-
ſcheidet
Ortsſinn, Sprachſinn, Farbenſinn, Kunſtſinn u.
ſ. w.
117[Figure 117]Fig. 6.19 18 14 13 C D 22 16 15 12 27 36 23 21 B 11 4 32 20 10 3 31 23 346 26 21 25 35 30 8 7 A 1 Die ſogenannten Geiſtesvermögen: Wahrnehmung, Verſtand,
Wille
A.
, bleiben unberückſichtigt. Die Gallſchen Lehren machte
namentlich
Spurzheim (1776—1832) zu den ſeinigen
67527 ſuchte ſie weiter auszubilden, ſodaß ſchließlich die Phrenologie
auf
37 ſolcher Grundkräfte ſich ausdehnte.
Beiſtehende Fig. 6 zeigt die Lage, welche Gehirnorgane
für
dieſe Grundkräfte im Innern des Schädels haben ſollen.
Zunächſt dem Rückenmark und dem verlängerten Gehirn, dem
wichtigſten
Organ für die Lebenserhaltung, liegen diejenigen
Thätigkeiten
, welche dem Leben ſelbſt und deſſen Übertragung
auf
kommende Generationen in nächſter Beziehung ſtehen.

Tief
im Nacken des Kopfes liegt daher das Organ der Ge-
ſchlechtsliebe
, welche mit 1 bezeichnet iſt;
darüber ſehen wir
unter
A einen Geiſtlichen, welcher ein junges Paar einſegnet,
das
iſt der Sitz der Gattenliebe, welcher ſich weſentlich von
der
Geſchlechtsliebe im allgemeinen unterſcheidet.
Daneben am
Hinterkopfe
ſieht man eine Mutter mit vielen Kindern, das iſt
der
Sitz der Kinderliebe.
Über A ſieht man ein paar Mädchen,
welche
die Geſchwiſterliebe andeuten ſollen;
dahinter unter Nr. 4
befindet
ſich die Heimatsliebe.
Vor A und der Zahl 3 liegt
das
Organ der Streitſucht, der Kampfluſt, und hinter dem
und
über dem Ohr iſt der Mordſinn zu finden;
vor dem Ohre
aber
, mit 8 bezeichuet, der Geſelligkeitstrieb.
Bei 9 erblicken
wir
den Geiz.
Über dem Mordſinn ſehen wir, mit 10 be-
zeichnet
, eine lauernde Katze;
ſie giebt uns das Organ der
Schlauheit
, der Liſt, der Falſchheit an.
Darüber ſehen wir
in
Nr.
11 einen diebiſchen Raubvogel auf das Neſt einer
Henne
herabſtoßen, das iſt der Diebsſinn, der Aneignungsſinn.

Unter
13 nehmen wir den Höhenſinn oder die Hoffahrt wahr,
welchen
Gall nur bei hochmütigen Narren und bei den Gemſen
gefunden
hat.
5 deutet uns Kunſtſinn und Emſigkeit an.
Sehr abgeſondert von dieſen am Hinterhaupte und an der
Baſis
derſelben liegenden Organen iſt noch das mit 19 bezeichnete,
Tieren
und Menſchen gemeinſchaftliche Organ der Gutmütigkeit
am
oberſten Teile des Stirnbeins, daneben unter 18 Reſpekt und
Furcht
vor dem Mächtigeren, Höheren und unter 14 Eigenſinn.
67628
Nun kommen die Gefühle, welche dem Menſchen allein
eigen
ſind.
Unter B ziemlich in der Mitte der Zeichnung der
Sinn
für Hoheit;
daneben bei 21 der Idealitätsſinn; bei 20,
unmittelbar
darunter, der Sinn für Mechanik, 12 läßt uns
die
Höflichkeit wahrnehmen, 15 die Gewiſſenhaftigkeit, 16 die
Hoffnung
, 17 die Gläubigkeit, 22 den Nachahmungsſinn, 23
die
Neigung zum Scherz, zum Frohſinn.
24 ganz vorn, un-
mittelbar
über der Naſe, zeigt uns den Beobachtungsſinn.
25 an den vorderen Augenwinkeln iſt der Formſinn, 26 der
Vergleichs-
oder Maßſinn, beſonders ſoweit er auf Schätzung
durch
das Auge beruht, alſo Augenmaß.
27 über dem Auge
ſoll
uns den Sinn für equilibriſtiſche, für Turnerkünſte zeigen.

28
giebt uns den Farbenſinn, 29 den Ordnungsſinn.
30, nur
mit
einer Zahl, nicht mit einem Bilde bezeichnet, ſoll die
Stelle
des Zahlenſinnes ſein.
Unter der Reihe der hier an-
gegebenen
Organe liegt noch eins mit 35 bezeichnet, gerade
auf
dem Weißen des Auges.
Dahinter, alſo hinter der Naſen-
wurzel
, ſoll der Sprachſinn liegen.
Über eben dieſer gedachten
Reihe
von Organen liegt zunächſt der Stirne Nr.
32, mit
einem
Buch bezeichnet, der Erinnerungsſinn, und bei 31, da-
mit
zuſammenhängend, der Ortsſinn.
Bei 33 der Sinn für
Zeitmaß
und daneben der verwandte Tonſinn unter 34.
Dar-
über
ſehen wir bei 36 den Urſachenſinn und bei 37 den Unter-
ſuchungs-
, Vergleichungsſinn, hierüber wieder unter C den
Sinn
für Unterſuchung der Menſchennatur und in D die Ge-
fallſucht
, die Anmut, den Wunſch, ſchön gefunden zu werden.
Welcher Weiſe die Beobachtungen waren, auf welche Gall
ſeine
Schlüſſe gründete, geht aus Angaben Spurzheims hervor:
Zwei Perſonen in Wien waren wegen ihrer außerordentlichen
Unentſchloſſenheit
bekannt.
Gall ſtellte ſich deshalb eines Tages
an
einem öffentlichen Orte hinter ſie und betrachtete ihre Köpfe.

Er
fand, daß dieſelben oben und hinten zu beiden Seiten der
Spitze
ſehr breit waren, und dieſe Beobachtung gab die
67729 Idee dieſes Organs”. Von einer eingehenden anatomiſchen
und
phyſiologiſchen Beobachtung war hierbei ebenſo wenig die
Rede
wie von einer Analyſe der pſychiſchen Funktionen;
daher
iſt
es erſtaunlich, wie eine derartige rein willkürliche und un-
geheuerliche
Hypotheſe ſeinerzeit das Aufſehen erregen und
gläubige
Hörer finden konnte.
Schon die erſte Vorausſetzung
der
Schädellehre, nämlich der Parallelismus der Schädel- und
Hirnform
, widerſpricht den Thatſachen.
Eine wirkliche naturwiſſenſchaftliche Grundlage iſt alſo für
eine
ſo eingehende Schädellehre durchaus nicht vorhanden.
Es
iſt
wahr, daß der Schädel, alſo die Knochendecke des Gehirns,
der
Form des Gehirns entſpricht.
Es iſt auch richtig, daß im
allgemeinen
abweichende Formen dieſes Schädels abweichende
Formen
des Gehirns anzeigen, und man darf zugeſtehen, daß
die
Formen des Gehirns auch auf den Charakter des Menſchen
von
weſentlichem Einfluß ſind.
Allein diejenigen ſpeziellen
Eigenſchaften
, welche man am Schädel und beſonders in jeder
einzelnen
Stelle desſelben ſucht und finden will, ſind teilweiſe
gar
nicht ſo einfach, wie die Namen der Dinge vermuten
laſſen
, teils ſind ſie nicht bloße Natureigenſchaften, ſondern
müſſen
erſt aus dem Umgangsleben der menſchlichen Geſell-
ſchaft
entſpringen und erhalten ihren wirklichen Wert erſt
durch
die Verhältniſſe, unter denen ſie zum Vorſchein kommen.
Was beim ReichenGeiz” genannt werden muß, kann beim
Armen
weiſe Sparſamkeit ſein, was unter gewiſſen Verhält-
niſſen
für Mitleid gilt, kann unter veränderten Verhältniſſen
Charakterſchwäche
genannt werden;
dieſelbe Handlung, die heute
eine
Tugend iſt, kann morgen unter andern Zuſtänden als
gräuliches
Laſter gelten.
Sind alſo ſchon die Handlungen ſo
unſicher
zu bezeichnen, um wieviel größere Unſicherheit muß
darin
herrſchen, wenn man die bloße Fähigkeit oder die bloße
Neigung
zu Handlungen zum Gegenſtand eines Urteils nimmt!
Es iſt zwar ſicher, daß die einzelnen Teile des
67830 beſtimmten Gebieten der Geſamtintelligenz entſprechen, ſo kennt
man
z.
B. die Stellen, welche der Seh- und Sprachfähigkeit
entſprechen
, ganz genau, aber immerhin hat die Schädellehre
vorläufig
nur in ihren allgemeinſten Zügen einigen naturwiſſen-
ſchaftlichen
Wert, und dieſe allgemeinen Züge wollen wir hier
vorführen
.
Eine ſtarke Ausbildung des großen Gehirns läßt auf eine
größere
geiſtige Befähigung ſchließen.
Wir haben bereits die
Beobachtung
Leubuſchers angeführt, daß ſogar geiſteskranke
Kinder
in ihrer Geneſung ein ſtärkeres Wachstum des großen
Gehirns
zeigen, eine Beobachtung, die dadurch unterſtützt wird,
daß
wirklich vom Tierreich bis zum Menſchenreich, wie in dem
Menſchenreich
durch die verſchiedenen Raſſen eine Art Stufen-
folge
ſich nachweiſen läßt, wo namentlich die ausgebildete
Wölbung
der Stirn auch auf die höhere geiſtige Fähigkeit hin-
weiſt
.
Aus dieſer Stufenfolge ergiebt ſich im Allgemeinen, daß
Tiere
, bei welchen die Schnauze weit aus dem Schädel hervor-
ragt
, geiſtig ſehr unfähig ſind;
Tiere jedoch, bei welchen der
Schädel
mehr nach vorn gerückt iſt, einer größeren geiſtigen
Thätigkeit
fähig ſeien.
Obwohl dies keineswegs durchgehend
richtig
iſt, und zum Beiſpiel das klügſte Pferd einen aus dem
Schädel
weiter hervorragenden Mund als der dümmſte Ochſe,
der
gelehrige Pudel eine hervorſtehendere Schnauze als der
dumme
Mops hat, ſo liegt im allgemeinen doch eine Wahrheit
darin
, und wenn man beſonders die Menſchen in ihren ver-
ſchiedenen
Raſſen mit den Affen vergleicht, ſo ſieht man wohl,
daß
der hervorragende oder abgeflachte, zurücktretende Schädel
ein
Zeichen für die geiſtige Befähigung iſt.
Der Europäer hat meiſtens eine ſehr hervorragende Stirn,
ſodaß
der Mund ſehr wenig beim aufrecht gehaltenen Kopfe
vorſteht
.
Menſchen, bei welchen der Mund auch nur ein wenig
mehr
als gewöhnlich vorſteht, haben ein tieriſches Anſehen
67931 laſſen ſelten beſondere Geiſtesfähigkeit gewahren. Bei den
Negern
tritt der Schädel ſehr bedeutend zurück, und es iſt gewiß
richtig
, wenn man ſich dieſelben im allgemeinen auf einer un-
ausgebildeteren
Stufe der geiſtigen Fähigkeit denkt.
Der Unter-
ſchied
iſt hierin zwiſchen gewiſſen Negerraſſen und Europäern
ſo
groß, daß er noch größer iſt als der Unterſchied zwiſchen
dieſen
Negerraſſen und den fähigſten Affenraſſen.
Man
ſchätzt
daher auch ſchon im gewöhnlichen Leben einen Menſchen
mit
hoher Stirn für klug und geht in dieſem Punkte meiſt
nicht
fehl, wenn es auch nicht immer ausgemacht iſt, daß dieſer
Menſch
ſeine geiſtige Fähigkeit in gehörigem Maße geübt
hat
und richtig ausübt.
Auch die weitere Form des Schädels,
ob
er ſpitz, eckig oder fein gerundet, leicht gewölbt, ſchmal oder
breit
iſt, mag gewiſſe Anhaltspunkte für das erſte Urteil über
die
allgemeine geiſtige Fähigkeit abgeben;
mehr aber darf man
von
der ſogenannten Schädellehre vorläufig nicht erwarten,
wenigſtens
ſteht es von einzelnen ihrer Lehren feſt, daß ſie
den
gründlichſten Forſchungen und deren Reſultaten wider-
ſprechen
, und auf nichts als eingebildeten Vorurteilen beruhen.
Man darf allerdings die Hoffnung hegen, daß im Lauf
der
Zeit ſich auch eine auf wiſſenſchaftlicher Grundlage ruhende
Schädellehre
wird aufſtellen laſſen.
X. Thätigkeit und Ruhe.
Wir haben von der Thätigkeit des Gehirns geſprochen
und
eine Reihe von Erſcheinungen aus dieſem Gebiete der
Naturwiſſenſchaft
aufgeführt;
wir müſſen jetzt von dem Mangel
der
Thätigkeit, von der Ruhe des Gehirns ſprechen, von der
Ruhe
, die mit zum Merkzeichen des tieriſchen Lebens gehört.
68032
In der ſogenannten toten Natur findet eine Abwechſelung
zwiſchen
Ruhe und Bewegung nicht ſtatt;
wenigſtens iſt ſolche
Abwechſelung
nicht von regelmäßigen Perioden begleitet.
Die
Planeten
bewegen ſich um die Sonne ohne Aufhören, ohne
Unterbrechung
, ohne Ruhe.
Die Sonnen des Weltraums durch-
wandern
ihre Bahnen in unausgeſetzter Bewegung, in unauf-
hörlicher
Thätigkeit, wenn man dieſes eine Thätigkeit nennen
will
.
Umgekehrt finden wir, daß ein Stein, der einmal zur
Erde
gefallen iſt und auf derſelben ruht, in dieſer Ruhe un-
ausgeſetzt
verharrt, und ohne Einwirkung einer neuen Urſache
ſich
nicht in Bewegung ſetzt.
Zwar wirken chemiſche und über-
haupt
Natureinflüſſe auf ihn ein und veranlaſſen, daß ſelbſt
Steine
wandern und ſich verwandeln;
allein immer ſind Thätig-
keit
und Ruhe in ſolchen Fällen nicht eine innere Notwendig-
keit
des Steines, ſondern eine Folge äußerer Einflüſſe.
Anders ſchon iſt es bei dem Leben der Pflanzen der Fall.
Hier treten ſchon Erſcheinungen ein, die abwechſelnde Thätigkeit
und
Ruhe andeuten, und das hervorrufen, was man den Schlaf
der
Pflanzen nennt.
Bei dem ſogenannten Schlaf der Pflanzen
laſſen
ſie die Blätter mehr ſinken oder falten ſie irgendwie
zuſammen
, gewiſſe Blüten ſchließen ſich knoſpenartig, viele
riechende
Blumen duften des Nachts ſtärker, und die Ernährung
der
Pflanzen iſt nachts anders als am Tage.
Zwar ſpielt
hierbei
das Licht der Sonne die Hauptrolle.
Bei totalen
Sonnenfinſterniſſen
bemerkt man auch mitten am Tage ſolche
Erſcheinungen
des Pflanzenſchlafes, und man hätte demnach
Urſache
, anzunehmen, daß dieſe Erſcheinungen nicht aus innern
Trieben
der Pflanzen, ſondern von äußern Einflüſſen abhängig
ſeien
.
Allein einerſeits zeigt es ſich, daß auch Tiere bei Sonnen-
finſterniſſen
zur Ruhe eilen, Tiere, die doch ſicherlich nur durch
Ermüdung
zur Ruhe genötigt werden.
Andererſeits haben Ver-
ſuche
an Pflanzen gezeigt, die man bei künſtlicher Finſternis
und
künſtlichem Lichte wachſen ließ, daß der ſogenannte
68133 der Pflanzen nicht bloß vom Sonnenlichte abhängig iſt, ſondern
mit
den Lebenserſcheinungen der Pflanzen ſelber im Zuſammen-
hang
ſteht.
In der Thätigkeit des Tierlebens tritt dieſes Ruhen noch
weit
charakteriſtiſcher hervor;
denn es tritt hier ein außerordent-
lich
regelmäßiger Wechſel zwiſchen Bewegung und Ruhe ein.
Schon das Pflanzenleben des Tieres iſt hierin verſchieden
von
dem Leben der wirklichen Pflanze.
Das Herz des Tieres
iſt
gewiß das Organ, welches das unermüdlichſte genannt
werden
kann.
Das Herz iſt durch das ganze Leben hindurch
thätig
, und treibt das Blut im Rundlauf durch den Körper.
Dennoch iſt die Thätigkeit des Herzens pauſenartig eingeteilt;
jede
Herzkammer zieht ſich einen Moment zuſammen, läßt dann
nach
und erſchlafft, um ſich ſodann im Takt des Pulſierens
wieder
zuſammenzuziehen.
Man ſieht alſo ſelbſt in dem un-
ausgeſetzt
thätigſten Organ des Tieres eine pauſenartige Thätig-
keit
, eine Kraftanſtrengung und eine Ruhe jeder Herzkammer
abwechſeln
.
Man kann von jeder Herzkammer ebenſo gut ſagen,
ſie
ſei unermüdlich in ihrer Thätigkeit, wie man behaupten
kann
, ſie ſei am ſchnellſten ermüdet;
denn ſie ruht nach jeder
Kraftanſtrengung
einen Moment aus.
Ähnlich wie beim Herzſchlag iſt es bei der Thätigkeit der
Lungen
, beim Atmen.
Das Einatmen iſt die Thätigkeit, das
Ausatmen
iſt ein Nachlaſſen dieſer Thätigkeit.
Dies wechſelt
pauſenartig
ab, und obwohl eine ganze große Reihe von Muskeln
thätig
ſein muß, um vollkommen einatmen zu können, ſo iſt doch
die
Einrichtung derart, daß alle dieſe verſchiedenen Muskeln
die
Erweiterung des Bruſtkaſtens gleichzeitig nach einer ganz
beſtimmten
Ordnung veranlaſſen, und ebenſo ordnungsmäßig
und
übereinſtimmend iſt das Erſchlaffen derſelben, welche das
Einſinken
des Bruſtkaſtens und ſomit die Ausatmung bewerk-
ſtelligen
.
Kann man die Thätigkeit des Herzens die Thätigkeit einer
A. Bernſtein, Naturw. Volkſbücher XI.
68234
Pumpe nennen, welche ſtoßweiſe wirkt, ſo kann man die Thätig-
keit
der Lunge der eines Blaſebalges gleichſtellen, welcher
gleichfalls
pauſenartig ſein Geſchäft verrichtet.
Auch bei den Pflanzen findet ſich ein Umlauf der Säfte
und
eine Atmung, allein bei der Pflanze findet nicht dieſes
Thätigſein
und Ruhen ſtatt.
Die Pflanze hat keinen Puls-
ſchlag
und keine Atemſtöße;
ihre Thätigkeit iſt nicht ſo ent-
ſchieden
wechſelnd, zu ihrem Leben iſt die Ruhe nicht ſo geſetz-
mäßig
notwendig.
Auch die übrigen Thätigkeiten des pflanzlichen Lebens der
Tiere
ſind pauſenartig eingerichtet, wo Thätigkeit und Ruhe
abwechſeln
.
Die Pflanze nimmt ohne Pauſe Nahrung in ſich
auf
;
das Tier ißt eine Zeitlang, um ſodann eine Zeitlang zu
pauſieren
.
Die Pflanze ſcheidet unausgeſetzt Stoffe ab; das
Tier
verrichtet auch ſeine Ausſcheidungen pauſenartig.
Und ſo
verhält
es ſich mit allen Thätigkeiten des lebenden Tierkörpers,
ſie
werden durch Ruhepauſen unterbrochen und wechſeln mit
ihnen
ab.
Da aber das Tierleben, wie wir geſehen haben, ein Nerven-
leben
iſt, ſo müſſen wir wohl dieſe Abwechſelung von Thätig-
keit
und Ruhe im Weſen der Nerven vermuten, und in der
That
werden wir ſehen, wie Ruhe, Ermüdung und Schlaf ſehr
innig
mit dem Weſen der Nerven zuſammenhängen.
Indem wir auf eine Eigentümlichkeit der Nerventhätigkeit
eingehen
wollen, welche darin beſteht, daß ſie pauſenartig iſt,
daß
ſie nach einem Moment der Thätigkeit eines Moments der
Ruhe
bedarf, um dann wieder thätig ſein zu können, wollen
wir
hier eine merkwürdige Thatſache anführen, die den Beweis
führt
, daß nicht nur in lebenden Tieren, ſondern auch in vom
Körper
getrennten Muskeln dieſe Pauſen zu bemerken ſind.
Wenn man an einem Froſchſchenkel oder ſonſt an einem
Gliede
eines eben getöten Tieres den Nerv elektriſiert, der im
Leben
die Bewegung der Muskeln dieſes Teils
68335 ſo bewegt ſich oder richtiger zuckt der Schenkel oder das Glied
zuſammen
.
Die Zuckung geſchieht im Moment, wo man die
elektriſche
oder richtiger galvaniſche Kette ſchließt, ſodann hört
ſie
auf, ſo lange man die Kette geſchloſſen hält und tritt in
dem
Moment wieder ein, wo man den galvaniſchen Strom
wieder
unterbricht.
In ſolchem Falle hat man alſo zwei
Zuckungen
des Muskels, die ſich ſehr deutlich erkennen und
ſondern
laſſen.
Trifft man aber die Einrichtung, daß die gal-
vaniſche
Kette ſehr ſchnell und fortdauernd geſchloſſen und ge-
öffnet
wird, ſo zuckt der Muskel nicht mehr, ſondern er bleibt
dauernd
zuſammengezogen.
Man erkennt ſehr leicht, daß der
Muskel
nicht Zeit hat, ſich abwechſelnd zuſammenzuziehen und
zu
erſchlaffen, ſobald das Schließen und Öffnen der galvaniſchen
Kette
ſehr ſchnell aufeinander folgt, er bleibt alſo zuſammen-
gezogen
.
Dieſer einen Thatſache reiht ſich nun noch eine
zweite
an, die merkwürdiger iſt.
Wenn man eine Zeitlang ſolch’ einen Muskel galvaniſch
gereizt
hat, ſo tritt eine Zeit ein, wo er ſich auf eine neue
galvaniſche
Reizung nur ſehr ſchwach zuſammenzieht.
Läßt
man
ihn hierauf eine Zeitlang in Ruhe, ſo erholt er ſich wieder,
und
ſeine Zuſammenziehungen ſind infolge neuer galvaniſcher
Reize
wieder kräftig und dauernd.
Aus ſolchen Erſcheinungen, die bei den Muskeln ſo lange
anhalten
, bis die Zeit der Leichenſtarre eintritt, ergiebt ſich ein
richtiger
und wichtiger Schluß auf die Thätigkeit der Muskeln
in
lebenden Körpern.
Es iſt ausgemacht, daß alle Zuſammenziehungen der
Muskeln
in lebenden Tieren nur von der Thätigkeit der Nerven
abhängen
;
wir wiſſen, daß bei Verletzungen der Nerven die
von
ihnen regierten Muskeln ſich nicht zuſammenziehen können.
Wahrſcheinlich werden die Nerven vom Gehirn ganz ſo wie
durch
galvaniſche Reizung angeregt, und es läßt ſich vermuten,
daß
wenn wir einen Muskel willkürlich dauernd
68436 ziehen, wir dies nur infolge einer ſehr ſchnell aufeinander fol-
genden
Anregung des Nerven thun, ſo daß z.
B. eine Zuſammen-
ziehung
eines Muskels während einer Minute von einer außer-
ordentlich
großen Zahl von Nervenanregungen herrührt, die ſo
ſchnell
aufeinander folgen, daß der Muskel nicht zwiſchen einer
und
der andern Anregung Zeit hat, zu erſchlaffen.
Sicherer noch als dies iſt Folgendes: Ganz ſo wie ein
vom
Körper getrennter Muskel ermüdet, und erſt durch Ruhe
wieder
fähig wird zu wirken, ganz ſo iſt es mit der Ermüdung
unſerer
lebenden Muskeln, einer Ermüdung, die verſchwindet,
wenn
wir unſern Muskeln eine Zeit der Ruhe gönnen.
Da aber die Nerven es eigentlich ſind, welche die Thätig-
keit
der Muskeln anregen, ſo muß man annehmen, daß die
Nerventhätigkeit
ſo beſchaffen iſt, daß ſie nur in Pauſen wirkt,
daß
alſo die Nerven es eigentlich ſind, welche ermüden, daß
die
Nerven es ſind, welche, um wieder ihre Thätigkeit zu er-
neuern
, der Ruhe bedürfen.
Ermüdung, Ruhe, Schlaf ſind daher eigentümliche Zu-
ſtände
der Nerven;
ſie ſind denjenigen Weſen eigentümlich,
welche
ihr Leben der Thätigkeit der Nerven zu verdanken haben.
Die Tiere werden demnach müde, wenn ihre Muskeln ſich durch
Nervenreize
andauernd und wiederholentlich zuſammengezogen
haben
, wie dies bei allen Bewegungen des Körpers der Fall
iſt
.
Sie bedürfen der Ruhe, um neue Anſtrengungen machen
zu
können, ganz ſo wie dies bei den Muskeln ſtattfindet.
Da
aber
auch die Gehirnthätigkeit eine Nerventhätigkeit iſt, ſo muß
auch
hier eine Zeit der Ruhe eintreten, in welcher die Thätig-
keit
unterbrochen wird, und dieſe Gehirnruhe iſt der Schlaf.
Daß es bei den Menſchen ebenſo iſt, weiß wohl Jeder,
und
wir werden ſpäter noch Näheres hiervon zeigen;
hier wollen
wir
nur auf den einen Umſtand aufmerkſam machen, wie ſelbſt
die
erhöhte Thätigkeit einer einzelnen Nervengattung auf die
andern
Nerventhätigkeiten den ermüdenden Einfluß ausübt.
68537
Nach der Mahlzeit, und hauptſächlich nach einer ſtarken
Mahlzeit
, wird man träge, ſowohl zum Denken, wie zur Be-
wegung
.
Die Speiſe will verdaut ſein, die Nerven des Magens,
des
Darms ſind ſehr thätig und üben einen ermattenden Einfluß
auf
das ganze Gehirn und ſomit auch auf die Bewegungsnerven.
Hat man die Bewegungsnerven im hohen Grade angeſtrengt,
ſo
wird man ſtumpf im Fühlen wie im Denken, und eben ſo
benimmt
übermäßiges, angeſtrengtes Denken die Kraft zur Be-
wegung
und zu ſonſtigen Lebensthätigkeiten.
In all’ ſolchen Fällen iſt der Schlaf eine Ruhe, die zu
neuer
Thätigkeit fähig macht, eine Ruhe, die im Gehirn ſtatt-
findet
, und welche wir nunmehr näher kennen lernen wollen.
XI. Der Schlaf.
Man nennt den Zuſtand, der dem Schlaf vorangeht, Ab-
ſpannung
, und in der That iſt es eine ſolche, denn die Nerven,
welche
die Glieder und Sinne des Körpers zur Thätigkeit an-
ſpannen
, laſſen, nachdem ſie eine Zeitlang wirkſam waren, nach,
und
man verliert in jeder Beziehung die Spannkraft, die zu
ihrer
Thätigkeit nötig iſt.
Der Schlaf geht indeſſen nur im großen Gehirn vor.
Tiere, denen man dieſes Gehirn ausſchneidet, leben in einem
unausgeſetzten
Schlafe fort, und ſelbſt ihre Bewegungen auf
äußerliche
Reize und innere Anregungen haben das Charakte-
riſtiſche
der Bewegungen im Traume, der Bewegungen, die
man
auch ſchlafend ausführen kann.
Indem aber das Pflanzenleben der Tiere nicht vom großen
Gehirn
direkt abhängt, geht gerade dieſes Leben regelmäßiger
vor
.
Der Puls ſchläft nicht, die Herzkammern ruhen
68638 jeder Zuſammenziehung aus und bedürfen daher keiner neuen
Pauſe
der Erholung im Schlafe;
gleichwohl iſt der Schlaf
auch
von beruhigendem Einfluß auf die Herzthätigkeit, der
Puls
wird gleichmäßiger, der Blutumlauf geregelter, und dies
iſt
in ſo hohem Grade der Fall, daß Naturforſcher, welche
durch
das Mikroſkop die Bewegungen des Blutes in den feinſten
Äderchen
eines Tieres, wie z.
B. in der Schwimmhaut eines
Froſchbeines
beobachten wollen, ihren Zweck am beſten erreichen,
wenn
ſie den Froſch durch Entfernung des großen Gehirns in
den
künſtlichen Schlaf verſetzen.
Der Grund des ruhigern Herzſchlages während des Schlafes
beruht
auf dem Umſtand, daß, wie bereits erwähnt, eine Ver-
bindung
des großen Gehirns mit dem ganzen Syſtem der
Nervenknoten
, welche das pflanzliche Leben des Tieres regieren,
beſteht
.
Durch dieſe Verbiudung verurſachen die Eindrücke des
großen
Gehirns, wie Schreck, Freude, Angſt, Zorn u.
ſ. w. einen
Einfluß
auf das geſamte Nervenſyſtem.
Ruht nun im Schlaf
das
große Gehirn, ſo wirkt das Nervenſyſtem, welches das
pflanzliche
Leben leitet, ohne ſtörenden Einfluß fort und iſt
deshalb
regelmäßiger thätig als während des Wachens.
Daher iſt Schlafloſigkeit auch eine gewaltige Störung des
ganzen
Lebens, und giebt ſich in den Folgen auch im Puls zu
erkennen
.
Da im Gehirn das wohnt, was wirEmpfindung” nennen,
und
ebenſo das, was wir mit dem WorteWillen” bezeichnen,
ſo
iſt es klar, daß man bei der Ruhe des Gehirns, beim Auf-
hören
ſeiner Thätigkeit weder Empfindungen noch Willen haben
kann
.
Man fühlt daher im feſten Schlaf nichts von den Ein-
drücken
unſerer Sinne, und empfindet auch nichts von den Vor-
gängen
im Innern des Körpers, die uns wachend Schmerz oder
Luſt
verurſachen.
Indem man aber auch die Fähigkeit des
Willens
verliert, ſo ruhen alle Glieder, die man ſonſt nach
freiem
Willen bewegen kann, und ſämtliche Muskeln
68739 durch den Schlaf die Ruhe, welche ihnen nötig iſt, um zu
neuer
Thätigkeit fähig zu werden.
Man muß ſich nicht vorſtellen, als ob wirklich der Körper
ſchlafe
.
Die Ruhe, die z. B. unſern Beinen nötig iſt, wenn
ſie
durch einen tüchtigen Marſch ermüdet ſind, kann auch hervor-
gerufen
werden durch ein ruhiges Niederlegen des Körpers,
bei
welchem die Muskeln der Beine ſich nicht anzuſtrengen
brauchen
.
Es iſt nur das Gehirn, das ſchläft, oder richtiger, es
iſt
nur die Thätigkeit des großen Gehirns, die eine Pauſe macht,
und
weil das Hirn ruht, und der Wille in demſelben nicht
thätig
iſt, nur deshalb laſſen wir im Schlaf die Glieder ruhen.
Allein kein Schlaf iſt ſo tief, daß man wirklich ſagen kann,
es
ſei Empfindung und Wille ganz und gar unterbrochen.
Der
Schlafende
empfindet, wenn auch nur ſehr dunkel, und hat auch
einen
Willen, wenn auch nur einen ſehr beſchränkten.
Es iſt
gewiſſermaßen
ſo, daß man ſagen muß:
das Gehirn iſt im Zu-
ſtand
des Schlafes nicht völlig und ganz und gar außer Thätig-
keit
geſetzt, ſondern die Thätigkeit iſt unterdrückt und zurück-
gezogen
und ſehr beſchränkt, ſo daß Empfindung und Wille
nur
bei ſehr ſtarken Eindrücken angeregt werden.
Daher rührt es denn, daß der Schlafende geweckt werden
kann
, wenn man einen ſtarken Eindruck auf ſeine Sinne macht.
Ein heftiger Geruch, ein ſtarker Schall, ein außerordentlicher
Lichtſtrahl
, ſelbſt bei geſchloſſenen Augenlidern, ſowie ein Rütteln,
Stoßen
u.
ſ. w. wird mitten im Schlaf wahrgenommen, und
reizt
das Gehirn derart, daß es ſelbſt bei ſtarker Ermüdung
zur
Thätigkeit angeregt, alſo wieder geweckt wird.
Je tiefer
der
Schlaf iſt, d.
h. je zurückgezogener und eingeſchränkter die
Thätigkeit
des Gehirns iſt, deſto ſtärker muß der Eindruck ſein,
um
dasſelbe neu anzuregen, und hieraus muß man ſchließen,
daß
bei Perſonen, bei denen leichte Eindrücke hinreichen, um
ſie
zu wecken, auch die Thätigkeit des Gehirns in nur geringem
Grade
während des Schlafes unterdrückt iſt.
68840
Daß man im Schlaf Bewegungen ausführt, die ſonſt nur
durch
den Willen vollbracht werden, iſt bekannt.
Man wendet
ſich
im Schlaf auf die Seite, legt ſich bequem, ſtreckt ſich, wenn
man
lange Zeit eingekrümmt gelegen, deckt ſich auf, wenn es
zu
heiß wird, kratzt ſich an Stellen, wo man Iucken empfindet,
und
nimmt ſo Handlungen vor, die ſonſt nur auf den Ent-
ſchluß
des freien Willens geſchehen.
Es haben aber Verſuche gelehrt, daß ſogar enthauptete
Tiere
, z.
B. Fröſche, ſolche zweckmäßige Bewegungen vor-
nehmen
, daß ſie Bewegungen ausführen, die ſonſt nur durch
den
freien Willen geſchehen.
Man kann daher annehmen, daß
im
Schlaf all’ dieſe Bewegungen ohne Beteiligung des ruhenden
Gehirns
durch das Rückenmark veranlaßt werden, kurz:
daß
die
Bewegungen eines Schlafenden denen eines geköpften Tieres
gleich
ſind.
XII. Einſchlafen und Aufwachen.
Der Schlaf alſo iſt eine Ruhe des Gehirns, aber keines-
wegs
eine augenblickliche Lähmung desſelben.
Um ſich hiervon
zu
überzeugen, braucht man nur auf den Unterſchied zu merken,
der
zwiſchen einem ruhenden und einem gelähmten Glied ob-
waltet
, den Unterſchied, der ſich oft an Menſchen zeigt, wenn
die
eine Seite ihres Geſichtes vom Schlage getroffen worden
iſt
.
Die geſunde Seite iſt ſelbſt, wenn ſie ruht, ſo deutlich
unterſchieden
von der gelähmten Seite, daß hieraus das ganz
veränderte
, ſchiefe Ausſehen herrührt, das ſolche halbſeitig vom
Schlage
Getroffene charakteriſiert und ihren Anblick oft ſo ſchreck-
haft
macht.
Der Schlafende, obwohl er durch die Ruhe des Gehirns
ohne
Willen iſt, um ſeine Muskeln zu bewegen, behält
68941 ſtets eine gewiſſe Spannung der Muskeln bei, zum Zeichen,
daß
die Kraft des Gehirns zwar ruht, aber keineswegs für
dieſe
Zeit erloſchen iſt;
wohingegen dieſe Spannung ſofort
ſchwindet
bei einer wirklichen Lähmung des Gehirns, wie das
eigentümliche
Anſehen von Leichen das genugſam darthut.
Auch die Art und Weiſe, wie der Schlaf kommt und
ſchwindet
, und wie oft während des Einſchlafens und Er-
wachens
ein halber Zuſtand von äußerer Ruhe und innerer
Erregung
herrſcht, der ſich in Träumen kundgiebt, iſt ein Be-
weis
, daß Ruhe des Gehirns etwas anderes iſt als eine auch
nur
zeitweiſe vollſtändige Unterbrechung ſeiner Thätigkeit.
Der
Schlaf
kommt nach und nach, die Lähmung kommt immer
plötzlich
, wenn ſie auch, wie das oft der Fall, Vorboten hat,
und
bedeutenden Lähmungen kleinere, unbedeutendere Lähmungen
einzelner
Glieder vorangehen.
Das erſte, was ſich beim Einſchlafen verliert, iſt das rege
Bewußtſein
und Verſtändnis der Umgebung.
Wer die Ge-
wohnheit
hat vor dem Einſchlafen zu leſen, der wird ſich oft
überraſcht
haben in der Lage, wo er zwar die Schrift geleſen,
aber
das Geleſene nicht verſtanden hat.
Bald aber kommt
hierauf
der Moment, wo man ganz andere Worte lieſt als
wirklich
vor einem ſtehen;
es iſt dies der Moment, wo das
Auge
getrübt, aber vom bisherigen Eindruck der Buchſtaben ſo
weit
erregt iſt, daß die Erregung ſich fortſetzt, und man Buch-
ſtaben
und Worte wahrnimmt, die in Wirklichkeit nicht vor dem
Auge
exiſtieren.
In dieſem Zuſtand iſt die Hand noch gut im-
ſtande
, das Buch zu halten;
aber das rührt nicht von einer
bewußten
und unwillkürlichen Energie der Handmuskeln, ſondern
von
dem Umſtand her, daß man überhaupt die Hand im Ein-
ſchlafen
halb geſchloſſen läßt und ſie ſelbſt im Schlafe nur auf
Anregung
völlig gerade ſtreckt, wie denn im allgemeinen die
Muskeln
nur in der Stellung ruhen, welche in der Mitte liegt
zwiſchen
vollſtändiger Streckung und Biegung, weshalb
69042 ſchwerer einſchläft, ſobald man den Körper gerade ausſtreckt,
und
leichter in Schlummer ſinkt, wenn man die Glieder ein
wenig
einzieht, die Knie etwas beugt, den Rücken krümmt, die
Ellenbogen
einknickt und auch den Hals ein wenig neigt.
Er-
muntert
man ſich nach einem ſolchen Halbſchlummer gewaltſam,
ſo
reckt man ſich kräftig, woher denn das Recken und Strecken
rührt
, mit welchem man, wie man im Volk ſagt, den Schlaf
aus
den Gliedern treibt.
In dem Zuſtand des Halbſchlummers ſchließen ſich die
Augenlider
, und die Augen wenden ſich ein wenig nach auf-
wärts
, welche Lage ſie jedoch während des tiefen Schlafes ver-
ändern
.
Wer in ſolchem Moment noch imſtande iſt, ſich zu
beobachten
was, beiläufig geſagt, ſchwer iſt, wenn man ſich
hierbei
nicht ermuntern will der wird bemerken, daß ſein
Gehör
noch vollkommen wach iſt.
Man hört eine Unterhaltung,
verſteht
ſie jedoch nicht recht;
man macht zuweilen auch noch
den
Verſuch zu antworten;
aber man wird unverſtändlich, die
Stimme
wird klanglos.
Oft wird man mitten im Reden da-
von
überraſcht, daß man etwas ganz anderes ſagt, als man
ſagen
will, und öfter noch ſchläft man mitten im Worte ein,
wobei
man zugleich heftiger ausatmet als gewöhnlich.
Da der Körper, namentlich der Bruſtkaſten, beim Ausatmen
einſinkt
und beim Einatmen ſich reckt und ausdehnt, ſo iſt es
ganz
natürlich, daß dies auf das Einſchlafen und Aufwachen
von
Einfluß iſt.
Wenn man den Augenblick überhaupt angeben
kann
, wo der wirkliche Schlaf eintritt, ſo iſt es ein Moment
des
ſtärkern Ausatmens;
wenn man den des Erwachens über-
haupt
angeben kann, ſo muß man ſagen, daß man mitten im
Einatmen
aufwacht.
Der Grund hierzu liegt wohl nicht nur
darin
, daß die geſenkte Haltung überhaupt dem Einſchlafen
günſtig
iſt, wie das Strecken das Erwachen befördert, ſondern
auch
wahrſcheinlich in dem Umſtand, daß das Gehirn ſich beim
Ausatmen
ſtärker mit Blut füllt als beim Einatmen.
Da
69143 beim vermehrten Blutzufluß zum Gehirn ein vermehrter Druck
ſtattfindet
, wie beim Ausatmen dieſer Druck nachläßt, ſo mag
dieſer
Reiz mitwirken, um während des Ausatmens die Thätig-
keit
des Gehirns außer Wirkung zu ſetzen, was bei jedem
ſtärkeren
Druck ſtets der Fall iſt, wie auch das Gegenteil hier-
von
beim Einatmen das Moment des Erwachens unter-
ſtützen
mag.
XIII. Die Träume.
Der beſte Beweis, daß im Schlafe die Gehirnthätigkeit
nicht
vollſtändig aufhöre, ſind bekanntlich die Träume, und wir
können
es nicht unterlaſſen, ein paar Worte über das Träumen
hier
auszuſprechen, obgleich dies ein Thema iſt, das eine aus-
führlichere
Behandlung verdient.
Merkwürdigerweiſe giebt es Menſchen, die weit mehr auf
Träume
als auf wirkliche Wahrheiten geben.
Daß dies eine
Thorheit
und ein Aberglaube iſt, brauchen wir nicht erſt zu
verſichern
;
wir dürfen bei unſern Leſern vorausſetzen, daß ſie
verſtändig
genug ſind, all die Fabeln und Märchen von
Ahnungen
, Träumen, Wahrſagereien und dergleichen Wundern
in
das Bereich der Verirrungen des menſchlichen Geiſtes, in
das
Bereich des Selbſtbetruges und der Betrügerei zu ver-
weiſen
.
Die Wiſſenſchaft giebt hierfür den ſchlagendſten Beweis:
Tauſendfältige Entdeckungen und Erfindungen ſind in der
Wiſſenſchaft
auf dem Wege der Verſuche, der Beobachtung und
des
Nachdenken gemacht worden;
aber nicht eine einzige all
dieſer
wichtigen Wahrheiten iſt durch Geiſterſeherei, durch
Träumen
, durch Hellſehen, durch Ahnungen u.
ſ. w. ans Tages-
licht
gekommen.
Im Mittelalter hat man ernſtlich geglaubt,
daß
Träume eine Art Offenbarung ſind, die ſich der
69244 kund thun, wenn ſie ſich im Schlafe von der ſinnlichen Welt
zurückgezogen
hat;
und doch hat kein frommer oder gottloſer
Geiſterſeher
gewußt oder geſchaut, daß der Weltteil Amerika
exiſtiert
, bevor ihn Kolumbus wirklich entdeckt hat.
Kein Wahr-
ſager
, der die Zukunft zu kennen vorgiebt, hat etwas von
Kopernikus’
großer Entdeckung geahnt, bis dieſer große Denker
der
Welt ſeine Ideen über das Sonnenſyſtem mitgeteilt hat.
Vor etwa hundert Jahren kam das ſogenannte Magnetiſieren
von
Menſchen in Aufſchwung, durch welches man hellſehend
werden
und die verborgenſten Geheimniſſe entdecken ſollte, und
doch
hat nicht ein einziger Hellſeher von all’ den Tauſenden,
die
ſich mit dieſem Betrug und Selbſtbetrug abgegeben haben,
gewußt
, daß Waſſer aus Sauerſtoff und Waſſerſtoff beſteht, be-
vor
dies auf dem Wege der Wiſſenſchaft entdeckt wurde.
Von
all’
den tauſenden wirklichen Wahrheiten, die die Wiſſenſchaft
mühſam
herausgefunden, hat nie und nirgend ein Seher, ein
Wahrſager
, ein Traumdeuter oder ein Magnetiſeur, ein an-
geblich
von Geiſtern oder von Engeln oder Teufeln beſeſſener
Menſch
auch nur die geringſte Spur gewußt;
und auch jetzt,
wo
es noch immer Spiritiſten und Pſychographen giebt, die
Wunder
und Wahrſagereien in großem Maßſtabe betreiben,
iſt
noch keiner derſelben imſtande geweſen, auch nur die geringſte
Frage
, die die Naturwiſſenſchaft nicht löſen kann, auf dem
Wege
der ſogenannten Prophezeihung zu löſen.
Wie all’ dieſe Thorheiten, ſo verdient auch die Thorheit,
den
Träumen Wichtigkeit beizulegen, keiner ernſten Widerlegung;
darum ſollen hier nicht die Träume, ſondern das Träumen
der
Gegenſtand unſerer kurzen Betrachtung ſein, dieſer Zuſtand
des
Gehirns, das auch thätig iſt, ſelbſt wenn die äußeren Sinne
im
Schlaf geſchloſſen liegen.
Nur in dieſem Sinne ſagen wir, daß die Erſcheinung des
Träumens
wichtig iſt.
Was man von der Entſtehung der Traumbilder weiß,
69345 etwa folgendes: Wenn man im vollen Schlafe iſt, träumt man
wahrſcheinlich
genaues kann man natürlich nicht ausſagen
überhaupt
nicht;
nur wenn durch innerliche oder äußerliche
Urſachen
der feſte Schlaf geſtört oder gehindert wird, dann
treten
meiſt Traumerſcheinungen ein.
Sie rühren bei inneren
Urſachen
daher, daß, wie bereits erwähnt, die ganze Maſchinerie
des
pflanzlichen Lebens, der Blutumlauf, das Atmen, die Ver-
dauung
u.
ſ. w. auch während des Schlafes thätig iſt. Geht
dieſe
Thätigkeit ungeſtört fort, ſo regt ſie ebenſowenig im
Wachen
wie im Schlaf das Gehirn zur Thätigkeit an, findet
ſich
jedoch durch irgend welchen Umſtand eine Störung ein,
wie
z.
B. wenn der Blutumlauf durch geiſtige Getränke erhöht
oder
das Atmen durch eine unbequeme Lage geſtört oder die
Verdauung
durch eine ſchwere Speiſe behindert iſt, dann tritt
während
des Wachens das Bewußtſein ins Gehirn, daß man
ſich
nicht wohl befinde, und das Nachdenken hierüber lehrt den
Leidenden
die richtige Urſache dieſes Unbehagens herauszufinden.
Während des Schlafes jedoch bewirkt die Erregung des Gehirns
eine
innere Erregung der Sinnesnerven, und man hat Sinnes-
erſcheinungen
, die ſich ſo ausnehmen, wie man ſie gewöhnt iſt,
im
Wachen wahrzunehmen.
Wird z. B. der Augennerv vom Gehirn aus erregt, ſo
ſieht
man Dinge mit geſchloſſenen Augen, weil jeder Reiz dieſes
Nerven
ſtets nur Lichterſcheinungen hervorrufen kann.
Wird
der
Gehörnerv durch das Gehirn gereizt, ſo verurſacht dies
ſtets
den Eindruck des Hörens, weil dieſer Eindruck eben die
ausſchließliche
Wirkſamkeit dieſes Nerven iſt.
Da aber nicht
die
Außenwelt durch wirkliche Vorgänge dieſe Reize bewirkt,
verurſacht
dies, daß man Dinge zu ſehen und zu hören glaubt,
die
nur als Erinnerungen, Phantaſien oder Hoffnungen im
Gehirn
exiſtiert haben, ohne daß das Gehirn jetzt Urteilskraft
genug
beſitzt, dieſe Erſcheinungen vernunftgemäß zu ordnen.
Dies iſt der Zuſtand des Träumens, in welchem man
69446 tollſte und verworrenſte Zeug durcheinander wahrnimmt, ohne
der
Unwahrheit desſelben ſich bewußt zu werden.
XIV. Die Träume durch äußerliche Anregungen.
Ebenſo wie Träume aus innerer Anregung entſtehen können,
ebenſo
können äußerliche Erſcheinungen die Veranlaſſung hierzu
geben
.
Wer gewohnt iſt, bei der Nachtlampe zu ſchlafen, wird
im
Schlaf geſtört, wenn ſie ausgeht;
aber ſchon das Flackern
und
Kniſtern derſelben macht einen Eindruck auf ihn, wenn er
auch
die Augen geſchloſſen hat und ſonſt im Schlaf ein ſo
leiſes
Geräuſch nicht hört.
Infolge dieſes Eindrucks können
die
wunderlichſten Träume entſtehen, denn Augen- und Ohr-
nerven
, wenn ſie durch Flackern und Kniſtern der Lampe ge-
reizt
ſind, erregen die Thätigkeit des Gehirns und erwecken
in
demſelben Vorſtellungen und Bilder, die mehr oder weniger
verworren
mit dem Reiz der gedachten Sinnesnerven in Ver-
bindung
ſtehen.
Je nachdem der Träumende ſtarke Eindrücke
erlebter
Scenen in ſich einmal aufgenommen hat, je nachdem
werden
ſeine Träume Ähnlichkeit mit dem Erlebten haben.
Wer einmal durch eine Feuersbrunſt erſchreckt worden iſt, wird
die
ganze Scene wieder vor ſich zu ſehen glauben;
das Ge-
räuſch
, das ſeine Hörnerven erregt, wird ihm wie das einmal
gehörte
Poltern und Lärmen bei Feuersbrünſten vorkommen.

Das
einmal zur Thätigkeit angeregte Gehirn beharrt aber
nicht
konſequent bei dem Bilde, ſondern ſchweift von Bild zu
Bild
im Traume und verwandelt die Scene ganz plötzlich und
in
höchſt unnatürlicher Weiſe.
So kann ſich z. B. ein Waſſer-
ſtrahl
, den der Träumende aus einer Feuerſpritze ſtrömen
69547 in einen prachtvollen Springbrunnen verwandeln, vom Spring-
brunnen
werden die Phantaſien auf die Umgebung geleitet, in
welcher
der Träumende einmal einen Springbrunnen geſehen.
Iſt der Träumende ein Berliner, ſo ſieht er vielleicht das Mu-
ſeum
oder er findet ſich im königlichen Schloß oder in der
Domkirche
.
In jedem dieſer neuen Bilder ſpielt immer noch
der
Eindruck der flackernden und kniſternden Lampe eine Rolle.

Im
Muſeum ſieht er leuchtende Figuren tanzen, hört er das
Echo
der Rotunde antworten, im königlichen Schloß kann er
die
ſonderbarſten Scenen zu ſehen glauben;
in der Domkirche
hört
er Orgel, Prediger u.
ſ. w. Von jedem dieſer Bilder
kann
der Träumende aufgeregt werden und ſchreckhafte oder
erfreuliche
Eindrücke zu erdulden haben, denn das erregte Ge-
hirn
wirkt auf das verlängerte Mark, und durch dieſes ſowohl
auf
Atem wie Blutumlauf.
Der Traum kann immer lebhafter
werden
, die Erregung ſteigert ſich derart, daß der Träumende
endlich
erwacht und ſich in Angſtſchweiß gebadet oder zur
herzlichſten
Heiterkeit geſtimmt im dunkeln Schlafzimmer wieder-
findet
.
Die Endſcenen des Traumes können ſo lebhaft ſein, daß
man
ſie ſogar halbwachend mit vollem Bewußtſein fortſetzen
und
den Schluß zudichten kann.
Nicht ſelten vergißt man
wegen
des lebhaften Endes den Anfang des Traumes, und
findet
den Zuſammenhang desſelben mit der äußerlichen Urſache,
welche
den Traum veranlaßt hat, gar nicht mehr heraus.
Sehr lehrreich iſt eine Beobachtung der Träume, wenn
man
imſtande iſt, genau die Urſache anzugeben, durch welche
ſie
hervorgerufen worden ſind.
Es kommt z. B. vor, daß man
ſich
im Schlaf an die Bettſtelle ſtößt und Schmerz empfindet,
und
hierzu einen ganz langen Traum in äußerſt kurzer Zeit vor
ſich
ſieht.
Man glaubt z. B. bei einem Freund zu ſein, von
ihm
Abſchied zu nehmen, man glaubt lange Geſpräche mit ihm
geführt
zu haben, ſieht ihn noch, wie er mit dem Licht an
69648 Treppe ſteht, um zu leuchten, man ſpringt ein paar Stufen
hinunter
, da ſtürzt ein Pudel einem zwiſchen die Beine, man
ſtolpert
, fällt und erwacht im Glauben, daß man ſich ein
Bein
gebrochen.
Sieht nun der Erwachte auch, daß es
nur
ein Traum geweſen, ſo nimmt er doch oft mit Erſtaunen
wahr
, daß ihm der Fuß wirklich weh thut, ja, er beobachtet
mit
Schrecken, daß er eine Verletzung am Schienbein habe.
Der Einſichtige erkennt, daß Verletzung und Schmerz von
dem
Stoß herrühren, den er ſich ſelber an der Bettſtelle bei-
gebracht
hat, und lernt hieraus, daß ſein ganzer langer Traum
nur
das Werk einen Augenblicks iſt, der zwiſchen dem Stoß
und
ſeinem Erwachen liegt.
Erſcheinungen dieſer Art ſind
oft
die Quelle des lächerlichſten Aberglaubens.
Es giebt Leute,
die
ſich im Schlaf in irgend einer ganz natürlichen Weiſe eine
Stelle
des Körpers ſo gedrückt oder geſtoßen haben, daß ſie
blaue
Flecke davon tragen;
wenn ſie nun hierauf den Traum
hatten
, daß irgend ein Verſtorbener zu ihnen gekommen, um
ſie
zu zwicken, ſo ſind ſie imſtande, darauf zu ſchwören, daß
die
Flecke von einer Geiſterhand hervorgebracht ſind, die ihnen
ein
Zeichen als Denkzettel ihres Erſcheinens hinterlaſſen hätten.
Wie unglaublich ſchnell und kurz Träume ſind, die oft
ganze
lange Scenen mit reicher Abwechſelung enthalten, davon
haben
ſich Viele überzeugt, die von einem nahen Piſtolenſchuß
aufgeweckt
worden ſind.
Sie haben im Augenblick des Auf-
wachens
eine ganze lange Scene geträumt, Geſchichten, die zu-
weilen
äußerſt ausführlich erſcheinen, die eine ganze Schlacht
darſtellen
, und die mit einem einzigen Schuß enden (vgl.
den
Traum
Napoleon Bonapartes, von dem im Artikel vom Hypno-
tismus
die Rede war).
Man meint oft die ganze Nacht
geträumt
zu haben, und hat in Wahrheit nur den Eindruck einer
Gehirnerregung
von äußerſt kurzer Dauer, die Erregung eines
Augenblicks
wahrgenommen.
Hat man öfter einen und denſelben Traum geträumt
69749 erwachend erkannt, daß es nur ein Traum geweſen, ſo kommt
es
vor, daß man bei einer Wiederholung mitten im Traum
einſieht
, daß es nur ein Traum ſei.
Zuweilen kann man ſich
durch
dieſen Gedanken ganz ermuntern, zuweilen aber träumt
man
fort, während man erwacht zu ſein glaubt.
Erwacht man
dann
wirklich, ſo ſtaunt man die doppelte Täuſchung an.
Es
ſind
dies Erſcheinungen, die im Halbſchlummer vor ſich gehen,
einem
Zuſtand, wo Täuſchung und Wirklichkeit noch im Kampfe
mit
einander ſind.
Man hat beobachtet, daß auch dieſer Zu-
ſtand
nur von unglaublich kurzer Dauer iſt, obgleich der
Träumende
vermeint, lange Zeit ſo verlebt zu haben.
XV. Denken im Traum.
Von den merkwürdigſten Erſcheinungen während des
Träumens
müſſen wir noch beſonders hervorheben das Denken
im
Traume.
Es iſt nicht ſelten, daß man im Traume ganze Zwie-
geſpräche
mit Perſonen hält, Reden führt und Gegenreden an-
hört
, ja, daß man Neuigkeiten, ſowohl neue Gedanken wie un-
erwartete
Mitteilungen zu vernehmen glaubt, die Einem während
des
Traumes höchlich überraſchen.
Erwägt man nun, daß der
ganze
Traum nur im Gehirn des Träumenden vorgeht, daß
es
alſo ſein eigener Verſtand iſt, der ſowohl die Rede wie die
Gegenrede
hervorbringt, daß das Neue und Überraſchende, das
er
von einer erträumten, fremden Perſon zu vernehmen glaubt,
nichts
iſt als ein Produkt des eignen Gehirns des Träumenden,
ſo
erſcheint dies ſehr wunderbar.
Man ſollte meinen, daß
ſolche
Gedanken, die ein Menſch ſich ſelber erſinnt, oder auf
die
er ſelber verfällt, ihn unmöglich überraſchen und ihm nicht
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XI.
69850
neu vorkommen könnten. Indeſſen iſt dem doch ſo. Auch im
Zuſtand
des Wachens überlegen wir uns Dinge, ſtellen uns
Perſonen
vor, mit denen wir ſprechen, halten für ſie und für
uns
Reden, und es kommt nicht ſelten vor, daß wir unſern
Gengnern
Worte in den Mund legen, auf welche wir nichts zu
erwidern
wiſſen.
Während des Träumens geſchieht dasſelbe,
nur
mit der Täuſchung, daß wir es nicht gewahren, wie der
Gegner
ein Geſchöpf unſerer eigenen Phantaſie iſt.
Intereſſant iſt es zu bemerken, daß man nach dem Er-
wachen
, wenn man ſich des Traumes noch gut erinnern kann,
ſehr
oft wahrnimmt, wie das ganze Geſpräch, das Reden und
Gegenreden
, das uns während des Traumes ſehr geſcheit vor-
kommt
, purer Unſinn iſt.
Menſchen, die am Tage viel über ſchwierige geiſtige Auf-
gaben
nachdenken, haben oft nachts Träume, in welchen es
ihnen
vorkommt, als ob ſie die Auflöſung ihrer Aufgabe voll-
ſtändig
entdeckt haben.
Sie freuen ſich unendlich darüber,
wundern
ſich, daß ihnen die Auflöſung bisher entgangen,
und
entdecken erſt nach dem Erwachen, daß es ein bloßer
Schein
und ihre geträumte Weisheit eine ganz platte Thor-
heit
war.
Der berühmte Naturforſcher Johannes Müller erzählt
von
Träumen, in welchen es ihm vorkam, als ob er ſich in einer
Geſellſchaft
befinde, woſelbſt jemand ein Rätſel aufgab, deſſen
Löſung
niemand finden konnte.
Der Träumende bemühte ſich
vergeblich
es aufzulöſen, und fühlte ſich höchſt überraſcht, als
der
Rätſelaufgeber die ſehr geiſtreich ſcheinende Löſung ſelber
gab
.
Beim Erwachen jedoch ergab ſich’s, daß das Rätſel wie
die
Antwort unſinnig, und das Ganze eine Phantaſie des Träu-
menden
war, die mit ſich ſelber in ſehr thörichter Weiſe Frage
und
Antwort ſpielte.
Aus ſolchen Thatſachen ergiebt ſich, daß, wenn man die
Einzelheiten
eines gehabten Traumes vergißt, man ſich
69951 einbilden kann, wunderbare Weisheiten im Traume geſchaut
zu
haben, daß aber in Wahrheit das Gehirn zwar bis zur
Hervorbringung
von Gedanken angeregt werden kann, jedoch
nicht
ſoweit, daß die Gedanken richtig geordnet und zu wirk-
lichen
, verſtändigen Ideen erhoben werden können.
Lebhafte Träume können aber auch leibliche Bewegungen
anregen
, in welchen man ſogar imſtande iſt, mechaniſche Hand-
lungen
zu verrichten.
In gewöhnlichen Träumen hat man
meiſt
ein gewiſſes Gefühl, daß man nicht Herr ſeiner Glieder
iſt
.
Man will entfliehen und fühlt ſich feſtgehalten, gefeſſelt,
man
will ſchreien und vermag nicht die Stimmwerkzeuge zu
bewegen
.
In der Angſt dieſes Gefühls erwacht man meiſtens
und
merkt, daß es nur der Zuſtand des Schlafes war, der die
Feſſel
bildete.
Zuweilen jedoch iſt die Erregung des Gehirns
ſo
ſtark, daß durch dasſelbe die Anregung der Bewegungs-
nerven
erfolgt, und man iſt imſtande, ſich im Traum auf-
zurichten
, zu ſchreien, zu plaudern, die Glieder zu bewegen,
ja
ſogar aus dem Bette zu ſpringen und einige Schritte zu
gehen
.
In geſundem Zuſtand erwacht man meiſt hiernach voll-
ſtändig
, und dieſes geſchieht oft mit ſolcher Energie, daß man
den
Traum vergißt, und nicht mehr die Veranlaſſung zu dieſem
Benehmen
weiß.
Bei ſehr krankhaft verſtimmtem Zuſtand
des
Gehirns jedoch erfolgt das Erwachen nicht ſo leicht, und
es
kommt vor, daß Menſchen wirklich herumwandeln und Dinge
verrichten
, die ſie gewohnt ſind, ohne Nachdenken zu thun.
Es
iſt
dies eben das ſogenannte Nachtwandeln, von dem im Ab-
ſchnitt
über den Hypnotismus eingehender geſprochen wurde
(Teil IX).
70052
XVI. Inſtinkt und Geiſtesleben.
Der Zuſtand des Schlafes und des Träumens iſt für die
Tyätigkeit
des Lebens der Tiere eine Quelle ſehr ernſter Be-
lehrung
.
Wir erinnern nochmals daran, daß Tiere, denen man das
große
Gehirn ausgeſchnitten, in eine Art Schlaf verſinken, daß
ſie
aber gleichwohl leben und auch auf äußere und innere
Anregungen
ſich bewegen und zweckentſprechende Verrichtungen
vornehmen
, jedoch ohne Bewußtſein zu haben.
Da Tauben
ohne
Gehirn ſtehen, gehen, mit dem Schnabel auf die Erde
picken
, ihre Federn putzen können, da ſogar enthauptete Fröſche
ſich
wehren, wenn ſie angegriffen werden, ſich mit dem Beine
kratzen
, wenn man irgend eine Stelle ihres Körpers mit einem
Tropfen
Schwefelſäure oder Eſſigſäure beizt, ſo geht daraus
hervor
, daß es eine Reihe von Handlungen im Tierleben giebt,
welche
ſie zweckmäßig, aber ohne Bewußtſein verrichten.
Ver-
gleicht
man hiermit den Zuſtand, den ein Tier im Schlaf an-
nimmt
, erwägt man hierzu den Umſtand, daß die Vögel ſtehend
ſchlafen
, ja einige ſogar nur auf Einem Fuß ſtehen, und hierbei
die
richtige Balance halten köunen, ſo hat man Urſache zu
ſchließen
, daß der Hauptſitz gewiſſer Thätigkeiten des Tieres
nicht
ausſchließlich im Gehirn, wenigſtens nicht in dem Teile
des
Gehirns iſt, woſelbſt das Bewußtſein ſeinen Sitz hat.
Dies iſt vielleicht imſtande, einen Blick in das Weſen des
Inſtinkts
der Tiere zu öffnen, wenigſtens ſoweit zu eröffnen, um
beweiſen
zu können, daß der Inſtinkt nicht im großen Gehirn
ſeinen
Sitz hat, daß er alſo ſeine Werke ohne die Thätigkeit
des
Bewußtſeins verrichtet.
Ganz ſo wie der Nachtwandler, der Schlaftrunkene gehen
kann
ohne Bewußtſein von dem, was er thut, ganz ſo ſcheint
das
Tier im Inſtinkt Dinge zu thun, wobei das
70153 gar keine Rolle ſpielt. So künſtlich auch das Geſpinnſt einer
Spinne
, und ſo zweckmäßig dieſe ihre Arbeit iſt, um Inſekten zu
fangen
, ſo wenig weiß die Spinne etwas von der Klugheit, die in
ihrem
Werke liegt.
Junge Spinnen, die noch nie ein Inſekt
geſehen
, alſo keine Ahnung davon haben können, daß dergleichen
Weſen
exiſtieren, ſpinnen ihre Fäden ganz ſo gut wie erfahrene,
alte
Spinnen.
Die zweckmäßigen Anſtrengungen alſo, die ſie
hierbei
machen, müſſen von irgend etwas geleitet werden, das
in
unbekannter Weiſe auf die Spinne einwirkt.
Wir wiſſen nicht, ob es gelungen iſt, die inſtinktmäßigen
Verrichtungen
ſolcher Tiere genau zu beobachten und zu er-
forſchen
, denen man das Gehirn ausgeſchnitten hat.
Es mag
dies
nicht wenige Schwierigkeiten darbieten;
aber lehrreich
würden
derarte Verſuche jedenfalls ſein.
Unſeres Erachtens
wäre
es ſchon wichtig zu wiſſen, wie ſich eine Taube, die in
geeigneter
Weiſe während der Brütungszeit operiert wird,
gegen
ihr Neſt und die Bruteier benimmt, inwieweit wenigſtens
ihre
Sorgfalt für die junge Brut durch die verſchiedenen Grade
der
Operation leidet.
Wir haben bisher in unſern Betrachtungen auf das
Leben
der Pflanze und des Tieres Rückſicht genommen;
wir
wollen
uun mit dem nächſten Artikel näher auf dasjenige ein-
gehen
, was das Leben des Menſchen charakteriſiert, auf das
Leben
des Geiſtes, das die höchſte Stufe der uns bekannten
Naturerſcheinungen
darbietet.
XVII. Das Menſchenleben ein Geiſtesleben.
Der Menſch gleicht der Pflanze. Sein Entſtehen, ſein
Wachstum
, ſeine Ernährung, ſein Stoffwechſel, ſeine
70254 mehrung und ſein Vergehen iſt im ganzen und großen all
dieſen
Lebenserſcheinungen in den Pflanzen ähnlich.
Von der
Geburt
bis zum Tode gehen mit unſerm Körper Veränderungen
vor
, die weder von unſerm Wiſſen noch von unſerm Wollen
abhängig
ſind.
Hierbei iſt eine Maſchinerie im Innern unſeres
Körpers
thätig, die man die vegetative oder pflanzliche nennt.
Der Menſch gleicht auch dem Tiere. Wir können Teile
unſeres
Leibes willkürlich bewegen;
wir haben Sinne, um
Eindrücke
der Außenwelt in uns aufzunehmen und ein Gehirn,
um
dieſe Eindrücke gewahr zu werden.
Gleichwohl überragt der Menſch dadurch Pflanze und
Tier
, daß er ein in weit höherem Maße geiſtiges Weſen iſt
als
irgend ein Tier, dadurch, daß er die Fähigkeit beſitzt, den
Gründen
der Erſcheinungen nachzuſpüren und von Dingen, die
er
durch die Sinne wahrnimmt, auf die Urſachen zu ſchließen,
aus
welchen ſie entſpringen.
Was der Geiſt iſt, läßt ſich auf naturwiſſenſchaftlichem
Wege
nicht deutlich machen;
man weiß nur ſoviel, daß der
Sitz
des Geiſtes im Gehirn iſt, und zwar nur in den beiden
Halbkugeln
des großen Gehirns.
Was in dieſem Gehirn vor-
geht
während der Thätigkeit des Geiſtes, während des Denkens,
iſt
vollſtändig unbekannt;
ja die Frage, ob der Geiſt ſich nur
des
Gehirns wie eines Werkzeugs bedient, oder ob der Geiſt
nichts
iſt als eine unerklärte Thätigkeit der eigentümlichen
Gehirnmaſſe
, iſt auf naturwiſſenſchaftlichem Wege nicht zu
beantworten
.
Wie dem aber auch ſei, ſo ſteht ſoviel feſt, daß der Menſch
nur
durch ſeine geiſtige Fähigkeit ein Menſch iſt, und daß er
ohne
dieſelbe in der Ordnung der Geſchöpfe noch tiefer als
das
Tier ſtände.
Im Folgenden noch einige Unterſchiede zwiſchen Tier
und
Menſch.
Das Tier hat in ausgeſprochnerer Weiſe angeborene
70355 keiten als der Menſch, dem ſie freilich auch nicht fehlen. Dieſe
Fähigkeit
, die den Namen Inſtinkt führt, lehrt die Spinne ein
Gewebe
machen, ſelbſt wenn ſie nie eins geſehen und keine
Ahnung
hat, daß es Inſekten in der Welt giebt, die ſich darin
als
Speiſe für ſie fangen ſollen.
Und ſo iſt es mit allen
Tieren
, mit Ausnahme ſolcher Tiere, die in der menſchlichen
Umgebung
leben und von den Menſchen belehrt werden.
Der Menſch hingegen wird ſo unfähig geboren und hat
ſo
wenig von beſtimmten Gaben zur Welt mitgebracht, daß er
das
hilfloſeſte aller Geſchöpfe auf Erden iſt.
Von wirklichen
Inſtinkten
beſitzt der Neugeborene nur die Neigung und die
Fähigkeit
, alles anzuſaugen, was er mit dem Munde erreichen
kann
.
Dieſe Neigung verliert er nicht nur ſpäter, ſondern er
verlernt
auch die Fähigkeit dazu, ſo daß man das Saugen
nach
Art der Kinder erſt erlernen und einüben muß, wenn
man
es in reiferen Jahren ausüben will.
Das neugeborene Kalb geht ohne Hilfe ſofort auf die
Mutter
zu, um aus ihren Zitzen ſeinen Hunger zu ſtillen;
das neugeborene Menſchenkind hat auch dieſe Fähigkeit nicht,
ſondern
es iſt auf die Hilfe der Mutter im ſtrengſten Sinne
des
Wortes angewieſen.
Ja, ſchon im erſten Akt nach der Geburt zeigt ſich der
Unterſchied
zwiſchen Tier und Menſch.
Die Nabelſchnur, mit
welcher
ein lebendig zur Welt kommendes Tier an dem Mutter-
kuchen
befeſtigt iſt, iſt entweder an einer Stelle in der Nähe
des
Nabels des Jungen ſchwach, ſo daß ſie freiwillig bei der
Geburt
zerreißt, oder ſie wird von dem Muttertier an der
richtigen
Stelle durchgebiſſen.
Beim Menſchen zerreißt ſie
nicht
, und auch die Mutter wird von der Natur nicht belehrt,
wie
ſie das Kind davon ablöſen ſoll.
Kind und Mutter ſind
in
dieſer Beziehung auf die Hilfe derer angewieſen, die ein
geiſtiges
Verſtändnis davon haben, was hier zu thun ſei.
Die Kultur des Menſchen hat die Verſchärfung, teils
70456 die Hervorbildung der erwähnten Unterſchiede allmählich be-
wirkt
.
Der Menſch iſt ein Weſen geiſtiger Art. Seine Fähig-
keiten
werden nicht fertig angeboren, und ſie ſterben nicht mit
dem
einzelnen Menſchen aus, ſondern vererben ſich von Geſchlecht
zu
Geſchlecht, ſo daß das Menſchengeſchlecht eine Geſchichte der
Entwickelung
hat, eine Geſchichte des Fortſchrittes ſeines Geiſtes,
ein
Wachstum ſeiner Erkenntnis, eine Übertragung des Wiſſens
der
früheren Menſchen auf diejenigen, die ſpät nach ihnen ge-
boren
werden.
Und dieſe Fähigkeit ſeiner geiſtigen Entwickelung iſt es
eben
, die dem Menſchen erſt die Exiſtenz auf Erden möglich
gemacht
hat.
Leiblich iſt er hilflos und außerordentlich wehrlos 'ge-
ſchaffen
gegenüber dem Tiergeſchlecht.
Das Tier hat eine
Naturkleidung
, beſitzt Naturwaffen und kennt ihren Gebrauch,
ſelbſt
wenn ſie noch nicht exiſtieren.
Das Böckchen, das noch
nie
Hörner gehabt und noch nie geſehen hat, wie ſeinesgleichen
kämpft
, ſtößt mit dem Schädel nach ſeinen Feinden ganz ſo
gut
, als ob es ſeine Waffe ſchon hätte.
Der Menſch iſt un-
bewaffneter
als alle Tiere, und weiß ſelbſt ſeine Hände ohne
Übung
nicht zu ſeiner Hilfe zu gebrauchen.
Er hat nichts als
die
Fähigkeit, die man Geiſt nennt, eine Fähigkeit, deren Be-
deutung
eben darin liegt, daß ſie einer weiter und weiter
gehenden
Entwickelung fähig iſt, und durch welche er ſich zum
Herrn
der Schöpfung gemacht hat und naturgemäß auch
machen
ſoll.
Das Menſchenleben iſt in ſeiner wahren Bedeutung ein
geiſtiges
Leben.
70557
XVIII. Die Sprache der Menſchen.
Das geiſtige Weſen des Menſchen giebt ſich beſonders
durch
zwei Thatſachen kund, die den Beweis liefern, wie es
einerſeits
der Geiſt iſt, der den Menſchen zum Menſchen macht,
und
wie andererſeits das Leben des Menſchen auf das Leben der
ganzen
übrigen Natur den weſentlichſten Einfluß ausgeübt hat.
Die eine Thatſache iſt die Sprache des Menſchen; die
andere
iſt die Kultivirung der Natur, oder einfacher ausge-
drückt
, die Umbildung der Natur, damit ſie den Zwecken der
Menſchen
dienſtbar werde.
Auch die Tiere ſind imſtande, ſich gegenſeitig zu verſtän-
digen
.
Die Wölfe, die ſonſt nicht in Geſellſchaft leben, ziehen
in
Notfällen auf gemeinſamen Raub aus.
Tiere, die in Geſell-
ſchaften
leben, unternehmen gemeinſame Bauten, veranſtalten
gemeinſame
Züge;
Vögel, Fiſche treten in ungeheuren Maſſen
verſammelt
ihre Wanderungen an.
Bei den Bienen und Ameiſen
wird
ſogar eine wirkliche Mitteilungsgabe, die ſie unter-
einander
beſitzen, beobachtet;
von den Affen, den Elephanten
erzählt
man ſich noch weitergehende Gaben der Mitteilung, und
die
Störche ſollen ſogar Beratungen untereinander pflegen.
Wenn ein Wolf lechzend und heulend nach Raub ausgeht
und
Laute von ſich giebt, die es verraten, daß er mit ſeinem
ſcharfen
Geruch eine Beute wittert, ſo kann dies gleichfalls
hungernde
Genoſſen zu gleichem Zuge veranlaſſen, auf gleiche
Spur
bringen und eine Gemeinſamkeit des Unternehmens her-
beiführen
, ſelbſt wenn es nicht in der Abſicht liegt, die Geſell-
ſchaft
zu veranſtalten.
Andere Tiere, die in Geſellſchaft leben,
nehmen
gemeinſame Bauten vor.
Bedürfniſſe, Triebe veran-
laſſen
ein Tier zu Lauten oder Äußerungen, welche die gleichen
Tiere
verſtehen, weil ſie gleiche Bedürfniſſe, gleiche Triebe
haben
oder in genauer Beziehung zu dieſen Bedürfniſſen
70658 Trieben ſtehen. Die Henne ruft wirklich ihre Küchlein um ſich,
der
Hahn verſammelt den ganzen Hühnerhof zum Mahl, und
dieſe
Rufe werden verſtanden, ſogar von einer jungen Brut
Enten
verſtanden, die ein Huhn ausgebrütet hat.
Dieſe
Sprache
braucht das Tier das iſt bemerkenswert zur Unter-
ſcheidung
von der Sprache des Menſchen nicht zu erlernen.
Die Hühner-Kolonie auf dem einen Hofe hat ſie ganz und gar
ſo
, wie die des andern Hofes.
Der Hahn, der ſein Kikeriki
in
die Welt hineinſchreit, ohne daß wir wiſſen, zu welchem
Zweck
, wird von andern Hähnen, die ſich ſeiner perſönlichen
Bekanntſchaft
nicht zu erfreuen die Ehre haben, verſtanden.

Ein
Hähnchen aus der Brütmaſchine kräht ganz meiſterhaft,
ſelbſt
wenn es dieſe Sprache noch nirgend gehört.
Mit dem Menſchen iſt es nicht ſo. Verſchiedene Völker
ſprechen
verſchiedene Sprachen, ja es entfernen ſich die Sprachen
von
einander, wenn ſich die Menſchen entfernen, obgleich ſie
von
einer gemeinſamen Sprache abſtammen;
und der Menſch,
der
keine Sprache gehört, hat keine Naturſprache, ſondern bloße
Laute
, durch welche er ſtarke Empfindungen kundgiebt, wie die
Laute
des Lachens, Weinens, Schluchzens u.
ſ. w.
So ungebildet auch wilde Völkerſtämme aufgefunden worden
ſind
, immer fand man eine Sprache unter ihnen, durch welche
ſie
ſich nicht nur über die nächſtliegenden körperlichen Be-
dürfniſſe
verſtändigen konnten, ſondern die gebildet genug war,
um
Gedanken mitzuteilen, die nicht in engſter perſönlicher Be-
ziehung
zu den Sprechenden ſtehen.
Die Sprache der wildeſten
Stämme
iſt ein Erbteil von vielen Geſchlechtern, iſt ein Er-
zeugnis
einer weit in die Vergangenheit reichenden Geſchichte,
eine
Entwickelung vom Einfachern zum Höhern, und dieſe Sprache
wird
von den Stämmen naturgemäß nur dann aufgegeben,
wenn
ſie in Berührung mit andern Menſchen kommen, welche
eine
geiſtig gebildetere Sprache, eine ſchon reichere, entwickeltere
beſitzen
, die die geiſtigere Reife der Sprechenden bekundet.
70759
Wenn man auf die Urgeſchichte der Menſchheit zurückgeht,
ſo
mag wohl die Vermutung aufgeſtellt werden, daß ſich alle
Sprachen
aus Naturlauten, aus Äußerungen der Empfindungen
entwickelt
haben.
Die fertigen Sprachen tragen in manchen
Beziehungen
die Spuren gemeinſamer Abſtammung, und wenn
man
hierdurch auch nicht die gemeinſame Abſtammung des
ganzen
Menſchengeſchlechts von einem erſten Menſchenpaar be-
weiſen
kann, ſo folgt doch ſo viel daraus, daß gleiche erſte
Urſachen
zur gleichen Bildung von Worten, Sätzen, Bildern
geführt
haben, Urſachen, die oft nicht von der äußeren
Umgebung
, ſondern von der gleichen inneren Geiſtesrichtung
und
Geiſtesordnung herrühren.
Das geiſtige Weſen des Menſchen giebt ſich in der Sprache
des
Menſchen im höchſten Grade kund, und die Geſchichte der
Urſprachen
, die gegenwärtig noch ſehr unvollkommen iſt, wird
ſicher
einmal den Nachweis führen, daß der geiſtige Fortſchritt
der
Menſchheit am beſten am Fortſchritt ihrer Sprachen gemeſſen
werden
kann.
XIX. Die Herrſchaft des Menſchen.
Das innigſte Zeugnis für die geiſtige Natur des Menſchen-
geſchlechts
liegt in der Einwirkung des Menſchen auf die
Natur
.
Der einzelne Menſch iſt der Natur unterthan; auch
die
Menſchengeſchlechter, die gelebt haben und die noch leben
werden
, konnten und können ſich dem natürlichen Lauf der
Dinge
im Ganzen und Großen nicht widerſetzen.
Das Leben
der
Menſchheit geſtaltet ſich nach Geſetzen, die wir ahnen, aber
nicht
zu umſchreiben vermögen;
aber trotz dieſer Notwendig-
keiten
, die man fortzuleugnen nicht imſtande iſt, hat das
Menſchengeſchlecht
eine ſo entſchiedene Herrſchaft über
70860 ganze Erde, daß dieſe völlig umgewandelt worden iſt, ſeitdem
ſie
ein Wohnſitz der Menſchen geworden, daß ſowohl die ſo-
genannte
tote Natur wie die Pflanzen- und Tierwelt ein Be-
ſitztum
der Menſchheit geworden, in welchem ſie zu ihrem
Vorteil
zu ſchalten und zu walten vermag, als wäre es ihr
eigenſtes
Eigentum, ihre ſelbſteigene Schöpfung.
Da all dies nur die geiſtig begabte Menſchheit auszuführen
vermochte
, ſo liegt hierin genugſam angedeutet, daß der Geiſt
eine
Herrſchermacht über die Natur hat und der Grund zu
jener
Ahnung, die ſelbſt in den wildeſten Völkern dunkel her-
vortritt
, daß überhaupt der Geiſt das Höchſte und das All-
herrſchende
iſt.
So weit nur die Hand des Menſchen reicht, ſo weit hat
er
ſich die ganze Natur dienſtbar gemacht und ſie ſeinen Zwecken
unterworfen
.
Die Natur hat dem Menſchen ein Werkzeug verſagt, das
ſie
dem Maulwurf verliehen, um ins Innere der Erde zu
dringen
;
aber der Menſch hat aus dem ihm verſchloſſenen Erd-
Jnnern
Geſteine geholt, und mit Hülfe des Feuers das Eiſen
geſchmiedet
, mit welchem er tief hineinwühlt in die Erdrinde.
Dinge, die die Natur beſitzt, aber niemals und nirgend un-
vermiſcht
darſtellt, ſtellt der Menſch rein dar.
Viele Metalle,
Luftarten
, Pflanzenſäfte, Öle, Alkohole und eine unendliche
Reihe
chemiſcher Urſtoffe und chemiſcher Verbindungen werden
von
der Natur nicht dargeſtellt, und nur der Menſch vermag
dies
.
Soweit der Erdboden Menſchen trägt, haben ſie die Ober-
fläche
der Erde umwühlt, die natürliche Pflanzenwelt, die
wilden
Pflanzen verdrängt und nur ſolchen Pflanzen Raum
und
Leben und Fortpflanzung gegönnt, die dem Menſchen
nützlich
oder ſeinem Auge wohlgefällig oder ſeinem Geruch an-
genehm
ſind.
Er hat den Urwald ausgerottet und den Bäumen
nur
ſo weit das Daſein geſtattet, als ſie des Menſchen
70961 begünſtigen und verſchönen. Er hat unter den Bewohnern
der
Wälder, unter den wilden Tieren eine vernichtende Ver-
heerung
angerichtet, ſo daß ſie faſt ganz von dem bewohnten
Erdenrund
verſchwunden ſind.
Was nicht für den Menſchen
lebt
, dem nimmt er das Leben;
was das Menſchendaſein er-
leichtert
und begünſtigt, dem giebt er Leben, um es ihm ge-
legentlich
vielleicht wiederum zu nehmen.
Die gezähmten Tiere
leben
eben nur für den Zweck des Menſchenlebens.
Die ge-
zähmte
Tierwelt vermehrt ſich in der Wildnis bei weitem
langſamer
als unter der Zucht der Menſchen;
aber ſie erfreut
ſich
des Daſeins nur, um ihr Daſein für das Daſein der
Menſchen
zu opfern.
Der Menſch hat die Pflanzenwelt wie die Tierwelt bereichert
durch
Miſchlingsarten, die er künſtlich erzeugt, wie ſie die
freie
Natur nicht hervorbringt.
Unzählige Apfelſorten ſind
aus
dem wilden Apfel entſtanden, der jetzt verſchmäht wird;
der Menſch hat dieſe Frucht veredelt, aber für ſich veredelt.
Er
hat die Schafzucht durch Kreuzung verſchiedener Raſſen
veredelt
und dieſes wehrloſeſte aller Tiere in unendlicher Zahl
vermehrt
;
aber die Veredelung und Vermehrung iſt nur um
des
Vorteils des Menſchengeſchlechts willen geſchehen.
Wo wir hinblicken, iſt die Erde voll von Werken der
Menſchen
, welche die Werke der Natur verdrängt oder um-
geſtaltet
haben.
Feld, Garten, Wieſe, Haus, Straße, Dorf,
Stadt
, alles iſt Zeugnis des die Natur beherrſchenden Menſchen-
geiſtes
.
Wo Menſchengeiſt waltet, bleibt ein Gebirge nicht wie
es
war, bleibt ein Wald nicht wie er geweſen, bleibt ein Strom
nicht
, wie er ſich von Natur aus geſtaltet.
Hier wird ein Berg
abgetragen
, dort ein Thal erhöht, hier ein Waldbrand an-
gefacht
, dort eine neue Schonung angepflanzt, hier der Strom
gedämpft
, dort eine Berieſelung angelegt.
Die Natur hat ihm den Flügel des Vogels verſagt; er
erhebt
ſich im Luftballon zur ſchwindelnden Höhe.
Kein
71062 vermag ſo ausdauernd das Meer zu durchmeſſen, wie ein
Schiff
, das der Lenkung des Menſchen dienſtbar iſt.
Der
Fluß
muß ſein Laſttier werden, der Wind ſeine Kraft dem
Menſchen
leihen, der Sturzbach ſeine Mühle treiben, die
Magnetnadel
muß ſein Wegweiſer werden, der Waſſerdampf
ſeinen
unermüdlichen Knecht abgeben.
Der Blitzableiter iſt
ſeine
Schutzwehr vor dräuenden Flammen, das Licht iſt ſein
photographiſcher
Maler geworden, und der elektriſche Telegraph
überflügelt
den Sturm, der einſtens als der ſchnellſte Bote
Gottes
angeſehen wurde.
Will man Natur ſehen, wie ſie urſprünglich iſt, ſo giebt
es
bald keinen Ort mehr, wohin man den Blick richten kann,
als
auf das Meer oder hinauf zum Sternenhimmel;
das feſte
Erdenrund
iſt ganz der Umgeſtaltung durch den Menſchengeiſt
preisgegeben
.
Zwar hat der Menſchengeiſt die Natur bezwungen durch die
Kräfte
der Natur;
aber das iſt die wahre Herrſcherweiſe, die
zu
walten weiß über die Kraft des Dieners, um ſich durch
dieſe
den Diener zu unterwerfen.
Der Menſch, das höchſte
der
bekannten Schöpfungen, hat ſich zum Schöpfer alles unter
ihm
Geſchaffenen aufgeſchwungen.
XX. Der Menſchengeiſt und der Luftkreis.
Bei der Betrachtung über die Einwirkung des Menſchen
auf
die Natur ergiebt ſich, daß der Menſch nicht nur die Erde
beherrſcht
, ſondern auch, daß er hineinreicht bis in die Wolken-
region
und auf die Wirkung der geheimſten Kräfte der Natur
mit
ſeiner Kultur des Bodens eingreift.
Nicht nur Pflanzen und Tiere verſetzt er von einem
71163 zum andern, ſondern er wirkt auch auf das Klima ein und
zwingt
Wolken und Wärme, ihre Bahn nach den Wohnſtätten
der
Menſchen einzurichten.
Der Boden, auf dem wir in Deutſchland wohnen, war
vor
alten Zeiten teils von waldigen Wildniſſen, teils von
Sümpfen
und Moräſten, teils von Sandſtrecken eines zurück-
getretenen
Meeresufers bedeckt.
Wo der Urwald herrſcht, da iſt
die
Luft kalt.
Es ſammeln ſich über demſelben die Waſſer-
dünſte
der Luft, um Wolken entſtehen zu laſſen, und ſie ſchütten
auf
dieſe Gegenden den Regen herab, um auf dem Waldgrund
Rieſelbäche
zu bilden, die unter dem Schutz des Blätterdaches,
der
Farrenkräuter und der Mooſe des Bodens nicht wieder
verdampfen
können.
Menſchen und Tiere, die ſich in ſolchen
Gegenden
niederlaſſen, leben in einem kalten, naſſen Klima,
das
der Geſundheit ſchädlich iſt.
Nur die kräftigſten Stämme
vermögen
in demſelben auszudauern, die ſchwächeren ſterben
aus
.
Wenn wir von der Kräftigkeit der deutſchen alten Stämme
leſen
, vergißt man, daß der Tod frühzeitig die Schwächern
hinraffte
und nur eine dünne Bevölkerung übrig ließ, die dem
Klima
Widerſtand leiſten konnte.
Wo der Boden ſandig iſt, da iſt er auch kahl. Die Winde
jagen
über denſelben hin und führen die Feuchtigkeit hinweg,
und
die Sonnenwärme prallt von der weißen Farbe des Erd-
reichs
ab, und dringt nicht in die Tiefe, um Pflanzenkeime
zur
Frucht heranreifen zu laſſen.
Über der Sandfläche herrſcht
Trockenheit
der Luft bei Armut des Bodens;
über dem Ur-
wald
herrſcht feuchte Luft bei Näſſe und Üppigkeit des wilden
Pflanzenwuchſes
.
Und hier iſt es, wo die Kultur, die Herrſchaft der Menſchen
über
die Natur, eingreift.
Sie roden den Wald aus oder
brennen
ihn ſtreckenweiſe nieder, um die Sonnenwärme dem
Boden
zugänglich zu machen und dem Winde freien Spiel-
raum
zu geben.
Die Wolkendecke zerreißt dadurch, und
71264 blaue Himmelszelt wird ſichtbar. Die Umwandlung des Bodens
bringt
eine Umgeſtaltung der Wolkengebilde hervor.
Die Aſche
der
niedergebrannten Wälder oder des verbrauchten Holzes
färbt
die Erde ſchwarz und ſchafft den fruchtbaren Boden, auf
dem
die Pflanze gedeiht, die der Menſchennahrung zuträglich
iſt
.
Die Getiere des Waldes vermindern ſich, die Menſchen-
ſtätten
füllen ſich, und die Gegend wird wohnlich, nachdem der
umwandelte
Boden den Luftkreis bis zu bedeutender Höhe um-
wandelt
hat.
Und das Menſchengeſchlecht rückt weiter vor. Die Jagd,
die
Fiſcherei und der Krieg ſind nicht mehr die einzigen Be-
ſchäftigungen
.
Der Menſch ſtreift nicht mehr von Waldrevier
zu
Waldrevier in halbwildem Zuſtand;
er weilt nicht mehr in
elender
Fiſcherhütte am See und führt keinen Krieg mehr mit
Speer
und Bogen gegen heranziehende Stämme, die ihm den
Sitz
ſtreitig machen.
Der Boden iſt geräumig geworden für
Viele
.
Er bietet Platz für Wieſengrund, der einem Hirtenvolk
zur
Nahrung dient.
Die Kulturpflanzen, die Getreidearten
umſäumen
ſeine Weideplätze.
Die Haustiere vermehren ſich
und
bieten den Dünger dar, um ſeinem Felde friſche Nahrungs-
kraft
für Pflanzen anzubieten.
Bald kann er Sandſtrecken
überdecken
und durchdüngen mit ſchwarzem Erdreich, das die
Sonnenwärme
einzieht und feſthält.
Die dürre Sandſtrecke
ſchwindet
, der Fels ſelbſt umkleidet ſich mit Erdreich, das
nährenden
Ertrag liefert.
Pflanzen, die niemals hier gedeihen
konnten
, finden ein Klima, das ihnen Lebenskraft verleiht,
und
die Luft, die ausgedörrt über Sandſtrecken dahinfuhr
welche
von den wilden Vätern gemieden wurden, bewegt jetzt
die
Wellen des Getreidelandes, wo die Enkel ſich friedlich
niedergelaſſen
.
Der Enkel Fleiß legt neue Schonungen und
Bewaldungen
an und lockt das Wolkenreich herbei, daß es
gedeihlich
den Segen ſeiner Waſſerbäche ausgießt zum Gedeihen
der
Menſchenthätigkeit.
71365
So haben die Urväter das deutſche Vaterland wohnlich
gemacht
.
So wirkt der Menſch auf den Boden ein, und der
Boden
auf das Luftmeer, und das Luftmeer auf den Wolkenzug,
und
der Wolkenzug auf die Verbreitung der Sonnenwärme.
Und mit der Menſchheit wandert auch das Klima aus
einem
Land aus.
Nicht nur die Pflanze umwandelt ſich, nicht
nur
das Getier wird umgeſtaltet, ſondern auch die Wolke ver-
wildert
.
Als Paläſtina, das Land, von dem die alten Ur-
kunden
viel erzählen, ein Sitz einer Volkskultur war, wurde
es
als ein Land gerühmt, das vom Thau des Morgens und
vom
Regen des Himmels getränkt wird.
Seitdem es wilder
Horden
Eigentum geworden, iſt nicht nur der Boden ſteinig,
ſondern
auch der Himmel ehern geworden, und der Regen kehrt
nur
nach Monaten ein.
Als Nieder-Ägypten weder Garten noch
Waldung
hatte, war der Regen ein ungekannter Gaſt, und
nur
der Nilſchlamm, der vom Nubiſchen Gebirge hergetragen
wurde
, befruchtete das Land;
ſeitdem Mehemed Ali europäiſche
Kultur
nebſt Wald- und Gartenwuchs dahin verpflanzte, kommen
auch
regenſchwangere Wolken herbei und beginnen zum Staunen
der
Bewohner die Gewäſſer hier abzulagern.
Mit Griechen-
lands
Kultur hat ſich Griechenlands Klima verändert;
durch
den
germaniſchen Fleiß kleidete ſich das Marſchland Schleswig-
Holſteins
in üppigen Segen, über dem ein milderes Klima weilt,
als
die Lage des Landes von der Natur beanſpruchen könnte.
Das Walten des Menſchengeiſtes erſtreckt ſeine Herrſchaft
bis
in den Luftkreis hinein.
XXI. Was im Gehirn während des Denkens
vorgeht.
Die Naturforſcher ſind darüber nicht im Entfernteſten in
Zweifel
, daß nur ein geſundes, unverletztes Gehirn zur vollen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XI.
71466
geiſtigen Thätigkeit fähig iſt. Jede innere oder äußere Störung
auf
die Maſſe des Gehirns bewirkt eine Verdunkelung des
Geiſtes
.
Starker Blutumlauf, durch welchen die Blutäderchen
des
Gehirns ſich zu ſehr füllen, iſt ebenſo mit einer Störung
des
Denkens verbunden, wie ein geſchwächter Kreislauf, der
dem
Gehirn zu wenig Blut zuführt.
Leidenſchaftliche Auf-
regung
, die das Blut in ſtarke Wallung verſetzt, benimmt daher
dem
Gehirn ſeine klare Denkfähigkeit, und man begeht Hand-
lungen
, faßt Beſchlüſſe, hegt Hoffnungen, und macht ſich Vor-
ſtellungen
, die man bei ruhigem Blute belächelt oder bereut.
Aber ebenſo wird durch Schreck, Angſt, die den Blutumlauf
hemmen
, Beſinnungsloſigkeit, Unklarheit der Gedanken bewirkt,
die
zu ganz gleich falſchen Schlüſſen und Handlungen führen
können
.
Dieſe allgemeinen, unbeſtrittenen Thatſachen geben aber
durchaus
keinen Aufſchluß darüber, in welchem Teil des großen
Gehirns
beſtimmte Gedanken fabriziert werden.
Ja, man weiß
durchaus
nicht, was eigentlich im großen Gehirn während der
Gedankenfabrikation
vorgeht.
In Krankheitsfällen hat man
ſehr
wunderbare Erſcheinungen beobachtet.
Zuweilen iſt ein
Menſch
bei vollkommen gutem Verſtande, und nur, wenn man
irgend
ein beſtimmtes Thema berührt, verwirren ſich ſeine Vor-
ſtellungen
, ſo daß er anfängt irre zu reden und falſch zu denken.
Es giebt Menſchen mit fixen Ideen, die alles in der Welt
richtig
beurteilen und nur in einem Punkte völlig irrſinnig ſind.

Viele
ſolcher Kranken ſind klug genug zu merken, daß die Welt
mit
ihnen in dieſem Punkt nicht übereinſtimmt, und ſie ver-
ſtecken
ihren Jrrſinn und meiden es, ihn laut werden zu laſſen.

Andere
ſind wiederum gerade darauf verſeſſen, jedes Geſpräch
auf
den Punkt hinzulenken, von dem ſie wohl wiſſen, daß ſie
hierüber
anders denken als alle übrigen Menſchen.
Sie
empfinden
einen Reiz, immer auf eine beſtimmte Behauptung
zurückzukommen
und verfallen auf dieſelbe, wenn ſich auch
71567 die leiſeſte Gelegenheit dazu darbietet. Die Krankengeſchichte
ſolcher
Unglücklichen lehrt dann meiſtens, daß ſie ſich in geſunden
Tagen
vornehmlich und meiſt leidenſchaftlich mit Jdeen beſchäftigt
haben
, die jetzt in einer verkehrten Weiſe zu einer fixen Vor-
ſtellung
geworden ſind.
Nach dem Tode ſolcher Kranken hat
man
zuweilen auch gefunden, daß deren Gehirn im ganzen
ein
geſundes Anſehen, und nur an beſtimmten Stellen krank-
haft
angegriffen war.
Hiernach ſollte man glauben, daß man
Urſache
habe anzunehmen, daß beſtimmte Gattungen von Ge-
danken
auch in beſtimmten Gegenden des großen Gehirns fabri-
ziert
werden;
allein eine unparteiiſche Unterſuchung geſteht, daß
man
hierüber durchaus nichts Sicheres weiß.
Man hat auch
ſchon
gefunden, daß zwei Jrrſinnige, von ganz gleicher Jdee be-
fangen
, an ganz verſchiedenen Stellen des Gehirns erkrankt waren.
Es kommt vor, daß bei irgend einer Veranlaſſung eine
Partie
von Blutäderchen des Gehirns geſprengt wird und daß
ſich
an dieſer Stelle Blutflüſſigkeit ergießt.
In ſolchen Fällen
ereignet
es ſich, daß der Kranke, ohne an ſeinem Leben be-
droht
zu ſein, auch ſeiner Gedanken mächtig iſt und nur die
Fähigkeit
für gewiſſe Dinge verliert.
Es giebt Kranke derart,
die
gewiſſe Namen vergeſſen.
Sie ſind nicht imſtande, ſich auf
ihren
eigenen Namen zu beſinnen;
ſie können den Namen
ihrer
Frau, ihrer Kinder, eines Freundes, einer beſtimmten
Stadt
nicht hervorbringen, obgleich ſie imſtande ſind, die Buch-
ſtaben
des Namens auszuſprechen.
Sie wiſſen ſehr wohl,
wen
ſie nennen wollen, weiſen mit dem Finger auf die be-
ſtimmte
Perſon, verneinen, wenn man ihnen eine falſche nennt,
und
ſind imſtande, den Namen nachzuſprechen, im Augenblick,
wo
man ihn vorſpricht.
Aber kaum verſuchen ſie einen Satz
zu
ſprechen, wo wiederum derſelbe Name vorkommt, und ſie
haben
ihn wiederum vergeſſen.
Wie mit dem Namen, ſo geht
es
oft mit andern ganz beſtimmten Wörtern, zumeiſt auch mit
ganz
beſtimmten Gedankenreihen oder Vorſtellungen.
71668
Findet man nach dem etwa aus andern Urſachen erfolgten
Tode
ſolcher Kranken eine beſtimmte Stelle des Gehirns er-
krankt
, ſo ſollte man meinen, daß hier der Ort ſei, wo jener
Name
, jenes Ding, jenes Wort, das der Kranke nicht faſſen
konnte
, fabriziert werde;
allein auch dies hat ſich nicht bewährt
und
hat ſich aus mannigfachen Vergleichungen verſchiedener
Fälle
nicht feſtſtellen laſſen.
Es iſt gewiß nicht ohne Grund, daß Menſchen, die ſich
auf
etwas beſinnen wollen, die Hand an die Stirn legen, als
ob
es dort ſäße, daß man bei einem überraſchenden Gedanken
den
Kopf in den Nacken wirft, bei einem überraſchenden An-
blick
, ſei er freudig oder ſchreckhaft, mit den Händen nach dem
Hinterkopf
greift, daß man in Verlegenheit ſich hinter den
Ohren
kratzt;
aber Schlüſſe daraus über den Ort des Gehirns
zu
ziehen, wo gewiſſe Gedanken wohnen oder fabriziert werden,
iſt
man durchaus nicht imſtande.
Über dieſe Fragen alſo: was geht im Gehirn während
des
Denkens vor?
welche beſtimmte Teile werden in Thätigkeit
geſetzt
bei beſtimmten Gedanken?
Welche Rolle ſpielte hierbei
die
graue, welche die weiße Maſſe des Gehirns?
Was haben
hierbei
die Kügelchen, was die Fäſerchen zu thun, aus welchen
die
Gehirnmaſſe beſteht?
über all’ dieſe und viele andere
Fragen
antwortet die Naturwiſſenſchaft einfach:
das weiß ich
bis
jetzt noch nicht!
XXII. Der angeborene Geiſt und die Erfahrung.
Eine der intereſſanteſten Fragen der Wiſſenſchaft iſt die,
ob
dem Menſchen gewiſſe Begriffe angeboren ſind, oder ob ſie
ſich
alle erſt aus der Erfahrung bilden.
In Abrede läßt ſich nicht ſtellen, daß das Tier mit
71769 wiſſen richtigen Vorſtellungen in die Welt kommt. Wenn das
neugeborne
Schaf und Füllen ohne weiteres auf das Mutter-
tier
zugeht, um an den Zitzen zu ſaugen, ſo geſchieht dies nur,
wenn
und weil es die Mutter ſieht;
denn junge Hunde, die
nicht
gleich nach der Geburt ſehen können, verſtehen es auch
nicht
, ſich nach der Mutter hinzubegeben.
Obwohl nun der
Jnſtinkt
das Schaf zur Mutter leitet, ſo geſchieht die Leitung
doch
infolge einer richtigen, wenn auch dunkeln Vorſtellung,
die
das Schaf mit dem Sehen beſitzt, obgleich es mit ſeinen
Augen
noch gar keine Erfahrung gemacht hat.
Wenn man bedenkt, daß der neugeborne Menſch zwar viel
Zeit
hat, Erfahrungen durch die Sinne zu machen, bevor er
es
nötig hat, ſeinen Verſtand zu gebrauchen, ſo iſt es doch
klar
, daß man auch Verſtand braucht, um Erfahrungen zu
machen
.
Was könnte es einem Kinde helfen, wenn es tauſendmal
erfährt
, daß die Mutterbruſt ihm den Hunger ſtillt, ſobald es
ganz
ohne Verſtand und auch ganz ohne Gedächtnis wäre,
und
ſomit während der Sättigung nichts verſtände von der
Erfahrung
, die es macht, oder nach der jedesmaligen Sättigung
ganz
und gar vergäße, was es eben erfahren hat?
Hiernach
müßte
man alſo annehmen, daß es wirklich angeborene Ver-
ſtandsbegriffe
im Menſchen giebt, die ihn befähigen, das oft
Erlebte
zu begreifen, im Gedächtnis zu behalten, alſo ſich eine
Vorſtellung
auszubilden, um aus dem oft Erfahrenen ſich eine
Regel
zuſammenzuſtellen, die man eben eine Erfahrung nennt.
Im höchſten Grade belehrend ſind die Verſuche, die man
au
Kindern feſtgeſtellt hat, die taub und blind geboren wurden.
Solche arme Geſchöpfe ſind auch zugleich ſtumm, weil ſie nie-
mals
haben ſprechen hören, und ihre eigene Stimme nicht ver-
nehmen
.
Sie laſſen nur ſolche hören, die man unwillkürlich
ausſtößt
, wie Lachen, Weinen, Schreien, Schluchzen, und machen
infolgedeſſen
die Erfahrung, daß andere Weſen von dieſen
Lauten
Kenntnis bekommen und ihnen Hilfe leiſten.
71870 Bereich ihrer Erfahrung iſt außerordentlich beſchränkt; ſie haben
nur
den Geruch, den Taſtſinn und den Geſchmack, um durch
dieſe
zu begreifen, daß eine Welt mit verſchiedenen Dingen
außer
ihnen exiſtiert.
Man ſollte es für rein unmöglich halten,
daß
ſolche Geſchöpfe mit außerordentlich geringfügigen Er-
fahrungen
ihren Geiſt ausbilden könnten, wenn man ſich auch
noch
ſo viele Mühe mit ihnen geben wollte.
Und doch iſt es
bei
Vielen gelungen, ſie zur Erkenntnis von Dingen außer
ihnen
zu bringen, für welche ihnen die Sinne fehlen.
Durch
höchſt
wunderbare Methoden hat man Unglückliche dieſer Art
ſoweit
belehrt, daß ſie einen richtigen Scharfſinn entwickeln,
und
nicht nur mechaniſch nützliche Arbeiten verrichten, ſondern
ſogar
die Bedeutung und die Wichtigkeit dieſes ihres Thuns
begreifen
.
Selbſt das klügſte Tier, das ſehen und hören kann, alſo
an
Erfahrungen bei weitem reicher iſt als ſolche Menſchen-
geſchöpfe
, ſteht tief unter ihnen, ſobald man ſie mit Einſicht
und
Ausdauer in ihrer Ausbildung leitet.
In Boſton in
Amerika
iſt ein Inſtitut, in welchem Mädchen dieſer Art erzogen
werden
.
Sie lernen eine Fingerſprache, die ſich darin von der,
welche
man jetzt die Taubſtummen lehrt, unterſcheidet, daß ſie
die
Finger nicht in der Luft bewegen, ſondern auf der Hand
der
Perſon, mit der ſie ſprechen wollen.
Sie erhalten auch die
Antwort
in gleicher Weiſe, weil ſie ja die Fingerbewegung in
der
Luft nicht ſehen, wie es bei den Taubſtummen der Fall iſt.
Sie lernen ſchreiben, Geſchriebenes, das auf beſondern Tafeln
mit
erhabenen Buchſtaben aufgelegt wird, durch das Fühlen
der
Hand leſen.
Sie ſind imſtande, Gedanken, wirkliche Ge-
danken
nicht nur zu faſſen, ſondern auch von ſich zu geben.

Ja
, ſie haben ein richtiges Urteil über das Sein der geſunden
Menſchen
, die in einer Welt leben, die ihnen ewig verſchloſſen
iſt
, und geben den Beweis, daß es nur noch einer weitergehenden
Unterrichtskunſt
bedarf, um ihren Geiſt noch weiter
71971 und ſie zu einer Höhe der Erkenntnis zu erheben, von welcher
man
meinen ſollte, daß ſie nur durch Auge und Ohr den Weg
zum
Geiſt finden könnten.
Der Dichter Boz ſchildert in ſeiner Reiſebeſchreibung über
Amerika
den Beſuch einer ſolchen Anſtalt, und verſucht auch
die
Art deutlich zu machen, wie die Belehrung ſolcher Weſen
gelingt
.
XXIII. Von den Vorſtellungen und deren Ent-
wickelung.
Obwohl die Naturwiſſenſchaft nicht anzugeben weiß, wo-
her
der Geiſt ſtammt, und wie ſich Gedanken in einem Ge-
hirn
, das noch nie gedacht hat, entwickeln, ſo hat man doch
durch
Beobachtungen bereits einige Kenntnis von der Art und
Weiſe
, wie ſich Gedanken naturgemäß aneinander reihen, wie
man
von einem Gedanken zum andern übergeht, und wie ge-
wiſſe
Gedankenreihen entſtehen, welche entweder zu höhern Ge-
danken
, zu einer Sammlung des Geiſtes führen, oder auf ein
Verlaufen
der Gedanken, auf die Zerſtreuung derſelben leiten.
Die einfache Art des Denkens iſt die, daß man von
einem
Ereignis auf ein zweites ſchließt, ſobald die Erfahrung
oft
genug gelehrt hat, daß dieſe beiden Ereigniſſe im Zuſammen-
hang
ſtehen.
Das Kind macht ſo oft die Erfahrung, daß auf
ſein
Schreien die Mutter herbeieilt, daß es endlich durch
Schreien
die Mutter herbeizurufen verſteht;
der Erwachſene,
der
oft genug die Erfahrung gemacht hat, daß auf den Blitz
bald
Donner erfolgt, wird den Blitz und Donner in ſeinen
Vorſtellungen
in Zuſammenhang bringen, wenn er auch
nicht
weiß, daß ſie wirklich einer und derſelben Natur-
erſcheinung
angehören.
Ja ſelbſt das Tier iſt
72072 ſolch’ einfache Vorſtellungen und Verbindungen von Gedanken
zuſtande
zu bringen;
der Hund, der einmal Prügel mit einem
Stock
erhalten hat, bringt bei der Wahrnehmung des Stockes
die
Prügel damit in Zuſammenhang und wird an die Prügel
denken
, ſo oft er den Stock in ähnlicher Stellung ſieht, die er
beim
Prügeln einnahm.
Eine höhere Art von Gedanken iſt es ſchon, wenn man
aus
der Erfahrung ſich eine Regel macht, und einen Begriff
daraus
ableitet.
Wenn ein Kind z. B. während eines ſchweren
Wolkenzuges
das Eintreten des Regens erwartet, ſo iſt ſein
Gedankengang
nicht viel höher als der eines Hundes, der beim
Stock
an Prügel denkt;
wenn aber das Kind ſo weit in ſeinen
Gedanken-Verbindungen
geht, auch ohne ſichtbare Wolken die
Regel
feſtzuſtellen, daß Wolkenzüge und Regen im Zuſammen-
hange
ſtehen, ſo bildet es ſchon einen Begriff und erhebt ſich
ſo
zu einer höheren Gedankenreihe.
Noch höher iſt die
Gedankenreihe
, wenn das Kind über den Grund dieſes Zu-
ſammenhanges
nachdenkt, die Urſache der Erſcheinung ſucht,
hierbei
viele andere Erfahrungen damit vergleicht, um richtige
und
falſche Gründe von einander zu unterſcheiden.
In ſolchem
Falle
iſt der Geiſt ſchon in einer weit höheren Thätigkeit be-
griffen
, ſelbſt wenn es dem Kinde auch nicht gelingt, die
richtige
Urſache der Naturerſcheinung ausfindig zu machen.
Immer aber iſt es eine Regel der Geiſtesthätigkeit, daß
die
Vorſtellungen, Begriffe und Gedanken nicht willkürlich von
einem
zum andern ſpringen, ſondern ſtets einem Faden aus
der
bisherigen Reihe der Erfahrungen folgen.
Sehr oft ergeht man ſich in Gedankenflügen, wo man von
einer
Vorſtellung auf die tauſendſte hingerät und vergißt,
welchen
Weg man hierbei im Geiſte genommen hat.
Man
begreift
dann gar nicht, wie man ſo fernliegende Dinge hat
zuſammenbringen
können, die nicht die mindeſte Ähnlichkeit
mit
einander haben;
wenn man jedoch mit Aufmerkſamkeit
72173 ſolchen Geiſtesflug folgt, ſo ſieht man, wie frühere Erfah-
rungen
, ſowohl Geſehenes als auch Gehörtes und Erlebtes,
das
Band ſind, an welchem der Geiſt wie an einem Leitſeil
gelaufen
iſt.
Um eiumal ein Beiſpiel derart anzuführen, wollen
wir
eine Reihe von Vorſtellungen herſetzen, die ein Menſch im
Geiſte
durchläuft, ohne am Anfang zu ahnen, wohin er kommt,
und
ohne am Ende zu wiſſen, wie er darauf gelangt iſt.
Denken wir uns, ein Menſch ſieht ein wenig Honig, und da-
bei
fällt ihnt ein Bienenkorb ein;
beim Bienenkorb weilen
ſeine
Gedanken bei der Bienenkönigin, von dieſer kann er, ohne
es
eigentlich zu beabſichtigen, auf eine andere Königin kommen,
die
Königin Victoria von England;
bei dem Namen Victoria
fällt
ihm die Sieges-Göttin Victoria ein, die auf dem Branden-
burger
Thor in Berlin ſteht, vom Brandenburger Thor wandern
ſeine
Gedanken in den Tiergarten;
vom Tiergarten nach dem
Goldfiſchteich
, von den Goldfiſchen gerät er auf den Gedanken
an
den Stör, bei dieſem fällt ihm Caviar ein, beim Caviar
verſetzt
er ſich nach Rußland, von Rußland fällt er auf dic
Kreuzzeitung
, bei der Kreuzzeitung aufs eiſerne Kreuz, bei
dieſem
auf die Befreiungskriege, und wenn er bei dieſem
Gedanken
wieder auf die Siegesgöttin Victoria über dem
Brandenburger
Thor verfällt, ſo kann er die dunkle Vor-
ſtellung
haben, daß er erſt ſoeben an dieſe gedacht hat, ohne
daß
er weiß wie?
Das fällt ihm auf, er möchte wiſſen, wie
er
darauf gekommen, er beſinnt ſich und findet, daß er anfangs
nur
von Honig ausging, und begreift es nicht, wie und in
welcher
Weiſe er vom Honig wiederholt bei der Sieges-Göttin
Victoria
angelangt ſein könnte;
und doch hat ſein Geiſt nicht
willkürliche
Sprünge gemacht, ſondern an der Hand einer zwa@
loſen
, aber doch zuſammenhäugenden Reihe von Vorſtellungen
eine
Art regelmäßigen Gang durchlaufen, einen Gang, der
ſehr
künſtlich und geſucht ausſieht, wenn man ihn darſtellt,
72274 aber jedem naturgemäß vorkomnten wird, der ſich ſelbſt in
ſeinen
Gedankengängen beobachtet und ſich die Mühe genommen
hat
, einmal der Reihe von Vorſtellungen nachzufolgen, die
unwillkürlich
in ſeinem Geiſte ſich abgelöſt haben.
Im
Traume
, wo ja die Urteilsfähigkeit völlig fehlt, erreicht dieſe
Verknüpfung
von Vorſtellungen, die nur ganz loſen Zuſammen-
hang
mit einander haben, ihre höchſte Entwickelung.
Es liegen dieſer Erſcheinung, die auf unſer Denken vom
größten
Einfluß iſt, bereits näher gekannte Geſetze zu Grunde;
und dieſe wollen wir uns im nächſten Abſchnitt klar zu machen
ſuchen
.
XXIV. Ruheloſigkeit und Ruhe der Gedanken.
Scharfſinnige Naturforſcher haben die Beobachtung gemacht,
daß
die Zeit, welche das Gehirn zu einer einzigen Vorſtellung
braucht
, außerordentlich kurz, daß ferner ein längeres Verweilen
bei
einer Vorſtellung durchaus unmöglich iſt, und daß deshalb
die
Gedanken ſofort, wenn ſie eine Vorſtellung gefaßt haben,
unwillkürlich
zu weitern Vorſtellungen übergehen.
Man kann z. B. bei dem Gedanken an eine Taube nicht
ſtehen
bleiben, man geht vielmehr unwillkürlich auf eine nähere
Betrachtung
derſelben, auf ihre Farbe, die Flügel, Füße
u
.
d. m. ein; bald verweilt man auch hierbei nicht mehr, ſondern
geht
auf die Umgebung über, denkt ſich ihren Standpunkt, ihren
Flug
durch die Luft, und kommt ſo, ohne es zu merken, auf
ganz
neue Reihen von Vorſtellungen, die wiederum von andern
Vorſtellungen
abgelöſt werden.
Dieſer Umſtand führt auf die ſehr begründete Vermutung,
daß
das Gehirn, überhaupt bei einem wachenden Menſchen,
nicht
ruht, ſondern unausgeſetzt thätig iſt, und zwar mit
72375 abwechſelnder Vorſtellung. Wie es das Auge ermüdet, ſtets
auf
einen Punkt zu ſehen, in noch höherem Maße ermüdet
das
Gehirn, wenn es nur an einer einzigen Vorſtellung haften
will
.
Wer ſich jemals photographieren ließ, der wird an ſich
die
Bemerkung gemacht haben, was es ſagen will, auch nur
dreißig
Sekunden auf eine Stelle hinzublicken.
Die Züge des
Geſichts
nehmen ſchon nach den erſten Sekunden etwas Starres
an
, das allen Lichtbildern eigen iſt, und nicht von der Haltung
des
Körpers allein, ſondern von dem Beſtreben herrührt,
ruhig
zu ſitzen.
Es gehört eine große Anſtrengung dazu, um
nur
in dieſer äußerſt kurzen Zeit nicht ſchon Langeweile zu
empfinden
, zumal wenn man ſich dabei vornimmt, nur an einen
beſtimmten
Gedanken zu denken.
Wer ſich genau oder unbe-
fangen
beobachten kann, der wird eingeſtehen, daß die Ge-
danken
während der halben Minute ſtets abſchweiften und nur
künſtlich
zuſammengehalten werden mußten.
Es ſcheint demnach eine Eigentümlichkeit des Geiſtes zu
ſein
, von einer Vorſtellung nach unglaublich kurzer Dauer auf
eine
andere übergehen zu müſſen, und dieſer Übergang erfolgt
nach
beſtimmten Regeln, obgleich man ſich der Regeln nicht
bewußt
iſt.
Desgleichen kann man durch die Ähnlichkeit zweier Dinge
von
der Vorſtellung des einen auf das andere geführt werden,
wenn
ſie auch gewöhulich nicht gleichzeitig auftreten, wie z.
B.
Schnee und Regen. Auch der gleiche Klang eines Wortes
kann
auf ein ihm gleichklingendes Ding führen, obgleich es
ihm
weder ähnlich iſt, noch gleichzeitig mit ihm erſcheint.

Man
ſpricht von der Königin Victoria von England und ſpringt
in
Gedanken zur Siegesgöttin Victoria über.
Auch der Ort,
wo
man etwas geſehen oder gehört hat, kann die Vermittelung
zwiſchen
zwei ganz fernliegenden Vorſtellungen bilden.
Man
denkt
an Wallenſtein, und es fällt einem eine Bekanntſchaft ein,
die
man im Theater gemacht.
Ja, ſogar die Gegenſätze
72476 einander hervor, wie ſchwarz und weiß, kalt und warm, naß
und
trocken;
ſelbſt die nicht naturgemäßen, ſondern nur zu-
fällig
als Gegner bekannten Perſönlichkeiten und Nationen
werden
eine durch die andere in Gedanken hervorgerufen.
Man
nennt
dieſe Erſcheinung Gedankenverknüpfung oder Ideen-
Aſſociation
.
Intereſſant iſt es zu beobachten, wie es mit den Gedanken
oft
ganz ſonderbar geht.
Auch der Fleißigſte und Geiſtreichſte
bringt
zuweilen ein halbes Stündchen zu, bei deſſen Ablauf er
durchaus
nicht ſagen kann, woran er gedacht hat.
Er weiß
es
wohl, daß er an Vieles gedacht habe, und ſicherlich wäre
kein
Maler in der Welt Zeit ſeines Lebens imſtande, all das
zu
malen, was in der einen halben Stunde durch das Hirn
dieſes
ſcheinbar Müßigen gegangen.
Und doch iſt nichts in
dem
Gedächtnis hiervon geblieben, weil trotz des regelrechten
Ganges
der Gedanken keiner derſelben einen hervorragenden
Eindruck
auf den Denkenden gemacht hat.
Den Männern
geht
beim Rauchen und den Damen beim Stricken oft eine
ganze
Welt durch den Sinn, von welcher, wenn ſie ſich be-
ſinnen
, auch nicht die geringſte Spur verblieben iſt.
Nur
wenn
ein beſonderer Gedanke hervorragend das Intereſſe in
Anſpruch
genommen hat, oder wenn auch nur eine Vorſtellung
im
Lauf all der Vorſtellungen mehreremale wiedergekehrt iſt,
nur
dann wird man ſich deren bewußt und glaubt oft ganz
irrtümlich
, ſich die ganze Zeit damit beſchäftigt zu haben.
Dem Gehirn iſt es ſo notwendig, ſtets mit Vorſtellungen
zu
wechſeln, oder ſie zu ganzen Bildern der umfaſſenden
Gedanken
auszuführen, daß jede Unterhaltung oder jedes Buch,
das
zu lange bei einer Vorſtellung, einem Gedanken verweilt,
nur
Unbehagen, nur Verſtimmung des großen Gehirns hervor-
ruft
, das man mit dem Namen Langeweile bezeichnet.
Dieſe
Verſtimmung
des großen Gehirns, deren Natur man freilich
nicht
näher kennt, ſcheint auf das derlängerte Mark zu
72577 das auf das Atmen von ſo großem Einfluß iſt, und das
Gähnen
zu veranlaſſen, welches eigentlich nur eine eigen-
tümliche
Atembewegung iſt.
Wie innig das Atmen mit den Vorſtellungen des großen
Gehirns
zuſammenhängt, ſieht man beim Seufzen, ſobald man
eine
Zeitlang von einem traurigen Gedanken eingenommen ge-
weſen
iſt.
Auch hier iſt der Reiz auf das verlängerte Mark
wahrſcheinlich
, indem das Seufzen ebenfalls nur ein eigen-
tümliches
Atmen iſt.
Bielen Menſchen iſt es möglich, künſtlich eine Art Ge-
dankenloſigkeit
in ſich hervorzurufen, um leicht einſchlafen zu
können
.
Ein langweiliges Buch thut hierin denjenigen gute
Dienſte
, die dieſer Kunſt nicht fähig ſind;
aber auch die Ein-
bildung
, oder richtiger der unbewußte Vorſatz, an nichts denken
zu
wollen, ſetzt der Thätigkeit des Gehirns Schranken und
ruft
freilich nicht immer den Schlaf herbei, der, wenn
er
gut iſt, die Ruhezeit des großen Gehirns bildet.
XXV. Gedächtnis- und Erinnerungs-Vermögen.
Das Gehirn beſitzt eine eigentümliche Fähigkeit, eine
Vorſtellung
, die es einmal ſtark gefaßt hat, eine ganze Zeit-
lang
in ſich zu bewahren.
Hierauf beruht die Fähigkeit des
Gedächtniſſes
.
Da man überhaupt nicht weiß, was im Gehirn
während
des Denkens vorgeht, ſo iſt es außerordentlich ſchwer,
das
Gedächtnis richtig zu erklären.
Man hat indeſſen Urſache
zu
vermuten, daß hierbei etwas Ähnliches vorgeht, wie bei
den
Sinnen, namentlich beim Sehen und Hören.
Es iſt nämlich jedermann bekannt, daß, wenn man in
ein
recht ſtarkes Licht ſieht und ſchnell das Auge ſchließt
72678 abwendet, man den Eindruck nicht ſofort verliert, ſondern eine
ganze
Weile das Licht im Auge hat.
Man nennt dies die
Nachempfindung”.
Es geht mit dem Ohr ebenſo. Wenn man
in
einer ſehr langdauernden und rauſchenden Oper geweſen iſt,
ſo
hört man unwillkürlich oft noch mehrere Stunden nachher in
der
tiefſten Stille ein Nachtönen derſelben.
In belagerten
Feſtungen
, wo man während des Tages viel hat ſchießen hören,
glaubt
man auch in der ruhigſten Nacht noch immer Kanonen-
ſchläge
zu vernehmen.
All dies ſind Nachwirkungen der
Erregung
der Sinnesnerven, wobei die Einbildung gar keine
Rolle
zu ſpielen braucht, wie man ſich am beſten bei der
Nachwirkung
eines ſtarken Lichtes im Auge hiervon über-
zeugen
kann.
Es ſcheint nun, daß jede Vorſtellung, jeder
Gedanke
auch im Hirn ſolch eine Nachwirkung hinterläßt, wo-
durch
Vorſtellung und Gedanke im Gehirn längere Zeit ver-
weilen
, wenn man auch inzwiſchen andere Vorſtellungen und
Gedanken
gehegt hat.
Schon die einfachſte Geſchichte, die ein Kind begreift, ſetzt
voraus
, daß beim Ende derſelben der Anfang nicht vergeſſen
worden
iſt.
Es gehört alſo ſchon ein Gedächtnis dazu, um
nur
eine kleine Geſchichte in ihrem Zuſammenhang zu begreifen.
Äußerſt merkwürdig iſt es nun, wahrzunehmen, wie junge
Kinder
ſich oft aufs lebhafteſte für ein ſolches Geſchichtchen
intereſſieren
und nicht Ruhe laſſen, bis man’s ihnen nochmals
und
wiederholt erzählt hat.
Es iſt dies ein Beweis, daß ſie
auch
wirklich den Zuſammenhang begriffen haben.
Allein
fragt
man ſie über die Einzelnheiten, ſo merkt man, daß ſie
dieſe
nicht klar wiſſen.
Ihr Gehirn hat alſo einen Geſamt-
Eindruck
aufgefaßt, während ſich ihnen die Einzelnheiten nicht
eingeprägt
haben.
Oft aber iſt es auch umgekehrt der Fall. Auch Erwach-
ſene
nehmen oft von einem Buche, einem Gemälde, einem
Theaterſtück
, das ſie ganz wohl verſtanden haben, nicht
72779 geſamten Inhalt ins Gedächtnis, ſondern bewahren nur eine
einzelne
Scene, behalten das Andenken an eine Einzelheit
feſt
und erkennen das Ganze nach Jahren nicht wieder, ſo
lange
nicht dieſe Einzelheit ihnen entgegentritt.
Sowie das
aber
der Fall iſt, wird ihnen von dem einen Punkt aus alles
Übrige
klar.
Man hat hierbei das Gefühl, als ob der Inhalt
des
Buches, des Gemäldes, des Theaterſtückes im Gedächtnis
verſchleiert
gelegen habe und jetzt mit einem Male lebendig
hervortrete
, wo die wohlbewahrte Einzelheit wiederkehrt.
Man nennt dieſen Vorgang im Gehirn, der ſehr wunder-
bar
iſt, das Erinnern, und dies kommt oft ſo plötzlich, daß
man
davon im höchſten Grade überraſcht iſt.
Auch hierbei
ſpielt
der Zuſtand des Gehirns eine große Rolle.
Wir haben
bereits
erwähnt, daß es Gehirn-Krankheiten giebt, wo man
ſich
an faſt ganz bekannte Dinge nicht erinnern kann;
es giebt
aber
wiederum ganz entgegengeſetzte, krankhafte Zuſtände des
Gehirns
, wo einem längſt vergeſſene Geſchichten und Dinge
einfallen
, auf die man ſich in geſunden Tagen durchaus nicht
erinnern
kann.
Erſcheinungen dieſer Art haben oft etwas
höchſt
Wunderbares.
Es kommt bei Wahnſinnigen vor, daß
dieſe
Krankheit nur von Zeit zu Zeit eintritt, ſo daß geſunde
Wochen
, Monate, ja zuweilen Jahre zwiſchen einem Anfall
uud
dem andern liegen.
Bei ſolchen traurigen Fällen hat man
die
Beobachtung gemacht, daß der Wahnſinnige irgend eine
Äußerung
thut oder eine Handlung begeht, von der er in ge-
ſunden
Tagen nichts weiß.
Sobald jedoch ein neuer Anfall
des
Wahnſinns eintritt, weiß der Kranke ganz genau, was er
im
vorigen Anfall geſagt und gethan, und hat die Erinnerung
daran
ſo lebhaft, wie ſie kaum ein Geſunder beſitzt.
Es handelt
ſich
hier alſo um ähnliche Erſcheinungen, wie wir ſie im hyp-
notiſchen
Tiefſchlaf kennen gelernt haben.
Ähnlich dieſen Fällen iſt es, daß oft in kranken Stunden
längſt
vergeſſene Kindergeſchichten wieder ins Gedächtnis treten;
72880 ja man hat Fälle gehabt, wo Menſchen im reifen Alter
während
des Fiebers oder eines krankhaften Halbſchlummers
lateiniſche
und griechiſche Brocken aus der Schulzeit her-
plauderten
, die ſie notoriſch längſt verſchwitzt hatten.
Nerven-
ſchwache
Frauenzimmer, die nicht ſelten zu vielen Schwindeleien
mißbraucht
werden, ſagen während ihres kranken Halb-
ſchlummers
hochtrabende Reden und halbe Predigten her, die
ihnen
im Gedächtnis geblieben ſind, und führen ſo zum Staunen
der
Leichtgläubigen eine ſogenannte höhere, edlere Sprache,
deren
ſie ſonſt nicht fähig zu ſein ſcheinen.
Bei der Unkenntnis der Gehirnthätigkeit während des
Denkens
läßt ſich freilich vom Gedächtnis wie von dem Er-
innerungsvermögen
wenig Aufklärendes ſagen.
Nur die eine
Thatſache
ſteht feſt, daß auch ganz junge Kinder eine ſolche
Fülle
von Dingen im Gedächtnis haben, daß ein Menſchen-
leben
nicht ausreichen würde, ſie alle genau aufzuzählen.
Der
Erwachſene
trägt eine Welt von Vorſtellungen, Gedanken und
Bildern
im Kopfe herum und beſitzt eine Sammlung von
fertigen
Wahrnehmungen im Gehirn, die ihn, ſo lange er die-
ſelben
nicht braucht, gar nicht geniert, die aber ſofort bei Ge-
legenheiten
in ſo reicher Fülle in Erinnerung treten, daß man
deren
Zahl eine für unſere Begriffe unendlich große nennen muß.
XXVI. Wie ſich das Gehirn beſinnt.
Sehr nahe verwandt mit dem Gedächtnis und der Er-
innerung
iſt die Fähigkeit des Geiſtes, ſich auf etwas Ver-
geſſenes
zu beſinnen;
es iſt dieſe Fähigkeit nur ein höherer
Grad
von beiden, zu dem noch ein Drittes hinzukommen muß.
Das Gedächtnis iſt, wie wir geſehen haben, das
72981 wirken eines Gedankens, eines Bildes, einer Vorſtellung im
Gehirn
;
das Erinnern iſt das unwillkürliche Hervorrufen eines
Eindrucks
, eines Bildes, eines Gedankens, wenn ſie bereits ganz
erloſchen
ſcheinen und ohne Anſtrengung ganz erlöſchen würden.
Das Gedächtnis behält Dinge, die man oft gern vergeſſen
möchte
.
Oft möchte man was darum geben, wenn man
imſtande
wäre, ein ſchmerzliches, ein beſchämendes, ein ſchreck-
liches
Ereignis zu vergeſſen;
aber es bleibt doch unwillkürlich
friſch
im Gehirn.
Längere Zeit nachher wird zwar das, was
im
Gehirn lebhaft exiſtirte, etwas verwiſcht, und man denkt
ſeltener
daran.
Die Gedanken vermögen ſich mit andern Dingen
zu
beſchäftigen, ohne von dem Gedächtnis geſtört zu werden.
Aber man hat daran noch die unwillkürliche Erinnerung bewahrt.
Es
fällt Einem eine erlebte Scene bei, ſo oft eine äußerliche oder
innerliche
Anregung die leichteſte Veranlaſſung dazu giebt.

Nach
noch längerer Zeit tritt die unwillkürliche Erinnerung
zurück
.
Man ſpricht dann von ähnlichen Ereigniſſen, ohne von
der
Erinnerung unwillkürlich ergriffen zu werden, und will man
einmal
das Halbvergeſſene wieder in die Erinnerung rufen, ſo
muß
man ſich beſinnen.
Was hierbei im Gehirn vorgeht, läßt ſich ebenfalls nicht
ſicher
angeben;
aber wer auf ſich genau merkt, wird die auf-
fallendſten
Eigentümlichkeiten der Gehirnthätigkeit wahrzunehmen
Gelegenheit
haben.
Es kommt vor, daß man den Namen eines Menſchen ver-
geſſen
hat;
aber man kennt den Menſchen doch noch ganz genau.
Man ſieht den Menſchen vor ſich in Gedanken, könnte mit ihm
ſprechen
, iſt imſtande zu ſagen, wo man ihn kennen gelernt
hat
, weiß, was man mit ihm vorhatte, fühlt, was man für
oder
gegen ihn empfindet.
Aber wie heißt er? Ja, man hat
es
gewußt, man weiß, daß man den Namen oft, ſehr oft genannt
hat
;
aber man kann ihn doch nicht ausſprechen. Das Ge-
dächtnis
des Namens iſt hin;
die Erinnerung daran iſt ge-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher XI.
73082
ſchwunden; was bleibt übrig? Nun man muß ſich auf ihn
beſinnen
!
Was thut man hierbei? Wie fängt man das an?
Man ſenkt den Kopf, ſchlägt die Augen nieder, um nichts
von
der Umgebung zu ſehen, greift mit der Hand nach der
Stirn
, als ob es dort ſäße, tappt zwiſchen den Augenbrauen
umher
, fühlt mit den Fingern etwas weiter hinauf, dabei ſpannt
man
gewiſſermaßen das Gehirn, und nimmt einen Ausdruck
an
, ſodaß man jeden Menſchen, den man in ſolcher Stellung
ſieht
, fragen möchte:
worauf beſinnen Sie ſich denn? Der
ſich
ſo Beſinnende geht in den Gedanken zurück nach der Stelle,
wo
er den bewußten Menſchen zuerſt geſehen, wo er ſich mit
ihm
am lebhafteſten unterhalten.
Man ſieht ihn nun noch
deutlicher
, weiß, was er für einen Rock trägt, wie er geht,
ſteht
und ſich hat.
Aber der Name? der Name? man
kommt
nicht darauf!
Nun fängt man’s anders an. Man ſchlägt die Augen
auf
, ſucht im Zimmer herum, glotzt die Wände an, als ob der
Name
irgendwo aufgeſchrieben wäre.
Man hebt den Blick zur
Stubendecke
, betrachtet die Fliegen, die dort ſpazieren, als ob
dies
auf den Namen bringen könnte.
Man ſchüttelt den
Kopf
, als ob man zu ſich ſagen wollte:
Nein, da iſt der Name
nicht
zu finden.
Man blickt zum Fenſter hinaus, ſieht die
Menſchen
, die Häuſer an da fährt ein Wagen vorüber
Halt
! Da kommt es Einem wie ein Blitz durch den Sinn:
der Name fängt mit einem W an.
Wie kam man hierauf? Der Wagen, der mit W be-
ginnt
, hat den ſich Beſinnenden hierauf gebracht.
Wie iſt nun
der
Name?
Ja, das weiß man noch nicht; aber man fühlt,
daß
man ſich darauf wird beſinnen können;
man weiß, er fängt
mit
einem W an, und das iſt ſchon etwas.
Nun ſetzt man ſich wieder hin, oder ſtellt ſich in einen
Winkel
, ſchlägt die Augen wieder nieder, fühlt wiederum mit
73183 Fingern nach der Stirn, und klopft gewiſſermaßen wieder bei
dem
Gedächtnis an, ob es denn jetzt nicht dahinterkommen
könne
?
Es iſt vergeblich. Jetzt legt man ſich aufs Raten.
Man ſucht im Gedächtnis Namen, die mit W anfangen, und
examiniert
ſich ordentlich.
Man ſpielt mit ſich Frage und Ant-
wort
, als ob man einen andern Menſchen vor ſich hätte, den
man
auf den richtigen Namen bringen will.
Heißt er Wagner?
Nein
! Wieſener?
Nein! Wolf? Bewahre! es kommt gar
kein
O darin vor! Alſo man weiß ſchon, was für Buchſtaben
nicht
darin vorkommen!
Man tappt nun unter ganz bekannten Namen herum, und
gerät
auf Wilhelm.
Halt! Da hat man wieder eine Spur
ertappt
, der geſuchte Name klingt ungefähr ähnlich;
aber doch
das weiß man beſtimmt ganz anders.
Ein I, ein L,
ein
M kommt darin vor;
aber Wilhelm iſt es nicht, das
ſteht
feſt.
Trotzdem wird man den Namen Wilhelm nicht los.
Man probiert und ſchwatzt ſich Namen vor, die kein Menſch
führt
, und doch hat man ein gewiſſes Gefühl, daß man dem
Dinge
auf der Spur iſt.
Man verliert die Geduld mit ſich
ſelbſt
, ſchlägt auf den Tiſch, und ſchilt ſich ſelbſt einen Dumm-
kopf
, man ſtaunt ſich ſelbſt an, denn der Name liegt das
weiß
man ganz nahe, er ſchwebt Einem ſo zu ſagen auf
der
Zunge.
Man lacht, man wird wieder ganz wild Herr
Gott
! da hat man’s, Wildmann heißt er!
Wie kam man dahinter? Woher wußte man, daß der
Name
nicht ſo klingt, ohne ihn richtig nennen zu können?
Wiſſenſchaftlich iſt das ſchwer zu ſagen. Man weiß nur ſo
viel
, daß der Wagen das W gab, daß Wilhelm zu einigen
Buchſtaben
verhalf, und daß man, als man wild wurde, ohne
das
Wort zu nennen, hinter Wildmann kam.
Dieſe Beobachtungen ſind etwas; aber ſie haben mehr
Rätſelhaftes
als Erklärendes an ſich, obgleich ſie
73284 beſtätigen, daß man beim Beſinnen gewiſſe dunkle Regeln befolgt,
die
ſicherlich Lebensregeln des Geiſtes ſind.
XXVII. Vom Vergeſſen alter und dem Erzeugen
neuer Gedanken.
Ebenſo wie man ſich durch Anſtrengung auf etwas beſinnen
kann
, ebenſo vermag man auch mit Vorſatz ſich irgend etwas
aus
dem Sinn zu ſchlagen und es zu vergeſſen.
Nur muß man
hierbei
in entgegengeſetzter Weiſe wie beim Beſinnen verfahren.
Wer einen ſchmerzlichen, peinigenden, ſchweren Gedanken
von
ſich abthun will, muß ſich mit neuen Gedanken beſchäftigen,
die
dem zu meidenden fernliegen.
Er darf ſeinen Sinnen
keine
Veranlaſſung bieten, daß ſie etwas Ähnliches wie das
Erlebte
vorbringen.
Wer an einem Krankenlager, an einem
Todtenbette
ſchwer zu ertragende Eindrücke empfangen hat,
der
muß, wenn er nicht unterliegen will, eine Reiſe unternehmen
und
neue Umgebungen ſuchen.
Denkenden Menſchen iſt es in
ſolcher
Lage möglich, ſich auf ein ihnen neues Gebiet der
Wiſſenſchaft
zu legen, durch Studieren, durch geiſtige Be-
ſchäftigung
zu tröſten.
Beim Beſinnen ſucht man nach
Spuren
, die auf das Vergeſſene leiten;
beim Streben nach
Vergeſſenheit
muß man die Spuren meiden, und ſeinem Geiſte
neue
Gedanken, neue Richtungen, neue Eindrücke bieten.
Je
lebhafter
die neuen Eindrücke ſind, deſto mehr treten die alten
in
den Hintergrund, und obgleich das wirklich erſchütternde
Erlebnis
nicht vergeſſen wird, vermag man es dahin zu bringen,
daß
es nicht mehr ſo ſchneidend und ſchmerzhaft wirkt.
Wiſſenſchaftlich iſt es nicht leicht, ſich dies Vergeſſen zu
erklären
.
Es giebt Naturforſcher, welche meinen, daß wenn
die
Maſſe des Gehirns durch Eſſen und Trinken ſich erneut,
und
die alte Gehirnmaſſe aus dem Körper nach und nach
73385 geſchieden wird, daß dann auch die alten Gedanken, Gefühle
u
.
ſ. w. ſich verlieren. Allein abgeſehen davon, daß überhaupt
das
Weſen des Geiſtes wohl nicht in ſolcher Weiſe in den
Stoff
verlegt werden darf, ſpricht auch die Erfahrung dagegen;
denn Menſchen, die es meiden, nach einem ſchmerzlichen Er-
eignis
neuen Gedanken in ſich Raum zu geben, verfallen trotz
des
Eſſens und Trinkens und des Ausſcheidens, verfallen alſo
trotz
des Stoffwechſels in Schwermut und geraten nach Jahr-
zehnten
noch immer tiefer hinein in den einen ſchmerzlichen
Gedanken
, ſo daß unter Umſtänden ein Wahnſinn eintritt, in
welchem
der alte Gedanke durch die ganze oft lange Lebens-
zeit
des Leidenden immer lebhafter das Gehirn desſelben be-
ſchäftigt
.
Im hohen Alter hat man ſchwerlich im Gehirn
auch
nur noch ein einziges Teilchen von der Gehirnmaſſe, die man
als
Kind hatte, und gleichwohl ſagen Greiſe, wenn ſie kindiſch
werden
, dieſelben Jugendlieder und Gebetſtückchen auf, die ſie
als
Kinder herſagten, obwohl ſie durch Jahre und Jahrzehnte
nicht
an dieſelben gedacht haben.
Wahrſcheinlicher iſt demnach die Erklärung, daß Gedanken,
Vorſtellungen
u.
ſ. w. nur dann in den Hintergrund treten,
wenn
ſie von neuen Gedanken und Vorſtellungen dauernd ver-
drängt
werden.
Obgleich man nicht ſagen kann, wie dies Ver-
drängen
vor ſich geht, läßt es ſich in ſolcher Weiſe leichter
faſſen
, weshalb Eindrücke aus den Kinderjahren in ſolchen
Greiſen
beſonders lebhaft hervortreten, die durch das reifere
Lebensalter
mit praktiſchen Lebensanſchauungen und Thätig-
keiten
beſchäftigt geweſen waren.
Man kann ſich nämlich denken,
daß
in einer Zeit, wo ihr Geiſt keine Gelegenheit hat, ſich mit
dem
zu beſchäftigen, was durch ihr reifes Mannesalter ſie
intereſſierte
, die alten, längſt verdrängten Eindrücke wieder leb-
haft
hervortreten.
Nicht minder ſchwierig wie die wiſſenſchaftliche Erklärung
vom
Beſinnen, vom Vergeſſen u.
ſ. w. , iſt überhaupt die
73486 klärung, wie neue Gedanken oft im Gehirn auftauchen, neue
Gedanken
, die man all’ ſein Lebtag noch nicht gehabt hat.

Im
gewöhnlichen Leben ſagt man, man ſei auf einen glücklichen
Einfall
gekommen, und drückt damit genugſam aus, daß der
neue
Gedanke wie ein unbekannter Gaſt überraſchend, unvor-
bereitet
gekommen ſei.
Dem Künſtler, dem Dichter und Denker
paſſiert
es oft, daß er mitten in ſeiner Arbeit, wo er vermeint,
es
mit fertigen Gedanken und Vorſtellungen zu thun zu haben,
von
einem neuen Gedanken ſo überraſcht wird, als ob es nicht
ſein
eigenes Gehirn wäre, das ihm dieſen geliefert hat, und
dies
iſt oft ſo merkwürdig, daß man ſich nicht wundern darf,
wie
man im Altertum, um ſolchen Vorgang bildlich darzuſtellen,
annahm
, daß Grazien, Muſen oder Göttinnen der Weisheit
dem
Künſtler, Dichter und Denker das Neue eingegeben hätten.
Was bei ſolchen Geiſtesprodukten in der ſtillen Studier-
ſtube
vorgeht, das ſieht man oft bei bedeutenden Rednern
mitten
in einer großen Verſammlung.
Der Redner betritt die
Tribüne
nur mit der Überzeugung, daß er für etwas ſprechen
muß
, das er für wahr, oder gegen etwas, das er für falſch
hält
.
Er beginnt zu ſprechen und zwar in der ruhigen Ge-
wißheit
, daß ihm die Worte für ſeine fertigen Gedanken
nicht
fehlen werden:
aber im Lauf der Rede überraſchen ihn
neue
Gedanken, neue Beweiſe.
Er wird durch das Neue ſelber
fortgeriſſen
, als ob nicht ſein eigenes Gehirn es wäre, welches
ihm
die Worte diktiert;
er fühlt, daß er ſich ſelber überraſcht;
er ſpricht weit beſſer, als er zu hoffen gewagt hat, Worte und
Gedanken
kommen gleichzeitig.
Es iſt dem Redner, als ob er
ſich
ſelber etwas Neues ſage, und nun gerät er in Feuer,
ſein
Auge leuchtet, ſeine Bruſt iſt gehoben, ſein Blut in
Wallung
, ſein ganzer Körper belebt.
Er weiß ſelbſt nicht im
Augenblick
, wie und wo er enden wird.
Der Strom der Ge-
danken
führt ihn weiter hinaus, als er es vermutet hat.
Schlag-
wort
fällt auf Schlagwort, Gedanke auf Gedanke, Beweis
73587 Beweis, und wenn er im glücklichen Moment Maß zu halten
weiß
und an der richtigen Stelle abbricht und endet, ſo tritt
er
mit dem Gefühl von der Tribüne, als ob ihm ein fremder
Geiſt
hierbei geholfen, und auch die Hörer ſagen es, er ſei be-
geiſtert
und habe ſie begeiſtert!
Im Altertum wähnte man, oder drückte man es dahin
aus
, daß ein Gott ihm die Worte in den Mund gelegt;
ſo
fremdartig
iſt dieſes ſichtbare Entſtehen der neuen Gedanken im
Gehirn
;
jetzt weiß man zwar, daß es doch nur eine ſchaffende
Kraft
des Geiſtes iſt, eine Kraft, die überraſchend ſchnell
wirkt
, und ſelbſt vom Menſchen, in welchem ſie thätig auftritt,
unerkannt
iſt.
Dies aber wiſſenſchaftlich zu erklären, bleibt
für
jetzt unmöglich, weil der Geiſt in der That noch eine Er-
ſcheinung
iſt, die in uns wirkt, ohne daß wir ſie gründlich
kennen
.
XXVIII. Wie man im Gehirn etwas überlegt.
Es iſt höchſt merkwürdig, daß der Menſch oft mit ſeinem
Geiſt
ſo umgeht, als ob dieſer gar nicht ihm gehörte.
Schon beim Beſinnen ſtellt man ſeinem eigenen Gehirn
die
Forderung, etwas zu finden, was augenblicklich nicht im Ge-
hirn
vorhanden zu ſein ſcheint.
Beim Schaffen neuer Gedanken
geht
das noch weiter, denn der Geiſt ſtellt ſich ſelber die Auf-
gabe
, etwas noch gar nicht Dageweſenes ausfindig zu machen.
Es iſt kurios genug, daß ein Menſch ſich ſelber etwas Neues
ſagen
ſoll, und doch geſchieht es ſehr oft:
man wird von ſeinem
eigenen
Einfall überraſcht, als ob der Einfall nicht eben im
eignen
Gehirn erzeugt worden wäre.
Man geht aber hierin noch kurioſer zu Werke, wenn man
etwas
überlegen will.
In ſolchem Moment ſetzt man ſich in irgend einer Ecke
nieder
, wo man von äußern Eindrücken nicht geſtört zu
73688 fürchtet, und fängt an ein Zwiegeſpräch zu halten, als ob man
gar
zwei ganz andere Menſchen vor ſich hätte.
Man geht hierin ſo weit, ſich ſelber mit Du anzureden,
und
fragt ſich:
Nun, was willſt Du jetzt thun?
Auf dieſe Frage verwandelt man ſich wiederum in eine
zweite
Perſon, die als Ratgeber auftritt, und dieſer Ratgeber
antwortet
nach einiger Zeit:
Weißt Du was? mach’ es ſo
und
ſo!
Nun hält man wieder eine Weile ſtill, und fragt wiederum
den
Erſtern:
Nun, was meinſt Du dazu? Was haſt Du dagegen?
Ja, erwidert der Gefragte; es geht nicht, man muß hier-
bei
dies und jenes bedenken!
Nun läßt man wieder den Ratgeber auftreten, der ſich zu-
weilen
gar nicht ſo leicht überzeugen will und mit einer ge-
wiſſen
Hartnäckigkeit ſeine Anſicht verteidigt.
Hierauf läßt
man
den Ratgeber ſchweigen und die andere eingebildete Perſon
ſprechen
, das geht ſo eine Weile fort, bis man Beiden Schweigen
gebietet
, und darauf wie ein Richter das Gehörte abwägt und
die
Entſcheidung trifft:
ſo ſoll es ſein!
Nicht ſelten geht man aber noch weiter. Man verwirft
beider
Anſichten, ſagt ihnen gewiſſermaßen:
Geht, Ihr habt
Beide
nicht das Richtige getroffen! Laßt mich allein, ich will
meinen
Entſchluß ſelber faſſen.
Man geht auf und ab in
der
Stube und will ſich ſelber zu einer Entſcheidung heraus-
fordern
;
aber man hat das Gefühl, als wenn alles bisher An-
gehörte
doch nicht das Treffende ſei und man muß noch
weiter
überlegen.
Man ruft wieder die zwei eingebildeten verhandelnden
Perſonen
vor ſich, fragt wiederum, was der und was jener
meint
, hört wiederum ſeinen eigenen Geiſt ab, der für zwei
Perſonen
von entſchiedener Anſicht ſpricht, wägt wiederum das
Gehörte
mit einer richterlichen Miene ab, und kann man dennoch
keinen
Entſchluß faſſen, iſt der Fall immer noch nicht
73789 reif und drängt die Zeit zu einer Entſcheidung, dann es iſt
eigentlich
eine Schande, ſo etwas zu geſtehen dann geht man
oft
ſo weit, den Zufall oder gar das Loos entſcheiden zu laſſen!
Wer nicht Luſt hat, ſich ſelber zu belügen, der wird ein-
geſtehen
, daß er oft in ähnlichen Lagen nicht beſſer gehandelt
hat
, wenn man auch bemüht iſt, während dieſer Handlung
ſeine
Schwäche hinter irgend einem Scherz, oder einem ge-
machten
Grundſatz oder einer erfundenen Ausrede zu verbergen.
Im Altertum war man ſo ſchamhaft nicht. Man ließ in
ſolchen
Fällen das Los entſcheiden und beſchönigte es mit
dem
Namen eines Gottesurteils;
jetzt läßt man das jüngſte
Kind
ein Lotterielos ziehen, oder einen Würfel über Ja und
Nein
den Ausſpruch thun.
Der Menſch iſt ſo gewöhnt, bei all’
ſeinem
Thun nach einem Grund zu ſuchen, daß er, wo der
Verſtand
ſchweigt, froh iſt, wenn ihm der Unverſtand einen
Scheingrund
giebt.
Indeſſen gehört dieſer letztere ſehr beſchämende Fall nicht
@irekt
in unſer Thema;
wir wollen zu der ſonderbaren Er-
ſcheinung
zurückkehren, daß der Menſch beim ſogenannten
Überlegen” ſeinen Geiſt gewiſſermaſſen in drei Teile ſpaltet.
Der Eine ſpricht für, der Andere gegen etwas, und der Dritte
ſtellt
ſich wie ein Richter über Beide, um ſein Urteil zu fällen.
Die beſſeren juriſtiſchen Arbeiten und die vorzüglichern
dramatiſchen
Dichtungen geben oft die herrlichſten Muſter ſolcher
höchſt
wunderbaren geiſtigen Spiele.
Im Kopfe eines vor-
züglichen
juriſtiſchen Schriftſtellers ordnet ſich alles ſo, daß
man
anfangs einſieht, wie die eine Partei vollkommen gerecht
iſt
.
Sodann tritt die andere Partei auf und macht ihre An-
ſprüche
in einer Weiſe geltend, welche die geiſtige Wage ganz
nach
ihrer Seite hinneigt.
Endlich tritt der Juriſt ſelber auf,
zerſtört
oft die Anſichten Beider und findet den richtigſten Aus-
ſpruch
, der zwiſchen dem Wahren und dem Falſchen der ent-
gegenſtehenden
Parteien die treffende Entſcheidung bringt.
73890
Im Kopfe eines bedeutenden dramatiſchen Dichters iſt dies
noch
in höherem Grade der Fall, obgleich es dieſer mehr mit
dem
Wollen und Streben ſeiner erdichteten Perſonen zu thun
hat
, als mit ihrem rein geiſtigen Denken.
Schwerlich hat wohl
jemand
mit Verſtändnis das in dieſer Beziehung vorzüglichſte
Werk
Goethe’s, “Torquato Taſſo” geleſen, ohne voll Be-
wunderung
wahrgenommen zu haben, wie im Geiſte Goethe’s
jede
einzelne Perſon vollkommen richtig denkt, und es dieſem
großen
Dichter doch gelungen iſt, ſich von keiner der Anſichten
beherrſchen
zu laſſen, ſondern wie ein erhabener Richter und
Ordner
über ihnen zu ſtehen.
Die wiſſenſchaftliche Erklärung für dieſe Erſcheinungen iſt
äußerſt
ſchwierig;
man hat nur eine leiſe Spur einer ſolchen
Erklärung
, wenn man eine eigentümliche Fähigkeit des Gehirns
in
Betracht zieht, was wir im nächſten Artikel thun wollen,
ſoweit
unſere allgemeinfaßliche Schreibart dies zuläßt.
XXIX. Die Energie.
Wenn man ſich einen Einblick in das verſchaffen will, was
während
des Überlegens im Gehirn vorgeht, während dieſes
Herausfordens
des Geiſtes, in welchem man von ihm etwas
verlangt
, was ſcheinbar in ihm nicht vorhanden iſt, ſo muß
man
ſich vorerſt mit einer Eigenſchaft des Nervenlebens über-
haupt
vertraut machen, die an ſich freilich noch nicht erklärt, die
aber
in ihrer Erſcheinung ganz bekannt iſt.
Wir meinen die
Energie
.
Die Kräfte der toten Natur beſitzen das nicht, was man
Energie
nennt;
auch in der Pflanze iſt dies nicht vorhanden;
nur die tieriſchen Weſen, die ein Nervenleben führen, und der
Menſch
, der ein höheres, ein Geiſtesleben lebt, das mit der
Thätigkeit
der Nerven und namentlich des Gehirns enge
73991 bunden iſt, nur bei dieſen kommt das vor, was man unter
Energie
verſteht.
Die Anziehungskraft der Erde bleibt ſich ſtets gleich, hier
iſt
von einer Energie nicht die Rede.
Ein Magnet hat eine
Anziehungs-
und Abſtoßungskraft, die zwar künſtlich geſchwächt
und
künſtlich verſtärkt werden kann;
aber der Magnet ſelber
iſt
hierbei ohne Energie.
Ganz ſo verhält es ſich mit der
chemiſchen
und elektriſchen Kraft.
Es verbinden oder trennen
ſich
zwar zwei chemiſche Stoffe oft mit großer Heftigkeit, wobei
Flammen
unter ſtarkem Knall entſtehen können, und der Blitz
und
Donner iſt gleichfalls eine Erſcheinung elektriſcher Natur,
die
ſehr gewaltſam und erſchütternd hervortritt;
aber in all
dem
herrſcht nicht Energie, wie wir ſie ſogleich bei Tier und
Menſchen
ſehen werden.
Ebenſowenig iſt die Pflanze in ihrem
Wachstum
einer Energie fähig, obwohl ſie während gewiſſer
Zeiten
aus eigenem Antrieb ſtärker im Wachstum vorſchreitet,
die
Sproſſen ſchneller treibt, den Blütenkelch plötzlich öffnet und,
wie
bei mancher Spring-Pflanze, mit einer eignen Kraft auf-
ſchnellt
und die Samen gewaltſam fortſchleudert.
In der Lebensthätigkeit des Tieres und noch mehr in der
des
Menſchen tritt eine Energie hervor.
Eine und dieſelbe
Handlung
des Tieres wird jetzt mit Gelaſſenheit, bald darauf
aber
mit Heftigkeit ausgeführt.
Das Tier kann gehen, kann
ſchneller
fortſchreiten, laufen, ſpringen und ſogar im Sprung
durch
einen gewaltigen Anſatz, durch ſtarke Kraftanſtrengung
über
ſehr beträchtliche Strecken hinüberſetzen.
Dieſe ungewöhn-
liche
Kraftanſtrengung ſchreibt man der Energie zu, obwohl,
wie
wir ſogleich ſehen werden, auch bei ganz ſchwachen An-
ſtrengungen
die Energie nöthig iſt.
Gemeinhin denkt man ſich die Energie nur mit dem Willen
verbunden
, und ſtellt ſich hierbei vor, daß die Heftigkeit gewiſſer
Bewegungen
des Tieres nur daher rühre, weil es einen be-
wußten
Reiz empfindet, ſo zu handeln;
indeſſen zeigt
74092 nähere Betrachtung, daß auch bei willenloſen Bewegungen der
Unterſchied
zwiſchen Schlaffheit und Energie ſtattfindet.
Das
ausgeſchnittene
Herz eines Froſches ſchlägt ſtundenlang fort,
der
Herzſchlag wird ſodann matter;
reizt man es aber, wie
z
.
B. , wenn man es mit einer ſcharfen Nadel ſticht, ſo zuckt
es
wiederum heftiger, das heißt, es erzeugt ſich eine Energie.
Im Fieber iſt der Puls heftig energiſch, ohne daß man etwas
davon
weiß.
Der Atem nimmt ebenfalls bald eine Be-
ſchleunigung
, bald eine Langſamkeit an, ohne Wiſſen und Wollen.

Die
Darmbewegungen ſind gleichen Verſchiedenheiten unter-
worfen
.
Mit einem Worte, das ganze pflanzliche Leben des
tieriſchen
Körpers iſt nach Umſtänden ebenſo einer Energie
fähig
, wie diejenigen Bewegungen, die mit Wiſſen und
Willen
geſchehen.
Da aber das ganze Leben des Tieres nur von der Thätigkeit
der
Nerven abhängt, ſo hat man die Energie nur in den Nerven
zu
ſuchen.
Ja, man hat Urſache anzunehmen, daß die Nerven
ohne
Energie gar nicht thätig ſein können.
Im gewöhnlichen
Leben
freilich nimmt man nur die heftigere, plötzlichere, ſchnellere,
außergewöhnliche
Thätigkeit der Nerven als energiſch an;
wiſſen-
ſchaftlich
jedoch kann man nur von ſchwächerer und ſtärkerer
Energie
ſprechen, denn auch das matteſte und ſchlaffſte Leben
bedarf
einer Energie.
Soweit nun Bewegungen des Körpers vom Willen ab-
hängen
, iſt auch die ſtärkere oder ſchwächere Energie vom Willen
abhängig
.
Zum langſamen Gehen iſt eine Energie nötig; wir
können
aber durch unſeren Willen dieſe Energie verſtärken und
laufen
.
Wenn unſer Gehirn lebhaft mit einem Gedanken be-
ſchäftigt
iſt, hebt ſich die Energie des Leibes, wir gehen un-
willkürlich
ſchneller.
Stoßen wir plötzlich auf einen Zweifel,
ſo
bleiben wir mitten im Wege ſtehen, ohne daß wir es be-
merken
.
Durch unſeren Willen vermögen wir unſerer Fauſt
eine
Kraft zu verleihen, die das gewöhnliche Maß
74193 Kraft überſteigt. In der Leidenſchaft, die eben auch nur eine
geſteigerte
Energie hervorbringt, ſind wir imſtande, eine Thür
einzurennen
, die uns ſonſt ganz felſenfeſt dünkt.
Das Alles
ſind
bekannte Thatſachen, die es beweiſen, wie der Wille im
Gehirn
die Energie der Nerven hervorruft, verſtärkt, und je
nach
den Umſtänden bis zu einer Höhe zu ſteigern imſtande iſt,
durch
die man Thaten vollbringt, deren man ſich ſonſt nicht
für
fähig hält.
Dieſelbe Energie kann man auch durch den Willen den
Sinnesnerven
erteilen, wodurch dieſe zu ſtärkerer Thätigkeit
angeregt
werden.
Man kann den Augennerv empfänglicher für
Licht
, den Ohrennerv empfänglicher für einen beſtimmten Ton
ſpannen
.
In gleicher Weiſe aber kann das Gehirn ſeine eigne
Energie
erhöhen, und ſeine Thätigkeit, das Denken, in einem
Grade
ſteigern, daß man in der That geiſtreicher wird.
Der Dichter, der Denker oder derjenige, der etwas über-
legen
will, verleiht in der That ſeinem Gehirn eine Energie,
und
macht es zu kräftigeren, richtigeren Gedanken fähiger, als
es
vorher war.
Ganz ſo wie der Wille der Armnerven eine
größere
Energie verleihen kann und die Muskeln fähig macht,
eine
ſonſt nicht gewohnte Laſt aufzunehmen, ganz ſo verleiht
das
Gehirn ſich ſelber eine Energie, um beſſer, klarer denken
zu
können als gewöhnlich, und es entſtehen demnach neue Ge-
danken
im Gehirn, ganz ähnlich wie die Energie im Arm neue,
überraſchende
Handlungen erzeugt.
XXX. Eigentümlichkeiten der Energie.
Wenn das, was wir von der Energie geſagt haben, richtig
iſt
, ſo muß man freilich vorausſetzen, daß das große Gehirn,
außerdem
daß es der Sitz des Denkens, des Bewußtſeins,
auch
noch der Sitz einer allgemeinen Kraft, der Energie,
74294 einer Energie, welche die geſamte Lebensthätigkeit im Körper auf
Momente
wenigſtens zu ſteigern imſtande iſt, und ganz in
gleicher
Weiſe auch die Denkkraft ſteigern kann.
Nimmt man dies an, und es ſpricht ſehr viel dafür ſo
läßt
ſich manche unerklärliche Erſcheinung ſowohl in der leiblichen
Kraft
wie in der Kraft des Denkens mit Leichtigkeit erklären.
Es iſt bekannt, wie ſehr ein Glas Wein imſtande iſt
mutig
zu machen.
Nach der jetzt ſehr gründlich geführten Unter-
ſuchung
über die Nährkraft der Speiſen und Getränke iſt dies
durchaus
nicht erklärbar.
Ein Glas Wein hat nicht mehr
Nahrungsſtoff
in ſich als etwa ein Glas Zuckerwaſſer.
Die
erheiternde
, ermunternde, kräftigende Einwirkung des Weines
muß
daher der Einwirkung des wenigen Alkohols zugeſchrieben
werden
, der im Weine enthalten iſt.
Dieſer geht ins Blut
über
, gelangt durch den Blutlauf ins Gehirn, und übt hier einen
Reiz
aus, der nicht nährend wirkt, ſondern zu einer allgemeinen
Energie
anſpornt.
Ein Tropfen Alkohol auf das ausgeſchnittene
Froſchherz
geſchüttet, bringt auch hier ein energiſches Zu-
ſammenziehen
des Herzens hervor;
im Gehirn kann es ähnlich
wirken
, es verſtärkt die allgemeine Energie.
Ein Glas Wein
wird
zwar dem Denker nicht Gedanken bringen, giebt dem
Wanderer
nicht neue Muskelkraft, verleiht dem Soldaten nicht
neuen
Mut, ſondern verſtärkt nur die Energie der ſchon vor-
handenen
Gedanken, der vorhandenen Muskelkraft und des
vorhandenen
Mutes.
Auch eine gute Mahlzeit wirkt in
demſelben
Sinne.
Wenn einzelne Naturforſcher meinen, daß
die
Gedanken von den genoſſenen Speiſen herrühren, und hierin
ſo
weit gehen, ernſtlich zu behaupten, daß man einen Menſchen
durch
veränderte Koſt auf veränderte Gedanken bringen könne,
ſo
kann man ihnen entgegnen, daß ſie eigentlich dem Rindfleiſch,
das
wir eſſen, ein parteiiſches Kompliment machen, welches
ſie
dem menſchlichen Gehirn aus ſcheinbarer Unparteilichkeit
verſagen
zu müſſen glauben.
74395
Unſerer Anſicht nach macht das Rindfleiſch nicht neue
Gedanken
, deren das Gehirn nicht fähig iſt, ſondern die kräftige
Nahrung
wirkt anreizend auf das Gehirn, und befähigt es zur
Energie
.
Dieſe Energie iſt ganz unbeſtimmter Art, und kommt
allem
zu gute, was etwa der Menſch vornehmen will.
Will
er
denken, ſo wird er energiſcher denken;
will er eine Fuß-
wanderung
machen, ſo wird er kräftiger auf den Beinen ſein;
iſt er im Begriff, eine laſterhafte Handlung zu begehen, zu der
ihm
der Mut fehlt, ſo wird er den Mut hierzu ebenſo durch
die
Energie finden, wie ſie ihm auch beiſteht, wenn er eine
kräftige
That tugendvoller Aufopferung vor ſich hat.
Nach dieſer Anſicht iſt die Gedankenenergie der Energie
leiblicher
Bewegungen ganz ähnlich.
Dieſe Energie kann durch
geeignete
Speiſen und Getränke angeregt, aber ſie kann auch
durch
den freien Willen hervorgerufen werden.
Ganz ſo wie
wir
imſtande ſind, eine Energie auf die Kraft unſeres Armes
wirken
zu laſſen, damit er eine Laſt hochhebe, die bei gewöhn-
licher
Anſtrengung zu ſchwer erſcheint:
ganz ſo können wir
unſere
Gedankenthätigkeit zu einer Energie aufmuntern, und
zur
Auffaſſung neuer Gedanken befähigen, die ſcheinbar vor-
her
nicht im Gehirn waren.
Iſt dies richtig, ſo kann man ſich eine Reihe anderer
Erſcheinungen
gleichfalls erklären.
Man macht oft die Bemerkung, daß eine einmalige leibliche
Energie
eine Abſpannung nach ſich zieht;
es iſt mit der geiſtigen
ebenſo
.
Man hat hierbei ſo zu ſagen mit einem Male einen
Vorrat
von Energie ausgegeben, mit dem man im gewöhnlichen
Zuſtand
längere Zeit auskommt, und es dauert daher eine
lange
Zeit, bevor man ſich erholt, das heißt, zu einer neuen
That
fähig iſt.
So iſt es mit unſern körperlichen, ſo iſt es mit
unſern
geiſtigen Anſtrengungen.
Man macht aber auch die
Erfahrung
, daß mäßige und geregelte Wiederholung einer ge-
wiſſen
, energiſchen, leiblichen That die ganze Summe der
74496 verſtärkt und immer geſchickter macht zu weitern Fortſchritten
in
ähnlichen Anſtrengungen.
Das Turnen, das ſo förderlich
für
die Körperkraft der Jugend iſt, iſt in dieſem Sinne nur
eine
geregelte Richtung der Energie auf die Muskeln des
Körpers
, und führt bekanntlich dahin, ſpielend eine Muskel-
kraft
zu entwickeln, die ſonſt nur ausnahmsweiſe bei heftiger
Erregung
möglich war.
Ein Turner iſt unſeres Erachtens
keineswegs
ſtärker, als er bei gleicher Körperbeſchaffenheit ohne
geturnt
zu haben in heftiger Aufregung, z.
B. in Todesgefahr,
wäre
.
Der Unterſchied iſt nur, daß der Turner die Anſtren-
gungen
ohne heftige Spannung der Energie vollzieht und alſo
auch
nicht leicht eine Abſpannung nach ſich zieht, was beim
Nichtturner
der Fall iſt.
Jener hat die Energie ſeiner Nerven-
wirkung
durch öftere Wiederholung, durch Übung, durch das,
was
man Gewohnheit nennt, ſo am Schnürchen, daß er jeder-
zeit
deſſen fähig iſt, was beim Nichtturner erſt die höchſte Auf-
regung
hervorzubringen vermag.
Es geht aber mit dem Geiſte ebenſo. Wer mit heftiger
Energie
über einen Gegenſtand nachdenkt, verfällt ſchnell in
Abſpannung
, ja kann in Irrſinn verfallen.
Wer aber ſeinen
Geiſt
an geregelte Energie gewöhnt, der läßt ſo zu ſagen ſein
Gehirn
turnen;
es werden ihm die Gedanken leicht wie dem
Turner
die Bewegungen, und er vermag, wenn er einmal weiter
in
der Energie vorſchreitet, auf neue Gedanken zu geraten,
die
dem Ungeübten faſt unmöglich ſind.
Es iſt möglich, daß die Unterſchiede in den Denkern nur
in
dem größeren oder geringeren Grad der andauernden Energie
liegen
und hierin nur die Verſchiedenheit zu ſuchen iſt, die
man
zwiſchen Verſtand, Urteilskraft, Scharfſinn, Vernunft, Tief-
ſinn
, Genie und Talent findet.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
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