Bernstein, Aaron, Naturwissenschaftliche Volksbücher Bd. 1/5, 1897

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Author: Bernstein, Aaron
Title: Naturwissenschaftliche Volksbücher Bd. 1/5
Year: 1897

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Copyright: Max Planck Institute for the History of Science (unless stated otherwise)
License: CC-BY-SA (unless stated otherwise)
Table of contents
1. Page: 0
2. Naturwissenschaftliche Volksbücher A. Bernstein. Page: 1
3. Naturmiſſenſchaftliche Rolksbiicher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Erſter Teil. Page: 5
4. Berlin 1897. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 5
5. MAX-PLANCK-IN@TITUT FÜR @I@@INSCHAFTS@E@@MICHTE Bibliothek Page: 6
6. Yorwort. Page: 7
7. Inhaltsverzeichnis. Page: 9
8. Ginleitung, zugleich als Schlußwort. I. Das Ziel der Naturforſchung. Page: 11
9. II. Die Wellenbewegung. Page: 13
10. 1. Der Schall. Page: 17
11. 2. Das Ticht. Page: 20
12. 3. Die Rärme- und die chemiſchen Strahlen. Page: 24
13. 4. Die Eſektrizität. Page: 27
14. 5. Die Anziehungskraft und die Schwerkraft. Page: 30
15. 6. Die Erhaltung der Energie. Page: 31
16. III. Das Leben. Page: 35
17. 1. Was iſt Leben? Page: 35
18. 2. Die Abſtammungslehre. Page: 40
19. 3. Chatſachen zur Begründung der Abſtammungslehre. Page: 42
20. Die Geſchwindigkeit. I. Die Geſchwindigkeiten der Naturkräfte. Page: 50
21. II. Wie kann man die Geſchwindigkeit des elek- triſchen Stromes meſſen? Page: 51
22. Die Schwere der Erde. I. Wie viel Pfund wiegt die ganze Erde? Page: 54
23. II. Der Verſuch, die Erde zu wiegen. Page: 55
24. III. Beſchreibung des Verſuchs, die Erde zu wiegen. Page: 57
25. Das Licht und die Entfernung. I. Etwas über Beleuchtung. Page: 61
26. II. Die Beleuchtung der Planeten durch die Sonne. Page: 63
27. Zur Witterungskunde. I. Etwas über das Wetter. Page: 66
28. II. Von der Witterung im Sommer und Winter. Page: 67
29. III. Die Luftſtrömungen und das Wetter. Page: 70
30. IV. Die feſten Regeln der Witterungskunde. Page: 72
31. V. Die Luft und das Waſſer in ihrer Beziehung zum Wetter. Page: 75
32. VI. Nebel, Wolken, Regen und Schnee. Page: 80
33. VII. Wie Wärme gebunden wird und wie Wärme frei wird. Page: 83
34. VIII. Die gebundene Wärme macht kalt, die freie Wärme macht warm. Page: 85
35. IX. Witterungsregeln und Störungen derſelben. Page: 87
36. X. Die Schwierigkeit und die Möglichkeit der Wetterverkündigungen. Page: 90
37. XI. Die Wetterpropheten. Page: 92
38. XII. Die Wetterkarten und ihre Anwendung. Page: 95
39. XIII. Hat der Mond Einfluß auf das Wetter? Page: 101
40. Yon der @lüte und der Frucht. I. Die Flora und der Menſch. Page: 104
41. II. Fortpflanzung durch Teilung. Page: 104
42. III. Die geſchlechtliche Fortpflanzung. Page: 106
43. IV. Blumen und Blüten. Page: 108
44. V. Bau der Blüten. Page: 109
45. VI. Die Beſtäubung. Page: 112
46. VII. Die Inſektenblüten oder Blumen. Page: 113
47. VIII. Beiſpiele zur Erläuterung des Beſtäubungs- vorganges bei den Blumen. Page: 115
48. IX. Waſſerblütler. Page: 123
49. X. Windblütler. Page: 124
50. XI. Der Entdecker des Geheimniſſes der Blumen. Page: 126
51. XII. Bedeutuug der Befruchtung. Page: 128
52. XIII. Einiges über die Früchte und deren Erziehung. Page: 129
53. Die Nahrungsmittel für das Volk. I. Umſatz der Nahrungsmittel. Page: 132
54. II. Die Verdauung. Page: 134
55. III. Kaffee. Page: 136
56. IV. Nützlichkeit und Schädlichkeit des Kaffees. Page: 139
57. V. Das Frühſtück. Page: 141
58. VI. Branntwein. Page: 145
59. VII. Gefahren des Branntweins. Page: 148
60. VIII. Der Arme und der Branntwein. Page: 153
61. IX. Die Folgen der Trunkſucht und deren Verhütung. Page: 156
62. X. Der Mittagstiſch. Page: 158
63. XI. Notwendigkeit der verſchiedenartigſten Koſt. Page: 161
64. XII. Fleiſchbrühe. Page: 163
65. XIII. Zweckmäßige Zuthat zur Fleiſchbrühe. Page: 166
66. XIV. Hülſenfrüchte. Page: 168
67. XV. Gemüſe und Fleiſch. Page: 170
68. XVI. Das Mittagsſchläfchen. Page: 173
69. XVII. Waſſer und Bier. Page: 175
70. XVIII. Abendbrot. Page: 178
71. Naturmiſſenſchaftliche Volksbiicher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Auflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Eotonié und R. Hennig. Zweiter Ceil. Page: 181
72. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 181
73. Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 182
74. Inhaltsverzeichnis. Page: 183
75. Die Grnährung. I. Nichts als Milch. Page: 185
76. II. Der Menſch, die verwandelte Speiſe. Page: 187
77. III. Was für wunderliche Speiſen wir eſſen. Page: 189
78. IV. Wie die Speiſen für uns von der Natur vorbereitet werden. Page: 191
79. V. Was aus der Muttermilch wird, wenn ſie in den Körper des Kindes kommt. Page: 193
80. VI. Wie das Blut im Körper zum lebendigen Körper wird. Page: 195
81. VII. Der Kreislauf der Stoffe. Page: 197
82. VIII. Die Nahrung. Page: 200
83. IX. Einige Verſuche über die Ernährung. Page: 202
84. Dom Inſtinkt der Ciere. I. Was iſt Inſtinkt? Page: 205
85. II. Unterſchied des Inſtinkts der Pflanze und des Tieres. Page: 210
86. III. Der Inſtinkt des Tieres. Page: 212
87. IV. Die beſtimmten Zwecke des Inſtinkts. Page: 214
88. V. Inſtinktmäßige Liſt der Tiere. Page: 217
89. VI. Inſtinktmäßige Wahl der Nahrungsmittel. Page: 219
90. VII. Inſtinkt zum Sammeln und Aufſpeichern der Nahrungsmittel. Page: 220
91. VIII. Kunſt der Tiere bei Einrichtung ihrer Wohnungen. Page: 223
92. IX. Vorſorge der Inſekten für ihre Jungen. Page: 227
93. X. Elterlicher Unterricht der Tiere. Page: 231
94. XI. Das Benehmen der Tiere gegen ihre Feinde. Page: 233
95. XII. Der Inſtinkt der Geſelligkeit. Page: 235
96. XIII. Verſtändigung der Tiere untereinander. Page: 238
97. XIV. Das Leben der Bienen. Page: 241
98. XV. Anſiedelung der Bienen. Page: 243
99. XVI. Der Bau der Bienenzellen. Page: 245
100. XVII. Bieneneier und deren Entwickelung. Page: 248
101. XVIII. Tod und Entſtehung einer Bienenkönigin. Page: 250
102. XIX. Das Geſellſchaftsleben der Ameiſen. Page: 252
103. XX. Das Geſellſchaftsleben der Termiten. Page: 256
104. XXI. Der Soldatenkrieg der Termiten. Page: 257
105. XXII. Der Wandertrieb der Tiere. Page: 260
106. XXIII. Der Wanderinſtinkt der Störche. Page: 262
107. XXIV. Die Taube. Page: 264
108. XXV. Der Einfluß der menſchlichen Umgebung auf die Haustiere. Page: 267
109. XXVI. Bewußtſein bei Tieren. Page: 268
110. XXVII. Merkwürdige Eigentümlichkeiten des Hundes. Page: 270
111. XXVIII. Verſtandes-Entwickelung bei den Affen. Page: 276
112. XXIX. Die Menſchenähnlichkeit der Affen hinſichtlich ihres Benehmens. Page: 282
113. XXX. Das Nervenſyſtem der Tiere. Page: 284
114. XXXI. Die Sonderung der verſchiedenen Nervenſyſteme bei den höheren im Gegenſatz zu den niederen Tieren. Page: 287
115. Naturwiſſenſchaftliche Volksbiicher von A. Bernſtein. Fünfte, reich illuſtrierte Ruflage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Dritter Teil. Page: 289
116. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 289
117. Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten. Page: 290
118. Inhaltsverzeichnis. Page: 291
119. I. Wenn wir einen Sinn weniger hätten. Page: 293
120. II. Wenn wir einen Sinn mehr hätten. Page: 295
121. III. Die verſchiedenen Anziehungskräfte. Page: 297
122. IV. Von den kleinſten Teilchen und den unſicht- baren Zwiſchenräumen. Page: 300
123. V. Was man unter Atom zu verſtehen hat. Page: 303
124. VI. Wie die Wärme mit den Atomen ihr Spiel treibt. Page: 305
125. VII. Woher die Wirkung der Wärme auf die Atome ſtammt. Page: 309
126. VIII. Von der Anziehungs- und Abſtoßungskraft der Atome. Page: 312
127. IX. Wodurch die Dinge feſt, oder flüſſig, oder gasartig erſcheinen. Page: 315
128. X. Die Verflüſſigung der Luft. Page: 317
129. XI. Der Ginfluß der Wärme auf die Atome. Page: 321
130. XII. Die Anziehungskraft der Maſſen. Page: 323
131. XIII. Wie die Anziehung der Erde mit der Entfernung abnimmt. Page: 326
132. XIV. Allgemeine Betrachtung über den Fall der Körper. Page: 328
133. XV. Wie groß iſt die Geſchwindigkeit des Falls? Page: 331
134. XVI. Nähere Betrachtung der Fall-Geſchwindigkeit. Page: 334
135. XVII. Wichtigkeit der Fallgeſetze. Page: 337
136. XVIII. Der Lauf des Mondes verglichen mit dem Lauf einer Kanonenkugel. Page: 342
137. XIX. Die Bewegungen und die Anziehungen der Geſtirne. Page: 345
138. XX. Worin liegt die Kraft der Anziehung? Page: 348
139. XXI. Die Anziehungskraft und die Entſtehung der Welt. Page: 351
140. XXII. Die Verſchiedenheit ähnlicher Naturkräfte. Page: 354
141. XXIII. Die Kraft des Magneten. Page: 357
142. XXIV. Weitere Verſuche mit einem Magneten. Page: 360
143. XXV. Was es mit den zwei Polen der Magnete für Bewandtnis hat. Page: 363
144. XXVI. Was mit einem Magneten geſchieht, der in der Mitte durchgebrochen wird. Page: 365
145. XXVII. Eine Erklärung der magnetiſchen Erſcheinungen. Page: 368
146. XXVIII. Was in einer Nadel vorgeht, die man magnetiſiert. Page: 370
147. XXIX. Wie auf alle Dinge magnetiſch eingewirkt werden kann. Page: 374
148. XXX. Die magnetiſche Kraft der Erde. Page: 377
149. XXXI. Die Unendlichkeit und die — Elektrizität. Page: 381
150. XXXII. Die Elektrizität in ihren einfachſten Erſcheinungen. Page: 383
151. XXXIII. Weitere elektriſche Verſuche. Page: 386
152. XXXIV. Die Verſchiedenheit der elektriſchen und magnetiſchen Erſcheinungen. Page: 389
153. XXXV. Über die Leitung der Elektrizität. Page: 392
154. XXXVI. Der elektriſche Funke und der Blitz. Page: 395
155. XXXVII. Die Leitung, Anſammlung und Ladung der Elektrizität. Page: 398
156. XXXVIII. Wie man die Elektrizität feſſeln kann. Page: 402
157. XXXIX. Eine Erklärung über Ladung und Entladung der Elektrizität. Page: 405
158. XL. Welche Rolle die Elektrizität bei einem Gewitter ſpielt. Page: 407
159. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 408
160. Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher von A. Bernltein. Fünfte, reich iſſuſtrierfe Aufſage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. Dierter Teil. Page: 409
161. Berlin. Page: 409
162. Inhaltsverzeichnis. Page: 411
163. I. Die Erſcheinungen des Galvanismus. Page: 413
164. II. Was man unter galvaniſcher Kette verſteht. Page: 417
165. III. Wie man eine Voltaſche Säule herſtellt und was man an ihr bemerken kann. Page: 420
166. IV. Die Wirkung des Galvanismus auf den lebenden Körper. Page: 425
167. V. Der elektriſche Funke. Page: 428
168. VI. Die galvaniſche Hitze. Page: 431
169. VII. Das elektriſche Licht. Page: 434
170. VIII. Die praktiſche Verwendung des elektriſchen Lichtes. Page: 436
171. IX. Die chemiſche Wirkung des elektriſchen Lichtes. Page: 439
172. X. Die Wirkung des elektriſchen Stromes auf Eiſen. Page: 441
173. XI. Die Anwendung der elektromagnetiſchen Kraft. Page: 445
174. XII. Drehende Bewegung der Elektromagneten. Page: 448
175. XIII. Die elektriſchen Telegraphen. Page: 452
176. XIV. Die Telegraphen von Siemens und Halske. Page: 456
177. XV. Der Schreibe-Telegraph. Page: 464
178. XVI. Berichtigung einer zu weit getriebenen Theorie über die elektriſche Ausgleichung. Page: 471
179. XVII. Die elektromagnetiſchen Uhren. Page: 474
180. XVIII. Die Induktionselektrizität und das Geheimnis des Telephons. Page: 477
181. XIX. Die Erklärung des Telephons. Page: 484
182. XX. Das Mikrophon. Page: 491
183. XXI. Der Phonograph. Page: 495
184. XXII. Betrachtungen über den Phonographen. Page: 502
185. XXIII. Die Elektrizität in den Muskeln und Nerven. Page: 506
186. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 512
187. Naturwiſſenſchnftliche Volkshücher von A. Bernftein. Fünfte, reich iſſuſtrierfe Aufſage. Durchgeſehen und verbeſſert von H. Potonié und R. Hennig. fünfter Teil. Page: 513
188. Berlin. Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung. Page: 513
189. Inhaltsverzeichnis. Page: 515
190. I. Von den chemiſchen Kräften. Page: 517
191. II. Die Verſchiedenheit der Anziehungs-Kräfte. Page: 520
192. III. Die beſonderen Eigentümlichkeiten der chemiſchen Kraft. Page: 523
193. IV. Die Haupt-Erſcheinungen der chemiſchen Kraft. Page: 526
194. V. Die chemiſche Verwandtſchaft oder Neigung. Page: 529
195. VI. Wie ſonderbar oft die Reſultate chemiſcher Verbindungen ſind. Page: 532
196. VII. Die Umſtände, unter welchen chemiſche Anziehungen ſtattfinden. Page: 535
197. VIII. Eine Reihenfolge der chemiſchen Neigungen. Page: 540
198. IX. Wie die grötzte chemiſche Neigung gerade zwiſchen ſich unähnlichen Stoffen beſteht. Page: 543
199. X. Von der Natur der chemiſchen Verbindungen. Page: 546
200. XI. Die Gewichts-Verhältniſſe der chemiſchen Verbindungen. Page: 549
201. XII. Wie die chemiſchen Stoffe ſtets nur in beſtimmten Gewichtsteilen ihre Verbindungen eingehen. Page: 552
202. XIII. Was chemiſche Anziehung und was chemiſche Energie iſt. Page: 554
203. XIV. Die Verbindung eines chemiſchen Stoffes mit doppelten und mehrfachen Portionen. Page: 557
204. XV. Was man in der Chemie von den Atomen erfahren kann. Page: 560
205. XVI. Verſchiedener Zuſtand der Atome in ver- ſchiedenen Dingen. Page: 563
206. XVII. Die Anzahl der Atome bei chemiſchen Verbindungen und das Gewicht jedes Stoffes. Page: 566
207. XVIII. Die mehrfachen Verbindungen der Atome. Page: 569
208. XIX. Die Atome und die Wärme. Page: 572
209. XX. Was man ſpezifiſche Wärme der Stoffe nennt und wie die Atome erwärmt werden. Page: 575
210. XXI. Was man unter Diffuſion verſteht. Page: 578
211. XXII. Von der Diffuſion flüſſiger Körper. Page: 582
212. XXIII. Wie Chemie und Elektrizität mit ein- ander verwandt ſind. Page: 587
213. XXIV. Die chemiſchen Wirkungen elektriſcher Ströme. Page: 590
214. XXV. Von der elektro-chemiſchen Kraft. Page: 592
215. XXVI. Die Erklärung der chemiſchen Er- ſcheinungen durch elektriſche Kräfte. Page: 595
216. XXVII. Erklärung der chemiſchen Verbindungen und Trennungen nach der elektro-chemiſchen Lehre. Page: 598
217. XXVIII. Die Galvano-Plaſtik. Page: 601
218. XXIX. Von der galvaniſchen Verſilberung. Page: 604
219. XXX. Von der Bereitung der Verſilberungs- Flüſſigkeit. Page: 607
220. XXXI. Einrichtung des Apparats zum Verſilbern. Page: 609
221. XXXII. Etwas von der galvaniſchen Vergoldung. Page: 612
222. XXXIII. Merkwürdige weitere Verſuche. Page: 615
223. XXXIV. Schlußbetrachtung. Page: 617
224. Druck von G. Bernſtein in Berlin. Page: 620
1 1[Figure 1]
Naturwissenschaftliche
Volksbücher
A. Bernstein.
2
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3
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411[Handwritten note 1]
5
Naturmiſſenſchaftliche Rolksbiicher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Erſter Teil.
2[Figure 2]
Berlin 1897.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
6
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
22[Handwritten note 2]
MAX-PLANCK-IN@TITUT
FÜR
@I@@INSCHAFTS@E@@MICHTE
Bibliothek
33[Handwritten note 3]
7
Yorwort.
Die vorliegenden naturwiſſenſchaftlichen Aufſätze ganz
populärer
Natur, die alſo dem breiteſten Publikum dienen
wollen
, ſollen weiter nichts als im Volke jeden, der ſich für
wiſſenſchaftliche
Dinge intereſſiert, anregen, in der Hoffnung,
hier
und da nur den allererſten Grund zu weiterer Beſchäfti-
gung
mit naturwiſſenſchaftlichen Fragen zu legen, unter andern
denjenigen
mit geiſtiger Koſt in einem beſchränkten Gebiete
zu
verſehen, deſſen Lebenslage vorwiegend zu körperlicher Be-
ſchäftigung
zwingt.
Aber auch die Bedeutung rein populärer
Schriften
für denjenigen Teil der Jugend, der ſpäter der
Wiſſenſchaft
obliegen wird, iſt nicht zu unterſchätzen.
Aus
eigener
Erfahrung wiſſen Viele, die die Gelehrten-Laufbahn
ergriffen
haben, wie außerordentlich wichtig ihnen einſt ſolche
populären
Schriften geweſen ſind:
dieſe haben daher einen nicht
zu
unterſchätzenden Beruf.
Auch Bernſteins Volksbücher, die
zuerſt
1858—61 erſchienen, haben das durch den Anklang, den
ſie
mit Recht bisher gefunden haben, zur Genüge darthun helfen.
Sie machen nicht den Anſpruch darauf, ein abgeſchloſſener
kleiner
Kosmos zu ſein:
ſie wollen alſo nur anregen,
und
mit Geſchicklichkeit hat der urſprüngliche Verfaſſer natur-
wiſſenſchaftliche
Gegenſtände herausgegriffen, die der breiten
Maſſe
am nächſten liegen.
Die beiden Unterzeichneten haben
ſich
bemüht, den Charakter des Werkchens nach Möglichkeit zu
wahren
, indem ſie nur eine Umarbeitung gemäß den
8IV waltigen Fortſchritten der neueren Wiſſenſchaft vorgenommen
haben
.
Dieſe mußte freilich vielfach ſehr weit gehen, ſo iſt
z
.
B. der AbſchnittVon der Blüte und der Frucht”, abgeſehen
von
wenigen Zeilen, vollſtändig durch neuen Text erſetzt worden.
In den chemiſchen Teilen der Volksbücher hat uns Herr
Dr
.
A. Speier mit Rat und That unterſtützt; Herr Cuſtos
H
.
I. Kolbe hat, wo es ſich um zoologiſche Dinge handelt,
wenigſtens
unſere Korrekturen durchgeſehen.
Daß eine reiche Illuſtration hinzugekommen iſt, wird
gewiß
mit Freuden aufgenommen werden, da die Vermittelung
der
Anſchauung bei naturwiſſenſchaftlichen Auseinanderſetzungen
unvergleichlichen
Wert hat.
Die einleitenden Abſchnitte Seite 1 bis 39 ſind neu hinzu-
gefügt
worden, um auch demjenigen, der einen allgemeinen
Ausblick
wünſcht, zu genügen.
Berlin, im Januar 1897.
H. Potonié und R. Hennig.
9
Inhaltsverzeichnis.
11
#### Vorwort. # Seite
#### Einleitung, zugleich als Schlußwort.
# I. ## Das Ziel der Naturforſchung . . . . . . . . . # 1
# II. ## Die Wellenbewegung . . . . . . . . . . . . # 3
# # 1. # Der Schall . . . . . . . . . . . . . . # 7
# # 2. # Das Licht . . . . . . . . . . . . . . # 10
# # 3. # Die Wärme- und die chemiſchen Strahlen . . . . # 14
# # 4 # Die Elektrizität . . . . . . . . . . . . # 17
# # 5. # Die Anziehungskraft und die Schwerkraft . . . . # 20
# # 6. # Die Erhaltung der Energie . . . . . . . . # 21
# III. ## Das Leben . . . . . . . . . . . . . . . # 25
# # 1. # Was iſt Leben? . . . . . . . . . . . . # 25
# # 2. # Die Abſtammungslehre . . . . . . . . . . # 30
# # 3. # Thatſachen zur Begründung der Abſtammungslehre . # 32
#### Die Geſchwindigkeit.
# I. ## Die Geſchwindigkeiten der Naturkräfte . . . . . . # 40
# II. ## Wie kann man die Geſchwindigkeit des elektriſchen Stromes
# meſſen? . . . . . . . . . . . . . . . # 41
#### Die Schwere der Erde.
# I. ## Wie viel Pfund wiegt die ganze Erde? . . . . . . # 44
# II. ## Der Verſuch, die Erde zu wiegen . . . . . . . . # 45
# III. ## Veſchreibung des Verſuchs, die Erde zu wiegen . . . # 47
#### Das Licht und die Entfernung.
# I. ## Etwas über Beleuchtung . . . . . . . . . . . # 51
# II. ## Die Beleuchtung der Planeten durch die Sonne . . . # 53
#### Zur Witterungskunde.
# I. ## Etwas über das Wetter . . . . . . . . . . . # 56
# II. ## Von der Witterung im Sommer und Winter . . . . # 57
# III. ## Die Luftſtrömungen und das Wetter . . . . . . . # 60
# IV. ## Die feſten Regeln der Witterungskunde . . . . . . # 62
# V. ## Die Luft und das Waſſer in ihrer Beziehung zum Wetter # 65
# VI. ## Nebel, Wolken, Regen und Schnee . . . . . . . # 70
# VII. ## Wie Wärme gebunden wird und wie Wärme frei wird # 73
# VIII. ## Die gebundene Wärme macht kalt, die freie Wärme
# macht warm . . . . . . . . . . . . . . # 75
# IX. ## Witterungsregeln und Störungen derſelben . . . . #
1110VI # X. ## Die Schwierigkeit und die Möglichkeit der Wetterver-
# kündigungen . . . . . . . . . . . . . . # 80
# XI. ## Die Wetterpropheten . . . . . . . . . . . . # 82
# XII. ## Die Wetterkarten und ihre Anwendung . . . . . . # 85
# XIII. ## Hat der Mond Einfluß auf das Wetter? . . . . . # 91
#### Von der Blüte und der Frucht.
# I. ## Die Flora und der Menſch . . . . . . . . . . # 94
# II. ## Fortpflanzung durch Teilung . . . . . . . . . # 94
# III. ## Die geſchlechtliche Fortpflanzung . . . . . . . . # 96
# IV. ## Blumen und Blüten . . . . . . . . . . . . # 98
# V. ## Bau der Blüten . . . . . . . . . . . . . # 99
# VI. ## Die Beſtäubung . . . . . . . . . . . . . # 102
# VII. ## Die Inſektenblüten oder Blumen . . . . . . . . # 103
# VIII. ## Beiſpiele zur Erläuterung des Beſtäubungsvorganges bei
# den Blumen . . . . . . . . . . . . . . # 105
# IX. ## Waſſerblütler . . . . . . . . . . . . . . # 113
# X. ## Windblütler . . . . . . . . . . . . . . . # 114
# XI. ## Der Entdecker des Geheimniſſes der Blumen . . . . # 116
# XII. ## Bedeutung der Befruchtung . . . . . . . . . . # 118
# XIII. ## Einiges über die Früchte und deren Erziehung . . . # 119
#### Die Nahrungsmittel ſür das Volf.
# I. ## Umſatz der Nahrungsmittel . . . . . . . . . . # 122
# II. ## Die Verdauung . . . . . . . . . . . . . # 124
# III. ## Kaffee . . . . . . . . . . . . . . . . . # 126
# IV. ## Nützlichkeit und Schädlichkeit des Koffees . . . . . # 129
# V. ## Das Frühſtück . . . . . . . . . . . . . . # 131
# VI. ## Branntwein . . . . . . . . . . . . . . . # 135
# VII. ## Gefahren des Branntweins . . . . . . . . . . # 138
# VIII. ## Der Arme und der Branntwein . . . . . . . . # 143
# IX. ## Die Folgen der Trunkſucht und deren Verhütung . . # 146
# X. ## Der Mittagstiſch . . . . . . . . . . . . . # 148
# XI. ## Notwendigkeit der verſchiedenartigſten Koſt . . . . . # 151
# XII. ## Fleiſchbrühe . . . . . . . . . . . . . . . # 153
# XIII. ## Zweckmäßige Zuthat zur Fleiſchbrühe . . . . . . # 156
# XIV. ## Hülſenfrüchte . . . . . . . . . . . . . . # 158
# XV. ## Gemüſe und Fleiſch . . . . . . . . . . . . # 160
# XVI. ## Das Mittagsſchläfchen . . . . . . . . . . . # 163
# XVII. ## Waſſer und Bier . . . . . . . . . . . . . # 165
# XVIII. ## Abendbrot . . . . . . . . . . . . . . . # 168
11
Ginleitung, zugleich als Schlußwort.
I. Das Ziel der Naturforſchung.
Seit der Zeit, in der die Menſchheit eine ſolche Höhe der
Kultur
erreicht hatte, daß ſie anfing, alles, was um ſie herum
vorging
, mit einiger Aufmerkſamkeit zu betrachten, ſeitdem ver-
ſuchte
ſie, ſtets alle die mannigfachen Erſcheinungen der Natur,
die
vielfachen Rätſel der umgebenden Welt zu erforſchen und
Grund
und Urſache für jedes Ding und jede Erſcheinung zu er-
kennen
.
Gar vieles hat die Naturforſchung in dieſer Beziehung
ſchon
geleiſtet, und zumal unſer ſcheidendes 19.
Jahrhundert hat
eine
Entwickelung und einen Aufſchwung der Naturwiſſenſchaft
geſehen
, welcher größer iſt als derjenige der geſamten vorher-
gegangenen
Jahrtauſende zuſammengenommen, ſodaß man
dieſes
Jahrhundert mit vollem Recht als das Zeitalter
der
Naturwiſſenſchaften”
bezeichnet.
Von Jahr zu Jahr
häufen
ſich die Wiſſensſchätze, welche der unermüdliche Geiſt
der
Forſcher zuſammenträgt.
Und dennoch wird das ganze
unermeßlich
große Feld, das die Natur der Forſchung bietet,
wohl
niemals durchlaufen, das Material der Forſchung nie
erſchöpft
werden, denn je weiter der menſchliche Geiſt in die
Geheimniſſe
der Natur eindringt, umſomehr neue, unbekannte,
1
11Dieſe einleitenden Kapitel (bis Seite 39) ſind zum Verſtändnis
der
folgenden Teile keineswegs erforderlich; ſollten ſie dem einen oder
dem
anderen einſtweilen noch zu ſchwer verſtändlich ſein, ſo mag er ſie
ruhig
erſt zum Schluß leſen.
A
. Bernſtein, Naturw. Volksbücher.
122 große Gebiete entdeckt er, welche ihm wieder und wieder die
reichſten
Wiſſensſchätze verſprechen.
Vor allem aber kommt es der Naturforſchung darauf an,
alle
die unendlich vielen, verſchiedenen Erſcheinungen der Natur
möglichſt
von einem einzigen Geſichtspunkte aus betrachten zu
können
.
Das höchſte und letzte Ziel unſerer Wiſſenſchaft
wird
es ſtets bleiben, eine denkbar einfache Betrachtung für
alle
Dinge zu gewinnen, auf eine Erklärung alle Thatſachen
zurückzuführen
.
Zum großen Teil iſt ihr dies ſchon gelungen, und gerade
das
letzte Jahrzehnt hat einen großen Schritt nach dieſer Rich-
tung
vorwärts gethan.
Die Bewegung iſt es, welche höchſt
wahrſcheinlich
alle Vorgänge in der Natur veranlaßt und zu
erklären
vermag .
. . Im ganzen Weltall iſt jedes kleinſte
Maſſenteilchen
, jedes Atom, wie die Wiſſenſchaft ſich ausdrückt,
in
einer ſtetigen, unaufhörlichen Bewegung begriffen.
Im
Mittelalter
und ſelbſt noch bis in unſere Zeit hinein ſuchten
viele
Leute ein ſogenanntes perpetuum mobile zu erfinden,
d
.
h. eine Maſchine, die, einmal in Gang geſetzt, ſich unauf-
hörlich
bis in alle Ewigkeit fortbewegt, alſo etwa eine Uhr,
die
unaufhörlich geht, ohue daß man ſie je aufzuziehen braucht.
Eine ſolche Maſchine zu konſtruieren iſt unmöglich; und doch:
wenn
man will, kann man jedes einzelne Atom als ein ſolches
perpetuum
mobile betrachten, das unaufhörlich Jahrtauſende
und
Jahrmillionen lang bis in alle Ewigkeit ſich fortbewegt,
ohue
je zu ruhen.
Und die unaufhörliche verſchiedenartige Bewegung dieſer
Atome
nun iſt es, welche vielleicht eine Erklärung für alle
Erſcheinungen
abzugeben vermag.
Wir wollen verſuchen, dieſe
Behauptung
dem Leſer an einigen Beiſpielen klar zu machen.
Sollte dabei dem Leſer hier und da etwas unverſtändlich
bleiben
oder nicht völlig einleuchten, ſo mag er ſich tröſten:

wir
ſuchen hier einen Einblick zu geben in die tiefſten
133 ſchwerſten Probleme, welche ſich der Forſchung darbieten, und
unſere
größten und klügſten Gelehrten haben bisher auch
noch
nicht alle Einzelheiten zu verſtehen vermocht;
auch
ihnen
drängen ſich noch viele Fragen auf, die ſich einſt-
weilen
noch nicht beantworten laſſen.
Nur eine ungefähre
Vorſtellung
von jenen Gedanken ſollen daher die nächſten
Zeilen
geben.
Fünf Naturkräfte ſind es, die uns faſt in jedem Augen-
blick
in den verſchiedenſten Formen entgegentreten, denen wir
auf
Schritt und Tritt begegnen, und welche wir als die wich-
tigſten
betrachten müſſen.
Es ſind dies: Licht, Schall,
Wärme
, Elektrizität und Anziehungskraft
(ſpeziell der
Erde
).
Alle dieſe Erſcheinungen hat man nun in ihrem Weſen
erkannt
.
Man hat ſie alle mit Ausnahme der Anziehungs-
kraft
, welche vorläufig noch eine Sonderſtellung einnimmt
auf
Bewegung der Atome zurückführen können, und zwar auf
eine
beſtimmte Form der Bewegung, nämlich die Wellen-
bewegung
.
Suchen wir uns nun darüber klar zu werden,
was
man ſich unter dieſem einſtweilen etwas unverſtändlichen
Ausdruck
zu denken hat.
II. Die Wellenbewegung.
Jeder hat wohl ſchon oft beobachtet, was paſſiert, wenn
man
einen Stein ins Waſſer wirft.
Um den Ort, wo das
Waſſer
berührt wurde, bilden ſich eine große Anzahl genau
kreisförmiger
Wellen, welche an Umfang ſtets gleichmäßig
wachſen
und in gleichmäßigen Abſtänden einander folgen.
Was geht nun hier im Waſſer vor ſich? Was iſt eine ſolche
Welle
?
Die Wiſſenſchaft erwidert darauf: die Welle iſt eine Be-
wegungsform
der Waſſcroberfläche, welche ſich nach
144 allen Waſſerteilchen in weitem Umkreiſe mitteilt. Man darf
ſich
nicht vorſtellen, daß an der Stelle, wo der Stein hinein-
fiel
, ſich ein kreisförmiger Waſſerberg über die Oberfläche er-
hebt
, welcher nun über die umgebende Fläche dahinfegt, ohne
daß
andere Waſſerteilchen in Mitleidenſchaft gezogen würden.
Nein, die Sache verhält ſich ganz anders! Ein Beiſpiel mag
dies
klar machen:
ich befeſtige einen mehrere Meter langen
Strick
mit einem Ende an der Wand, das andere Ende behalte
ich
in der Hand, und nun ſpanne ich den Strick an, aber nur
mäßig
, nicht gar zu ſtraff.
Führe ich nun mit der freien
Hand
einen kräftigen, kurzen Schlag auf den mir gerade zu-
nächſt
liegenden Teil des Strickes aus, ſo erfährt dieſer eine
Erſchütterung
, welche ſich wellenförmig nach und nach dem
ganzen
Strick mitteilt.
Iſt die Welle bis zu dem an der
Wand
befeſtigten Ende gelangt, ſo wird ſie hier reflektiert”,
d
.
h. ſie macht Kehrt und bewegt ſich nun wieder auf mich
zu
u.
ſ. w. Man mache den Verſuch nach, und man wird ſich
überzeugen
, daß ſich thatſächlich wie im Waſſer eine Welle durch
den
Strick dahin bewegt.
Wir wiſſen doch nun aber alle, daß die einzelnen Teilchen
des
Strickes nach dem Verſuch keineswegs aus ihrer Lage ge-
kommen
ſind, daß ſie ſich noch in genau derſelben Anordnung
befinden
wie vorher.
Was iſt alſo geſchehen während der
Wellenbewegung
?
Nun, wir müſſen uns die Sache ſo vor-
ſtellen
, daß die Teilchen des Strickes ſich nicht ſeitwärts ver-
ſchoben
, ſondern daß ſie nur mehrmals auf- und nieder-
ſchwankten
, etwa ſo wie ein Menſch, der, auf einer elaſtiſchen
Unterlage
ſtehend, z.
B. einer Bettmatratze, dieſe in Schwung
verſetzt
, ſodaß er auf und niederwippt”.
DieſesWippen”
der
einzelnen Teilchen des Strickes erfolgte nun aber nicht
überall
gleichzeitig.
Denn da die Erſchütterung eine gewiſſe
Zeit
brauchte, um ſich fortzupflanzen, kam es, daß ein Teilchen
des
Strickes ſchon den höchſten Punkt der Schwingung
155 hatte, während ein benachbartes, weiter von mir entferntes ſich
noch
im Aufſteigen befand, und als dieſes ſeinen höchſten
Punkt
erreichte, war das erſte ſchon wieder im Fallen begriffen,
während
jetzt ein noch entfernteres gerade die aufſteigende Be-
wegung
machte.
Stellen wir uns vor, daß die dicke Wellenlinie in Fig. 1
die
Form darſtellt, welche der Strick zu einer beſtimmten Zeit
aufweiſt
, ſo ſieht man, daß die dargeſtellte Welle ihre höchſte
Erhebung
, ihrenScheitelpunkt” im Punkte A hat.
A iſt ein
Teilchen
des Strickes, welches bei ſeinem Auf- und Abſchwingen
gerade
den höchſten Punkt ſeiner Bewegung erreicht hat und
3[Figure 3]Fig. 1.A B C D E F nun wieder herabzuſinken beginnen wird.
Das benachbarte
Teilchen
B dagegen bewegt ſich noch aufwärts, ebenſo das
entferntere
Teilchen C, welches ſich aber noch nicht ſo hoch er-
hoben
hat wie B.
Das Teilchen D dagegen hat gerade ſeinen
tiefſten
Punkt erreicht und will wieder anfangen zu ſteigen.
Die Teilchen E und F bewegen ſich aber noch abwärts, und
zwar
hat E ſchon einen tieferen Stand erreicht als F.
Dadurch
entſteht
eine Wellenlinie, wie ſie uns durch die dicke Linie re-
präſentiert
wird.
Einen Augenblick ſpäter aber hat ſich die Bewegung weiter
nach
rechts fortgepflanzt:
A ſinkt wieder herab, B nimmt den
höchſten
Punkt der Erhebung ein, C ſteigt noch an, D ſteigt
ebenfalls
wieder, E nimmt den tiefſten Platz ein und F
166 noch. Die dünne Linie unſerer Figur zeigt uns dieſen neuen
Stand
der Dinge, die Welle iſt weiter gerückt, hat ſichum
eine
Phaſe verſchoben”, wie man zu ſagen pflegt.
Wieder
einen
Augenblick ſpäter iſt die Welle ein Endchen weiter
gerückt
, ſie hat die Form, welche uns die punktierte Linie zeigt:
A und B fallen, D und E ſteigen, C hat den höchſten, F den
tiefſten
Punkt der Welle erreicht.
Nun muß man ſich nur denken, daß dieſe Fortbewegung
ſehr
raſch vor ſich geht, viel, viel ſchneller, als es ſich be-
ſchreiben
läßt, und man hat einen Begriff, wie eine Wellen-
bewegung
zuſtande kommt, ohne daß die Teilchen ſich in ihrer
Lage
zu einander verſchieben, ohne daß irgend eine ſeitliche
Bewegung
eintritt, wie es dem Auge erſcheint.
Kehren wir nun zu den Waſſerwellen zurück! Übertragen
wir
auf dieſe alle jene Erſcheinungen, welche wir an den Seil-
wellen
beobachtet haben und wir wiſſen, wie wir ſolche Wellen
aufzufaſſen
haben.
Dieſe ſind nichts, als eine Erſchütterung des Waſſerſpiegels, welche ſich in einem abwechſelnden Auf-
und
Niederſchwanken der einzelnen Waſſerteilchen äußert.
Auch
die
Reflektion” der Wellen, welche wir an den Seilwellen
beobachteten
, läßt ſich an den Waſſerwellen beobachten, natürlich
nur
, wenn ſich in der Nähe eine glatte, feſte, möglichſt ſenkrechte
Wand
befindet, von welcher die Wellen zurückprallen können.
Durch Vorgänge, welche den bisher beſchriebenen, täglich
zu
beobachtenden in jeder Weiſe ähnlich ſind, glaubt man alle
1
11Einem Irrtum muß hier noch entgegengetreten werden: Wer
einmal
an der See war, wird bei der Bezeichnung Waſſerwellen ſtets an
die
großen Wellen denken, welche unabläſſig ans Ufer rollen, und wird
darauf
hinweiſen, daß hier doch nicht nur ein Auf- und Niederſchwingen
ſtattfindet
, ſondern zweifellos eine ſeitliche Fortbewegung. Darauf aber
iſt
zu erwidern, daß wir dieſe großen Meereswogen nicht in jeder Beziehung
den
oben bezeichneten Wellen gleichſtellen dürfen, aus Gründen, deren nähere
Erörterung
uns hier zu weit abſchweifen laſſen würde.
177 oben genannten Naturerſcheinungen erklären zu können. Sehen
wir
zu, wie dies möglich iſt, indem wir zunächſt erforſchen
wollen
, was der Schall iſt, deſſen Weſen am einfachſten zu
verſtehen
und am beſten erforſcht iſt.
1. Der Schall.
Genau ähnlich wie dem Waſſer durch eine Erſchütterung
eine
gleichförmige Wellenbewegung mitgeteilt wird, laſſen ſich
auch
in der Luft Wellen erzeugen, die uns aber, da ja die Luft vollkommen durchſichtig iſt, unſichtbar bleiben.
Dennoch
können
wir ſie aber wahrnehmen, und zwar nicht mit den
Augen
, ſondern mit dem Gehör.
Alles, was wir als Schall
bezeichnen
, Töne, Klänge, Geräuſche aller Art, ſind nichts
anderes
als wellenförmige Schwingungen der Luft.
Während
nun
aber die Waſſerwellen ſich nur auf der Oberfläche des
Waſſers
zeigen, pflanzen ſich die Luftwellen in allen Rich-
tungen
des Raumes fort, nach oben, nach unten und nach
allen
Seiten.
Wir hören den Schall ja ſtets, mag er kommen von
wo
er will.
Wir hören ihn auch, wenn die eigentlicheSchall-
quelle”
durch dicke Wände von uns getrennt iſt, wir wiſſen
alle
, daß man es ſtets oft zu großem Ärger hört, wenn
in
der Wohnung über oder unter uns Klavier geſpielt wird.
Dadurch unterſcheidet ſich der Schall vom Licht. Bekanntlich
nehmen
wir von einer in der Nebenwohnung angezündeten
Lampe
nicht den geringſten Schimmer wahr:
der Schall wird
eben
durch jede Wandgeleitet”, das Licht dagegen vermag
nur
durch ſehr wenig Subſtanzen (z.
B. Glas) ungehindert
hindurchzugehen
.
Wir können ſchon daraus ſchließen, daß die
1
11Es muß an dieſer Stelle bemerkt werden, daß der Phyſiker den
Begriff
der Welle weiter faßt, als er oben beſchrieben wurde, er unter-
ſcheidet
zwiſchenlongitudinalen” undtransverſalen” Wellenſchwingungen.
Doch
wurde, um die Einfachheit der Darſtellung zu wahren,
die
obige, nicht ganz genaue Beſchreibung der Schallwellen gewählt.
188 Schallwellen ziemlich groß undrobuſt” ſein müſſen, und ſo
iſt
es auch thatſächlich.
Die Größe verſchiedener Schallwellen ſchwankt zwar recht
beträchtlich
, aber ſie laſſen ſich genau beſtimmen:
die mittleren
Töne
des Klaviers erzeugen Schallwellen, deren jede rund 1 m
Länge
hat.
Die höchſten Töne des Klaviers dagegen geben nur Wellen von etwa 10 cm Länge, die tiefſten aber rieſig
große
Wellen von 8—10 m Länge.
Sehr wichtig iſt nun die Thatſache, daß alle Töne, Klänge
und
Geräuſche ſich ſtets mit gleicher Geſchwindigkeit durch die
Luft
fortpflanzen.
Wäre dies nicht der Fall, ſo wäre natürlich
jede
Muſik unmöglich;
denn wenn etwa die hohen Töne ſchneller
zu
uns gelangten als die tiefen, ſo würden in einem vollen
Orcheſter
zuerſt etwa die Violinen, Flöten u.
ſ. w. , ſpäter erſt
die
Bratſchen, Klarinetten, Hörner, Trompeten u.
ſ. w. und noch
ſpäter
erſt die Bäſſe, Poſaunen, Pauken u.
ſ. w. hörbar ſein.
Daß dabei natürlich von einer Harmonie oder Melodie keine
Rede
ſein könnte, liegt auf der Hand.
Alſo der Schall pflanzt ſich ſtets gleich ſchnell fort. Wie
groß
iſt nun die Schnelligkeit?
Nun, dieſe hat man ganz
genau
meſſen können, ſie beträgt ſtets ungefähr 333 m in der
Sekunde
;
man kann ſich dieſe Zahl ja ſehr leicht merken. Erſt
in
drei Sekunden alſo hat der Schall gerade einen Kilometer
zurückgelegt
.
Daher kommt es, daß ſtets eine ziemlich beträcht-
liche
Zeit vergeht, ehe der Knall einer in der Ferne auf-
blitzenden
Kanone bis in unſer Ohr gelangt.
Aus dem gleichen
Grunde
hören wir den Donner meiſt erſt lange, nachdem der
Blitz
ſichtbar wurde, welcher doch die Lufterſchütterung ver-
anlaßte
.
Es ſei dabei bemerkt, daß man mit größter Leichtig-
keit
aus der Zahl der Sekunden, welche zwiſchen Blitz und
1
11Eine Wellenlänge iſt ſtets das einmalige Auf- und Nieder-
ſchwingen
, alſo
199 Donner vergehen, die Entfernung des Gewitters berechuen
kann
.
Man braucht nämlich die Zahl der Sekunden nur
durch
3 zu dividieren und man erhält die Anzahl der Kilo-
meter
, um welche das Gewitter noch entfernt iſt.
Es beruht
dies
darauf, daß der Schall ja gerade einen Kilometer in drei
Sekunden
zurücklegt;
um alſo etwa 5 km zu durchlaufen,
braucht
er 5 ÷ 3 = 15 Sekunden.
Erſt wenn Blitz und Donner
gleichzeitig
wahrgenommen werden, iſt alſo ein Gewitter ſehr
nah
und wird für uns gefährlich.
Sehr wichtig iſt nun auch noch die Frage, wieviel Schwin-
gungen
ein Ton in der Sekunde ausführt.
Da zeigt ſich
denn
, daß ein Ton, deſſen Wellenlänge 10 m beträgt und
der
ja in der Sekunde 333 m durchläuft, 333:
10 = 33 {3/10}
Schwingungen
in der Sekunde ausführt.
Man hat nun
herausgefunden
, daß der tiefſte Ton, welchen wir noch zu
hören
vermögen, etwa 25 Schwingungen in der Sekunde macht.
Alle Töne, welche weniger Schwingungen machen, können wir
nicht
mehr hören.
Die Töne in den beiden mittleren Oktaven
des
Klaviers machen je nach ihrer Höhe etwa 200 bis 800
Schwingungen
, die höchſten an 4000.
Es giebt noch höhere
Töne
, die aber ſchrill und unangenehm wirken und daher in
der
Muſik nie verwandt werden, man kennt ſolche von 20 000,
ja
25000 Schwingungen in der Sekunde.
Diejenigen Töne aber,
welche
noch mehr Schwingungen machen, können wir wieder
nicht
mehr wahrnehmen, und es iſt keine Möglichkeit vorhanden,
ſie
wahrnehmbar zu machen.
Wie aber wird es nun, wenn mehrere Töne gleichzeitig
erklingen
?
Werden ſich die einzelnen Wellen dann nicht ſtören
und
gegenſeitig vernichten?
Nun, aus Erfahrung wiſſen wir
doch
, daß wir mehrere Töne oder Geräuſche gleichzeitig hören
können
, ohne daß ſie ſich irgendwie ſtören.
Wie iſt das mög-
lich
?
Um dies zu verſtehen, betrachten wir noch einmal die
Waſſerwellen
.
Wenn wir mehrere Steinchen gleichzeitig
2010 Waſſer werfen, ſo entſtehen eine große Reihe von eiuzelnen
Wellenſyſtemen
, und wir können nun beobachten, daß die ein-
zelnen
Wellen ſich keineswegs vernichten, ſondern daß eine
jede
, unbekümmert um die anderen, ihren Weg fortſetzt.
Genau
ebenſo
nun iſt es mit den durch Töne erzeugten Luftwellen.
Auch ſie dringen an unſer Ohr, ohne durch andere Töne und
Geräuſche
an Stärke zu verlieren.
2. Das Ticht.
Ganz ähnlich wie den Schall vermögen wir uns nun
auch
das Licht als Wellenbewegung zu erklären.
Bevor wir
dies
aber zeigen, müſſen wir noch auf etwas anderes hin-
weiſen
:
Wir wiſſen, daß wir von der Sonne und den Sternen
Licht
erhalten, trotzdem dieſe Himmelskörper viele Millionen
Meilen
von uns entfernt ſind.
Wenn nun das Licht eine
Wellenbewegung
ſein ſoll, ſo muß doch der Stoff, in welchem
die
Wellen hervorgerufen werden, bis zur Sonne, ja bis zu
den
entfernteſten Sternen den Weltenraum erfüllen.
Was iſt das
nun
für ein ſeltſamer Stoff?
Die Luft kann es doch nicht
ſein
:
denn wir wiſſen ja, daß ſchon auf hohen Bergen die
Luft
außerordentlich dünn wird und daß in den großen Höhen,
in
welche die Menſchen mit dem Luftballon vorgedrungen ſind,
die
Luft ſchon ſo verdünnt iſt, daß man gar nicht mehr hätte
atmen
können, wenn man nicht künſtlichen Sauerſtoff zum
Einatmen
mitgenommen hätte.
Wir wiſſen mit Beſtimmtheit,
daß
die eigentliche Luft nur den allerunterſten Luftſchichten
zukommt
, daß ſie ſchon in wenigen Meilen Höhe über dem
Erdboden
faſt vollkommen fehlt, und die Sonne iſt volle
20
Millionen Meilen entfernt.
Die Luft kann es alſo nicht ſein, die den Weltenraum er-
füllt
, es muß ein anderer ebenfalls durchſichtiger Stoff ſein.
Die Wiſſenſchaft hat genau ebenſo gefolgert und ſich zu
2111 Annahme bequemt, die man nicht beweiſen kann, ſondern die
eine
notwendige Vorausſetzung, eine ſogenannteHypotheſe”
iſt
.
Jener Stoff muß ganz ſonderbare Eigenſchaften haben,
er
muß überall vorhanden ſein, aber doch ſo unendlich fein,
daß
er die zahlloſen Himmelskörper, welche ſich fortwährend
mit
ungeheurer Geſchwindigkeit in ihm fortbewegen, nicht im
geringſten
aufhält.
Man hat ihm einen Namen gegeben, trotz-
dem
ihn niemals ein Menſch geſehen hat oder je ſehen wird:
er heißt der Äther. Dieſer Äther alſo ſoll den ganzen Weltenraum erfüllen, und ſeine Wellenbewegungen ſollen es
ſein
, die wir als Licht wahrnehmen.
Dieſe Annahme iſt zwar
kühn
und ſeltſam, aber wenn man ſie einmal gemacht hat,
iſt
man imſtande, alle Licht- (optiſchen) Erſcheinungen zu er-
klären
.
Beruht nun aber wirklich das Licht nur auf Wellen-
ſchwingungen
des Äthers, ſo iſt klar, da wir auch auf der
Erdoberfläche
das Licht wahrnehmen, daß der Äther auch unſere
ganze
Atmoſphäre erfüllt und daß er, wie das Waſſer ins
Löſchpapier
, eindringt in alle noch ſo feinen Poren.
Da der Äther nun ein ſo viel, viel leichterer und feinerer
Stoff
iſt als die Luft, ſo werden wir erwarten können, daß
die
in ihm ſtattfindenden Wellenbewegungen ebenfalls viel
winziger
und zierlicher ſind als diejenigen der Luft, ferner
aber
auch, daß ſich die Erſchütterungen des Äthers ſehr ſchnell
fortpflanzen
.
Und ſo iſt es auch: die Geſchwindigkeit des
Lichtes
übertrifft die des Schalles faſt um das Millionenfache,
in
einer Sekunde vermag ein Lichtſtrahl 300 000 km zurück-
zulegen
, eine Strecke, welche das 7 fache des Erdäquators oder
etwa
das 350 fache der großen Strecke Berlin-München beträgt.
Dabei ſind die Längen der einzelnen Wellen viel kleiner als
1
11Der in den Apotheken käufliche Äther iſt ein ganz anderer Stoff,
der
nur zufällig denſelben Namen erhalten hat.
2212 die der Schallwellen: in der Sekunde findet im Mittel ein
600
billionenmaliges (100 Million X 6 Million, in Ziffern
600
000 000 000 000) Auf- und Niederſchwingen der einzelnen
Ätherteilchen
ſtatt, ſodaß die Länge einer Welle nur den winzig
kleinen
Größenwert von {1/2000} mm hat.
Wir haben es alſo
mit
Zahlenwerten zu thun, die jedes Vorſtellungsvermögen
weit
überſteigen, und man braucht lange Zeit, um ſich einiger-
maßen
in dieſe faſt unfaßbaren Verhältniſſe hineinzudenken
und
ſich einen ungefähren Begriff zu machen von dem Zuſtande-
kommen
der alltäglichſten Vorgänge.
Es giebt nun bekanntlich verſchiedenfarbiges Licht. Die
Fortpflanzungsgeſchwindigkeit
der verſchiedenfarbigen Licht-
ſtrahlen
iſt ſtets die gleiche, verſchieden aber iſt die Länge der
einzelnen
Wellen, ſomit alſo auch die Anzahl der Schwin-
gungen
pro Sekunde.
Das rote Licht beſteht aus Ätherwellen,
deren
Länge etwa {1/1300} mm beträgt und deren Anzahl in der
Sekunde
400 Billionen beträgt, das gelbe, grüne und blaue
Licht
mit ihren Zwiſchenfarben und Übergängen haben ſtets
geringere
Wellenlängen und eine ſtets wachſende Anzahl von
Wellen
in der Sekunde.
Das violette Licht endlich hat nur
Wellenlängen
von etwa {1/2300} bis {1/2400} mm und ſchwingt
700
billionenmal in der Sekunde.
Wenn ich ein ſogenanntesPrisma”, eine drei-
4[Figure 4]Fig. 2. ſeitige Glasſäule, Fig.
2, nehme, wie ſie vielfach als
Zierde
an den Kronleuchtern hängt, und dies Prisma
in
richtiger Lage in die Sonnenſtrahlen, ſ.
Fig. 3,
bringe
, die in mein Zimmer fallen, ſo kann ich auf
einem
ſeitlich dahinter befindlichen weißen Schirm H
ein
Lichtband r—v erhalten, das aus lauter bunten Farben
be
ſteht.
Dies bunte Lichtband bezeichnet man als Spektrum”
2313 und wir können darin deutlich 7 Farben mit mannigfachen
Übergängen
unterſcheiden:
rot, orange, hellgelb, grün, blau,
indigo
, violett.
Wir erkennen unſchwer, daß wir hier die
Farben
des Regenbogens vor uns haben und zwar in genau
gleicher
Reihenfolge wie dort.
Das weiße Sonnenlicht iſt durch
jenes
einfache Experiment, das jeder nach einiger Übung mit
größter
Leichtigkeit ausführen kann, in buntfarbiges Licht
zerlegt” worden.
Wir müſſen alſo annehmen, daß alle jene
5[Figure 5]Fig. 3.v i b S g g P o T H A K Farben in dem farbloſen, weißen Licht ſchon enthalten waren;
und thatſächlich, die Wiſſenſchaft lehrt uns, daß das weiße
Licht
nichts anderes iſt als eine Miſchung ſämtlicher im
Spektrum
vorhandenen Farben und daß umgekehrt eine Miſchung
aller
Regenbogenfarben wieder weißes Licht ergiebt.
Ein eigen-
tümliches
Reſultat:
das weiße Licht iſt nicht das einfachſte,
wie
man leicht glauben möchte, ſondern gerade das kompli-
zierteſte
, zuſammengeſetzteſte.
Alle Ätherſchwingungen alſo, welche in der Se-
kunde
400 bis 700 Billionen Wellen erzeugen, nehmen
wir
als Licht wahr
.
Nun aber wird es doch ſicherlich
2414 Schwingungen geben, welche weniger Wellen, etwa 1 oder 10
oder
100 Billionen in der Sekunde, und vielleicht auch ſolche,
die
mehr Wellen, 800 und 900 und 1000 Billionen in der
Sekunde
erzeugen.
Erſcheinen dieſe uns nicht auch als Licht?
Dies werden wir ſogleich erfahren.
Es hat ſich erfahrungsgemäß das Geſetz herausgeſtellt,
daß
die Reihenfolge der Farben im Spektrum bedingt iſt durch
die
Länge der einzelnen Wellen und damit durch die Anzahl
der
Ätherſchwingungen pro Sekunde.
Liegt im Spektrum rot
links
, violett rechts, ſo werden wir beim Fortſchreiten von rechts
nach
links auf ſtets längere Wellen und eine geringere Anzahl
von
Schwingungen ſtoßen und umgekehrt.
Die Wellen, die nur
100
bis 300 Billionen Schwingungen in der Sekunde ausführen,
müßten
alſo, falls ſie Lichtwellen ſind, im Spektrum links vom
Rot
ſichtbar werden.
Wir ſehen aber, daß jenſeits des Rot keine
Spur
von Lichtwirkung mehr wahrzunehmen iſt, ebenſowenig jen-
ſeits
des Violett, wo die Strahlen mit mehr als 700 Billionen
Schwingungen
zu finden ſein müßten.
Wir ſehen alſo, daß
nur
die Ätherſchwingungen von 400 bis 700 Billionen Wellen
pro
Sekunde als Licht wahrzunehmen ſind.
Was aber haben
wir
nun von jenen anderen, zweifellos vorhandenen ſogenannten
ultraroten” undultravioletten” Strahlen zu halten?
3. Die Rärme- und die chemiſchen Strahlen.
Wir wiſſen, daß die Sonne uns nicht nur Licht, ſondern
auch
Wärme ſpendet.
Es iſt durchaus falſch, wenn man meint,
daß
das Licht die Wärme erzeugt.
Vielmehr iſt die Wärme
etwas
, das nicht immer mit dem Licht in Verbindung aufzu-
treten
braucht.
Wenn wir eine Metallkugel erhitzen, ſo fühlen
wir
, daß ſie Wärme ausſendet, lange bevor ſie zur Glut er-
hitzt
iſt, ebenſo, wenn ein Ofen geheizt iſt.
1
11ultraheißt im LateiniſchenJenſeits”.
2515
Die neueſten Anſchauungen nun behaupten, daß die Wärme
ebenfalls
eine Schwingungsform des Äthers iſt.
Äther-
wellen
, welche etwa eine Länge von
{1/1000} mm haben,
und deren 300 Billionen in der Sekunde erfolgen,
erzeugen Wärme.
Sie ſind für das Auge nicht mehr als
Lichtſtrahlen
wahrnehmbar;
wenn man aber den Begriff des
Strahles
weiter faßt und jede Wellenbewegung mit Strahl
bezeichnet
(alſo etwa auch vonSchallſtrahlen” ſpricht), ſo
können
wir ſie als Wärmeſtrahlen bezeichnen.
Dieſe
Wärmeſtrahlen
nun ſind ebenfalls in den Sonnenſtrahlen vor-
handen
und können wie die Lichtſtrahlen durch das Prisma
abgelenkt
werden.
Da ihre Wellen nun aber, wie gezeigt,
noch
länger ſind als die längſten Lichtwellen, die roten, ſo
werden
ſie im Spektrum jenſeits des Roten zu ſuchen ſein,
wo
das Auge nichts Bemerkenswertes mehr entdecken kann.
Alexander von Humboldt war es, der mit Hilfe feiner
Inſtrumente
ſchon im Jahre 1800 das Vorhandenſein dieſer
ultraroten Wärmeſtrahlen nachwies.
Schon ein Jahr ſpäter aber (1801) fand ein anderer
Forſcher
, Ritter, daß auch im ultravioletten Teil des Spek-
trums
Strahlen nachzuweiſen waren.
Dieſe Strahlen, welche
ſtärker
als alle Lichtſtrahlen durch das Prisma gebrochen
werden
, müſſen alſo Ätherſchwingungen entſprechen, deren
Wellenlängen
noch geringer ſind als die des ultravioletten
Lichtes
, alſo geringer als {1/2500} mm.
Man bezeichnet ſie als
chemiſche Strahlen“, da ſie die Fähigkeit haben, chemiſche
Zerſetzungen
hervorzurufen, alſo z.
B. photographiſche Platten
zu
ſchwärzen.
Schon das blaue und violette Licht haben dieſe
Fähigkeit
, alſo auch das gewöhnliche Licht, welches ja jene
Farben
als Beſtandteile enthält;
das rote Licht dagegen ver-
mag
ſolche Wirkungen nicht hervorzubringen.
Wenn
2616 Photograph ſeine Platten entwickelt, ſo darf er dies nur in
der
ſogenannten Dunkelkammer, d.
h. in einer nur rot be-
leuchteten
Stube thun.
Sobald er in blauem oder weißem
Licht
arbeitete, würden die Platten ſofort durch die darin
vorhandenen
chemiſchen Strahlen geſchwärzt, alſo unbrauchbar
werden
.
Die Wärme- gleichwie die chemiſchen Strahlen ſind
natürlich
nicht nur im Sonnenlicht vorhanden, wir können ſie auch
künſtlich
erzeugen.
Wenn wir einen Metallkörper erhitzen, ſo
wird
er durch den umliegenden Äther in immer ſchnellere
Schwingungen
verſetzt.
Zunächſt werden die Schwingungen
pro
Sekunde 100, dann 200, dann 300 Billionen betragen,
d
.
h. er ſendet Wärmeſtrahlen aus, wovon wir uns leicht über-
zeugen
können, wenn wir die Hand in ſeine Nähe bringen.
Noch aber ſehen wir keine Veränderungen an dem Körper.
Erſt
wenn bei fortſchreitender Erwärmung 400 Billionen
Schwingungen
in der Sekunde erfolgen, ſehen wir, daß der
Körper
zu leuchten anfängt und zwar zunächſt nur mit rotem
Licht
:
er iſt in Rotglut, wie man ſagt. Bei noch mehr fort-
ſchreitender
Erhitzung ſendet er noch kürzere Ätherwellen aus,
die
dem gelben Licht entſprechen:
er iſt in Gelbglut. Endlich
erreicht
die Anzahl der Ätherſchwingungen 700 Billionen
pro
Sekunde, er ſendet auch grünes, blaues und violettes Licht
aus
, das in Verbindung mit den gleichzeitig ergeugten roten
und
gelben Strahlen wieder die Farbe weiß ergiebt:
er iſt in
Weißglut, welche aber ſchon ſehr hohen Hitzegraden entſpricht.

Wenn
noch höhere Temperaturen erzeugt werden können, ſo
wird
ſich doch der Zuſtand der Weißglut nicht mehr ändern,
da
noch ſchnellere Schwingungen des Äthers ja nicht mehr
für
das Auge wahrnehmbar ſind.
Doch ſendet der Körper
nun
auch intenſive chemiſche Strahlen aus und würde photo-
graphiſche
Platten ſchwärzen.
2717
Wir ſehen, daß Schall, Licht, Wärme, chemiſche Wirkungen
alle
auf ganz gleiche Vorgänge zurückzuführen ſind.
Dieſe Er-
kenntnis
in ſcharfer, deutlicher Form iſt erſt wenige Jahre alt;
man wird ſich daher auch nicht wundern, wenn wir ſchließlich
geſtehen
, daß auch den beſten Forſchern noch mancherlei unklar
in
jenen Vorgängen iſt, daß zumal die Wärmeerſcheinungen,
ſowie
die chemiſchen Prozeſſe keineswegs bis in alle Einzel-
heiten
erklärt ſind.
Dem Leſer wird auch noch gar manche
Frage
ſich aufdrängen, er wird nicht wiſſen, wie er ſich dies
und
jenes vorſtellen ſoll.
Er mag ſich damit tröſten, daß
auch
alle anderen Menſchen ausnahmslos in der gleichen Lage
ſind
wie er.
Doch es iſt ſicher, daß in nicht ſehr ferner Zeit die
Erkenntnis
in dieſer Beziehung beträchtlich vorwärts ſchreiten
und
alle Mängel jener großartigen Theorie beſeitigen wird.
4. Die Eſektrizität.
Keine andere Naturerſcheinung hat in unſerem Jahr-
hundert
eine ſo gewaltige Rolle geſpielt, als die Elektrizität.
Heut begegnen wir ihr und ihren Wirkungen auf Schritt und
Tritt
, und noch vor wenig mehr als 100 Jahren wußte man
über
ihr Weſen ſo gut wie nichts.
Sie zu erforſchen, war bisher
ausſchließlich
unſerem Jahrhundert vorbehalten.
Lange glaubte
man
und vielfach glaubt man heute noch, daß die Geſchwindig-
keit
, mit welcher die elektriſchen Wirkungen ſich fortpflanzen,
noch
die ungeheure Geſchwindigkeit des Lichtes um etwa das
Doppelte
übertreffe.
Dies iſt aber ein Irrtum, der auf
der
Unvollkommenheit der älteren, natürlich ſehr ſchwierigen
Meſſungen
beruht.
Jetzt aber weiß man, daß die Ge-
ſchwindigkeit
der Elektrizität genau dieſelbe wie
die
des Lichtes
iſt, nämlich 40 000 Meilen oder 300 000
(genauer 298 500) km pro Sekunde.
Schon daraus darf man
ſchließen
, daß Elektrizität und Licht, dieſe beiden ſcheinbar
völlig
verſchiedenen Naturkräfte, eng mit eiuander verwandt
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher.
2818
ſein müſſen. Vollauf bewieſen aber wurde dieſe Vermutung
durch
die Verſuche, welche 1888 durch einen unſerer genialſten
Phyſiker
, den im Alter von nur 36 Jahren am Neujahrs-
tage
1894 geſtorbenen Bonner Profeſſor Heinrich Hertz,
angeſtellt
wurden.
Er zeigte, daß auch dei elektriſchen Funken-
entladungen
Ätherwellen erzeugt wurden, die gerade wie die
Lichtwellen
ſich fortpflanzten, reflektiert und durch ein Prisma
gebrochen
werden konnten.
Die weitere Forſchung hat nun
gezeigt
, daß die elektriſchen Ätherwellen viel größer ſind als
die
Lichtwellen, daß die Länge jeder einzelnen nicht nach
Hundertſteln
von Millimetern, wie dort, zu meſſen iſt, ſondern
nach
ganzen Centimetern, ja Metern.
Die Anzahl dieſer Wellen
in
der Sekunde beträgt alſo nicht mehrere Billionen, ſondern
zählt
nur nach Millionen.
Die Ätherſchwingungen, welche etwa 1000 Millionen
Schwingungen
in der Sekunde machen, ſind die kürzeſten elek-
triſchen
Wellen, welche man bisher zu erzeugen vermochte.
Die längſten Wellen der Wärmeſtrahlen, die man ſoeben erſt
eutdeckt
hat, entſprechen aber etwa 50 000 Millionen Äther-
ſchwingungen
in der Sekunde.
Es iſt nun ſelbſtverſtändlich,
daß
auch Ätherſchwingungen beſtehen müſſen, welche zwiſchen
1000
Millionen und 50000 Millionen Wellen in der Sekunde er-
zeugen
.
Dieſe Schwingungen und die Bedeutung, welche ihnen
zweifellos zukommt, kennt man aber bisher noch nicht.
Es
beſteht
hier noch eine Lücke, deren Ausfüllung aber ſicher nur
eine
Frage der Zeit iſt.
Man darf ſich über die Mangel-
haftigkeit
der Theorie an dieſer Stelle nicht wundern, denn
immer
und immer wieder muß man bedenken, daß alle hier
entwickelten
Anſchauungen noch ſehr jungen Alters ſind, daß
daher
eine Vollkommenheit des Syſtems unmöglich ſogleich ge-
fordert
werden kann.
Wenn man es erreichen könnte, alle vorhandenen Äther-
ſchwingungen
, nach ihrer Wellenlänge geordnet, in einem
2919 Spektrum zu vereinigen, ſo würde ſich folgendes Schema
ergeben
:
11
Elek- \\ trische \\ Strahlen. # ? # Wärme- \\ Strahlen. # Licht- \\ strahlen. # Chemische \\ Strahlen. # X- \\ Strahlen.
###### Fig. 4.
Den Schall vermiſſen wir in dieſem Schema. Weshalb,
wird
wohl den meiſten ſchon klar geworden ſein.
Alle anderen
Naturkräfte
beruhen auf Schwingungen des Äthers, der
Schall
aber beſteht in Schwingungen der Erdatmoſphäre.
Da nun der Äther ſich durch den ganzen Weltenraum erſtreckt,
müſſen
auch jene Naturkräfte, die dem Äther ihre Entſtehung
verdanken
, im ganzen ungeheuren Weltall exiſtieren und
überall
die gleichen ſein.
Die Lufthülle unſerer Erde aber,
welche
den Schall hervorruft, iſt eine ſpezielle Eigentümlichkeit
unſeres
Planeten.
Im großen Weltenraum exiſtiert dieſe Luft
nicht
, folglich aber kann hier auch kein Schall entſtehen.
Der Schall nimmt alſo eine Sonderſtellung ein, inſofern er nur
auf
unſerer Erde zuſtande kommen kann.
Man wird nun wohl auch wiſſen wollen, ob es auch noch
Strahlen
giebt, welche noch kürzere Wellenlängen haben als
die
chemiſchen Strahlen, welche alſo in Fig.
4 noch weiter
nach
rechts liegen, als dieſe.
Es ſcheint nun, als ob die
erſt
vor einiger Zeit durch Profeſſor von Röntgen in
Würzburg
entdeckten Strahlen, denen man bis zu genauerer
Erforſchung
des Phänomens den nichtsſagenden Namen
X-
Strahlen gegeben hat, die äußerſte Rechte im Spektrum
2
22Wenn wir einen luftleeren Raum herſtellen, was mit Hilfe der
Luftpumpe
möglich iſt, ſo wird eine Glocke, welche darin hin und her
ſchwingt
, keinen Ton von ſich zu geben vermögen.
3020 @epräſentieren, als ob damit (ebenfalls unſichtbare) Strahlen
g
efunden ſind, welche die kleinſte Wellenlänge von allen be-
kannten
Naturerſcheinungen haben.
Doch läßt ſich weder über
das
Weſen noch über die Bedeutung der X-Strahlen einſtweilen
ein
einigermaßen klarer Überblick gewinnen.
Wir müſſen es
ins
daher hier verſagen, darauf einzugehen.
5. Die Anziehungskraft und die Schwerkraft.
Die Anziehungskraft iſt von allen großen Natur-
erſcheinungen
noch bei weitem am wenigſten erforſcht, wenig-
ſtens
in ihren Beziehungen zu den anderen Naturkräften.
Die
Schwerkraft
iſt nur eine, wenn auch für uns die wichtigſte
Art
der Anziehungskraft, diejenige nämlich, welche die Erde
auf
alle in ihrer Nähe befindlichen Körper ausübt.
Wir
wiſſen
, daß die Anziehungskraft ſich auch weithin durch den
Weltenraum
fortpflanzt, daß Sonne, Erde, Mond und alle
Planeten
ſich gegenſeitig anziehen und in ihren Bahnen be-
einfluſſen
.
Es iſt alſo ſicher, daß auch die Anziehungskraft
eine
dem ganzen Weltall zukommende Naturkraft iſt.
Auch
ſie
bedarf ſicher einer beſtimmten Zeit, um ihre Wirkungen
fremden
Körpern mitzuteilen, etwa Kometen, die in unſere
Sonnenwelt
eindringen u.
ſ. w. Wir werden vermuten dürfen,
daß
auch die Fortpflanzung der Anziehungs- und Schwer-
kraft
durch Wellenſchwingungen des Äthers vermittelt wird,
und
zwar mit einer Geſchwindigkeit von 300 000 Meilen
pro
Sekunde.
Wie groß aber die Wellen derAnziehungs-
ſtrahlen”
ſo könnte man ſie nennen ſind, wiſſen wir
noch
nicht.
Während wir zwiſchen den übrigen Naturkräften mancherlei
Beziehungen
gefunden haben, ſteht die Anziehungskraft noch
völlig
ohne jede Beziehung da.
Eine Brücke zwiſchen ihr und
der
Elektrizität ſcheint vielleicht dargeſtellt zu werden
3121 die den elektriſchen ſehr nahe verwandten magnetiſchen Erſck ei-
nungen
.
Doch kann auf alle derartigen Vermutungen und
Fragen
erſt eine ſpätere Zeit Auskunft geben.
6. Die Erhaltung der Energie.
Manches iſt ſicherlich dem Leſer noch unklar geblieben in
den
bisherigen Abſchnitten, manche Behauptung wurde auf-
geſtellt
, die nicht bewieſen werden konnte, aber vielleicht hat
er
doch hier und da einen Einblick bekommen, wie Naturkräfte,
die
ſcheinbar nichts mit einander zu thun haben, eng verwandt
ſind
.
Nur ahnungsvoll läßt ſich ermeſſen, wie die künftige
Forſchung
alles im großen Weltgetriebe zurückführen wird auf
die
gleichen, einfachen Vorgänge.
Wir haben nur eben ange-
fangen
, den Schleier von den tiefſten Geheimniſſen der Natur
zu
lüften;
ſie ganz zu überſchauen, vermögen erſt künftige
Jahrhunderte
.
Bevor wir aber die allgemeinſten Naturprobleme verlaſſen,
um
uns den einfacheren Einzelforſchungen der Naturwiſſen-
ſchaften
zuzuwenden, müſſen wir noch dasjenige Naturgeſetz
beſprechen
, welches das großartigſte und grundlegendſte von
allen
bisher erforſchten genannt werden muß, das Geſetz
von
der Erhaltung der Kraft oder der Energie
.
Wenn ich eine Uhr vollſtändig aufziehe, ſo iſt ſie imſtande,
ſelbſtthätig
eine ganz beſtimmte Anzahl von Stunden, Tagen,
Wochen
oder Monaten zu gehen.
Dieſe Zeitſpanne, während
welcher
die Uhr ſelbſtändig läuft, iſt ſtets die gleiche, ſo oft
auch
die Uhr aufgezogen wird, und zwar bis auf Sekunden
die
gleiche.
Man darf ſich alſo vorſtellen, daß die Uhr durch das
Aufziehen
befähigt wird, eine ganz beſtimmte Arbeit zu ver-
richten
, nämlich die Räder in ihrem Innern und die Zeiger
auf
dem Zifferblatt zu drehen, den Pendel hin und her zu
ſchleudern
u.
ſ. w. Es iſt auch ein ganz beſtimmtes
3222 Arbeit, das die aufgezogene Uhr zu leiſten vermag, und größer
oder
geringer kann dieſes Quantum niemals werden:
kennt
man
die Zeit genau, welche die Uhr zu laufen vermag, ſo kann
man
auf die Sekunde berechnen, wann eine eben aufgezogene
Uhr
ſtill ſtehen wird, vorausgeſetzt, daß man ſie ruhig ihren
Gang
gehen läßt.
Wird die Uhr während ihrer Thätigkeit
angehalten
und nach einiger Zeit wieder in Bewegung geſetzt,
ſo
wird ſie genau noch ſo lange laufen, als ſie ohne jenes
Anhalten
zur Bewältigung ihres vollen Arbeitsquantums ge-
braucht
hätte.
Der Phyſiker ſagt nun, die eben aufgezogene
Uhr
hat eine genau beſtimmte Menge Kraft oder, wie er lieber
ſagt
, “Energie” in ſich, welche ſie befähigt, jenes beſtimmte Quantum von Arbeit zu leiſten.
Iſt dann die Uhr abgelaufen,
ſo
ſagt er:
ihre Energie (die ſie nun verloren hat, bis ſie
wieder
aufgezogen wird) hat ſichumgeſetzt” in Arbeit, und
zwar
in Bewegung (von Rädern, Zeigern, Pendeln).
Weiter! Ich trage eine Metallkugel auf das Dach eines
hohen
Hauſes und laſſe ſie von oben herunterfallen.
Befindet
ſich
nun unten ein weicher Lehmboden, ſo wird die Kugel
mehrere
Centimeter tief in dieſen eindringen.
Trage ich aber-
mals
die Kugel aufs Dach und laſſe ſie an einer benachbarten
Stelle
herunterfallen, ſo wird ſie wieder genau ebenſo tief
eindringen
wie zuvor.
Dasſelbe werden wir bei einem dritten,
vierten
Verſuch u.
ſ. w. beobachten. Beim Eindringen in den
Boden
verrichtet die Kugel ebenfalls Arbeit :
ſie wühlt die Erde auf und verſtreut ſie nach allen Seiten. Lege ich alſo
die
Kugel auf das Dach, ſo beſitzt ſie eine beſtimmte Energie,
die
ſich beim Herunterfallen wiederin Arbeit umſetzt”.
Und
12
11Der landläufige Gebrauch des Wortes Energie, gleich Willens-
kraft
des Menſchen, hat natürlich gar nichts mit jenem phyſikaliſchen Be-
griffe
gemeinſam.
22Unter Arbeit verſteht man natürlich jede mechaniſche Wirkung
nicht
etwa nur ſolche, die dem Menſchen praktiſch nützlich iſt.
3323 wenn die Kugel Hunderte und Tauſende von Jahren auf dem
Dache
liegen bleibt, die in ihraufgeſpeicherte” Energie wird
ſtets
die gleiche bleiben;
wenn ſie in vielen 1000 Jahren erſt
hinunterfällt
, wird ſie genau ebenſo tief in den Boden dringen,
als
wenn ich ſie ſofort fallen laſſe.
Die Arbeit, welche die
fallende
Kugel verrichtet, kann ſich natürlich in verſchiedener
Weiſe
äußern.
Fällt etwa die Kugel in eine Glas- oder
Porzellanſchüſſel
, ſo wird die Arbeit nicht darin beſtehen, die
Erde
aufzuwühlen, ſondern darin, die Schüſſel zu zertrüm-
mern
u.
ſ. w.
Um aber die Kugel vom Erdboden bis auf das Dach zu
tragen
, muß auch ich ſtets eine beſtimmte MengeArbeit” ver-
richten
, und, ſo oft ich auch die Kugel hinauftrage oder hinauf-
werfe
, ſtets wird die Anſtrengung, der ich mich unterziehe, gleich
groß
ſein.
Die Arbeit, welche ich aus meiner Kraft heraus auf-
wende
, bewirkt alſo, daß die Kugel ihre bezeichnete Energie
erhält
, welche ſie befähigt, wieder Arbeit zu verrichten;
und
zwar
muß ich eine beſtimmte Menge Arbeitskraft aufwenden,
um
der Kugel eine beſtimmte Menge Energie zuzuerteilen,
welche
wieder eine beſtimmte Menge Arbeit zu leiſten vermag.
Trage ich die Kugel nicht ganz bis aufs Dach, ſo habe ich
zwar
weniger Arbeit zu verrichten, doch beſitzt alsdann die
Kugel
eine geringere Energie und eine geringere Arbeitskraft.

Der geleiſteten Arbeit entſpricht ſtets eine ange-
meſſene
Mengeaufgeſpeicherter” Energie und um-
gekehrt
.
Dieſe Beobachtung können wir nun auf alle Natur-
geſchehniſſe
übertragen, wir werden ſtets eine Beſtätigung des
Geſetzes
finden:
Es giebt in Deutſchland und anderen Ländern
große
Steinkohlenlager, welche die Überreſte ehemaliger rieſiger
Wälder
ſind.
Dieſe Wälder verdankten ihre Entſtehung der
Sonnenwärme
, dieſe Wärmeſetzte ſich um” in Wachstum.
Nunmehr haben wir in den Kohlenlagern große
3424 vorräte vor uns, aus denen der Menſch (durch Verbrennung
der
Kohle) Wärme und Licht zu erzeugen vermag.
Die
Wärme
kann nun wieder benutzt werden, um Waſſer in Dampf
zu
verwandeln, elektriſche Maſchinen in Bewegung zu ſetzen,
Eiſenbahnzüge
zu treiben u.
ſ. w. Wir ſehen alſo, wie die
von
der Sonne ausgeſtrahlte Wärmeenergie teilweiſe benutzt
wurde
, um das Wachstum der Bäume, alſo Bewegungs-
erſcheinungen
hervorzurufen, teilweiſe aber auch, vorläufig un-
benutzt
, in dem Holz und ſpäter in der Kohle aufgeſpeichert
war
, um nun viele, viele 1000 Jahre ſpäter von den klugen
Menſchen
zu allerhand Arbeiten benutzt zu werden, welche
ihnen
Nutzen bringen:
die aufgeſpeicherte Energie wird in
Wärme
zurückverwandelt, und dieſe wird nun benutzt, um Licht
zu
erzeugen oder Elektrizität oder Bewegung (Eiſenbahn A.)
. ..
Wärme, Licht, Elektrizität, Bewegung, eins wird ins andere
übergeführt
, eins kann das andere erzeugen:
wir ſehen
wieder
, wie nah verwandt alle dieſe Naturerſchei-
nungen
ſein müſſen, wenn ſich eine vollkommen
in
die andere verwandeln läßt
.
Und auch hier, wie
überall
entſpricht einer beſtimmten freiwirkenden Energie ſtets
eine
gleich große, angemeſſene Menge Arbeit.
Nirgends geht
Energie verloren, nirgends aber entſteht auch Arbeit von ſelbſt.
Dies iſt das große Naturgeſetz von der Erhaltung der
Kraft
oder der Energie.
Der erſte, welcher dieſen großen Ge-
danken
ausſprach, war der Heilbronner Arzt Julius Robert
Mayer
(1842), nicht viel ſpäter kam auch der engliſche Phy-
ſiker
Joule auf dieſelbe Entdeckung.
Was aber bei ihnen nur eine ahnende Vermutung, ein glücklicher Gedanke geweſen
war
, wurde durch unſeren Landsmann Hermann Helmholtz,
einen
der größten Geiſter aller Zeiten, mit den unwiderleglichen
Beweismitteln
der Mathematik in vollſtem Umfange und mit
1
11ſprich: Diaul.
3525 der nötigen Beſtimmtheit nachgewieſen in ſeinem berühmten
Vortrag
über:
Die Erhaltung der Kraft” (23. Juli 1847).
Ihm gebührt daher auch das Hauptverdienſt, jenes umfaſſendſte
aller
Naturgeſetze der Menſchheit übermittelt zu haben.
III. Das Leben.
Wie wir in den vorausgehenden Abſchnitten ſahen, iſt die
Naturforſchung
allmählich und immer zwingender zu der An-
ſchauung
, zu dem einen Gedanken getrieben worden, daß alle
Erſcheinungen
, die ſich uns bieten, ſich im letzten Grunde auf
Bewegungen
zurückführen laſſen.
Von den Objekten, die uns die Natur bietet, ſind es be-
greiflicherweiſe
die organiſchen Weſen, die Tiere und Pflan@en,
die
die Allgemeinheit am meiſten intereſſieren.
Wir wollen
daher
in dieſer Einleitung zu den Volksbüchern im A@tſchluß
an
die vorausgehenden Erörterungen noch in aller Kürze einige
allgemeine
Punkte über die Lebewelt hervorheben.
1. Was iſt Leben?
Dem Laien erſcheint es gewiß eine leichte Sache zu ſagen
oder
doch zu fühlen, was Leben ſei.
Die Unterſcheidung der
Weltobjekte
in lebloſe, wie Steine, und lebende, wie Tiere und
Pflanzen
, iſt jedem ſo geläufig, daß ein Zweifel, was ein leb-
loſer
Körper ſei und was ein Lebeweſen, nur ausnahmsweiſe
und
vorübergehend auftaucht.
Sucht man nach Unterſchieden,
ſo
wird eine Auffindung ſolcher um ſo ſchwieriger, je um-
faſſender
die Kenntniſſe ſind, mit denen man an die Aufgabe
herantritt
.
Das Vorhandenſein geiſtiger oder ſeeliſcher Werte, die zu-
ſammengefaßt
alsSeele” bezeichnet werden, iſt auf den
Menſchen
und die Tiere beſchränkt.
Es iſt zweifelhaft, ob
3626 niederſten Tiere alle eine Seele beſitzen, die Annahme einer
ſolchen
aber bei den Pflanzen iſt durchaus unſtatthaft.
Das
Fehlen
einer Seele kann alſo als Merkzeichen für ein lebloſes
Weſen
nicht Verwendung finden.
Alle Unterſcheidungsmerkmale der Lebeweſen, die vor-
geführt
worden ſind, zeigen ſolche Anklänge und Ähulichkeiten
an
Vorkommniſſe in der lebloſen Natur, daß ſich der Gedanke
aufzwingt
:
ein ſcharfer Unterſchied zwiſchen beiden Reichen ſei
nicht
vorhanden.
Danach würde es nur eine Reihe von Objekten
in
der Welt geben, deren Eigenſchaften und Eigentümlichkeiten,
und
zwar auch die allerabweichendſten, ſich durch allmähliche
Übergänge
mit einander verbinden.
Suchen wir uns das gedanklich näher zu rücken durch den
Vergleich
extremer Eigentümlichkeiten der Lebeweſen mit mög-
lichſt
ähnlichen Beſonderheiten der lebloſen Welt.
Die Organismen ernähren ſich, um zu wachſen und um
ihren
Beſtand eine Zeit lang zu wahren.
Um ſich einen
Organismus
begreiflich zu machen, kann man ihn nur mit
einer
Maſchine vergleichen.
Wie eine ſolche durch ihre Be-
wegung
ſich abnutzt und eines Erſatzes bedarf, wie gewiſſe
Apparate
der Ernährung benötigen, wie die Dampfmaſchinen
Feuerungsmaterial
haben müſſen, um thätig zu ſein:
ſo auch
der
Organismus.
Der Erſatz, der durch die Abnutzung ſtatt-
findet
, verändert ſtofflich ein organiſches Individuum nach
und
nach gänzlich.
Durch die Summierung dieſer Änderungen
kann
alſo das Individuum nach Verlauf einer beſtimmten Zeit
vollſtändig
ſein Material, aus dem es aufgebaut war, ge-
wechſelt
haben:
gleich einer ringförmigen Mauer, die, an einer
Stelle
eingeriſſen, wieder in gleicher Weiſe aufgebaut wird,
deren
altes Material im Kreiſe herum in gleicher Weiſe erſetzt
wird
, bis von der urſprünglichen Mauer auch nicht ein ein-
ziger
Stein mehr übrig bleibt;
oder gleich einer Maſchine,
deren
einzelne Teile nach Maßgabe ihres
3727 nach und nach erſetzt werden können, ſodaß ſchließlich von dem
urſprünglichen
Material auch nicht das kleinſte Teilchen an
6[Figure 6]Fig. 5.
Verſchiedene
Kryſtallformen des Diamanten.
derſelben mehr vorhanden iſt.
Auch andere Objekte der an-
organiſchen
Natur, wie die Kryſtalle (Fig.
5), die den
3828 nismen durch die Annahme beſtimmter Geſtalten gleichen,
können
ebenfalls durch Aufnahme geeigneten Stoffs wachſen.
In einer ſtarken Löſung von Alaun in Waſſer ſondert ſich der
Alaun
z.
B. an einem hineingehängten Faden in Kryſtallen
ab
, die nach und nach durch Entnahme von neuem Alaun ſich
vergrößern
:
wachſen. Wie die Organismen für ihre Ernährung
eine
Auswahl geeigneten Stoffes aus ihrer Umgebung treffen,
ſo
auch die Kryſtalle, die der Löſung ganz beſtimmte Beſtand-
teile
entnehmen.
Nun nimmt freilich ein Lebeweſen die ernährenden Sub-
ſtanzen
in ſich auf, während der Kryſtall neues Material,
7[Figure 7]Fig. 6.a
b
c
das ſein Wachstum befördert, außen anlagert, oder, wie
der
Naturforſcher fremdſprachlich ſagt, die Kryſtalle wachſen
durch
Appoſition, die Organismen durch Intuſſuſſeption.
Auch
hier
giebt es jedoch keine ſcharfe Grenze, denn es kommt Ap-
poſition
auch in beſtimmten Fällen bei den Organismen vor,
und
lebloſe Körper können in ſich neue Stoffe aufnehmen, wie
das
die Quellbarkeit des Leimes zeigt, wenn man ihn in
Waſſer
legt.
Leim iſt zwar ein organiſches Produkt, aber
ſeitdem
es der Chemie gelungen iſt, in der freien Natur nur
durch
Lebeweſen erzeugte Stoffe künſtlich, d.
h. ohne jede Zu-
hülfenahme
organiſcher Stoffe, herzuſtellen (1828), iſt eine ſcharfe
Grenze
zwiſchen anorganiſcher und organiſcher Materie nicht
mehr
feſtzuſtellen.
3929
Nun endlich ein Wort über die Fähigkeit der Fort-
pflanzung
, die, flüchtig geſehen, auf die Lebeweſen beſchränkt
zu
ſein ſcheint.
Auch hier giebt es im anorganiſchen Reich
Eigentümlichkeiten
, und zwar wieder bei den Kryſtallen, die
viele
Anklänge an die Fortpflanzung zeigen.
Die niederſten, d. h. am einfachſten gebauten Organismen,
wie
ein ſolcher in Fig.
6 (a) abgebildet iſt, pflanzen ſich dadurch
fort
, daß ſie ſich, durch beſtimmte Umſtände veranlaßt, einfach
teilen
(b), und die Teilſtücke (c) leben und wachſen, ernähren
ſich
als neue, als Tochter-Individuen weiter.
Auch Kryſtalle
kann
man in Tochter-Individuen, in kleine Kryſtalle zerteilen,
die
natürlich ebenfalls unter geeigneten Bedingungen in der
ſchon
angedeuteten Weiſe wachſen und wieder zerteilt werden
können
und ſo fort.
Wir ſehen: die Lebenserſcheinungen haben ihre Anklänge,
ihre
Vorſtufen in der anorganiſchen Natur, und ſind wir auch
bislang
nicht in der Lage, Organismen aus Unorganiſchem zu
bilden
, kennen wir auch die Bedingungen nicht, unter denen
Lebeweſen
aus unorganiſchem Stoff entſtehen, ſo iſt nach dem
Geſagten
doch die Annahme nicht von der Hand zu weiſen,
daß
die Organismen einſt aus Unorganiſchem hervorgegangen
ſind
und vielleicht auch noch gebildet werden, freilich, wie es
ſcheint
, jetzt nicht mehr auf unſcrer Erde.
Wer aber möchte
behaupten
, daß ſolche uns ſo geheimnisvoll anmutenden Vor-
gänge
nicht auf anderen Weltkörpern des Himmelsraumes noch
vor
ſich gehen?
Solche Ur-Lebeweſen dürften dann wohl noch
mehr
verbindende Einzelheiten zum Unorganiſchen aufweiſen
als
ſie die jetzigen Organismen, die wir kennen, bieten.
Unſer Denken zwingt uns zur Vereinfachung unſerer An-
ſichten
, drängt uns dazu, alles Vorhandene mit einander in
eine
verbindende Beziehung zu ſetzen, ſchließlich nur einen
Gedanken
für das Welt-Ganze zu finden, der alles umfaßt.
4030
2. Die Abſtammungslehre.
Gewiſſe Eigentümlichkeiten der ſo mannigfaltigen nicht-
organiſchen
Stoffe haben den Chemiker immer und immer
zwingender
zu der Vermutung geführt, daß es nur einen ein-
zigen
Urſtoff gäbe, daß die Mannigfaltigkeit der Stoffe nur
der
Ausdruck verſchiedener Zuſtände ſei, bewirkt durch die
Verhältniſſe
.
Auch die außerordentliche Abweichung im Aufbau der
vielen
verſchiedenen organiſchen Weſen, die die Erde bewohnen,
wird
jetzt von den Naturforſchern erklärt durch Anpaſſungen
an
die Verhältniſſe, unter denen ſie leben.
Kommt ein Orga-
nismus
in neue Verhältniſſe, ſo ſucht er ſich denſelben anzu-
paſſen
;
ſind die Verhältniſſe lebensſtörend, nun ſo geht er zu
Grunde
wie eine Elfenbeinkugel, die auf einen leichteren Stoß
durch
ihre Elaſtizität reagiert, aber durch einen zu ſtarken
zertrümmert
wird.
Bleiben die äußeren Umſtände, ohne
lebensſtörend
zu ſein, beſtändig, ſo ändert ſich auch der Orga-
nismus
dauernd und die Nachkommen erben die neu er-
worbenen
Eigentümlichkeiten.
Dieſe können ſich ſchließlich im
Lauf
gewaltiger Zeiträume ſo ſteigern, daß Nachkommen und
Vorfahren
große, ſchließlich dem Laien unvereinbar ſcheinende
Abweichungen
von einander trennen.
Bei näherem Zuſehen und Berückſichtigung der verbinden-
den
Zwiſchenglieder iſt aber die Bluts-Verwandſchaft zu er-
kennen
, und ſo ſtehen die heutigen Naturforſcher auf dem
Standpunkt
der Abſtammungs-, Descendenz-Lehre, nach der
alle
Lebeweſen mit einander blutsverwandt ſind.
Dieſe Theorie,
oder
mit anderen Worten, dieſe auf Grund der Einzel-That-
ſachen
vermutete umfaſſende Thatſache wurde namentlich von
dem
Franzoſen I.
B. de Lamarck und dem Engländer
Ch
.
Darwin in die Wiſſenſchaft eingeführt.
Die Descendenz Theorie iſt ins Volk gedrungen,
4131 wenigſtens im Volke jedem bekannt, hat ja namentlich Auf-
regungen
verurſacht durch das Schlagwort:
der Menſch ſtammt
vom
Affen.
Wenn das einem Laien in naturwiſſenſchaftlichen Dingen
geſagt
wird, ſo erſcheint ihm freilich und mit Recht dieſer aus
allem
Zuſammenhange herausgeriſſene Satz unglaublich, und
er iſt in dieſer ſchlecht populären Faſſung auch falſch.
Aber auch dann, wenn die richtige Faſſung gebraucht wird,
nämlich
der Menſch und die Affen ſind gemeinſamen Ur-
ſprungs
, ſie ſind blutsverwandt”:
auch dann werden ſich viele
gegen
dieſe Behauptung, die unſeren gewohnten Anſchauungen
ſo
gewaltig ins Geſicht ſchlägt, aufbäumen.
Denn allem, was
wir
nicht gewöhnt ſind, ſtehen wir mit Argwohn gegenüber:

wir
alle haben vorgefaßte Meinungen, die uns mit guten,
wenn
auch oft unbewußten Gründen durch Erziehung und
Leben
eingepflanzt worden ſind.
Und ſoll man Anſichten, die
ſich
im Leben bewährt haben, aufgeben?
Das iſt nun eine
Frage
, die der Naturforſcher nicht zu beantworten hat:
der
Naturforſcher
hat die Aufgabe, ſolange er forſcht, ausſchließlich
ſeinen
Verſtand Maßſtab ſein zu laſſen und die Beantwortung
der
Frage, wie verträgt ſich das Reſultat der Naturforſchung
mit
dem menſchlichen Leben, denen zu überlaſſen, die dieſem
ihr
Denken gewidmet haben.
Aber eins ſei hier betont: im.
letzten
Ende ſteht auch das Streben nach Erkenntnis im Dienſte
beſſerer
Lebens-Erhaltung des Menſchen, iſt ein Ausfluß
ſeiner
Neigung, Alles zwecks beſſerer Lebenshaltung zu über-
ſehen
.
Danach ſcheint es uns eine Kurzſichtigkeit anzunehmen,
daß
irgend ein wiſſenſchaftliches Reſultat gefährdend wirken
könnte
.
Das große allgemeine Intereſſe, das der Descendenz-
Theorie
entgegengebracht wird, rechtfertigt es, im Folgenden
einige
Beiſpiele zur Begründung derſelben vorzuführen.
4232
3. Chatſachen zur Begründung der Abſtammungslehre.
Vor allem iſt darauf aufmerkſam zu machen, daß die
allerverſchiedenſten
Lebeweſen durch Zwiſchenglieder mit ein-
ander
verbunden ſind:
von den Tieren und Pflanzen, die nicht
viel
mehr als einfache Schleimklümpchen ſind, wie das in
Fig
.
6 veranſchaulichte Weſen bis zum Menſchen, ſind
Verbindungsglieder
, Weſen vorhanden, die die großen Ver-
ſchiedenheiten
, ſo gut es nur verſtändigerweiſe verlangt werden
kann
, allmählich ausgleichen.
Die natürlichenSyſteme” der
Botaniker
und Zoologen, welche die Organismen in der
Reihenfolge
ihrer Ähnlichkeit zur Darſtellung bringen, ver-
anſchaulichen
das ohne weiteres;
ja es iſt ſogar unmöglich,
eine
ſcharfe Unterſcheidung zwiſchen Pflanzen und Tieren zu
finden
, da die am einfachſten gebauten Weſen beider Reiche
in
ihren Eigentümlichkeiten ſich immer mehr und mehr ein-
ander
nähern, ſodaß ſchließlich die tiefſtehendſte Gruppe der-
ſelben
mit gleichem Recht zu den Tieren oder zu den Pflanzen
geſtellt
werden kann, weshalb die Aufſtellung eines dritten
Reiches
, das dann ſeine Stellung zwiſchen Pflanzen und
Tieren
einnimmt, vorgeſchlagen worden iſt.
Da aber die
Unterſcheidung
dieſes Zwiſchenreiches von den beiden anderen
natürlich
auf dieſelben Schwierigkeiten ſtößt, hat eine ſolche
Dreiteilung
keinen wiſſenſchaftlichen Wert.
Sind alſo ſchon für den, der ſehen will, die zur Jetztzeit
lebenden
Organismen vollkommen ausreichend zur eingehenden
Begründung
der Abſtammungs-Lehre, ſo häufen die That-
ſachen
der Vorweſenkunde, derjenigen Wiſſenſchaft, die ſich mit
den
früher den Erdboden bewohnenden, jetzt ausgeſtorbenen
Weſen
beſchäftigt, die Gründe für die Annahme der Lehre.
Zunächſt iſt es bemerkenswert, daß die Organismen von
ihrem
erſten Auftreten ab bis heute immer kompliziertere
Formen
annehmen, womit eine Arbeitsteilung der
4333 thätigkeit, die der Erhaltung des Lebeweſens dient, zum Aus-
druck
kommt.
Während die noch ungegliederten, die nicht mit
äußerlich
ſichtbar abgegliederten Organen verſehenen Weſen alle
Lebensverrichtungen
an allen Teilen ihres Körpers gleichmäßig
vollziehen
, tritt bei den höher gebanten eine Arbeitsteilung
8[Figure 8]Fig. 7.
Cardiopteris
polymorpha.
9[Figure 9]Fig. 8.
Taeniopteris
jejunata.
10[Figure 10]Fig. 9.
Dictyopteris
Brongniarti.
ein in der Weiſe, daß beſtimmte Organe auch beſtimmten Ver-
richtungen
obliegen, denen ſie ihrem Bau nach entſprechen;
es treten z. B. beſondere Fortpflanzungsorgane auf neben be-
ſonderen
Ernährungsorganen u.
ſ. w.
Die größere Verwickeltheit im Aufbau eines Weſens ſpricht
alſo
für ein ſpäteres Auftreten desſelben im Laufe der Gene-
rationen
und umgekehrt.
Hierfür nur ein Beiſpiel:
A. Vernſtein, Naturw. Volfsbücher.
4434
Die flächigen Teile der Laubblätter der Pflanzen werden
von
ſogenannten Nerven oder Rippen durchzogen, die auch
11[Figure 11]Fig. 10.
Dietyophyllum
, in {1/2} der natürl. Größe, oben links ein Stückchen in {3/1}.
Adern genannt werden, was der Aufgabe, die ſie der Pflanze
leiſten
, auch am beſten entſpricht.
Sie ſiud nämlich
4535 weſentlichen wirklich inſofern Adern, als ſie die Nahrung,
die
das Blatt durch Entnahme beſtimmter Beſtandteile aus
der
Luft bereitet, hinwegleiten nach den Stellen des Wachs-
tums
und Verbrauchs oder in Organe hinein, die als Speiſe-
kammern
dienen.
Die einfachere Aderung iſt natürlich die-
jenige
mit lauter gleichartigen Adern (Fig.
7). Etwas
komplizierter
iſt ſchon die Geſtaltung in Fig.
8, da hier eine
Hauptader
entwickelt iſt, die wie ein Hauptſtrom ſeine Neben-
ſtröme
, ſo hier Nebenadern aufnimmt.
Die Adern können ſich
drittens
(Fig.
9) zu Maſchen verbinden, ſodaß eine netzige
Aderung
zuſtande kommt, und endlich viertens giebt es Pflanzen-
arten
(Fig.
10), bei denen ſich die Maſchen in ſolche erſter und
zweiter
Ordnung ſondern laſſen, d.
h. bei denen Gruppen
kleinerer
, ſchwächer umrandeter Maſchen von ſtärkeren Adern
umſchloſſen
werden.
Daß von dem erſten bis zum vierten Fall die Verhältniſſe
immer
kompliziertere ſind, leuchtet ohne weiteres ein, und es
iſt
daher gewiß bemerkenswert, daß die aufgeführten Fälle im
Laufe
der Generationen allmählich in dieſer Reihenfolge auf-
getreten
ſind.
In den älteſten und älteren Zeiten gab es nur
Pflanzen
zunächſt vom erſten Typus, dann auch vom zweiten,
ſpäter
erſt trat auch der dritte Typus hinzu und zuletzt endlich
der
vierte.
Aus ſolchen Beiſpielen ſehen wir alſo um es mit
anderen
Worten zu wiederholen , daß die einfachſten Orga-
nismen
die erſten waren, die die Erde bevölkerten, dann folgten
komplizierter
und immer verwickelter gebaute Organismen, und
zwar
in vielen Reihen bis heute.
In vielen Reihen”, denn von den Ur-Lebeweſen gingen
verſchieden
geſtaltete Organismen aus:
die Nachkommen ſchlugen
verſchiedene
Wege ein.
Wenn man alſo von einem Stamm-
Baum” der Lebeweſen ſpricht, ſo iſt dieſes Bild inſofern zu-
treffend
, als auch die verſchiedenen Arten der Organismen,
4636 die Zweige eines Baumes, gemeinſame Ausgangsſtellen haben,
die
hinwiederum zuſammenlaufen und ſchließlich dem Baum-
ſtamm
, von dem alle Teile ausgehen, anſitzen.
In unſerem Schema, Fig. 11, würde a ein Urweſen ſein,
von
dem die übrigen abſtammen, zunächſt die Weſen b c d,
von
dieſen die Organismen e—k und von dieſen endlich
l—x
u.
ſ. w.
12[Figure 12]Fig. 11.l m n o p q r s t u v w x e f g h i j k b c d a
Viele von den Organismen, die früher lebten, ſind jetzt
gänzlich
ausgeſtorben.
Dieſe ausgeſtorbenen Lebeweſen über-
brücken
etwaige Lücken im natürlichen Syſtem in weitgehender
Weiſe
.
Als Beiſpiel hierfür ſei das vorweltliche Tier (Fig. 12)
erwähnt
, das durch Scheffel allbekannt geworden iſt durch die
Verſe
:
Es rauſcht in den Schachtelhalmen,
Verdächtig
leuchtet das Meer,
Da
ſchwimmt mit Thränen im Auge
Ein
Ichthyosaurus einher .
. .
4737
Das Tier iſt ein Reptil, gehört alſo in dieſelbe Abteilung
wie
die Eidechſen.
Während dieſe aber fünf Finger, fünf
Knochenſtrahlen
, an jedem Fuß beſitzen, hat der Ichthyosaurus,
der
im Waſſer lebte, vier Floſſen mit über fünf Knochen-
ſtrahlen
wie die Fiſche, wodurch er ſich als Mittelglied charak-
teriſiert
.
13[Figure 13]Fig. 12.
Ichthyosaurus
, ſtark verkleinert.
14[Figure 14]Fig. 13.
Plesiosaurus
, ſtark verkleinert.
Der Plesiosaurus (Fig. 13), auch ein Reptil, das Scheffel
mit
den Worten:
Der Plesiosaurus der Alte,
Der
jubelt in Saus und Braus . . .
angeſungen hat und daher dem Namen nach gleichfalls Jedem geläufig iſt, @@innert in manchen Punkten ebenfalls an Fiſche.
4838
Auch zu den Vögeln hin beſitzen die Reptilien ein inter-
eſſantes
Zwiſchenglied in der Vorwelt, das zu derſelben Zeit
15[Figure 15]Fig. 14.
Archaeopteryx
, verkleinert. In London befindliches Exemplar.
(zur Lurazeit) lebte wie die Saurier.
Wir meinen den Archae-
opteryx
(Fig.
14), der dem Volke durch die hohen Preiſe,
4939 für die beiden bisher gefundenen Exemplare bezahlt wurden,
bekannt
geworden iſt.
Man rechnet den Archaeopteryx zu den
Vögeln
:
Den Vogel erkennt man an ſeinen Federn” und der
Archaeopteryx
beſaß Federn.
Wie das eine im Berliner
Muſeum
für Naturkunde befindliche Exemplar zeigt, beſaß
dieſer
Vogel jedoch Zähne wie die Reptilien und der fiederig
mit
Federn beſetzte Schwanz (vergl.
unſere Abbildung) erinnert
durch
ſeine Länge ebenfalls an dieſe Abteilung, während die
echten
Vögel bekanntlich nur einen ganz kurzen, äußerlich nicht
hervortretenden
Schwanz aus wenigen kurzen Wirbelſtücken be-
ſitzen
, deren verbreitertes letztes Stück meiſt fächerförmig aus-
gebreitete
Federn trägt.
50
Die Geſchwindigkeit.
I. Die Geſchwindigkeiten der Naturkräfte.
Wenn man ſonſt von der Geſchwindigkeit ſprach, mit
welcher
das Licht die Räume durchfliegt, ſo hielten es Viele für
eine
Fabel oder eine wiſſenſchaftliche Übertreibung.
Jetzt, wo
man
täglich Gelegenheit hat, die Geſchwindigkeit des elektriſchen
Stromes
am elektromagnetiſchen Telegraphen zu bewundern,
jetzt
leuchtet es auch wohl Allen ein, daß es Naturkräfte giebt,
die
in unbegreiflichen Geſchwindigkeiten ſich durch den Raum
fortpflanzen
.
Ein Draht, der hundert Meilen lang iſt und an einem Ende
elektriſiert
wird, iſt in demſelben unteilbaren Augenblick auch
am
anderen Ende elektriſch.
Das ſind Dinge, von denen man
jetzt
jeden durch den Augenſchein überzeugen kann, und daraus
erſieht
denn auch der Ungläubigſte, daß das, was man elek-
triſche
Kraft nennt, oder die Veränderung, welche ein elektri-
ſierter
Draht an einem Ende erleidet, ſich hundert Meilen im
Nu
fortpflanzt, als wenn hundert Meilen nur ein Zoll wären.
Man ſollte nun glauben, daß es eigentlich gar kein Durch-
laufen
wäre, das heißt, daß die Wirkung von einem Ende des
Drahtes
zum anderen gar nicht nach und nach erfolge, ſondern
wirklich
in einem und demſelben Moment wie durch einen
Zauber
geſchehe;
dies iſt aber nicht der Fall.
Man hat ſinnreiche Verſuche angeſtellt, die Schnelligkeit
der
elektriſchen Wirkung zu meſſen und es iſt nunmehr
5141 unzweifelhaft erwieſen, daß ſie wirklich eine Zeit braucht, um
ſich
von einem Orte nach dem anderen fortzupflanzen, und daß
dieſe
Zeit nur darum ſo unmerklich für uns iſt, weil alle
Strecken
, die man bisher durch Telegraphen verbunden hat,
noch
viel zu klein ſind, um die Zeit merklich zu machen, die
die
Wirkung braucht, um von einem Ende zum anderen zu
gelangen
.
Ja, wenn man die ganze Erde ringsum mit einem Draht
umgeben
wollte, ſo würde dieſer dennoch zu kurz für die ge-
wöhnliche
Beobachtung ſein, weil die elektriſche Kraft auch
dieſe
Strecke von 5400 Meilen in dem achten Teil einer Se-
kunde
durchlaufen würde.
Die ſinnreichen Verſuche haben ergeben, wie ſchon in der
Einleitung
erwähnt wurde, daß die elektriſche Kraft ſich in
einer
Sekunde an 40 000 Meilen weit bewegt.
Wie aber hat man dies ausmeſſen können?
II. Wie kann man die Geſchwindigkeit des elek-
triſchen Stromes meſſen?
Um es deutlich zu machen, wie man die Geſchwindigkeit
des
elektriſchen Stromes zu meſſen imſtande iſt, müſſen wir
vorerſt
Folgendes voranſchicken.
Wenn man einen Draht, ſei es durch eine Elektriſier-
maſchine
oder durch einen galvaniſchen Apparat, elektriſch macht,
ſieht
man im Augenblick, wo er die Maſchine oder den Apparat
berührt
, einen hellen Funken an der Drahtſpitze.
Eben einen
ſolchen
Funken ſieht man aber auch am anderen Ende des
Drahtes
, wenn man einen anderen Apparat mit ihm in Be-
rührung
bringt.
Wir wollen den erſten Funken den Eintritts-
Funken
, den anderen den Austritts-Funken nennen.
5242
Legt man nun einen Draht von vielen Meilen Länge hin
und
bringt das andere Ende wieder zurück, wo ſich der Anfang
des
Drahtes befindet, ſo kann ein Beobachter beide Funken
zugleich
ſehen.
Es läßt ſich nun leicht einſehen, daß der Austrittsfunke
eigentlich
ſpäter erſcheint als der Eintrittsfunke, und zwar um
ſo
viel ſpäter als der elektriſche Strom Zeit brauchte, vom
Anfang
des Drahtes bis zu ſeinem Ende zu laufen.
Allein
das
Menſchenauge iſt trotz aller Verſuche, die man angeſtellt
hat
, um zu ſehen, ob wirklich der Austrittsfunke ſpäter kommt,
nicht
imſtande, die Verſpätung wahrzunehmen.
Hieran iſt ſo-
wohl
die Nachempfindung des Auges ſchuld, welche es macht,
daß
man Gegenſtände, die man nur einen Augenblick ſieht,
viel
länger zu ſehen glaubt, als auch die ungeheure Schnellig-
keit
, mit welcher der Austrittsfunke auf den Eintrittsfunken
folgt
und durch welche jedermann zu dem Glauben veranlaßt
wird
, daß beide Funken zugleich erſcheinen.
Man iſt aber durch ein ſehr ſinnreiches und außerordent-
lich
vortreffliches Mittel der Schwäche unſeres Auge zu Hilfe
gekommen
.
Es verlohnt ſich der Mühe, das Nachſtehende mit Auf-
merkſamkeit
zu leſen, denn die ſinnreiche Art, wie man den
Verſuch
angeſtellt hat, wird ſicherlich jeden erfreuen, der ſie
zum
erſtenmal kennen lernt.
Jedermann wird ſchon die Bemerkung gemacht haben, daß,
wenn
man in einen Spiegel blickt und ihn ein wenig dreht, es
ſo
ausſieht, als ob die Gegenſtände im Spiegel ſich bewegen.
Will man nun die Geſchwindigkeit des elektriſchen Stromes
meſſen
, ſo ſtellt man die beiden Enden eines ſehr langen
Drahtes
ſo auf, daß einer über dem andern ſteht.
Beobachtet
man
nun mit bloßem Auge, ſo ſieht man beide Funken in einer
Linie
ſo unter einander, daß die Funken ausſehen, wie der
Doppelpunkt
den wir hier herſetzen (:)
.
5343
Wer jedoch die Geſchwindigkeit des elektriſchen Stromes
meſſen
will, der ſieht nicht mit dem bloßen Auge auf die
Funken
, ſondern er blickt in einen kleinen Spiegel, der durch
ein
Räderwerk außerordentlich raſch um eine aufrecht ſtehende
Axe
gedreht wird, und ſieht wie ſich die beiden Funken, durch
den
Spiegel geſehen, ausnehmen.
Hat man den Apparat gut
eingerichtet
und thut man dies, ſo bemerkt man, daß die
Funken
, durch den Spiegel geſehen, nicht gerade über einander
ſtehen
, ſondern daß ſie verſchoben ſind und etwa ſo ausſehen (@).
Woher kommt das?
Das kommt daher, daß eine kleine Zeit nach dem Er-
ſcheinen
des Eintritts-Funken vergeht, bevor der Austritts-
Funke
erſcheint.
In dieſer kurzen Zeit hat ſich der Spiegel
ein
wenig gedreht und man ſieht durch den Spiegel den Aus-
tritts-Funken
ſo, als hätte er ſich von dem Eintritts-Funken
ſeitwärts
fortbewegt.
Durch den Spiegel alſo merkt man die Zeit, die die
Elektrizität
braucht, um von einem Ende des Drahtes zum
anderen
zu kommen;
und ein wenig Nachdenken wird den
Leſer
ſchon darauf führen, daß man auch die Zeit genau be-
ſtimmen
kann, ſobald man nur die Länge des Drahtes, die
Geſchwindigkeit
, mit der der Spiegel ſich in einer Sekunde
dreht
, kennt, und wenn man genau ausmißt, wie groß die
Strecke
iſt, um die ſich der Austritts-Funke vom Eintritts-
Funken
ſeitwärts fortſchiebt, wenn er durch den Spiegel be-
obachtet
wird.
Genaue Verſuche dieſer Art haben nun ergeben, daß der
elektriſche
Strom an 40 000 Meilen in der Sekunde durchläuft.
54
Die Schwere der Erde.
I. Wie viel Pfund wiegt die ganze Erde?
Die Naturforſcher haben über Dinge nachgedacht und
Dinge
erforſcht, die oft dem gewöhnlichen Manne wie eine
Fabel
vorkommen.
Zu dieſen Dingen gehört auch wohl die
Frage
:
wie viel Pfund wiegt die ganze Erde?
Dieſe Frage iſt keineswegs ein Scherz und die Antwort
iſt
kein Schwank, ſondern es iſt beides von wirklichem wiſſen-
ſchaftlichen
Intereſſe.
Die Frage iſt an ſich eben ſo wichtig,
wie
die Antwort, die man jetzt zu geben vermag, richtig iſt.
Man weiß, wie groß die Erdkugel iſt; nun ſollte man
glauben
, daß es leicht ſei, zu wiſſen, wie ſchwer ſie iſt.
Man
brauchte
nämlich nur eine kleine Kugel aus Erde zu
machen
, die man genau wiegen kann;
ſodann könnte man be-
rechnen
, um wieviel Mal dieſe Kugel kleiner iſt als die Erde
und
hiernach ließe es ſich faſt an den Fingern herzählen, daß
wenn
z.
B. die gemachte Kugel einen Zentner wiegt, die ſo
und
ſo vielmal größere Erdkugel ſo und ſo viel Zentner wiegen
müſſe
.
Allein dieſes Verfahren würde ſehr leicht irre führen und
gar
kein Reſultat geben.
Es käme nämlich darauf an, woraus
man
die kleine Kugel macht.
Macht man ſie aus loſer Erde,
ſo
würde ſie leicht wiegen, nimmt man Steine hinein, ſo
würde
ſie ſchwerer, würde man gar Metalle hineinthun, ſo
würde
ſie je nach dem Metall noch bei weitem ſchwerer ins Ge-
wicht
fallen.
5545
Will man alſo aus dem Gewicht der kleinen Kugel das
Gewicht
der Erdkugel berechnen, ſo muß man vorerſt wiſſen,
woraus
denn eigentlich die Erdkugel beſteht, ob Steine oder
Metalle
oder ganz unbekannte Dinge oder gar leere Höhlen in
ihr
ſind, oder ob ſie vielleicht gar nichts als eine hohle Kugel
iſt
, auf deren äußerer Schale wir leben.
Man wird wohl bei einigem Nachdenken einſehen, daß
die
Frage:
wie viel Pfund wiegt unſere Erde, eigentlich darauf
hinausgeht
, zu erforſchen, woraus durchſchnittlich dieſe Erd-
kugel
beſteht, und das iſt ſchon eine Frage, die mehr wiſſen-
ſchaftlich
klingt.
Dieſe Frage iſt in neueſter Zeit gelöſt worden, und man
hat
als Reſultat gefunden, daß die Erde 14 Quadrillionen
(d.
h. 14 mal 1 Million mal 1 Million mal 1 Million mal
1
Million) Pfund ſchwer iſt, daß ſie durchſchnittlich aus
einer
Maſſe beſteht, die etwas leichter iſt als unſer Eiſen, daß
ſie
an der Oberfläche leichtere Maſſen an ſich hat und nach der
Tiefe
zu an ſchweren Maſſen zunimmt und endlich, daß ſie
wohl
viele einzelne Höhlen in ſich hat, aber ſelbſt keineswegs
eine
Hohlkugel iſt.
Die Art und Weiſe, wie man imſtande war, dies wiſſen-
ſchaftlich
zu erforſchen, wollen wir, ſo kurz und deutlich es nur
angeht
, darzulegen ſuchen.
II. Der Verſuch, die Erde zu wiegen.
Das Mittel iſt einfacher, als man es augenblicklich denken
mag
, die Ausführung aber war ſchwieriger, als der, der es
weiß
, vermuten ſollte.
Seit der großen Entdeckung des unſterblichen engliſchen
Naturforſchers
Newton (1642—1727) wußte man, daß alle
Himmelskörper
auf einander eine Anziehung ausüben und
5646 dieſe Anziehung deſto größer, je größer die Maſſe des Himmels-
körpers
iſt, der ſie ausübt.
Aber nicht allein die Himmels-
körper
, wie Sonne, Erde, Mond, Planeten und Fixſterne, ſondern
alle
Körper haben eine Anziehungskraft, die immer wächſt, ſo-
bald
der Körper an Maſſe zunimmt.
Um dies deutlich zu machen,
können
wir ein Beiſpiel anführen.
Ein Pfund Eiſen wirkt an-
ziehend
auf einen in ſeiner Nähe befindlichen kleinen Körper;
zwei Pfund Eiſen wirken gerade noch einmal ſo ſtark in der
Anziehung
.
Mit einem Worte geſagt: Je ſchwerer das Gewicht
eines
Dinges iſt, deſto ſtärkere Anziehungskraft übt es auf
andere
Dinge aus, die in ſeiner Nähe ſind.
Kennt man alſo die Anziehungskraft eines Körpers, ſo
kennt
man auch ſein Gewicht.
Ja man wäre imſtande, alle
Wagſchalen
zu miſſen, wenn man nur imſtande wäre, die An-
ziehungskraft
jedes Körpers genau genug zu meſſen.
Dies
iſt
aber nicht möglich.
Die Erde nämlich iſt eine ſo große
Maſſe
und hat eine ſo ſtarke Anziehungskraft, daß ſie alle
Gegenſtände
, die wir von anderen Maſſen anziehen laſſen
wollen
, zu ſich herabzieht.
Wenn wir alſo in die Nähe einer
noch
ſo großen eiſernen Kugel eine kleine bringen wollten,
damit
ſie von der großen angezogen werde, ſo wird die kleine
Kugel
ſofort, wie wir ſie loslaſſen, zur Erde fallen, weil die
Anziehungskraft
der Erde viel, viel Mal größer iſt, als die
der
größten eiſernen Kugel und zwar ſo viel Mal größer, daß
die
Anziehung der eiſernen Kugel garnicht merkbar iſt.
Die Naturwiſſenſchaft hat aber gelehrt, daß man die An-
ziehung
der Erde ſehr genau meſſen kann, und zwar durch ein
ſehr
einfaches Inſtrument, durch ein Pendel, wie es unſere
Wanduhren
haben.
Wenn ein ſenkrecht herabhängendes Pendel
aus
ſeinem Ruhepunkt, wo es der Erde am nächſten iſt, ent-
fernt
wird, ſo eilt es mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit zurück
zu
dieſem Ruhepunkt.
Weil es aber einmal im Lauf iſt und
nicht
ſtill halten kann, entfernt es ſich wieder auf der
5747 Seite von der Erde. Allein die Anziehungskraft der Erde
zieht
es wieder zurück und läßt es ſeinen Weg noch einmal
beſchreiben
und ſo geht es hin und zurück mit einer Ge-
ſchwindigkeit
, die zunehmen würde, wenn die Maſſe der Erde
zunehmen
, oder abnehmen würde, wenn die Maſſe abnehmen
würde
.
Da man nun ſehr genau die Geſchwindigkeit eines
Pendels
meſſen kann, indem man die Zahl der Schwingungen
zählt
, die ein Pendel in einem Tage macht, ſo hat man auch
die
Anziehungskraft der Erde durch Rechnung ſehr genau be-
ſtimmen
können.
Es wird bei etwas Nachdenken Jedem klar werden, daß
man
ſofort das beſtimmte Gewicht der Erde wiſſen kann, ſo-
bald
es gelingt, eine Vorrichtung zu finden, wodurch man ein
Pendel
von einer beſtimmten Maſſe anziehen und dadurch hin
und
her ſchwingen läßt, z.
B. von einer zentnerſchweren Kugel,
in
deren Nähe man ein Pendel bringt.
In der That hat man es ſo gemacht und das gewünſchte
Reſultat
gefunden.
Allein ſo leicht war dies eben nicht und
deshalb
wollen wir im künftigen Artikel, womit wir dies
Thema
vorerſt beſchließen, eine nähere Beſchreibung dieſes
intereſſanten
Verſuches unſern denkenden Leſern geben.
III. Beſchreibung des Verſuchs, die Erde zu wiegen.
Der engliſche Naturforſcher Cavendiſh machte zuerſt den
Verſuch
, die Anziehungskraft großer Maſſen genau zu beſtimmen.
Seine erſte Sorge war hierbei die Anziehungskraft der Erde
für
ſeinen Apparat unwirkſam zu machen, und er that dies in
folgender
Weiſe.
Auf die Spitze einer aufrechtſtehenden Nadel legte er
wagerecht
eine feine Stahlſtange, die ganz in derſelben Weiſe
ſich
nach rechts und links drehen konnte, wie ein Magnet
5848 Kompaß. Nun brachte er an beiden Enden der Stahlſtange
zwei
kleine Kugeln aus Metall an, die gleich ſchwer waren,
wodurch
die Stahlſtange auf jeder Seite gleich ſtark von der
Erde
angezogen wurde und daher immer wagerecht liegen
blieb
, wie der Balken einer Wage, wenn gleiche Gewichte in
den
Schalen liegen.
Dadurch wurde zwar die Anziehungskraft
der
Erde nicht aufgehoben, aber ſie wurde durch die Gleichheit
der
Gewichte ausgeglichen und alſo für ſeinen Apparat un-
wirkſam
.
Nunmehr ſtellte er zwei große, ſehr ſchwere Metallkugeln
ſo
zu beiden Seiten der Stahlſtange auf, daß die kleinen
Kugeln
an der Stange ihnen ſehr nahe waren, ohne ſie jedoch
zu
berühren.
Die Anziehungskraft der großen Kugeln begann
nun
zu wirken und zog die kleinen Kugeln ſo an, daß ſie in
der
nächſten Nähe der großen Kugeln ruhen blieben.
Wenn
der
Beobachter nun durch einen leiſen Stoß die kleinen Kugeln
von
ihrem Ruhepunkt entfernte, ſo zogen die großen Kugeln die
kleinen
wieder zurück;
aber da ſie im Lauf nicht inne halten
konnten
, gingen ſie über den Ruhepunkt hinaus, wurden dann
wiederum
zurück angezogen und begannen ebenſo gegen die
großen
Kugeln zu pendeln, wie ein Pendel es thut, wenn die
Erde
darauf die Anziehungskraft ausübt.
Freilich war dieſe
Anziehungskraft
außerordentlich ſchwach gegen die der Erde
und
deshalb war auch die Schwingung dieſes Pendels bei
weitem
langſamer, als die des gewöhnlichen Pendels;
aber
gerade
dies mußte auch ſein, und aus der Langſamkeit der
Schwingung
oder aus der geringen Zahl der Schwingungen
im
Verlauf eines Tages berechnete Cavendiſh das wirkliche
Gewicht
der Erde.
Allein ſolch ein Verſuch iſt mit außerordentlichen Schwierig-
keiten
verbunden, denn auch nur die leiſeſte Ausdehnung der
Kugeln
oder der Stange durch die Wärme ändert das Reſultat,
auch
mußte er in einem Raume vorgenommen werden, wo
5949 allen Seiten des Gebäudes gleiche Gewichtsmaſſen vorhanden
ſind
.
Ferner durfte auch der Beobachter nicht in der Nähe
ſein
, damit er nicht eine Anziehung, alſo eine Störung ver-
urſache
.
Endlich mußte die Luft in der Nähe nicht in Be-
wegung
geſetzt werden, damit ſie nicht das Pendeln ſtöre und
ſchließlich
war es notwendig, nicht nur genau Größe und Ge-
wicht
der Kugeln zu beſtimmen, ſondern auch die Kugelgeſtalt
aufs
allerſchärſſte genau zu machen und dafür zu ſorgen, daß
auch
der Schwerpunkt der Kugeln der wirkliche Mittelpunkt
derſelben
ſei.
Alle dieſe großen Schwierigkeiten zu beſeitigen, bedurfte
es
ungeheurer Sorgfalt und außerordentlicher Koſten.
Der
Naturforſcher
Reich in Freiberg hat ſich der unendlichen Mühe
zur
Beſeitigung dieſer Schwierigkeiten unterzogen, und ſeinen
Beobachtungen
und Rechnungen verdankt man das Reſultat,
das
er dahin ausgeſprochen, daß die Geſamtmaſſe der Erde
nahe
fünf und ein halb Mal ſchwerer iſt, als eine eben ſo
große
Kugel aus Waſſer wäre 2c.
, oder wiſſenſchaftlicher aus-
gedrückt
:
Die durchſchnittliche Dichtigkeit der Erde iſt faſt fünf
und
ein halb Mal größer als die des Waſſers.
Da aber nun
der
Rauminhalt, das Volumen der Erde genau bekannt iſt, ſo
war
man imſtande zu berechnen, wie viel eine Waſſerkugel von
genau
gleicher Größe wiegen würde.
Daraus ergab ſich denn
das
wirkliche Gewicht der Erde auf nahe 14 Quadrillionen
Pfund
, und hieraus folgt, daß die Erde aus immer dichteren
Maſſen
beſteht, je näher man dem Mittelpunkt kommt, und
daß
ſie alſo keine Hohlkugel ſein könne.
Dieſe wichtigen Meſſungen ſind ſpäter von dem Engländer
Baily
mit noch größerer Sorgfalt und Ausführlichkeit wieder-
holt
worden.
Die Ergebniſſe, zu denen dieſer Forſcher ge-
langte
, ſtimmen ziemlich genau mit den Zahlen, welche ſowohl
Cavendiſh
als Reich erhalten hatten.
Auch nach Baily’s mit
den
Hilfsmitteln der fortgeſchrittenen Wiſſenſchaft angeſtellten
A. Bernſtein, Natu@w Bolf@bücher.
6050
Berechnungen iſt die Dichtigkeit der Erde gegen fünf und ein
halb
Mal größer als die des Waſſers, und ihr Gewicht über
13
{1/2} Quadrillionen Pfund.
Wenn man bedenkt, daß bis zum Mittelpunkt der Erde
800
Meilen weit iſt, und daß man durch Ausgrabungen noch
nicht
einmal eine Meile tief gekommen iſt (das tiefſte Bohrloch
der
Erde, das bei dem Dorfe Paruſchowitz bei Rybnik in
Oberſchleſien
niedergebracht wurde, iſt 2 Kilometer tief), ſo
hat
man Urſache, ſtolz zu ſein auf Forſchungen, die mindeſtens
teilweiſe
die unerforſchlichen Tiefen der Erde dem Menſchen-
geiſt
enthüllen.
61
Das Licht und die Entfernung.
I. Etwas über Beleuchtung.
Von Zeit zu Zeit hört man von Plänen ſprechen, ganze
Städte
mit einem einzigen großen Lichte, von einem einzigen
Punkte
aus zu beleuchten.
Bei der Leichtgläubigkeit des
Publikums
in naturwiſſenſchaftlichen Dingen kann es nicht
Wunder
nehmen, wenn man ſolche Pläne auch ausführbar
nennen
hört.
Man braucht indeſſen nur einen ernſten Blick
auf
dieſelben zu werfen, um ſich von der Unmöglichkeit leicht
zu
überzeugen.
Die Unmöglichkeit liegt nicht ſowohl darin, daß man kein
ſo
hellleuchtendes Licht künſtlich machen kann, als in dem Um-
ſtand
, daß die Leuchtkraft des Lichtes ungeheuer ſtark abnimmt,
je
mehr man ſich von demſelben entfernt.
Um dies unſeren Leſern deutlich zu machen, wollen wir
annehmen
, daß man auf dem Schloßplatz in Berlin, ungefähr
vor
der Breiten Straße, einen hohen Turm, und auf deſſen
Spitze
ein ſo helles Licht anbringen wollte, wie es nur irgend
durch
Gaſe oder Elektrizität möglich iſt.
Wir wollen dann
einmal
ſehen, wie ſonderbar dieſes Licht die Königſtraße be-
leuchten
würde.
Wir wollen der Deutlichkeit halber annehmen, daß von
der
Breiten Straße bis zur Kurfürſtenbrücke eben ſo weit ſei,
wie
von der Kurfürſtenbrücke bis zur Poſtſtraße, und ebenſo
wollen
wir annehmen, daß alle Straßen, die die
6252 durchſchneiden, gleich weit von einander ablägen, alſo daß die
Strecke
von der Poſtſtraße nach der Spandauerſtraße eben ſo
groß
ſei, desgleichen ſoll die Entfernung von der Spandauer-
nach
der Iüdenſtraßen-Ecke, von der Iüdenſtraßen- nach der
Kloſterſtraßen-Ecke
, von der Kloſterſtraßen- nach der neuen
Friedrichsſtraßen-Ecke
und von dieſer nach der Stadtbahn
immer
dieſelbe ſein.
Wir hätten demnach ſieben gleich
große
Strecken, die von dem einen großen Licht erleuchtet
werden
ſollen.
Nun iſt es bekannt, daß das Licht an Helligkeit abnimmt,
je
weiter man ſich von ihm entfernt;
aber die Leuchtkraft
nimmt
in einem ganz eigentümlichen Verhältnis ab.
Dies Ver-
hältnis
aber wollen wir einmal deutlich zu machen ſuchen,
was
eben nicht leicht iſt.
Wir hoffen indeſſen, daß es uns bei dem vorliegenden
Falle
gelingen und dem aufmerkſamen Leſer leicht werden wird,
ein
großes Naturgeſetz kennen zu lernen, das für außerordent-
lich
viele Fälle von größter Wichtigkeit iſt.
Die Naturwiſſenſchaft lehrt durch Rechnung und Erfahrung
Folgendes
:
Wenn ein Licht einen entfernten Punkt beleuchtet,
ſo
leuchtet es in einer zweimal ſo großen Entfernung nicht etwa
zweimal
, ſondern 2 mal 2, alſo viermal ſchwächer.
In einer
dreimal
ſo großen Entfernung leuchtet es nicht dreimal,
ſondern
3 mal 3, alſo 9 mal ſchwächer.
Man nennt dies
wiſſenſchaftlich
ausgedrückt:
das Licht nimmt ab im Quadrat
der
Entfernung.
Wir wollen das an unſerem Beiſpiel klar zu machen
ſuchen
und dabei von der Höhe des Turmes abſehen.
Nehmen wir an, daß das große Licht vor der Breiten
Straße
ſo ſchön leuchtet, daß man auf der Kurfürſtenbrücke
dieſe
Druckſchrift würde leſen können.
An der Poſtſtraßen-Ecke
wird
es ſchon dunkler ſein, und zwar wird es ſchon viermal
ſo
dunkel ſein, da die Strecke zweimal ſo groß iſt, denn 2 mal
6353 iſt 4. Die Spandauerſtraßen-Ecke iſt dreimal ſo weit entfernt
von
dem Licht wie die Kurfürſtenbrücke.
Hier wird es ſchon
neunmal
ſo dunkel ſein, denn 3 mal 3 iſt 9.
An der Jüden-
ſtraßen-Ecke
, die viermal ſo weit ab vom Lichte iſt, als die
Kurfürſtenbrücke
, wird es ſchon ſechzehnmal ſo dunkel ſein,
denn
4 mal 4 iſt 16 u.
ſ. w. An der Stadtbahn endlich,
die
ſiebenmal ſo weit entfernt iſt, wird es neunundvierzigmal
dunkler
ſein, als auf der Kurfürſtenbrücke, denn 7 mal 7
iſt
49.
Freilich könnte man dem Übel abhelfen. Man brauchte
nur
auf dem Schloßplatz 49 ſolche große Lichter aufzurichten,
dann
würde es an der Stadtbahn hell genug ſein, allein
es
ſieht wohl Jeder ein, daß es vernünftiger iſt, 49 Lichter an
verſchiedenen
Stellen der Königſtraße anzubringen und dieſe
gleichmäßig
zu beleuchten, als ſie an einen Ort hinzuſtellen.
Dies wird wohl Jeden überzeugen, daß man wohl große
Plätze
, aber nicht große Straßen oder gar ganze Städte mit
einem
Lichte beleuchten kann!
II. Die Beleuchtung der Planeten durch die Sonne.
Wir haben eben davon geſprochen, daß es nicht thunlich
iſt
, große Strecken durch ein einziges Licht zu beleuchten.
Gleichwohl müſſen wir anerkennen, daß die Natur dieſes Ver-
fahren
inne hält und die Sonne das einzige Licht iſt, welches
unſer
ganzes Sonnenſyſtem beleuchtet, obwohl die einzelnen
Planeten
ſich in ſehr verſchiedenen Entfernungen von ihr be-
finden
.
Wir haben aber gerade ſchon deshalb Urſache, anzunehmen,
daß
ſich nicht auf jedem Planeten ſolche Geſchöpfe befinden,
wie
wir ſie auf unſerer Erde ſehen, ſondern daß auf
6454 einzelnen dieſer Himmelskörper eigentümliche Geſchöpfe vor-
handen
ſind, deren ganze Natur gerade paſſend eingerichtet iſt
für
die Beleuchtung, die die Sonne dort hervorbringt.
Das Sonnenlicht iſt nämlich ganz denſelben Geſetzen
unterworfen
, wie unſer künſtliches Licht;
es nimmt ebenfalls
ab
mit der Entfernung.
Die Planeten, die von der Sonne
entfernt
ſind, werden dunkler beleuchtet, als die ihr nahen, und
die
Art und Weiſe, wie dies abnimmt, iſt ganz ſo, wie wir
ſie
oben vom irdiſchen Lichte dargeſtellt haben, nämlich:
nach
dem
Quadrat der Entfernung! Das heißt, bei zweimaliger
Entfernung
wird es viermal ſchwächer, bei dreimaliger neun-
mal
, bei viermaliger ſechzehnmal u.
ſ. w. , bei der jedesmaligen
Entfernung
um ſo viel ſchwächer, wie die Zahl der Ent-
fernung
mit ſich ſelbſt multipliziert beträgt.
Wir wollen hiernach einmal ſehen, wie ſonderbar ver-
ſchieden
die Planeten beleuchtet ſind, je nachdem ſie der Sonne
näher
oder entfernter ſind, und daraus allein ſchon werden
wir
ſchließen müſſen, wie anders die Geſchöpfe auf jedem
Planeten
geſchaffen ſind.
Merkur heißt der Planet, der der Sonne am nächſten iſt.
Er iſt etwa 2 {1/2} mal der Sonne näher als die Erde, demnach
iſt
er an ſiebenmal ſtärker beleuchtet als dieſe.
Was das
heißen
will, können wir gar nicht ermeſſen.
Sicherlich würden
wir
ſchon erblinden, wenn drei Sonnen ſtatt der einen zugleich
ſcheinen
würden, bei ſieben Sonnen, oder was dasſelbe iſt, bei
ſiebenmal
ſo ſtarkem Licht wie das unſerer hellen Tage, würden
wir
es wahrſcheinlich ſelbſt mit geſchloſſenen Augen nicht aus-
halten
, da bekanntlich unſere Augenlider nicht völlig vor dem
Sonnenlicht
ſchützen, ſelbſt wenn wir ſie vollſtändig ſchließen.

Die
Geſchöpfe auf dem Merkur müſſen daher ſchon ganz anders
eingerichtet
ſein als wir.
Venus, der zweite Planet, iſt 1 {1/3} mal näher der Sonne
als
wir.
Es iſt daher auf dieſem Planeten am Tage
6555 noch einmal ſo hell, als bei uns. Aber da auch dies für uns
nicht
gut erträglich wäre, ſo müſſen die Geſchöpfe auf dieſem
Planeten
gleichfalls von uns verſchieden ſein.
Der dritte Planet iſt die Erde, die wir bewohnen.
Mars iſt der Name des vierten Planeten, der 1 {1/2} mal
entfernter
iſt von der Sonne als die Erde.
Dort leuchtet die
Sonne
nur etwa ein halbmal ſo ſtark wie bei uns.
Es iſt
daher
möglich, daß die Menſchen ſich an die Beleuchtung des
Mars
auf die Dauer gewöhnen könnten, denn auch wir haben
oft
mehrere Tage hinter einander, die um die Hälfte dunkler
ſind
als andere.
Die neu entdeckten kleinen Planeten, deren Zahl faſt auf
400
geſtiegen iſt, haben Tage, die an ſechsmal dunkler ſind,
als
die unſrigen.
Die Beleuchtung dürfte dort am Tage ſo
ſein
, wie ſie etwa bei der letzten großen Sonnenfinſternis am
19
.
Auguſt 1887 war, eine Beleuchtung, die zwar auf Minuten
ihr
Intereſſantes hat, die uns aber, wenn ſie immerfort ſo
wäre
, ſicherlich melancholiſch machen würde.
Schlimmer ergeht es noch den entfernteren Planeten. Auf
Jupiter
iſt es ſchon 30 mal dunkler;
auf Saturn 80 mal, auf
Uranus
ſogar 300 mal und auf dem letzten der Planeten, dem
Neptun
, iſt es an 900 mal dunkler als auf der Erde.
66
Zur Witterungskunde.
I. Etwas über das Wetter.
Es iſt ein unverzeihlicher Mißbrauch, daß die Kalender,
und
namentlich dieKalender für das Volk” noch immer
Wetterprophezeiungen” für ganze Jahre enthalten.
Wir können
nicht
genug gegen dieſen thörichten Aberglauben empört ſein, den
man
dadurch verbreitet.
Und das Schmachvolle dabei iſt, daß
diejenigen
, die das drucken laſſen fürs Volk, ſelber nicht daran
glauben
, ſondern es als einen Artikel betrachten, den ſie der
Leichtgläubigkeit
des Volkes darbieten zu müſſen vermeinen,
eben
weil der Mißbrauch ſeit vielen Jahren getrieben wird.
Die Witterungskunde iſt eine Wiſſenſchaft, ein großer
Zweig
der Naturwiſſenſchaft, aber ein Zweig, der noch in der
Entwickelung
begriffen iſt, und der alſo noch keine leicht zu
pflückenden
Früchte bringt.
Es iſt zwar möglich, daß man manchmal auf einige Tage
voraus
das Wetter für einen beſtimmten Ort berechnen kann.
Für längere Zeit iſt es noch nicht möglich, und Herr Falb,
der
hier in Berlin Kälte und Wärme im voraus berechnet und
verkündet
und angeblich dabei den Einfluß des Mondes be-
rückſichtigt
, iſt nicht um ein Haar zuverläſſiger in ſeiner ſo-
genannten
neu entdeckten Wiſſenſchaft, als der hundertjährige
Witterungskalender
.
Das große Vertrauen, das er in weiten
Kreiſen
des Volkes genießt, iſt ganz unberechtigt und erklärt
ſich
nur aus der allgemein zu beobachtenden Thatſache, daß
die
Fälle, in denen eine Falbſche Wettervorherſage
6757 zutraf, Jahre lang im Gedächtnis des Einzelnen haften bleiben
und
ſtets mit größtem Pathos als Beweis angeführt werden,
während
die zahlreichen Fälle des Mißlingens der Prognoſen
unbeachtet
und unbeſprochen bleiben und alsbald ganz ver-
geſſen
werden.
Wir ſagen, daß man dahin gelangen kann, das Wetter
auf
einige Tage vorauszubeſtimmen, und dazu iſt die wirkliche
Wiſſenſchaft
ſchon jetzt weit genug gediehen.
Die Veränderlichkeit des Wetters hängt nämlich von der
Beſchaffenheit
und der Bewegung der Luft ab, rührt von der
Feuchtigkeit
und von der Richtung des Windes her und wird
hervorgerufen
von den Luftſtrömungen, alſo von Faktoren, die
man
höchſtens auf 24 Stunden mit einiger Sicherheit vorher
berechnen
kann.
II. Von der Witterung im Sommer und Winter.
Es giebt alſo einige feſte Regeln der Witterung, und
dieſe
feſten Regeln ſind einfach und leicht zu berechnen.
Eine feſte Regel hängt von der Stellung der Erde
zur
Sonne ab und iſt deshalb auch leicht zu beſtimmen,
denn
die Aſtronomie iſt eine Wiſſenſchaft, die auf den feſteſten
Säulen
ruht, und obgleich Alles in der Welt uns näher
iſt
als die Sterne, ſo iſt doch nichts in der Welt ſo ſicher,
als
unſer Wiſſen von dem Lauf der Geſtirne und von
ihren
Entfernungen.
Es mag wohl Manchen überraſchen, zu
hören
, daß man weit ſicherer weiß, wie weit die Erde von der
Sonne
entfernt iſt, als wie weit von Berlin nach Wien iſt,
und
doch iſt es wahr und ſo genau richtig, wie nur irgend
etwas
in der Welt.
1
11Wir ſind zu dieſer Verſicherung durch eine an uns gerichtete
Frage
aus dem Volke” veranlaßt, welche von uns aufEhre und Ge-
wiſſenhaftigkeit”
die Frage beantwortet wiſſen will, ob all das, was die
Aſtronomie
als ſo ſicher ausgiebt, mehr alsbloße Vermutung” iſt. Wir
antworten
hierauf: Es iſt das aſtronomiſche Wiſſen das ſicherſte in der
Welt
. Kein Kaufmann kann ein Stück Zeug mit der Elle ſo genau aus-
meſſen
, daß er ſich nicht um {1/300} irrt, während die Unſicherheit über die
Entfernungen
im Sonnenſyſtem nicht {1/300} überſteigt.
6858
Die Erde dreht ſich nun in 24 Stunden um ihre Axe und
läuft
zugleich in einem Jahr um die Sonne herum.
Allein die
Erdaxe
iſt ſo gerichtet gegen die Erdbahn, daß ſie im Umlauf um
die
Sonne ſechs Monate lang auf der einen und ſechs Monate
lang
auf der anderen Seite beleuchtet iſt.
So kommt es, daß
am
Nordpol der Erde ſechs Monate fortwährend Tag iſt,
worauf
ſechs Monate ununterbrochen Nacht folgt, und ebenſo
wechſelt
am Südpol ein Tag, der ſechs Monate dauert, mit
einer
ebenſo lange dauernden Nacht.
In der Mitte zwiſchen
beiden
Polen, in der Gegend um den Äquator der Erde, iſt
dagegen
jahraus jahrein zwölf Stunden Tag und zwölf Stunden
Nacht
, während in den Gegenden zwiſchen Äquator und Pol
durch
das Jahr hindurch Tag und Nacht außerordentlich ver-
ſchieden
ſind an Länge.
Wir in Europa bewohnen die nördliche Hälfte der Erde;
wenn daher die Zeit kommt, wo der nördliche Pol ſechs Monate
Tag
hat, haben auch wir in Deutſchland, die wir dem Pol
ſchon
nahe wohnen, lange Tage und kurze Nächte, während die
Bewohner
der Länder, die auf der ſüdlichen Halbkugel liegen,
um
dieſelbe Zeit kurze Tage und lange Nächte haben.
Kommt
aber
die Zeit, wo am nördlichen Pol ſechs Monate Nacht und
am
ſüdlichen ſechs Monate Tag iſt, dann haben die Bewohner
der
ſüdlichen Halbkugel die langen Tage, während wir lange
Nächte
und kurze Tage haben.
Zugleich mit der Dauer der Länge des Tages oder der
Nacht
iſt der Sommer und der Winter verbunden, denn mit
dem
Sonnenlicht wird auch zugleich die Wärme hervorgerufen.
6959 Es iſt daher in langen Tagen bei uns auch warm, denn die
Sonne
durchwärmt den Boden der Erde.
Zur Zeit der kurzen
Tage
iſt es kalt, weil das erwärmende Sonnenlicht fehlt.

Daher
iſt auch in derſelben Zeit, wo auf der nördlichen Halb-
kugel
Sommer iſt, auf der ſüdlichen Winter, und umgekehrt,
wenn
hier Winter iſt, iſt auf der ſüdlichen Halbkugel Sommer.
Wenn wir am Weihnachtsfeſt tief eingeſchneit ſind und in
der
erleuchteten Stube und am warmen Ofen Freude und Er-
hebung
ſuchen, denken wir wohl an Freunde und Verwandte,
die
nach Auſtralien ausgewandert ſind und fragen uns, wie es
ihnen
jetzt ergehen mag am Feſttage?
Wie erſtaunt aber der
Unkundige
, wenn ſpäter ein Brief aus Auſtralien ankommt, der
am
Weihnachtsfeſt geſchrieben worden iſt, worin der Freund
oder
der Verwandte anzeigt, daß er das Feſt in ſeiner Wein-
laube
gefeiert, wo er Schutz geſucht habe vor der großen Hitze
des
Tages und daß er erſt ſpät in der Nacht das Zimmer be-
treten
, und vor Hitze und Sehnſucht nach der Heimat, wo man
am
Weihnachtsfeſt ſo leicht Kühlung haben kann, nicht habe
einſchlafen
können!
Der Unkundige wird ſich nun belehren laſſen, daß Auſtralien
auf
der ſüdlichen Hälfte der Erde iſt, während wir auf der
nördlichen
Hälfte leben, daß dort gerade der höchſte Sommer
herrſcht
, wenn bei uns der Winter hauſt.
Er wird ſich aber
auch
nicht wundern, wenn er erfährt, daß es im Auguſt in
Auſtralien
geſchneit hat, und der Freund und Verwandte um
dieſelbe
Stunde, wo wir einen Spaziergang nach dem Feier-
abend
machen, um im Freien das Abendbrot zu verzehren, in
Auſtralien
am Kaminfeuer ſich zu erholen ſuchte und beim
Schein
der Lampe den Brief aus der Heimat las.
Aber nicht nur von der Länge des Tages allein hängt die
Wärme
des Sommers und nicht von der Kürze des Tages
allein
hängt die Kälte des Winters ab, ſondern hauptſächlich
davon
, daß im Sommer die Sonne am Mittag hoch am
7060 ſteht und ihre ſenkrechten Strahlen den Boden ſtark erwärmen
können
, während im Winter die Sonne des Mittags nur ſehr
niedrig
am Himmel ſteht und ihre Strahlen ſchräg auf den
Erdboden
fallen, deshalb auch denſelben nur ſehr matt erwärmen
können
.
Wir werden nunmehr ſehen, wie weſentlich dieſer Stand
der
Sonne von Einfluß iſt auf die Witterung.
III. Die Luftſtrömungen und das Wetter.
Um die Witterungsverhältniſſe genau zu begreifen, darf
man
Folgendes nicht außer acht laſſen.
Die Sonne macht zwar Sommer und Winter, ihre Strahlen
rufen
zwar Wärme hervor und ihre Abweſenheit läßt Kälte
auf
der Oberfläche der Erde herrſchen, aber das eigentliche
Wetter
macht die Sonne allein nicht.
Wenn die Sonne allein wirkte, ſo würde auf jedem be-
ſtimmten
Teil der Erde, in jeder beſtimmten Jahreszeit eine
unveränderliche
Wärme und Kälte herrſchen;
die Sonne aber
bringt
Bewegungen der Luft hervor, dadurch ſtrömen Winde
aus
kalten Gegenden in warme, aus warmen Gegenden in kalte,
und
dies bringt bald bewölkten, bald klaren Himmel, bald
Regen
, bald Sonnenſchein, bald Schnee, bald Hagel, bald
Kühlung
im Sommer und Wärme mitten im Winter, bald
froſtige
Nächte im Sommer, bald laues Tauwetter im Winter
hervor
.
Mit einem Worte: die Bewegung der Luft, der
Wind
macht eigentlich das Wetter
, das heißt die Ver-
änderlichkeit
von Wärme und Kälte, von Trockenheit und
Feuchtigkeit
, die man eben unter Wetter verſteht.
Woher aber entſteht der Wind?
Er entſteht aus dem Einfluß der Sonnenwärme auf
die
Luft.
7161
Die ganze Erdkugel iſt nämlich bekanntlich von einer
Dunſthülle
umgeben, die man Luft nennt.
Dieſe Luft hat die
Eigenſchaft
, daß ſie ſich ausdehnt, wenn ſie warm wird.
Legt
man
eine mit Luft gefüllte und gut zugebundene Schweinsblaſe
in
die Röhre eines warmen Ofens, ſo dehnt ſich die Luft in
der
Blaſe ſo aus, daß die Blaſe mit einem ſtarken Knall zer-
platzt
.
Die ausgedehnte, warme Luft iſt aber leichter als die
dichte
, kalte Luft und ſteigt deshalb immer in die Höhe.
Hohe Stuben heizen ſich daher ſchlecht, denn die warme
Luft
ſteigt in die Höhe zum Balken hinauf.
In einem Zimmer
iſt
es immer am Fußboden kühler, als am Balken.
Darum
friert
man auch im Winter in der Stube weit mehr an den
mit
Strümpfen und Stiefeln verſorgten Füßen, als an den
nackten
Händen, und wenn man in einem ziemlich kalten Zimmer
auf
eine Leiter ſteigt und der Stubendecke nahekommt, wundert
man
ſich, wie warm es da oben gegen unten iſt.
Die Stuben-
fliegen
machen ſich daher mit Recht im Herbſt das Vergnügen,
an
der Zimmerdecke ſpazieren zu gehen, da dort ſommerliche
Wärme
, wenn am Fußboden winterliche Kälte herrſcht, denn
die
warme Luft ſteigt, weil ſie leichter iſt, nach oben.
Ganz ſo iſt es auch auf der Erde. Die Sonne durch-
wärmt
in der heißen Zone am Äquator die Luft fortwährend
beſonders
ſtark, die Luft ſteigt dort in die Höhe.
Von beiden
Seiten
aber, ſowohl von der nördlichen, wie von der ſüdlichen
Erdhälfte
, ſtrömt fortwährend etwas kältere Luft hinzu, um die
Lücke
auszufüllen.
Dieſe kältere Luft wird aber wiederum
erwärmt
und ſteigt dann als warme Luft in die Höhe, und
wieder
ſtrömt neue kältere Luft hinzu.
Dadurch entſteht aber
auch
zugleich an den Polen der Erde ein luftverdünnter Raum,
und
nach dieſem luftverdünnten Raum hin ſtrömt die erwärmte
Luft
, die eben zur Höhe geſtiegen war.
So ungefähr entſtehen die großen Strömungen in der Luft,
die
jahraus jahrein fortwährend ſtattfinden, und in dieſen
7262 mungen wandert die Luft ſtets unten an der Erde von beiden
Polen
nach dem Äquator hin, während hoch oben die erwärmte
Luft
von dem Äquator nach den Polen hinfließt.
Wer Sinn hat für Beobachtung der Naturerſcheinungen,
dem
wird im Leben ſchon Ähnliches vorgekommen ſein.
Wenn
im
Winter ein ſtarker Rauch im Zimmer iſt, ſo öffnet man das
Fenſter
, und da wird ſchon Jeder die Bemerkung gemacht
haben
, daß oben zum offenen Fenſter der Rauch hinausſtrömt
auf
die Straße, unten aber es den Anſchein hat, als ob der
Rauch
zurückſchlüge in das Zimmer.
Das iſt aber eine Täu-
ſchung
und rührt nur daher, daß oben zum Fenſter die warme
Stubenluft
hinausſtrömt und den Rauch mit ſich nimmt, unten
am
Fenſter aber ſtrömt dafür kalte Luft ein und drängt den
Rauch
, der unten iſt, zurück in die Stube.
Bei ſolcher Ge-
legenheit
kann nun der aufmerkſame Beobachter ſehen, wie zwei
Luftſtrömungen
oben und unten gerade entgegeugeſetzt ſich be-
wegen
, während ſie in der Mitte ſich verdrängen und eine Art
Wirbel
bilden, was man an der Bewegung des Rauches eben-
falls
recht gut merken kann.
Auf der Erde findet ein ähnlicher Zuſtand fortwährend
ſtatt
und wir werden ſehen, welchen großen Einfluß dies auf
das
Wetter hat.
IV. Die feſten Regeln der Witterungskunde.
Die Luft, die fortwährend von der heißen Zone aufſteigend
nach
den Polen der Erde fließt und von den kalten Zonen nach
den
heißen hin zirkuliert, iſt die Grundquelle des Windes, der
die
Wärme fortwährend verteilt, denn die kalte Luft, die von
den
Polen heranſtrömt, kühlt die heißen Gegenden ein wenig
ab
, die warme Luft, die von dem Äquator nach den kalten
Gegenden
hinabfließt, erwärmt dieſe um etwas.
7363
So kommt es denn, daß es in kalten Gegenden nicht ganz
ſo
kalt iſt, wie es eigentlich ſein würde, wenn die Luft nicht
zirkulierte
, und daß regelmäßig in heißen Gegenden die Hitze
den
Grad nicht erreicht, den ſie haben würde, wenn die Luft
unbeweglich
über der Erde wäre.
Hieraus alſo ſehen wir die Grundurſache des Windes.
Allein das wäre immer nur ein Wind nach beſtimmter und
einer
und derſelben Richtung;
käme da nicht noch etwas anderes
hinzu
, ſo gäbe es eigentlich nur zwei Arten von Wind, einen
Wind
über die Erdoberfläche, der vom Pol zum Äquator zieht,
alſo
bei uns der Nordwind, und einen zweiten Wind, der oben
in
der Luft vom Äquator nach dem Pol geht, alſo bei uns der
Südwind
.
Es tritt aber hierbei noch etwas hinzu, das dieſen Zuſtand
weſentlich
verändert.
Die Erde nämlich dreht ſich in 24 Stunden
um
ihre Axe von Weſten nach Oſten und die Luft macht dieſe
Bewegung
mit.
Da aber bei ſolcher Umdrehung diejenigen
Teile
, die dem Äquator näher liegen, ſich mit weit größerer
Geſchwindigkeit
bewegen müſſen als die, welche dem Pol nahe
ſind
, ſo läßt es ſich bei einigem Nachdenken leicht einſehen und
iſt
auch bewieſen, daß die Luft, die unten von dem Pol nach
dem
Äquator zuſtrömt, fortwährend über einen Erdboden vor-
ſchreitet
, der ſich ſchneller nach Oſten hinbewegt als ſie, wäh-
rend
oben die Luft, weil ſie vom Äquator herkommt, noch mit
der
Schnelligkeit ſich nach Oſten bewegt, die ſie am Äquator
hatte
, und wenn ſie nach dem Pol wandert, immerfort über
Strecken
hinzieht, die eine mindere Schnelligkeit nach Oſten
haben
, als ſie.
Dadurch kommt es, daß der vom Nordpol
kommende
Luftſtrom gegen die nach Oſten gerichtete Bewegung
der
Erde zurückbleibt;
d. h. er ſtrömt nicht genau nach Süden,
ſondern
nach Südweſten, er kommt alſo aus dem Nordoſten.
Umgekehrt eilt der vom Äquator kommende Wind der Erde in
ihrer
Bewegung voraus, er weht nicht genau nach
7464 ſondern ungefähr nach Nordoſten, er kommt alſo aus dem
Südweſten
.
Daher kommt es, daß bei uns nicht der Nordwind,
ſondern
der Nordoſtwind der kälteſte iſt, während der Süd-
weſtwind
anſtatt des Südwindes die meiſte Wärme zu bringen
pflegt
, wenigſtens im Winter, während im Sommer durch die
vielen
Regenſälle bei Südweſtwind die Sachlage etwas geändert
wird
.
Man macht ſich nun eine ganz falſche Vorſtellung, wenn
man
glaubt, daß der Wind und das Wetter zwei verſchiedene
Dinge
ſind.
Wetter iſt nichts anderes als ein Zuſtand der
Luft
.
Ein kalter Winter, ein kalter Frühling, ein kalter
Sommer
, ein kalter Herbſt beſtehen nicht etwa darin, daß die
Erde
ſelber, oder der Flecken, auf dem wir leben, kälter iſt
als
ſonſt.
Die Witterung beſteht vielmehr nur in der Luft
und
hängt nur ab vom Winde.
Wir haben bereits geſagt, daß es feſte Regeln der Witte-
rung
giebt, d.
h. es giebt feſte Regeln der Bewegung des
Windes
, aber wir haben auch hinzugefügt, daß es außer-
ordentlich
viel Urſachen giebt, die in unſren Gegenden, alſo
in
der ſogenannten gemäßigten Zone, dieſe feſten Regeln ſtören.
Die wichtigſten feſten Regeln des Wetters haben wir nun
kennen
gelernt.
Sie ſind hervorgerufen erſtens durch den Lauf
der
Sonne, zweitens durch die Cirkulation der Luft von den
Polen
zum Äquator und vom Äquator zu den Polen und
drittens
von der Umdrehung der Erde, durch welche die Ab-
lenkung
der Winde von ihrer eigentlichen Richtung bedingt wird.
Alle dieſe Dinge ſind genau zu berechnen und ſind auch
berechnet
, und ſomit iſt die Grundlage für die Witterungs-
kunde
vorhanden;
wir werden aber im nächſten Artikel ſehen,
welche
Schwierigkeiten noch andere Dinge der Witterungskunde,
beſonders
für unſere Gegenden, entgegenſtellen.
7565
V. Die Luft und das Waſſer in ihrer Beziehung
zum Wetter.
Der Hauptumſtand der Unberechenbarkeit der Witterung
liegt
darin, daß weder die Luft noch die Erde allenthalben von
gleicher
Beſchaffenheit ſind.
Jede Hausfrau, die einmal Wäſche getrocknet hat, weiß
es
, daß die Luft Feuchtigkeit in ſich aufnimmt, wenn ſie an
feuchten
Gegenſtänden vorüberſtreicht.
Die Hausfrau, die ihre
Wäſche
recht ſchnell trocknen will, hängt ſie dort auf, wo der
Wind
ſein Spiel treibt, und ſie hat auch recht, wenn ſie ſagt,
daß
der Wind die Wäſche ſchneller trocknet, als der ruhigſte
Sonnenſchein
.
Woher aber kommt das?
Das kommt daher, daß trockene Luft, wenn ſie naſſe Gegen-
ſtände
berührt, die Feuchtigkeit in ſich aufſaugt, dadurch trockuet
der
naſſe Gegenſtand ein wenig;
wenn es nun windſtill iſt,
ſo
bleibt die feuchte Luft auf dem feuchten Gegenſtand und die
Abtrocknung
geſchieht nur ſehr langſam;
ſobald ſich aber ein
wenig
Wind erhebt, führt dieſer die feuchtgewordene Luft weg
und
bringt immer neue und trockene Luft mit dem feuchten
Gegenſtand
in neue Berührung, und die Austrocknung erfolgt
ſehr
ſchnell.
Nicht die bloße Wärme trocknet die Wäſche, denn im
Winter
, wo es ſo kalt iſt, daß die Wäſche auf der Leine
ſteif
friert, trocknet ſie dennoch, ſobald es nur recht windig iſt;
ſondern eben der Wind trocknet, der immer friſche, trockene Luft
durch
die aufgehängte Wäſche ſtreichen läßt.
Jede Hausfrau
weiß
es, daß, wenn ſie die Stube geſcheuert hat, die Dielen
am
ſchnellſten trocknen, wenn ſie Thür und Fenſter öffnet und
eine
recht tüchtige Zugluft in der Stube macht;
ſtarkes Heizen
würde
lange nicht ſo gut wirken.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher.
7666
Hieraus kann man lernen, daß die Luft Waſſerteilchen in
ſich
aufnimmt, und es wird nun Jedem erklärlich ſein, woher
es
kommt, daß Waſſer, welches man in einem Glaſe am offenen
Fenſter
tagelang ſtehen läßt, immerfort weniger wird, bis es
endlich
ganz und gar verſchwindet und das Glas trocken wird.
Wo blieb das Waſſer? Die Luft hat immerfort ein wenig
davon
getrunken, hat es in ſich aufgeſogen, bis es nach und
nach
ganz ausgetrunken wurde.
16[Figure 16]Fig. 15.
Schneekryſtalle
.
Was aber macht die Luft mit all dem Waſſer, das ſie
auftrinkt
?
Die Luft ſtrömt über das Weltmeer hin, über Seen,
über
Ströme, über Flüſſe, über Quellen, über feuchte Wälder
und
Wieſen, und allenthalben nimmt ſie Waſſerteilchen in ſich
auf
.
Wo bleiben all die Waſſerteilchen?
Die Waſſerteilchen verdichten ſich und bilden Wolken, aus
denen
uns dann die verſchiedenen Arten von Niederſchlägen
beſchert
werden.
Bei wärmerer Temperatur fällt die
7767 keit als Regen nieder, in der Kälte friert ſie zu winzig kleinen
Schueekryſtallbildungen
, von denen unſre Fig.
15 17 einige
17[Figure 17]Fig. 16.
Schneekrhſtalle
.
Formen in ſtarker Vergrößerung bringen.
Geht das Gefrieren
ſehr
raſch vor ſich, ſo werden die Waſſertröpfchen zu Graupeln,
18[Figure 18]Fig. 17.
Schneekryſtalle
.
unter ſelteneren Umſtänden frieren ſie auch zu größeren Eis-
klumpen
, dem Hagel, zuſammen (ſ.
Fig. 18). Eine
7868 Form des Niederſchlages iſt auch der Tau, der nach kühlen
Sommernächten
des Morgens im Wieſengras funkelt, ſowie
19[Figure 19]Fig. 18.
Hagelkorn-Formen
.
Glatteis (Fig.
19) und Rauhfroſt,
welche
man an ſehr feuchten, nebligen
Wintertagen
zu beobachten Gelegen-
heit
hat und welche nur als gefrorener,
bezw
.
kryſtalliſierter Tau zu betrach-
ten
ſind.
Es herrſchen über dieſe Witte-
rungserſcheinungen
die unklarſten
Vorſtellungen
.
Es denken ſich viele
die
Wolken als eine Art von Schlauch,
worin
der Regen ſteckt, den die
Wolken
zuweilen fallen laſſen.
Aber
das
iſt ganz und gar falſch.
Die
Wolken
ſind nichts als Nebel in der
Höhe
, unſer Nebel iſt nichts als eine
Wolke
auf der Erde.
Man kann ſich ſehr leicht eine
richtige
Vorſtellung von der Bildung
des
Nebels und des Regens machen,
wenn
man nur auf ſich ſelber acht
giebt
.
Jedermann, der ſich im Winter
ſchon
einmal in die Hände gehaucht
hat
, um ſie zu erwärmen, wird be-
merkt
haben, daß die Hände von
dem
Hauch naß geworden ſind.
Man
haucht
auf die trockene Fenſterſcheibe
und
man hat eine feine Waſſerſchicht
darüber
.
Woher kommt das? Das
kommt
daher, daß die Luft, die wir ausatmen, auch Waſſer-
teilchen
aus unſerm Blute mit ſich führt.
In warmer
7969 ſehen wir dieſe Waſſerteilchen nur nicht, denn ſie ſind gas-
förmig
, dahingegen weiß Jeder, daß dieſe Waſſerteilchen ſofort
20[Figure 20]Fig. 19. Eisbildung bei ſeyr feuchtem Froſtwetter. ſichtbar werden, ſobald es kühl iſt, daß ſie einen Nebel bilden,
wenn
man im Winter im kalten Zimmer iſt;
daß ſie
8070 liche Tropfen bilden, wenn man die Waſſerteilchen des Atems
gegen
kalte Gegenſtände haucht, ja daß ſie ſogar frieren, und
zu
Schnee werden, und bei tüchtigem Froſt am Schnurrbart
ſich
ſogar als Eiszapfen anhängen, wenn man bei ſtarker Kälte
einen
Gang ins Freie macht.
Hier hat man ein kleines Beiſpiel, wie die Waſſerteilchen
des
Atems unſichtbar ſind in der Wärme, wie ſie bei kälterer
Luft
ſchon als Nebel erſcheinen, bei noch kälterer ſich zu
Tropfen
ſammeln, bei ſtrengerem Froſt ſogar zu Schnee
und
Eis zuſammenfrieren.
VI. Nebel, Wolken, Regen und Schnee.
Die Luft, die Waſſerteilchen aufſaugt an allen Teilen der
Erde
, macht es mit dieſem Waſſer ebenſo, wie der Hauch unſeres
Atems
, der Waſſerteile in ſich hat.
Sowie eine Luftſchicht, die Waſſerteilchen in ſich hat, mit
einer
kälteren Luftſchicht zuſammentrifft, ſo fließen die luft-
förmigen
Waſſerteilchen ſofort zu einem Nebel zuſammen.
Aber Nebel iſt, wie geſagt, nichts anderes als Wolke. Wer
in
Gebirgsgegenden gereiſt iſt, wird dies oft genug beobachtet
haben
.
Von unten ſieht man oft, daß die Spitze eines hohen
Berges
in Wolken gehüllt iſt, und man glaubt Wunder, was
für
Neues ſehen zu können, wenn man hinaufgeht, um ſich die
Wolke
in der Nähe zu beſchauen.
Kommt man aber hinauf,
ſo
ſieht man eben nichts vor ſich und um ſich als Nebel, den
man
ſchon ſo oft geſehen hat, ohne auf Berge zu ſteigen.
Die Waſſerteilchen der Luft bilden alſo Nebel, oder, was
dasſelbe
iſt, ſie bilden Wolken, ſobald ſie in eine kältere Luft-
ſchicht
geraten.
Aber die Wolke iſt noch immer kein Regen,
ſondern
es hängt von Umſtänden ab, ob ſich nun auch Regen
bildet
oder nicht.
Es läßt ſich leicht überſehen, wie dieſe
8171 ſtände ſind. Wird die Luftſchicht, in der ſich Wolken gebildet
haben
, auf irgend eine Art und Weiſe erwärmt, ſo verwandeln
ſich
die feinen Waſſerteilchen der Wolken wieder in durchſich-
21[Figure 21]Fig. 20.
Wolkenformen
.
tigen Waſſerdampf, da wärmere Luft mehr von dieſem durch-
ſichtigen
Waſſerdampf annehmen kann als kalte, ohne ihn zu
Wolken
zu kondenſieren.
In dieſem Fall löſen ſich alſo
8272 Wolken auf, der Himmel wird heiter und es regnet nicht.
Wird aber die wolkige Luft abgekühlt, ſo daß ſie noch weniger
Waſſerdampf
in ſich aufzunehmen vermag als zuvor, ſo werden
aus
der Wolke kleine Waſſertropfen, oder wenn die Temperatur
unter
dem Gefrierpunkt liegt, kryſtalliſieren ſie zu feinen Schnee-
flocken
;
dieſe Waſſertropfen und Schneeflocken ſind zu ſchwer,
um
ſich in der Luft ſchwebend zu erhalten und fallen dann
herunter
als Regen bezw.
Schnee.
Während des Fallens vergrößert ſich der Regentropfen immer
mehr
durch die Waſſerteilchen der Luft, durch die er fällt und
ſo
kommt es, daß der Regen oft die Erde erreicht in Form
von
recht großen Waſſertropfen, während er, als er wirklich
zu
fallen anfing, nur ganz winzig kleine Tropfen bildete.
Daß dieſe Erklärung richtig ſein muß, beweiſt die folgende
kleine
Anekdote:
In Petersburg gab einſt ein Miniſter ein
Konzert
in einem großen Saal, wo die vornehme Welt ſich
ſehr
zahlreich einfand.
Draußen war eine ſo eiſige Winternacht,
wie
man ſie in unſern Gegenden gar nicht kennt;
in dem über-
füllten
Saal aber herrſchte eine Hitze, wie ſie nur Ruſſen ver-
tragen
können.
Aber die Hitze wurde bald auch den Ruſſen
zu
viel.
Es war eine zu große Menſchenmaſſe beiſammen,
das
Gedränge war gefährlich, mehrere Damen wurden ohn-
mächtig
.
Man wollte ein Fenſter öffnen; aber es ging nicht,
es
war feſt eingefroren, da wußte ein tapferer Offizier ſchnell
Rat
:
er ſchlug das Fenſter ein. Und was geſchah?
es
ſchneite im Konzertſaal.
Wie ging dies zu? Der
Waſſerdunſt
, den die große Menge Menſchen im Saale aus-
atmete
, ſchwebte in der Höhe des Saales, wo es am heißeſten
war
, in der Luft, der plötzliche Eintritt der eiſigen Luft durch
das
zerbrochene Fenſter kühlte die Zimmertemperatur plötzich
ſehr
ſtark ab und verwandelte die Waſſerteilchen in Schnee,
und
ſo ſendete hier nicht der Himmel, ſondern der mit Waſſer-
dunſt
gefüllte Raum eines Konzertſaales Schneeflocken hernieder.
8373
VII. Wie Wärme gebunden wird und wie Wärme
frei wird.
Wir haben eben nachgewieſen, wie warme Luft Waſſer-
verdunſtung
erzeugt und wie Kälte dann wieder Regen und
Schnee
verurſacht;
wir haben nun nachzuweiſen, wie auch um-
gekehrt
Waſſerverdunſtung und Regen Kälte und Wärme her-
vorrufen
.
Obgleich das, was wir hier nachweiſen wollen, wiſſen-
ſchaftlich
ſo feſt ſteht, wie nur irgend etwas in der Welt, ſo
iſt
es doch nicht leicht, dies ganz deutlich zu machen;
weshalb
denn
auch die meiſten gebildeten Menſchen, die viel geleſen
haben
übergebundene und freie Wärme”, ſich ganz falſche
Begriffe
davon machen.
Um das, was wir jetzt ſagen wollen, ganz deutlich dar-
zuthun
, müſſen wir wiederum zu Beiſpielen aus dem gewöhn-
lichen
Leben greifen und dabei doch unſere Leſer erſuchen, uns
mit
ihrem eigenen Nachdenken ein wenig zu Hilfe zu kommen.
Jedermann weiß, wie man Waſſer kocht. Man ſetzt kaltes
Waſſer
über Feuer und die Wärme des Feuers teilt ſich dem
kalten
Waſſer mit, ſo daß es wärmer und wärmer wird.
Wo
bleibt
alſo die Wärme des Feuers?
Sie wird vom kalten
Waſſer
aufgenommen;
das Waſſer verſchluckt gewiſſermaßen
die
Wärme.
Daher kommt es, daß ein Ofen, worin die arme
Hausfrau
ihr Mittagbrot kocht, lange nicht ſo warm wird,
als
er geworden wäre, wenn ſie dasſelbe Brennmaterial ver-
braucht
hätte, ohne dabei ihr Mittagbrot zu kochen.
Die
Hausfrau
hat kaltes Waſſer in den Ofen geſetzt, die Wärme,
die
das Waſſer in ſich aufgenommen, konnte den Ofen alſo
nicht
heizen und es fehlt dem Ofen ſomit eine ganze Portion
Wärme
, die das Waſſer in ſich hineingeſchluckt hat.
Wie aber iſt es, wenn man das kochende Waſſer heraus-
nimmt
aus dem Ofen und es in die Stube hinſtellt?
8474
Jedermann weiß es, daß dann das Waſſer nach und nach
kalt
und kälter wird.
Wo bleibt die Wärme? Das Waſſer
giebt
die Wärme wieder von ſich.
Es ſieht wohl jeder ein, daß das Waſſer die Wärme ver-
ſchluckt
hatte, ſo lange es am Feuer war, und daß es die
Wärme
wieder von ſich gab, als es in die kältere Stube ge-
bracht
wurde.
Was wird aber aus Waſſer, wenn man es immerfort
Wärme
verſchlucken läßt?
Was wird aus einem Keſſel Waſſer,
wenn
er ins Kochen gerät und man ihn nicht vom Feuer
nimmt
?
Verſchluckt dieſes Waſſer noch immerfort Wärme?
Die Beobachtung zeigt, daß dies nicht der Fall iſt. Ein
Celſius-Thermometer
, das man ins kochende Waſſer ſteckt, ſteigt
bis
auf 100 Grad, aber nicht weiter;
es iſt vielmehr ganz be-
kannt
, daß das Waſſer kocht und beim Kochen immer weniger
wird
.
Die Frauen ſagen: das Waſſer kocht ein! In
Wahrheit
aber kocht das Waſſer aus, denn wenn man acht-
giebt
, ſo nimmt man wahr, daß das Waſſer ſich im Kochen in
Dampf
verwandelt, der aus dem Keſſel hinausſteigt und ſich
in
der Luft verbreitet.
Wo aber bleibt die Wärme, die fort-
während
vom Waſſer verſchluckt wird?
Die Wärme ſteigt mit
dem
Dampf in die Höhe und ſchwimmt mit dem Dampf in der
Luft
herum;
oder richtiger, die Wärme iſt jetzt vom Dampf
verſchluckt
, oder, was dasſelbe iſt:
die Wärme iſt im Waſſer-
dampf
gebunden.
Man ſagt daher ganz richtig: Man ver-
braucht
Wärme
, um Waſſer in Dampf zu verwandeln.
Wir wiſſen alſo, wo die Wärme ſteckt: ſie iſt im Waſſer-
dampf
gebunden.
Kann auch dieſe Wärme wieder frei werden? Ganz
gewiß
;
und die wackere Hausfrau, die ſich nicht ſcheut am
Herd
zu ſtehen, die wird es auch ſchon gefühlt haben, wenn
ſie
auch darüber noch nicht nachgedacht haben ſollte.
Wenn
die
Hausfrau unverſehens mit der Hand an den
8575 kommt, gerade dort, wo der Dampf ausſtrömt, ſo wird ſie
merken
, wie ihre Hand plötzlich naß, aber auch tüchtig verbrüht
worden
iſt.
Woher kam das? Die Hand wurde naß durch
den
Dampf, der ſich wieder in Waſſer verwandelte, als er auf
die
kältere Hand kam;
aber in demſelben Augenblick gab auch
der
Dampf ſeine Wärme ab an die Hand und verbrühte die-
ſelbe
.
Der Dampf alſo, der ſich in Waſſer verwandelt, giebt
die
verſchluckte Wärme wieder von ſich, das heißt:
die ge-
bundene
Wärme wird wieder frei.
Dieſe Erſcheinung, die man in jeder Küche beobachten kann,
geht
im großen Maßſtab auch in der Natur vor, und von
welch
gewaltigem Einfluß dies auf das Wetter iſt, das wollen
wir
in dem folgenden Artikel zeigen.
VIII. Die gebundene Wärme macht kalt, die
freie Wärme macht warm.
Wer darüber nachdenkt, wie Waſſer, wenn es erwärmt
wird
, ſich in Dampf verwandelt und wie dieſer Dampf die
ganze
Portion Wärme verſchluckt hat, die nötig war, um ihn
herzuſtellen
, der wird leicht begreifen, daß Gegenden, wo ſich
Waſſerdunſt
bildet, ſich abkühlen müſſen.
Ganz ſo wie
das
Feuer, das zum Kochen verbraucht wird, den Ofen nicht
warm
machen kann, ganz ſo kann die Wärme des Sonnen-
lichtes
, welche das Waſſer auf der Oberfläche der Erde in
Waſſerdampf
verwandelt, die Erde nicht erwärmen.
Daraus folgt, daß allenthalben, wo Waſſer verdunſtet, es
kühl
wird, denn die Wärme wird verbraucht zur Bildung des
Waſſerdampfes
, der Waſſerdampf hat dieſe Wärme in ſich, oder,
wie
man ſich wiſſenſchaftlich ausdrückt:
der Waſſerdampf bindet
die
Wärme.
8676
Wenn es im Sommer recht drückend heiß iſt, und ein
tüchtiger
Regenſchauer kommt, ſo iſt es während des Regens
oft
noch drückender, aber nach dem Regen kühlt ſich, wie man
ſo
zu ſagen pflegt, das Wetter ab.
Woher kommt dies? Das
kommt
daher, daß nach dem Regen die Oberfläche der Erde
naß
iſt und nun die Feuchtigkeit zu verdunſten anfängt, das
Regenwaſſer
verwandelt ſich wieder in Dampf (Waſſerdampf).
Hierzu aber iſt Wärme nötig, und dieſe Wärme wird der Luft
und
der Erdoberfläche entzogen;
dadurch werden Luft und
Erde
kühl.
In Städten, wo im Sommer die Straßen fleißig mit
Waſſer
beſprengt werden, iſt es nicht nur angenehm, ſondern
auch
geſund, denn das Verdampfen von Waſſer bindet die
Wärme
und kühlt ſo die Luft ab.
Es iſt aber auch das Umgekehrte der Fall. Ganz ſo wie
die
Hausfrau ſich die Hand verbrüht, wenn ſich der Waſſer-
dampf
auf ihrer Hand in Waſſer verwandelt, ganz ſo wie hier
der
Waſſerdampf die Wärme, die er in ſich hatte, von ſich gab,
indem
er wieder Waſſer wurde, ganz ſo iſt es in der großen
Natur
.
Wenn in der Luft der Waſſerdampf ſich in Regen
verwandelt
, ſo giebt er die Portion Wärme, die er gebunden
hatte
, wieder heraus, und es wird vor dem Regnen und vor
dem
Schneien wärmer.
Wenn es im Winter lau wird, das heißt, wenn plötzlich
die
Kälte nachläßt, ſo weiß man, daß man Schnee oder Regen
bekommt
.
Denn es iſt eben nur darum wärmer geworden,
diß
ſich oben in der Luft der Waſſerdampf in Schnee ver-
wandelt
und ſeine Wärme abgegeben hat.
Wenn im Sommer
die
Sonne ſo recht ſticht, ſo ſagen die Leute:
die Sonne zieht
Waſſer
, es wird regnen.
Das Wahre daran iſt, daß wirklich
ſich
in der Luft der Dampf in Waſſer verwandelt und die
Wärme
von ſich giebt, ſo daß die Leute meinen, die Sonne
ſei
heißer geworden.
Daher aber kommt es auch, daß
8777 Ländern, wo viel Waſſer iſt, es im Sommer kühl iſt, weil
viel
Waſſer da verdunſtet und Wärme verſchluckt, und im
Winter
wärmer, weil viel Waſſerdunſt ſich in Waſſer ver-
wandelt
und ſo Wärme frei läßt.
Und dies hat einen ungeheuren Einfluß auf das Wetter,
einen
Einfluß, der ſich vorausberechnen läßt.
Um ein Beiſpiel anzuführen, ſo iſt die Lage von Berlin
und
London ſo, daß in beiden Städten die Sommerhitze und
die
Winterkälte gleich ſein müßte.
Aber weil ganz England
eine
Inſel im Meere, alſo ungemein viel ſtärker von Waſſer
umgeben
iſt als Deutſchland, iſt die Waſſerverdunſtung in
London
viel größer, alſo der Sommer dort kühler;
und Regen
und
Nebel ſind dort viel häufiger, infolgedeſſen aber auch der
Winter
dort weit weniger ſtreng.
Wir werden nun in der Folge ſehen, wie ähnliche Ver-
hältniſſe
von größtem Einfluß auf ganze Länder ſind und da-
durch
ganz gegen die Regel oft kalte Sommer und warme
Winter
verurſachen.
IX. Witterungsregeln und Störungen derſelben.
Sehen wir nun auf die Naturerſcheinungen in der Luft
im
ganzen und großen, ſo ſind ſie freilich berechenbar, und
man
kann die Witterung im allgemeinen für große Länder-
ſtrecken
mit einiger Sicherheit vorherſagen.
Ja, es giebt Länder,
wo
das Wetter gar nicht wetterwendiſch iſt, ſondern in be-
ſtimmten
Zeiten nach ganz beſtimmten Regeln ſich ändert.
Für die wärmeren Länder ſind die Witterungsregeln ziemlich
beſtändig
und ſicher und man wird dort nicht durch ſolche
Unregelmäßigkeiten
überraſcht wie in unſeren Gegenden.
Im
dortigen
Sommer herrſcht tagtäglich Hitze, Windſtille und
Trockenheit
und im dortigen Winter fortwährender Regen.
8878 manchen Gegenden des tropiſchen Südamerika z. B. tritt zu
einer
beſtimmten Nachmittagsſtunde mit ſolcher Regelmäßigkeit
ein
Gewitter ein, daß die Leute ſich, wie wir unsvor” oder
nach dem Kaffee” zu beſuchen bitten, auf die Zeitvor dem
Gewitter”
undnach dem Gewitter” einzuladen pflegen.
Solche Regelmäßigkeit herrſcht aber nur in den Gegenden,
die
dem Äquator nahe ſind.
Je weiter man ſich von dort
22[Figure 22]Fig. 21.
Kompaß
mit 32 Windrichtungen.
nach den Polen ent-
fernt
, deſto verſchie-
dener
wird der
Sommer
und der
Winter
, die Tages-
und
die Nachtlänge,
die
Hitze und die
Kälte
und ſomit
auch
der Zuſtand
der
Luft und das
eigentliche
Wetter.
Blicken wir hier-
bei
auf die Gegen-
den
, in welchen wir
leben
, ſo iſt es ge-
rade
das nördliche
Europa
, wo das
Wetter
am unregel-
mäßigſten
iſt.
Den Grund dieſer Unregelmäßigkeiten können
wir
jetzt näher angeben.
Wir leben nahezu in der Mitte zwiſchen dem Pol und
dem
Äquator der Erde.
Vom Pol her weht immerfort ein
kalter
Wind, alſo ein Nord- oder vielmehr ein Nordoſtwind;
und oben in der Luft ſtrömt fortwährend ein warmer Wind
vom
Äquator her, alſo ein Süd- oder vielmehr Südweſtwind.

Der
Nordoſtwind kommt aus kalten Gegenden, iſt
8979 noch über weite, waſſerarme Gegenden dahergeweht und führt
alſo
keinen Waſſerdunſt mit ſich;
wir haben alſo bei Nordoſt-
wind
klaren Himmel, folglich haben wir Sonnenſchein, aber
keine
rechte Wärme.
Haben wir dieſen Wind im Winter, ſo
bringt
er uns trockenen Froſt, wo am Tage die Sonne herrlich
ſcheint
und in der Nacht die Sterne köſtlich funkeln, aber meiſt
auch
ſtrenge Kälte herrſcht.
Solche Witterung würde bei uns auch die regelmäßige
ſein
;
allein die obere wärmere Luft ſtrömt, wie wir bereits
wiſſen
, vom Äquator nach dem Pol hin, und wie leben gerade
in
der Gegend, wo dieſe wärmere Luft hinabdringt in die
kalte
und in weiten breiten Strecken den Erdboden berührt und
ſo
warme Luftſtrömungen verurſacht, die mit kalten abwechſeln.
Die warme Luft aber, die der Südweſtwind uns zuführt,
iſt
über den weiten Atlantiſchen Ocean dahergeſtrömt und hat
hier
viel Waſſerdampf in ſich aufgenommen, den ſie ſchon bei
einer
geringfügigen Abkühlung wieder als Regen von ſich giebt.
Daher kommt es, daß uns die Südweſt- und auch Weſtwinde
ſo
häufig Regen bringen, der in ſeiner typiſchſten Form im
Sommer
als ſogenannterLandregen” in tagelangem, eintönigen
Geplätſcher
die Menſchen rein zur Verzweiflung bringt.
Was am Äquator über einander geſchieht, geſchieht
bei
uns meiſt neben einander.
Dort fließt der kalte Luft-
ſtrom
unten und der warme oben;
in unſeren Gegenden
aber
begegnen ſich beide Luftſtrömungen in der Nähe des Erd-
bodens
, kämpfen oft mit einander, ſuchen ſich zu verdrängen,
wechſeln
und wälzen ſich über Länder hin und her und bringen
die
verſchiedenſten Wetter durch einander zum Ärger aller
Wetterpropheten
und zur Erſchwerung der wiſſenſchaftlichen
Löſungen
der Witterungskunde.
9080
X. Die Schwierigkeit und die Möglichkeit der
Wetterverkündigungen.
Nachdem wir nunmehr die feſten Regeln der Witterungs-
verhältniſſe
näher dargelegt und auch nachgewieſen haben, wie
gerade
in unſerer Weltgegend die Witterung ſo ſchwierig zu
berechnen
iſt, wollen wir dieſe Schwierigkeit noch etwas näher
kennen
lernen, indem wir die falſchen Wege bezeichnen werden,
die
man bisher in Erforſchung der Witterungskunde einge-
ſchlagen
hat.
Die Schwierigkeit, für einen beſtimmten Ort das Wetter
zu
prophezeien, liegt darin, daß das Wetter niemals dort zum
Ausbruch
kommt, wo es entſteht.
So iſt z. B. das morgige
Wetter
in Berlin nicht eine Folge des Luftzuſtandes, der heute
in
Berlin herrſcht, denn die Luft iſt in Fortbewegung begriffen
und
wird von Strömungen über Stadt und Land hinweg-
getrieben
.
Wir haben kein unfehlbar ſicheres Mittel, um zu
erkennen
, woher morgen der Wind einherſtrömen wird.
Wir
wiſſen
nur, daß gleichzeitig aus allen Weltgegenden Luftſtröme
im
Umherziehen ſind.
Vom Pol ein kalter Luftſtrom, vom
Äquator
her ein warmer, vom Meer im Weſten her ein feuchter,
vom
aſiatiſchen Feſtland im Oſten her ein trockener.
Alle dieſe
Winde
ſind fortwährend in Thätigkeit und hängen wiederum
genau
mit ihrer von uns noch entfernteren Nachbarſchaft zu-
ſammen
.
Will man alſo aus dem heutigen Berliner Wetter
das
morgige prophezeien, ſo muß man eine Strecke von ein
paar
hundert Meilen mit einem Blicke überſehen können.
Das
heißt
, man muß erſt berechnen, welch ein Wetter heute im
ganzen
hundertmeiligen Umkreis von Berlin ſtattfindet;
man
muß
die Richtungen aller Winde, die auf dieſer großen Strecke
herrſchen
, kennen, muß ihre Stärke meſſen, muß wiſſen, ob ſie
viel
oder wenig Feuchtigkeit enthalten, und dann erſt kann
9181 eine Berechnung anſtellen, mit welcher Geſchwindigkeit das eine
oder
das andere Wetter bei uns eintreffen wird.
Daher iſt das Wetter für den jetzigen Zuſtand
der
Witterungskunde zumeiſt ein Gegenſtand der
Forſchung
vorhandener Erſcheinungen, weniger ein
Gegenſtand
des Vorherſagens kommender Erſchei-
nungen
.
Eine ſolche Vorherſage iſt überhaupt erſt möglich, ſeitdem
man
dahin gekommen iſt, daß Stationen zur Witterungskunde
durch
das ganze Feſtland Europas vorhanden und dieſe durch
elektriſche
Telegraphen verbunden ſind ein Gedanke, der
noch
vor 40 Jahren ungeheuerlich klang.
Seitdem kann man
in
Berlin tagtäglich die Nachricht aus allen Stationen erhalten,
wie
es um die Luftſtröme ſteht und es werden ſogar an jedem
Abend
in den Zeitungen die ſogenanntenWetterkarten” ver-
öffentlicht
, aus denen man mit großer Sicherheit erſehen kann,
wie
das Wetter werden wird.
Es läßt ſich berechnen, welche
Luftſtröme
ſich begegnen und wo ſie ſich begegnen werden,
welche
Wirkung die Bewegung haben wird, und es läßt ſich
angeben
, ob die Spaziergänger ſich am nächſten Tage mit
Paletots
oder Fracks, mit Sonnen- oder Regenſchirmen zu ver-
ſehen
haben.
Im allgemeinen werden unter zehn Wetter-
vorherſagen
unſerer Wetterbureaus ſtets acht bis neun richtige
und
wirklich eintreffende” ſein.
Ferner wird aus den
telegraphiſchen
Witterungsberichten einer großen Reihe von
Küſten-
und Landſtationen das Herannahen von Stürmen
berechnet
, und dies dann nebſt der Richtung, die die Stürme
nehmen
, allen Hafenorten telegraphiert.
Über die zweck-
mäßigſte
Art dieſes für die Schiffahrt ſo wichtigen Dienſtes
werden
noch gegenwärtig Unterſuchungen angeſtellt und Er-
fahrungen
geſammelt.
Dieſe Sturmwarnungen, welche von
einer
Zentralſtation, derDeutſchen Seewarte” in Hamburg,
ausgehen
, haben in den zwanzig Jahren, in welchen dieſe
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher. # 6
9282
Einrichtung beſteht, ſchon unendlich viel Unglück für
unſere
Küſtengegenden verhütet und gehören zu den
ſegensreichſten
Einrichtungen.
XI. Die Wetterpropheten.
Wir wollen hier nur noch in Kürze die Wege be-
zeichnen
, die man bisher in der Erforſchung des Wetters
und
ſeiner Prophezeiung eingeſchlagen.
Zu den verhältnismäßig ſicherſten Angaben gelangt
man
noch mit Hülfe des Wetterglaſes, des Barometers.
Zur Erklärung desſelben kurz das Folgende.
23[Figure 23]Fig. 22.
Wenn man eine an dem einen Ende
verſchloſſene
, genügend lange Röhre mit
Queckſilber
füllt, das andere Ende zuhält,
die
Röhre umkehrt und das offene Ende in
Queckſilber
ſtellt, Fig.
22, ſo fließt das
flüſſige
Metall nicht aus, ſondern bleibt bis
zu
beſtimmter Höhe im Glaſe ſtehen, weil
der
äußere Luftdruck der Queckſilberſäule
ein
Gegengewicht bietet.
Der Barometer, Fig. 23, beſteht eben-
falls
aus einer mit Queckſilber gefüllten
Glasröhre
, die oben geſchloſſen, unten an
ihrem
umgebogenen Ende offen iſt.
An
dieſer
Glasröhre iſt eine Teilung ange-
bracht
mit den verſchiedenſten Wetterbezeich-
nungen
;
am weiteſten nach obenſehr
trocken”
, dannbeſtändig”, dannſchön
Wetter”
bis zumSturm”, der am weiteſten
nach
unten verzeichnet iſt.
Das Queckſilber in der
9383 verändert nun ſeine Stellung ſehr oft, und ſoll je nach ſeinem
Stande
das Wetter anzeigen.
24[Figure 24]Fig. 23.
Sind nun die Angaben des Barometers
immer
richtig?
und was für eine Be-
wandtnis
hat es mit dieſem Queckſilber,
das
ſo genau das Wetter angeben kann?
Hierauf giebt die Wiſſenſchaſt folgende
Antwort
:
Der Stand des Queckſilbers in
der
Barometerröhre hat mit dem, was wir
Wetter
überhaupt nennen, eigentlich nichts
zu
thun.
Es zeigt uns einzig und allein
die
Stärke des jeweilig herrſchenden Luft-
druckes
an.
Drückt die Luft ſtärker, iſt ſie
ſchwerer
geworden, ſo ſteigt das Queck-
ſilber
in die Höhe.
Iſt die Luft hingegen
leichter
, dann drückt ſie weniger ſtark und
das
Queckſilber ſinkt.
Wodurch kann nun aber der Luftdruck
an
Stärke ab- oder zunehmen?
Die augen-
blicklich
herrſchende Anſicht darüber iſt die
folgende
:
Es iſt eine feſtſtehende Thatſache,
daß
warme Luft leichter iſt als kalte, da-
her
beim Zuſammentreffen mit dieſer in
die
Höhe ſteigt (ſ.
oben S. 61). Wird nun
durch
Sonnenſtrahlung die Luft über einem
großen
Ländergebiet ſtark erwärmt, ſo
dehnt
ſich die Luft aus, und es entwickelt
ſich
ein aufſteigender Luftſtrom.
Die in
die
Höhe ſteigende Luft fließt nun aber,
damit
das Gleichgewicht hergeſtellt wird,
ſeitwärts
ab.
Dadurch verringert ſich die
über
dem Beobachtungsort lagernde Luft-
maſſe
, der Luftdruck ſinkt, und daher muß das
9484 fallen. Wenn nun aber die aufſteigenden Luftſtröme ſich in
den
oberen Regionen allmählich abkühlen, ſo können ſie nicht
mehr
ſo viel Waſſerdampf aufgelöſt in ſich enthalten, als ſie
es
bei der höheren Temperatur am Erdboden vermochten:
der
Waſſerdampf
, bis dahin unſichtbar, “kondenſiert” ſich, bildet
Wolken
und fällt bei noch ſtärkerer Abkühlung als Regen
heraus
.
Daher kommt es, daß bei fallendem Barometer ſo
oft
Regen eintritt;
man ſieht aber auch gleichzeitig, daß das
Fallen
des Barometers und der Regenguß nur zufällige Begleit-
erſcheinungen
ſind, daß ſie an und für ſich nichts mit einander
zu
thun haben.
Enthält der aufſteigende Luftſtrom wenig
Waſſerdampf
, ſo kann das Barometer fallen, ohne daß Wolken-
bildung
und Regenfall ſtattfinden.
Das Barometer kann dabei
auf
Regen” deuten und doch bleibt das Wetter ſchön;
hat
aber
deshalb das Barometerfalſch gezeigt”?
Keineswegs.
Falſch doch nur inſofern, als die dem Barometer meiſt bei-
gefügten
AngabenBeſtändig”, “Schön”, “Veränderlich”,
Regen”, “Sturm” u.
ſ. w. keineswegs zutreffend zu ſein
brauchen
, ſondern willkürlich dem Barometer vom Verfertiger
hinzugefügt
wurden.
Und wie kommt ein Steigen des Luftdrucks zuſtande?
Nun, wenn im Winter z. B. eine ſtarke Abkühlung der Erd-
oberfläche
ſtattfindet, durch Ausſtrahlung in klaren Nächten,
zumal
bei einer ausgebreiteten Schneedecke, ſo zieht ſich die
Luft
ſtark zuſammen, die über einem Ort liegende Luftſäule
nimmt
alſo ein geringeres Volumen ein als zuvor, es entſteht
cine
Art Trichter in der Atmoſphäre, in den von allen Seiten Luft einſtrömt.
Dadurch wird das Luftvolumen aber bedeutend
vermehrt
, der Luftdruck und mit ihm das Barometer ſteigt.
Gleichzeitig treten abſteigende Luftſtröme auf, welche imſtande
1
11Tieſe ſehr rohe Vorſtellung iſt nur bildlich zu nehmen. In
Wirklichkeit
ſind die Verhältniſſe viel komplizierter.
9585 ſind, eine eventuell vorhandene Wolkendecke aufzulöſen, indem
ſie
ihren Waſſergehalt verſchlucken, und auf dieſe Weiſe ſchönes,
klares
Froſtwetter herbeizuführen.
Dieſe ganze Theorie ſtellt nur in groben Grundriſſen die
Verhältniſſe
in der Atmoſphäre dar.
Es laſſen ſich, wie der
Leſer
wohl bemerkt haben wird, noch mancherlei Fragen ſtellen,
die
durch die Theorie nicht beantwortet werden.
Sie bedarf
noch
ſehr des Ausbaus und der Vervollkommnung, doch wird
der
Leſer wenigſtens durch die obigen Darlegungen eine un-
gefähre
Vorſtellung von der Entſtehung des guten und ſchlechten
Wetters
und vom Wert des Barometers bekommen haben.
XII. Die Wetterkarten und ihre Anwendung.
Wir erwähnten oben, daß ſich aus den Wetterkarten, wie
ſie
täglich in faſt allen größeren Zeitungen veröffentlicht werden,
mit
recht großer Sicherheit die künftige Witterung vorherſagen
läßt
.
Allerdings kann nicht ohne weiteres ein jeder die Vorher-
ſage
machen;
wer aber einige Wochen und Monate aufmerkſam
die
Karten ſtudiert, erkennt gar bald gewiſſe Regelmäßigkeiten
und
Geſetzmäßigkeiten in den Karten, deren Kenntnis vollauf
genügt
, um jedem eine Vorherſage zu ermöglichen.
Im
folgenden
ſoll eine kurze Anleitung zum Studium jener Karten
gegeben
werden.
Auf einer Wetterkarte, wie ſie unſere Fig. 24 veranſchau-
licht
, ſehen wir eine Karte Europas.
Wir ſehen darauf ſtets
eine
Reihe von eigentümlichen Linien gezogen, deren Verlauf
an
jedem Tage ein anderer iſt.
Dieſe Linien werden von der
meteorologiſchen
Zentralſtation Deutſchlands, derSeewarte”
in
Hamburg, in die Landkarte täglich eingezeichnet und ver-
binden
diejenigen Orte, in welchen morgens um 8 Uhr genau
gleicher
Barometerſtand herrſcht.
Der Luftdruck iſt
9686 ebenſo ſchwer wie die Queckſilberſäule im ſogenanntenQueck-
ſilber-Barometer”
in jedem Augenblick:
fällt” das Queckſilber
in
der Röhre, ſo nimmt ſein Gewicht ab, alſo auch das der
über
uns lagernden Luft, ſteigt es, ſo erhöht ſich der Luft-
druck
.
Die Höhe der Queckſilberſäule wird in Millimetern gemeſſen (im Durchſchnitt beträgt ſie 760 Millimeter), und die
Anzahl
der Millimeter wird nun an jedem Morgen von zahl-
25[Figure 25]Fig. 24.
Wetterkarte
.
766 770 775 776 776 775 765 770 770 765 760 770 765 760
reichen Stationen Euro-
pas
an die Hamburger
Seewarte depeſchiert.
Wenn man nun die Orte
mit
gleichem Barometer-
ſtand
(750, 755, 760,
765
, 770 A.
mm, alſo
von
5 zu 5 Millimetern)
durch
Linien verbindet,
ſo
kann man mit größter
Leichtigkeit
alsbald er-
kennen
, wo an dem be-
treffenden
Morgen der
tiefſte
Barometerſtand,
das
ſogenanntebaro-
metriſche
Minimum”, ſich
befindet
.
In dieſem Ge-
biet
herrſcht, wie wir geſehen haben, ein aufſteigender Luft-
ftrom
, und die fortſtrömende Luft wird dann erſetzt, indem
von
allen Seiten her die Luft zuſtrömt als Wind.
Durch
die
Erddrehung wird bewirkt, daß die Winde nicht genau
ins
Zentrum desMinimums” einſtrömen, ſondern etwas ſeit-
wärts
abgelenkt werden, ſo wie es unſere Fig.
25 veran-
1
11Man follte meinen, dieſe Gewichtsänderungen der Luft müſſe man
mit
dem Gefühl wahrnehmen, doch jind ſie dazu viel zu gering.
9787 ſchaulicht. Man ſpricht daher auch von barometriſchen
Wirbeln”.
Und zwar gilt das Geſetz: das barometriſche
Minimum
wird von den Winden
im umgekehrten
Sinne
des Uhrzeigers umkreiſt
.
Iſt das Minimum
ſehr
tief, ſo kann man ſehen, daß die Witterung Deutſchlands,
Öſterreichs
, Frankreichs, Englands, Skandinaviens u.
ſ. w.
gleichzeitig beeinflußt wird, indem die Winde des ganzen großen
Gebietes
alle jenem einen Wirbel zuſtrömen.
Je tiefer das
Minimum
iſt, um ſo ſtärker ſind dieLuftdruckgegenſätze”, um
ſo
zahlreicher die eingetragenen Linien gleichen Barometer-
26[Figure 26]Fig. 25.Gebiet
hohen

Drucks
.
Gebiet

niedrigen

Drucks
.
ſtandes (die ſogenanntenIſobaren“), um ſo heftiger die
Winde
und um ſo verbreiteter die Niederſchläge.
Sieht man nun am nächſten Tage ſich die Wetterkarte
wieder
an, ſo bemerkt man, daß das Minimum eine andere
Lage
einnimmt als am Tage zuvor:
in den meiſten Fällen iſt
es
dann nach Oſten weitergewandert.
Wenn nun noch hinzu-
gefügt
wird, daß die Minima ganz beſtimmte Zugſtraßen zu
bevorzugen
pflegen, welche auf der Landkarte in Fig.
26 durch
Schraffierung
kenntlich gemacht ſind, ſo wird man ſich nicht
wundern
, daß man die Lage des Minimums mit einiger Be-
ſtimmtheit
24 Stunden vorherſagen kann.
Daraus aber
9888 ſich der Wind berechnen, und daraus wieder ungefähr, ob das
Wetter
kalt oder warm, heiter oder trübe werden wird.
Je näher nun die Zugſtraße des Minimums an Deutſchland
herankommt
, um ſo ungünſtiger pflegt unſere Witterung beein-
27[Figure 27]Fig. 26.
Die
häufigſten Zugſtraßen der barometriſchen Minima.
Zugstrassen der
Minima

1876
bis 1880.
Id Ic Ib II Ia III IVa IVb Ya Yb Yc Yd
flußt zu werden;
iſt das Minimum ſehr tief und ſind die Iſo-
baren
ſehr zahlreich, ſo depeſchiert die Seewarte ſofort an alle
Küſtenſtationen
und erläßt eineSturmwarnung“, welche
bis
zu einem gewiſſen Grade faſt immer zutreffend ſein wird.
9989
Nun aber enthält die Wetterkarte auch Angaben über die
Morgen-Temperaturen
an den Beobachtungsſtationen, über
Regen
, Nebel, Schnee oder Gewitter, über den Grad der Be-
wölkung
, über Windſtärke und -richtung.
Die Vorherſage kann
daher
mit um ſo größerer Sicherheit geſtellt werden.
Freilich muß man immer bedenken, daß ſich nur ſolche
Witterungserſcheinungen
vorherſagen laſſen, die ſich über einen
großen
Teil des Landes gleichzeitig erſtrecken.
Wenn z. B. für
Nordoſtdeutſchland
Gewitter prophezeit werden, ſo heißt dies:
in dem ganzen großen Gebiet von der Elbe bis an die ruſſiſche
Grenze
und an die Oſtſee werden morgen vielfach Gewitter
auftreten
und dieſe Prognoſe wird auch ſtets zutreffend ſein,
nicht
aber etwa heißt es:
an allen Orten des Landes wird
es
gewittern.
Es iſt daher ſehr thöricht, ſich über die Wetter-
prognoſe
luſtig zu machen und die Prophezeier alshinein-
gefallen”
zu bezeichnen, wenn an unſerm Wohnorte zufällig
kein
Gewitter ſtattfindet.
Aber es iſt eine allgemein verbreitete
Unſitte
, die Richtigkeit bezw.
Falſchheit der Vorherſage nur
an
der Witterung des eigenen Wohnortes zu prüfen und gar
nicht
erſt nachzuforſchen, ob nicht an anderen Teilen des Landes
die
Prognoſe ſich vollauf beſtätigt hat.
Das aber kann man
füglich
nicht von den Meteorologen verlangen, daß ſie für
einen
kleinen, engbegrenzten Ort die Witterung genau vorher-
ſagen
, da die verſchiedenen Einflüſſe der Witterung gar zu
ſchnell
ſich ändern, und zwar in einer ganz unberechenbaren
Weiſe
.
So weit werden wir natürlich nie kommen, daß wir etwa
ſagen
können:
morgen um 8 Uhr 18 Minuten früh wird es in
Berlin
anfangen zu regnen, um 11 Uhr 27 Min.
wird es wieder
klar
werden;
um 3 Uhr 41 Min. kommt ein Gewitter herauf,
das
um 4 Uhr 2 Min.
in der und der Straße einſchlägt u. ſ. w.
u. ſ. w. Es wäre ja lächerlich, ſo etwas von der heutigen
Wetterkunde
verlangen zu wollen.
10090
Ganz anders verhält es ſich dagegen mit der Prognoſe
von
Stürmen, da dieſe ja faſt ſtets ſich über einen großen
Teil
Landes erſtrecken und ihre Vorzeichen in den Iſobaren
der
Wetterkarte zu erkennen geben müſſen.
Da die Küſte durch
Stürme
natürlicherweiſe am meiſten gefährdet wird, ſo wird
28[Figure 28]Fig. 27.
Wetterkaſten
.
ſie auch zuerſt gewarnt.
Sobald nun von einigen Stationen
ein
ſehr ſchnelles und ſtarkes Fallen des Barometers nach Ham-
burg
depeſchiert worden iſt, wird ſofort an alle Küſtenſtationen
das
Notwendige weiter telegraphiert.
An jeder größeren Küſten-
ſtation
iſt eine meteorologiſche Beobachtungsſtation, welche
10191 einer leicht zugänglichen Stelle alle Wettermeldungen imWetter-
kaſten”
(Fig.
27) der Bevölkerung mitteilt. Außerdem werden
weithin
ſichtbare Signale gegeben, welche die Annäherung des
Sturmes
verkünden, und ſo kann in wenigen Stunden die
ganze
deutſche Nord- und Oſtſeeküſte von der drohenden Gefahr
unterrichtet
ſein.
Seit 20 Jahren erſt beſteht dieſe Einrichtung,
die
Segnungen aber, welche ſchon jetzt die Küſtenbevölkerung
ihr
verdankt, ſind unſagbar groß.
Vielleicht hat dieſe kleine Betrachtung gezeigt, daß die
Wetterprognoſen
eine ganz unſchätzbare Einrichtung ſind.
Möge
jeder
, der ſich für dies Thema intereſſiert, nunmehr ſelbſt regel-
mäßig
die Wetterkarten ſtudieren:
er wird nach einer kleinen
Mühe
viel Freude daran haben!
XIII. Hat der Mond Einfluß auf das Wetter?
Der Glaube, daß der Mond Einfluß habe auf die Witte-
rung
, iſt ein ſehr verbreiteter, nicht nur im Volke, ſondern zu-
weilen
auch unter Gebildeten.
Was dieſe zu ſolcher Annahme
verleitet
, iſt nicht die wirkliche Beobachtung der Natur, ſondern
folgender
Schluß, der einen Schein von Wahrheit für ſich hat.
Wenn ſo ſagen viele der Mond ſo viel Einfluß auf das
Waſſer
des Meeres hat, daß er Ebbe und Flut erzeugt, ſo
muß
er auf das Luftmeer noch weit größeren Einfluß ausüben
und
ſomit auch auf das Wetter von weſentlichem Einfluß ſein.
Wie kommt denn Ebbe und Flut zu ſtande? Der Mond
zieht
das Waſſer der Meere zu ſich an, und dieſes ſtrömt nun
denjenigen
Orten zu, denen der Mond gerade am nächſten
ſteht
.
An dieſen Orten ſtaut ſich daher das Waſſer zu einer
größeren
Höhe als ſonſt auf:
es herrſcht hier Flut. Das Waſſer
wird
nun am ſtärkſten fortgezogen von denjenigen
10292 für welche der Mond im gegebenen Moment gerade im Horizont
ſteht
(hier herrſcht Ebbe), während auf der dem Mond abge-
wandten
Erdſeite das Waſſer nicht gut den genannten Orten zu-
ſtrömen
kann, da der gerade Weg dorthin durch die feſte Erde
verſperrt
iſt und das Waſſer doch nicht gut in weitem Bogen
dorthin
ſtrömen kann.
Unſre Fig. 28 ſtellt dieſe Verhältniſſe
dar
.
Der mit M bezeichnete Körper ſoll der Mond ſein, der
große
kreisrunde Körper die Erde;
die punktierten Linien zeigen
dann
an, wie ſich das Meereswaſſer verteilt und der Anziehung
des
Mondes folgt.
So haben denn die Orte, für welche der
29[Figure 29]Fig. 28.N @ a a1 S Mond gerade auf- oder untergeht,
tiefſte
Ebbe, diejenigen, welchen er am
nächſten
iſt, höchſte Flut, diejenigen,
welche
auf der abgewandten Erdſeite
liegen
, niedrigere Flut.
Da nun die
Erde
ſich im Lauf eines Tages einmal
um
ſich ſelbſt dreht, ſo wird man bei
einigem
Nachdenken einſehen, daß jeder
Ort
der Küſte zweimal an einem Tage
Flut
und zweimal Ebbe haben muß.
Man ſollte nun meinen, auch im
Luftmeer
gäbe es durch die Anziehung des Mondes eine ſolche
Ebbe
und Flut, welche vielleicht die Witterung zu beeinfluſſen
vermöchte
.
An ſich aber iſt dies eine Täuſchung. Schon der
große
Laplace hat bewieſen, daß die größere Schwere einer
Flüſſigkeit
eine größere Ebbe und Flut hervorruft.
Wäre das
Meer
ſtatt mit Waſſer mit Queckſilber gefüllt, ſo würde Ebbe
und
Flut eine furchtbare Höhe erreichen.
An ſich alſo iſt Ebbe
und
Flut in der leichten Luft wohl vorhanden, aber verhältnis-
mäßig
geringer, als im ſchweren Waſſer.
Zudem aber wohnen
wir
nicht an der Oberfläche der Luft, ſondern in der unterſten
Schicht
des Luftmeeres, und die Einflüſſe dieſer Ebbe und Flut
ſind
ſo außerordentlich unmerkbar auf dieſer unteren
10393 wo eigentlich das Wetter vor ſich geht, daß man ſie trotz der
fleißigſten
Barometer-Beobachtungen kaum hat beſtimmen können.
Gleichwohl haben die Gelehrten ſo viel Reſpekt vor dem
Volksglauben
gehabt, daß gründliche Unterſuchungen und Be-
obachtungen
angeſtellt worden ſind, um die Frage zu erledigen.
Die geführten Unterſuchungen ſind dreierlei Art geweſen.
Erſtens, welchen Einſluß hat die Nähe oder die Ent-
fernung
des Mondes von der Erde auf das Wetter, in Bezug
auf
Kälte und Wärme?
Zweitens, welchen Einfluß, hängt
dies
auf Regen oder Trockenheit der Luft?
Drittens, hängt
die
Verſchiedenheit der Witterung irgendwie mit dem Wechſel
des
Mondlichts zuſammen?
Es hat ſich durch genaue Beobachtungen und Berechnungen
ergeben
, daß freilich der Mond nicht ganz ohne Einfluß auf
den
Zuſtand der Luft iſt;
aber dieſer Einfluß iſt ſo außer-
ordentlich
gering
, daß er für die Witterungskunde ganz
und
gar verſchwindet
.
Die gründlichſte Unterſuchung iſt über den Einfluß des
ab-
und zunehmenden Lichtes des Mondes auf das Wetter ge-
führt
worden, weil gerade hierüber die größte Täuſchung ob-
waltet
.
Aber auch hier hat ſich ergeben, daß der Unterſchied
im
Wetter abſolut gar nicht exiſtiert, und daß es ein reiner
Aberglaube
iſt, wenn die Leute behaupten, daß beim Mond-
wechſel
auch das Wetter ſich ändert.
Der Lichtwechſel des
Mondes
findet ja auch nicht plötzlich ſtatt, ſondern ganz un-
merklich
und äußerſt regelmäßig von Tag zu Tag, von Minute
zu
Minute, während das Wetter namentlich in unſerer Gegend
oft
plötzlich umſchlägt.
Es ſteht daher feſt, daß man zur Witterungskunde nur
die
Erde und ihre Stellung zur Sonne, ferner die Luft-
ſtrömungen
und die Lage von Land- und Waſſerſtrecken zu
beobachten
hat und die anderen Himmelserſcheinungen ganz
und
gar aus dem Spiele laſſen muß.
104
Yon der @lüte und der Frucht.
I. Die Flora und der Menſch.
Wie ſehr die Kinder Floras die Lieblinge des ganzen
Volkes
ſind, läßt ſich überzeugend ſchon allein unſerer Sprache
entnehmen
:
ſo ſprechen wir von den Blüten der Kunſt, von
dem
Keim der Liebe und Freundſchaft, und wir wiſſen keinen
beſſeren
Vergleich für das Schönſte, das uns die Erde bietet,
zu
finden, als es mit der Geſamtheit des Pflanzenreichs zu
vergleichen
, indem wir von dem Flor der Jungfrauen reden.
So alſo ſpricht unſer Gefühl; doch wir müſſen unſerem
Verſtande
die Zügel überlaſſen, der uns den Weg weiſen ſoll,
unſere
Lieblinge zu erkennen.
Es iſt ſpeziell das Fortpflanzungsſhſtem, jenes Shſtem,
das
der Erhaltung der Geſchlechter gewidmet iſt, das uns be-
ſchäftigen
ſoll, und zwar deshalb, weil hierher die Blüten ge-
hören
und insbeſondere diejenigen Blüten, die wegen der
Schönheit
ihrer Formen, Färbungen und wegen ihrer Wohl-
gerüche
unſer Wohlgefallen in hohem Maße verdienen, und die
wir
durch den beſonderen Namen Blumen auszeichnen.
II. Fortpflanzung durch Teilung.
Die einfachſten Gewächſe pflanzen ſich auch in einfachſter
Weiſe
fort;
ſobald ein ſolches Weſen eine beſtimmte Größe
und
Ausbildung erreicht hat, zerfällt es in zwei gleiche
10595 die heranwachſen und wiederum eine einfache Teilung eingehen
und
ſo fort.
Als Beiſpiel nehmen wir die einzellige, kugelige
Alge
, die auf unſerer Abbild.
29 bei I veranſchaulicht wird.
Sobald ſie ausgewachſen iſt, entſteht eine Wand, welche den
ſchleimig-flüſſigen
Inhalt in zwei Teile ſondert.
Die ſo ent-
ſtandenen
beiden Zellen beginnen ſich zu individualiſieren (II),
indem
ſie ſich von einander abſchnüren;
die Einſchnürung
nimmt
mehr und mehr zu und endlich werden die beiden Zellen
frei
:
trennen ſich von einander (III).
Es entſtehen alſo hier neue Weſen einfach durch das Zer-
fallen
eines der urſprünglichen in mehrere, wie wir das ſchon
an
dem S.
28 Fig. 6
abgebildeten
Tier ken-
30[Figure 30]Fig. 29.
Einzellige
Alge (Pleurococcus vulgaris in etwa 400 facher Vergrößerung.
I II III
nen gelernt haben.
Ein
weiterer
Schritt iſt es
ſchon
, wenn an einer
beſtimmten
Stelle des
Pflanzenleibes
Gebilde
hervorſprießen
, die, ſich
vom
Mutterkörper loslöſend, neue Individuen erzeugen.
Die Fig. 30 abgebildete Alge z. B. pflanzt ſich unter
anderem
dadurch fort, daß an den in der Nährſubſtanz, mit
anderen
Worten an den unterirdiſchen Teilen c Teile d ent-
ſtehen
, die nach dem Abſterben der Pflanze ausdauern und
aus
denen bei günſtiger Gelegenheit neue Iudividuen hervor-
gehen
.
Die Teile a und b ragen aus dem Nährboden hervor.
Auch dieſer Vorgang iſt eine einfache Teilung des Mutter-
körpers
, aber der letztere bleibt in ſeiner Individualität er-
kennbar
und der kleine Teil, den er als Keimkörper abgeſtoßen
1
11Die Naturſorſcher haben den Lebeweſen internationale Namen
gegeben
, die meiſt der lateiniſchen aber auch der griechiſchen Sprache ent.
nommen
ſind.
10696 hat, bedarf einer längeren Wachstumsperiode, um das Aus-
ſehen
und die Größe des Mutterkörpers zu erreichen.
Auch
manche
höheren Pflanzen können ſich durch Bildung von Keim-
körpern
der bezeichneten Art fortpflanzen.
Wir brauchen hier
31[Figure 31]Fig. 30.b b a c d c d c c nur an die Kartoffel zu
denken
, deren Knollen
unterirdiſche
Stengel-
anſchwellungen
ſind,
die
ſich durch Ab-
ſterben
der verbinden-
den
, dünnen Stengel-
teile
von der Mutter-
pflanze
trennen und
neue
Individuen er-
zeugen
.
Ihnen ſind
für
die Dauer ihrer
erſten
Jugend reich-
liche
Nährſtoffe in der
Knolle
gegeben.
Denn
die
Knollen ſind Speiſe-
kammern
, die wir uns
ja
bekanntlich zu nutze
machen
:
Vorratsbehälter namentlich für Stärke und Waſſer,
welche
Produkte die ſorgſame Mutterpflanze ihren Kindern als
erſten
Lebensunterhalt bietet.
III. Die geſchlechtliche Fortpflanzung.
Allein nur die allereinfachſten Pflanzen begnügen ſich mit
der
geſchilderten Fortpflanzungsart, alle übrigen Gewächſe be-
beſitzen
noch eine andere Weiſe der Fortpflanzung, die ſehr
vielen
höheren Weſen ſogar ausſchließlich eigen iſt.
10797
Bevor wir auf dieſelbe eingehen, muß erwähnt werden,
daß
die Pflanzen und überhaupt alle organiſchen Weſen, ſofern
ſie
nicht bloß einfache Schleimklümpchen vorſtellen, aus meiſt
mikroſkopiſch
kleinen Kämmerchen zuſammengeſetzt werden, die
die
ſchon erwähnte
32[Figure 32]Fig. 31.
Spirogyra
. Stark vergrößert.
a b C c d Sp I III II
ſchleimig flüſſige
Subſtanz
, das iſt
die
eigentliche le-
bende
Subſtanz,
enthalten
, die der
Naturforſcher
Pro-
toplasma
oder

ſchlechtweg
Plas-
ma
nennt.
Die in
Rede ſtehenden
Kämmerchen
wer-
den
als Zellen
bezeichnet
.
Nun, bei der Art
Fortpflanzung
, die
jetzt
zu beſprechen
iſt
, werden zweierlei
Sorten
von ſolchen
Zellen
erzeugt, die
einzeln
, für ſich,
nicht
entwickelungs-
fähig
ſind und erſt,
nachdem
der In-
halt
zweier ſolcher Zellen ſich materiell vereinigt hat, keim-
fähige
Gebilde liefern.
Dieſe beiden Zellen ſind entweder in
Form
und Größe durchaus gleich, in der Mehrzahl der Fälle
jedoch
iſt die eine kleiner, die andere größer.
Um das Geſagte
verſtändlicher
zu machen, ſei ein Beiſpiel vorgeführt.
a. Bernftein, Raturw. Volksbücher.
10898
Unſere Abbildung Fig. 31 zeigt bei II ein vier- und ein
fünfzelliges
Stück gewiſſer jener grünen, feinen Algenfäden, die
in
unſeren Teichen, Steine und dergleichen überziehend, überall
zu
finden ſind, neben einander liegend und in eigentümlicher
Weiſe
mit einander verwachſen.
Urſprünglich war jeder dieſer
beiden
Fäden frei wie das Fadenſtück I:
ſie haben ſich ihrer
Länge
nach parallel an einander gelegt und die gegenüber
liegenden
Zellen der Fäden haben zuerſt kleine Ausſackungen,
die
gegen einander gerichtet ſind, gebildet, wie dies bei a und b
zu
ſehen iſt.
Dieſe Ausſackungen ſtellen wie c veranſchau-
licht
durch Auflöſung der trennenden Wand eine offene
Verbindung
zwiſchen den beiden Zellen her.
Der eigentümlich
geſtaltete
, ſchleimig-flüſſige (protoplasmatiſche) Inhalt jeder
Zelle
mitſamt dem grünen Spiralbande hat ſich zu einer
Kugel
zuſammengeballt, und der Inhalt der einen iſt ſchließ-
lich
in die andere Zelle durch den entſtandenen Kanal hinüber-
gewandert
, um hier mit der Protoplasma-Kugel dieſer Zelle
zu
verſchmelzen.
Bei c iſt der Inhalt der Zelle links auf
der
Wanderung in die Zelle rechts und Vereinigung mit dem
Inhalt
derſelben begriffen.
Bei d iſt die Vereinigung voll-
zogen
, und das entſtandene protoplasmatiſche Gebilde Sp um-
giebt
ſich dann (III) mit einer feſten Haut.
Dieſes Gebilde
(III) nun wächſt unter günſtigen Bedingungen und nachdem
es
eine Ruheperiode im Grunde des Gewäſſers durchgemacht
hat
, zu einem neuen Algenfaden aus.
Die geſchilderte Fortpflanzungsweiſe iſt die, die man die
geſchlechtliche nennt.
IV. Blumen und Blüten.
Nur ſo viel über die einfacheren Fortpflanzungsorgane.
Wir wollen nach dieſer Vorbereitung zu einer näheren Be-
trachtung
der höheren Pflanzen eingehen, um zur
10999 unſerer Frage zu gelangen: Was ſind Blumen? Wir
wollen
alſo wiſſen, was ſie in der freien Natur ſind, ſie, die
unſer
Leben ſchmücken, den Dichter zur Begeiſterung anfachen
und
bei ihrer Schönheit und doch ſo ſchnellen Vergänglichkeit
dem
Sorgenloſen ein Sinnbild ſind, die flüchtige Gegenwart
zu
genießen und der Dornen nicht zu achten, die doch ſelbſt
der
Königin unter den Blumen, der Roſe, nicht fehlen!
Bei den höheren Pflanzen ſind nicht alle Zellen imſtande,
ſich
zu vereinigen, wie bei den vorgeführten Algenfäden,
ſondern
nur ganz beſtimmte Zellen des Pflanzenkürpers ver-
mögen
eine Verſchmelzung einzugehen, um eine einzige, neue
Zelle
zu bilden, aus der dann ein neues Individuum hervor-
geht
.
Die beſtimmten Körperſtellen, in denen dieſe Zellen er-
zeugt
werden, ſind nun die Blüten, und die wunderbaren
Einrichtungen
, welche dieſe aufweiſen, haben den ausſchließ-
lichen
Zweck, die Verſchmelzung jener beiden Sorten von Zellen
herbeizuführen
.
Aber der Vorgang iſt nur verſtändlich, wenn
wir
wiſſen, wie eine Blüte gebaut iſt, und ſo ſei denn der
Blütenbau
zuvörderſt an einem Beiſpiel erläutert.
V. Bau der Blüten.
Wir wählen eine Blüte, die einfache Verhältniſſe zeigt,
und
ſchauen hinein.
Unſere Abbildung 32 ſtellt eine Blüte der Nieswurz dar.
Sie zeigt uns zu äußerſt, beziehungsweiſe zu unterſt, fünf
Lappen
:
das ſind fünf Blätter der ſogenannten Blütendecke,
Bd
.
Sie umgeben in einem Kreiſe ſtehend die anderen
Blütenorgane
.
Im Innern unſerer Blüte erblicken wir eine
Anzahl
Fäden, die an ihrem Gipfel je einen Beutel, den
Staubbeutel, St, tragen;
derſelbe öffnet ſich zu gelegener
Zeit
und entläßt ein äußerſt feines Pulver, den Blütenſtaub
11010033[Figure 33]I. Blüte der Nieswurz, Helleborus niger.St Bd Fr Ne34[Figure 34]II. Dieſelbe von der Seite geſchen nach Wegnahme der vorderen Hälfte.
Fig
. 32.
Na Fr G St Bd Ne E
111101(Pollen). Staubbeutel und Staubfaden zuſammengenommen
machen
ein Staubblatt aus.
Wir werden ſehen, daß die
Staubblätter
die männlichen Organe ſind.
Den Mittelpunkt
der
Blüte nehmen die Stempel, die weiblichen Organe, ein,
die
am Grunde eine bauchige Erweiterung, den Frucht-
knoten
, Fr, zeigen.
Der Fruchtknoten trägt ein ſtielförmiges
Gebilde
, den Griffel, G, der an ſeinem Gipfel in ein klebrig-
feuchtes
Ende, die ſogenannte Narbe, Na, ausläuft.
Nicht
immer
iſt die Blütendecke einfach, wie in unſerem Fall, häufig
ſcheidet
ſie ſich in einen äußeren, meiſt kleineren und grünen
Teil
:
den Kelch, und in einen zarten, prächtig gefärbten
größeren
Teil:
die Krone.
Man hat in dem gewählten Falle der Nießwurz triftigen
Grund
anzunehmen, daß die in unſeren Figuren mit Ne be-
zeichneten
Gebilde, die einen ſüßen Saft, denNektar“, oder
weniger
gutHonig”, ausſondern und enthalten, im Laufe der
Generationen
aus der inneren Blütendecke hervorgegangen
ſind
, ſo daß demnach der einzige Kreis der Blütendecke Bd
dem
Kelch entſprechen würde.
Die zwiſchen Bd und den
Staubblättern
St eingeſchalteten Tüten bezeichnet man als
Nektarien, weniger gut als Honigbehälter oder -Gefäße
oder
mit Sprengel als Saftbehältnis:
auf die hohe Wichtig-
keit
dieſer Organe im Leben der Blumen werden wir gleich
eingehen
.
Durchſchneiden wir den Fruchtknoten Fr der Länge nach,
ſo
ſehen wir ihn hohl und eine Längsſeite trägt kleine,
eiförmige
Körper E, aus denen unter gewiſſen Bedingungen
die
Samen werden, alſo jene Gebilde, die in den Erdboden
gebracht
, zu neuen Pflanzenindividuen auswachſen.
112102
VI. Die Beſtäubung.
Damit aber die erwähnten eiförmigen Gebilde der
Botaniker
nennt ſie Samenanlagen damit alſo die Samen-
anlagen
zu Samen werden, d.
h. damit ſie keimfähig, reif
werden
, iſt eine vorbereitende Arbeit notwendig.
Es muß
nämlich
Blütenſtaub.
auf die Narbe des Stempels gelangen.
Jedes einzelne, nur bei ſehr ſtarker Vergrößerung ſichtbare,
Körnchen
des Blütenſtaubes, von denen jedes aus einer einzigen
Zelle
beſteht, wächſt auſ die Narbe gebracht zu einem
mikroſkopiſch-feinen
Schlauch aus, der durch den Griffel des
Stempels
hindurchwächſt, bis er den Fruchtknoten und in dem-
ſelben
die Samenanlagen erreicht.
Dieſen giebt er etwas von
ſeinem
protoplasmatiſchen Inhalt ab und erſt dann vermögen
die
Samenanlagen zu Samen zu werden, dann erſt ſind ſie in
der
Lage zu reifen.
Die Übertragung des Blütenſtaubes auf
die
Narbe nennt man Beſtäubung.
Die Beſtäubung der Narben mit Blütenſtaub hat nur
dann
eine zweckentſprechende Wirkung, wenn eine Kreuz-
beſtäubung
ſtattgefunden hat, d.
h. wenn der Blütenſtaub einer
fremden Pflanze (natürlich derſelben Pflanzen-Art) auf die
Narbe
gebracht wird, ſo daß eine Beſtäubung der Narben
mit
Blütenſtaub derſelben Blüte, oder anders ausge-
drückt
ſo daß eine Selbſtbeſtäubung, Selbſtbefruchtung,
in
vielen Fällen unwirkſam oder doch weniger wirkſam iſt.
Die für die Fortpflanzung der Gewächſe ſo wichtige Über-
tragung
des Blütenſtaubes auf eine fremde Narbe wird nun
in
der verſchiedenſten Weiſe bewerkſtelligt, und es iſt leicht
erſichtlich
, daß die Pflanzen hierzu beſonderer Übertragungs-
mittel
bedürfen.
Solche Vermittler der Beſtäubung ſind der
Wind, das Waſſer und die Tiere und zwar meiſt Inſekten,
und
man unterſcheidet hiernach Wind-, Waſſer- und in-
ſektenblütige
Pflanzen
;
letztere allein tragen Blumen,
d
.
h. auffallende, meiſt farbenprächtige Blüten.
113103
VII. Die Inſektenblüten oder Blumen.
Bleiben wir zunächſt bei den Blumen.
Rüſtet ſich nach einem Goethe’ſchen Ausdruck die
Pflanze
in ihren Blüten zu den Werken der Liebe, ſo liegt es
nahe
, in den farbenprächtigen Blättern der Blütendecke das
Hochzeitskleid zu erblicken.
Ein Hochzeitskleid iſt aber nur
ein
Schmuck, der beſonders verführeriſch machen ſoll;
bei den
Blumen
kann nun allerdings hiervon nicht recht die Rede ſein.
Nur inſofern laſſen ſich die farbenprächtigen Blütendecken als
Hochzeitskleider
bezeichnen, als ſie wie diejenigen im Tierreich
ebenfalls
in offenbarem Zuſammenhange mitden Werken der
Liebe”
ſtehen und inſofern ſie ebenfalls anzulocken beſtimmt
ſind
, aber Liebhaber ganz anderer Art als das Hochzeitskleid
der
Tiere:
ſie ſind nämlich Wirtshausſchilder für die
Inſekten
, zuweilen auch für andere Tiere wie Kolibris u.
ſ. w. ,
in
des Wortes ſtrengſter Bedeutung.
Ein Wirtshausſchild ſoll
den
Wanderer anlocken, muß alſo auffallen und ihm melden,
daß
Nahrung zu haben iſt.
Genau dieſelbe Aufgabe haben
die
farbigen Blätter der Blütenregion, und in der That bieten
auch
die Blumen den angelockten Tierchen Nahrung und zwar
meiſt
in der Form ſüßen Saftes, des Nektars.
Wie aber die
Blumen
in dieſer Weiſe den Inſekten einen Dienſt leiſten, ſo
verlangen
ſie gleichſam als Entgelt von den Tierchen den ſchon
angedenteten
wichtigen Gegendienſt.
Dieſe beſorgen unbewußt die Beſtäubung, wodurch ja erſt
die
Samen- und Fruchtbildung ermöglicht wird.
Auch die Wohlgerüche und die für uns unangenehmen
Düfte
der Blumen ſtehen im Dienſte der Beſtäubungs-
Vermittelung
, denn ſie ſind ein weiteres Lockmittel für die
Tierchen
.
Alſo die Farben und die Düfte, aber auch die oft in
den
Blumen vorhandenen Nektar-Abſonderungen und
114104 bei fehlenden Nektarien der ebenfalls als Nahrung dienende
Blütenſtaub ſind die Lockmittel der Blumen.
Es kommt auch vor, daß Blumen durch täuſchende Mittel
Inſekten
anlocken.
Ein vortreffliches Beiſpiel dafür bietet die
in
ſchattigen Laubwäldern anzutreffende Einbeere, welche keinen
Honig
abſondert.
Der dunkelpurpurne Fruchtknoten glänzt
aber
ſo wirkſam, als wäre er feucht.
Hierdurch werden fliegen-
artige
Inſekten veranlaßt, den Fruchtknoten zu belecken, wobei
ſie
leicht mit den Staubbeuteln und mit den Narben in Be-
rührung
kommen.
Farbige Aushängeſchilder, Wirtshausſchilder entbehrende
Pflanzen
, die Wind- und Waſſerblütler, beſitzen durchaus un-
ſcheinbare
Blüten, da farbenprächtige Blätter in der Blüten-
region
hier offenbar nutzlos wären.
Auch fehlen den Blüten
der
Wind- und Waſſerblütler naturgemäß beſondere Gerüche,
und
Nektarien werden nicht entwickelt.
Die Blumen ſind in ihrem Bau beſtimmten Inſektenarten
angepaßt
.
Wir ſehen, daß die Größe der Blumen durchaus
derjenigen
der für ihre Beſtäubung notwendigen Inſekten ent-
ſpricht
, daß beide:
Inſekten und Blumen ſich durchaus ein-
ander
angepaßt haben.
Beſonders auffallend erſcheint zunächſt,
rein
äußerlich betrachtet, der bequeme Sitz, den die Blume
ihrem
Freunde bereitet, der oft in entſprechender Größe und
ſo
angelegt iſt, daß das Inſekt eine beſtimmte, für den Be-
ſtäubungsvorgang
beſonders nützliche Stellung einnimmt.
Die Grundfarbe der Blütendecke zeigt oft zarte, abweichend
gefärbte
Zeichnungen, namentlich in Strichform:
die Saft-
male
, welche von den außen leicht ſichtbaren Teilen der
Blütendecke
bis zu den Honiggefäßen oder den den Nektar
ſammelnden
Safthaltern reichen und den Inſekten den Weg
zur
Honigquelle weiſen.
Bei der Blume des Stiefmütterchens
ſind
die dunklen in das Innere der Blume weiſenden Striche
auf
den Blumenblättern die Saftmale oder beſſer
115105 für die Inſekten: ſie zeigen den Weg zum Nektar. Beim
Stieſmütterchen
ſind die Nektar abſondernden Organe tief im
Innern
der Blume verſteckt.
Bei anderen Blumen ſind ſie
aber
von außen deutlich ſichtbar.
Schauen wir z. B. in die
Blume
der Kaiſerkrone, ſo bemerken wir am Grunde eines
jeden
von den ſechs Blättern der Blütendecke eine kreisförmige,
helle
Stelle, die von einem ſchwarzen Ring umgeben wird.
Es ſind das kleine, flache Schüſſeln, die einen honigſüßen Saft
enthalten
, den ſie den beſuchenden Inſekten darbringen.
Sie
geben
ſich ſo als Nektarien zu erkennen.
Beim Sammeln des Nektars vermitteln nun die Tiere
die
Kreuzbeſtäubung, indem ſie beim Aufſuchen der Nektarien
durch
beſondere Blüteneinrichtungen gezwungen werden, die
Staubbeutel
beziehungsweiſe die Narben zu ſtreifen, wobei ſie
an
beſtimmten Körperſtellen den meiſt klebrigen Blütenſtaub
aufnehmen
, den ſie beim Beſuch einer anderen Blume unbe-
wußt
an die klebrige Narbe abgeben.
Eine Selbſtbeſtäubung
wird
überdies häufig durch beſondere Vorkehrungen verhindert.
Die Staub- und Fruchtblätter erlangen nämlich in derſelben
Blüte
oft zu ganz verſchiedenen Zeiten ihre Reife.
Erlangen
die
Staubblätter vor den Fruchtblättern die Reife, ſo ver-
welken
die Staubblätter, wenn die Narben empfängnisfähig
werden
, während bei anderen Blüten die Staubbeutel ſich erſt
zu
öffnen beginnen, wenn die Narben bereits ausgedient haben.
VIII. Beiſpiele zur Erläuterung des Beſtäubungs-
vorganges bei den Blumen.
Diesbezügliche Beobachtungen können wir ſehr leicht
machen
.
Nehmen wir z. B. eine erſt kürzlich erblühte Nelken-
Blume
oder die Wieſen-Blumen Fig.
33 zur Hand, ſo ſehen
wir
die Staubblätter mit ihren Beuteln aus dem Innern
116106 Blume hervorragen. Nach einer gewiſſen Zeit welken die
Staubblätter
, verlieren ihre Funktionsfähigkeit und verſchwinden;
wir ſehen dann allmählich ein fadenförmiges Gebilde aus dem
Innern
zwiſchen der Krone hervorwachſen, welches die Stelle
der
Staubblätter einnimmt, aber keinen Staubbeutel trägt.

Dieſes
neue Gebilde ſpaltet ſich bei der Nelke der Länge nach
in
zwei Teile, die bald auseinanderklaffen und ſich, wenn wir
dieſe
beiden fadenförmigen Teile nach unten hin verfolgen,
35[Figure 35]Fig. 33.
a
u. b Blüte von Knautia arvensis, c u. d von Valeriana officinalis, ſchwach ver-
größert
. a u. b im mänulichen, c u. d im weiblichen Zuſtaude.
a b c d
durch einen Griffel mit dem Fruchtknoten verwachſen zeigen:
ſie geben ſich hierdurch als die Narben zu erkennen. Im erſten
Stadium
befinden ſich die Blumen ſomit im Reifezuſtand der
Staubblätter
, im zweiten im Reifezuſtand des Stempels;
wenn
die
Narben da ſind, fehlen die Staubblätter und umgekehrt:

eine
Selbſtbeſtäubung iſt ſomit gänzlich unmöglich.
Das
Gleiche
iſt der Fall z.
B. bei den Malven-Blumen. Zuerſt
ſehen
wir hier im Innern ein Bündel zahlreicher Staubblätter,
deren
Beutel zu einem Köpfchen zuſammenſtehen, ſpäter ver-
welken
die Staubblätter, ſie verſchrumpfen und biegen
117107 zurück, und an Stelle derſelben wachſen eine große Anzahl
Narben
hervor, das zweite Reiſeſtadium der Blume anzeigend
und
bereit, den Beſuch eines mit Blütenſtaub beladenen In-
ſektes
zu empfangen, das eben eine Blume, die ſich in ihrem
erſten
Entwickelungsſtadium befindet, verlaſſen hat.
Fliegt alſo
ein
Inſekt von einer Blume, die ſich im erſtbeſchriebenen
(männlichen) Stadium befindet, auf eine im zweiten (weiblichen)
Stadium
befindliche Blume, ſo iſt eine regelrechte Kreuz-
beſtäubung
unvermeidlich.
36[Figure 36]Fig. 34.
Einige
Male vergrößerte
männliche
Blüte der
Trauerweide

(Salix babylonica L.)
St S N
37[Figure 37]Fig. 35.
Einige
Male vergrößerte
weibliche
Blüte, Stempel-
blüte
, der Trauerweide
(Salix babylonica L.)
Fr S N
Die Blüten der Weiden, die als weiteres Beiſpiel gewählt
ſeien
, enthalten entweder nur Staubblätter (Fig.
34) oder nur
Stempel
(Fig.
35); ſie ſind ſehr einfach gebaut. Sie ſitzen in
den
Winkeln von Schuppen S, welche die ſteife Achſe der
Blütenſtände
, der ſog.
Kätzchen, bekleiden. Die Stempelblüten
beſtehen
aus einem geſtielten Fruchtknoten Fr, der am Grunde
des
Stieles eine Honigdrüſe N aufweiſt.
Die abgebildete
Staubblattblüte
(Fig.
34) beſitzt an Stelle des Fruchtknotens
zwei
Staubblätter St, an derem Grunde ebenfalls eine Honig-
drüſe
N bemerkbar iſt.
Die Kätzchen tragen immer nur
118108 Blüten und die ganze Pflanze trägt immer nur einerlei Kätzchen,
ſo
daß eine Kreuzbeſtäubung zur Notwendigkeit wird.
Die Hummeln und Bienen kriechen lebhaft auf den ſteifen
Kätzchen
herum, nach dem reichlichen Honig ſuchend, und
bürſten
förmlich hierbei mit ihrer behaarten Bauchſeite Blüten-
ſtaub
heraus, den ſie beim Beſuch von Kätzchen mit Stempel-
blüten
unbewußt an die klebrigfeuchten Narben abgeben.
38[Figure 38]Fig. 36.
Schwach
vergrößerte Blumen von Primula elatior im Längsſchuitt.
Als ferneres Beiſpiel wählen wir die Primel. Wenn wir
verſchiedene
Pflanzenſtöcke einer Primel unterſuchen, ſo wird
uns
bald auffallen, daß wie die Abbild.
Fig. 36 zeigen
(die 2 der Länge nach aufgeſchlitzte Blumen von 2 verſchiedenen
Stöcken
nach Wegnahme der vorderen Hälften veranſchaulichen)
die einen kurzgrifflige (rechts in der Figur), die anderen lang-
grifflige
Fruchtknoten (links) beſitzen und daß in den Blumen
erſter
Art die Staubblätter an der Spitze der Kronenröhre,
im
anderen Falle in der Mitte der Röhre eingefügt ſind.
119109 Eigentümliche iſt nun, daß der Blütenſtaub der höher ſtehenden
Staubblätter
, auf die Narben kurzgriffliger Blumen gebracht,
nicht
fruchtbar wirkt oder doch kein ſehr günſtiges Ergebnis
liefert
, während die langgriffligen Blumen durch ſolchen Blüten-
ſtaub
vollkommen befruchtet werden.
Ebenſo bleibt der Blüten-
ſtaub
der tiefer ſtehenden Staubblätter, auf die Narben lang-
39[Figure 39]Fig. 37.
Blütenſtand

von
Arum
maculatum

verkleinert
.
h l f m w
griffliger Blumen gebracht, mehr oder minder un-
wirkſam
, befruchtet hingegen kurzgrifflige Blumen
vollkommen
.
Die Beſtäubung iſt alſo nur dann
günſtig
, wenn ſie nach Andeutung der beiden Pfeile
in
unſerer Figur zweier Längsſchnitte dieſer Blumen
geſchieht
.
Selbſtbeſtäubung oder Beſtäubung von
Blumen
desſelben Stockes untereinander iſt daher
reſultatlos
oder doch faſt reſultatlos, während Kreuz-
beſtäubung
von den beſten Folgen in Hinſicht auf
die
Ausbildung und Anzahl der Samen begleitet iſt.
Es kommt bei der Übertragung des Blütenſtaubes
von
einem Stock zum anderen in Betracht, daß ein
Inſekt
in den Blumen dieſelbe Stellung einzunehmen
pflegt
.
Es wird hierdurch die Kreuzbeſtäubung be-
günſtigt
, indem dieſelbe Körperſtelle des Tieres,
welche
vorher mit Blütenſtaub in Berührung kam,
beim
Beſuch einer anders geſtaltigen Blume derſelben
Art
notwendig mit der fraglichen Körperſtelle die
ohngefähr
an demſelben Ort befindliche Narbe be-
rühren
wird.
Eine ſehr leicht verſtändliche Einrichtung zeigt auch der
bei
uns in ſchattigen, feuchten Laubwäldern vorkommende Aron
(Arum maculatum), von welcher Pflanze Fig.
37 einen
Blütenſtand
zur Darſtellung bringt, deſſen uns zugekehrte
Hälfte
der tütenförmigen, unten keſſelartig erweiterten Hülle
weggeſchnitten
wurde, um einen Einblick in den eigentümlichen
Apparat
zu gewähren.
120110
Die Achſe des Blütenſtandes trägt zu unterſt Stempel-
blüten
w, darüber Staubblattblüten m und darüber nach ab-
wärts
gerichtete ſtarre Fäden f, welche die gerade an dieſer
Stelle
enge Hülle h derartig abſchließen, daß zwar Inſekten,
die
teils durch die Aushängefahne h, teils durch den urinöſen
Geruch
angezogen werden, durch die oben ſchwarzrote Leit-
ſtange
l hinabgeführt, in den die Blüten enthaltenden Keſſel-
teil
der Hülle hinein, aber nicht wieder hinaus können.
Haben
die
Inſekten Blütenſtaub mitgebracht, ſo vermögen ſie die
Stempelblüten
während des Herumkriechens zu beſtäuben.
Die
40[Figure 40]Fig. 38.
Blume
der Wieſen-Salbei (Salvia
pratensis
) ſchwach vergrößert.
Staubblatt-Blüten beginnen dann
zu
reifen und laſſen ihren Blüten-
ſtaub
in den Keſſelgrund fallen, ſo
daß
ſich die Inſekten mit neuem
Blütenſtaub
beladen und, nachdem
in
einem weiteren Stadium die ab-
ſchließenden
Fäden f erſchlafft ſind,
ihr
Gefängnis aufgeben können,
um
eine neue Aronpflanze aufzu-
ſuchen
.
Während des Reifeſtadiums der
Staubblätter
ſondern die nunmehr welkenden Narben der
Stempel
je ein Nektartröpfchen aus und bieten ſo den Inſekten
(aus der Gruppe der Mücken) Nahrung.
Die Vorrichtung zum Fangen der Tierchen iſt, wie man
ſieht
, dieſelbe, wie ſie der Menſch in den Mauſefallen und
Fiſchreuſen
zur Anwendung bringt.
Nur noch ein Beiſpiel: es betrifft die Wieſen-Salbei.
Die Abbildung Figur 38 zeigt bei 1 die Blume der in Rede
ſtehenden
Pflanzenart von der Seite geſehen.
Die Kronen-
oberlippe
überdeckt die beiden eigentümlich geſtalteten Staub-
blätter
, welche punktiert in ihrer gewöhnlichen Lage unter
ihrem
Schutzdach angedeutet wurden.
Fährt man wie
121111 der Pfeil andeutet mit einem zugeſpitzten Gegenſtand, z. B.
mit einer Bleiſtiftſpitze, in die Kronenröhre von ihrem Schlunde
aus
hinein, ſo treten die Staubblätter, die bis dahin in der
Höhlung
der Oberlippe verborgen waren, plötzlich hervor, ſo
daß
ſie die bei b angegebene Lage einnehmen.
Wenn ſich
nun
eine Hummel auf den ihr bereiteten Sitz der Unterlippe l
niederläßt
und mit ihrem Kopf und Rüſſel in die Kronenröhre
eindringt
, wie vorher die Bleiſtiftſpitze, um den im tiefſten
Grunde
der Röhre vorhandenen Honigſaft aufzuſaugen, ſo
treten
alſo die Staubbeutel, wie gezeigt, heraus, fallen auf den
behaarten
Rücken des Tierchens und laſſen dort reichlich
Blütenſtaub
zurück.
Hört der Druck des Rüſſels auf den am
Grunde
der Staubblätter befindlichen Hebelmechanismus auf,
ſo
kehren die Staubbeutel wieder in ihre geſchützte Lage
zurück
.
Abbildung 2 in Figur 38 ſtellt den Staubblattapparat für
ſich
dar.
Mit f ſind die beiden an ihrem freien Ende der
Krone
anſitzenden Staubfäden bezeichnet, die am anderen Ende
gelenkig
mit den beiden Balken p b verbunden ſind.
p iſt das
den
Eingang der Kronenröhre gewöhnlich verſperrende platten-
förmige
Organ, b ſind die Staubbeutel.
Wie beſchrieben verhält ſich alſo eine im Reifezuſtande
der
Staubblätter befindliche Blume;
tritt dieſelbe in den Reife-
zuſtand
der Stempel ein, ſo verlieren die Staubblätter ihre
Lebensfähigkeit
, und die Spitze des Griffels ſenkt ſich ſo weit
im
Bogen hinab, daß die nunmehr auseinander klaffenden
beiden
klebrigen Narbenzipfel n bei einem jetzt erfolgenden
Inſektenbeſuch
ihrerſeits den Rücken des Tierchens berühren
müſſen
und ſo den mitgebrachten Blütenſtaub aufnehmen
können
.
Der nach unten hin weiſende Narbenſchenkel iſt
länger
als der obere, gleichſam ein beſonders vorgeſtreckter
Finger
, der ſich eifrig bemüht, einen beſtimmten Gegenſtand
zu
berühren.
122112
In der geſchilderten Blume der Wieſen-Salbei ſind ſo-
wohl
Staubblätter (männliche Geſchlechtsorgane) als auch
weibliche
Geſchlechtsorgane vorhanden;
ſolche Blumen nennt
der
Botaniker zweigeſchlechtig, zwitterig oder herma-
phroditiſch
.
Die Wieſen-Salbei iſt eineHummelblume“, d. h. ihre
Blumen
ſind ihrem Baue und ihrer Größe nach durchaus
Hummeln
angepaßt;
ſie allein vermögen eine Beſtäubungs-
vermittelung
zu vollziehen.
Ähnlich unterſcheidet man
Bienen-Blumen, Tagfalter- und Nachtfalter-Blumen,
Schwärmer-Blumen
, Weſpen-Blumen
u.
ſ. w. Während
ſolche
Blumen alſo beſtimmten Beſucherkreiſen angepaßt ſind,
giebt
es eine große Anzahl anderer, die in dieſer Hinſicht weit
weniger
beſchränkt ſind;
das Extrem der Reihe bilden die
offenen Honigblumenund die meiſtenPollenblumen“,
welche letzteren des Honigs entbehren, dafür aber eine große
Zahl
pollenreicher Staubblätter beſitzen, weil ſich in dieſem
Falle
die Beſucher mit dem Blütenſtaub als Nahrung begnügen
müſſen
, bei denen der Nektar beziehungsweiſe der Pollen
auf
das bequemſte ausgebeutet werden kann, weshalb auch
hier
die mannigfaltigſten Inſektenarten für die Beſtäubungs-
vermittelung
in Betracht kommen.
Von den offenen Honig-
blumen
gelangen wir durch die Blumen mit teilweiſer
Honigbergung
zu ſolchen mit völliger Honigbergung,
zu
denen, wie aus der Beſchreibung hervorgeht, die Wieſen-
Salbei
gehört.
Bei Pflanzenarten mit völliger Honigbergung iſt der
Nektar
beſonders vorſichtig vor äußeren Einwirkungen, nament-
lich
Regen und Thau, geſchützt, aber auch in den offenen
Honigblumen
finden ſich, wo es Not thut, als beſondere
Schirmvorrichtungen
über den Nektarien oftSaftdeckenin
der
Form von Lappen, Haarbüſcheln u.
dergl. Bei der
Wieſen-Salbei
im ſpeziellen ſchützt die innere Blütendecke,
123113 Blumenkrone, durch ihre Ausbildung nicht nur das Nektarium
vor
dem Naßwerden durch Regen und Tau, ſondern durch
die
ſchirmartige Ausbildung ihrer Oberlippe auch die Staub-
beutel
:
ein Schutz, der geboten erſcheint, da auch der Blüten-
ſtaub
durch Feuchtigkeit leicht verdirbt.
IX. Waſſerblütler.
Wenden wir uns nunmehr mit wenigen Worten zu den
Waſſer- und Windlütlern.
Waſſer und Wind haben
keinen
Magen, keine Augen und keinen Geruchsſinn, und die
Blüten
der Waſſer- und
41[Figure 41]Fig. 39.
Vallisneria
spiralis. Liuks eine noch geſchloſſene,
rechts
eine geöffnete mänuliche Blüte, welche
letztere
die weibliche befruchtet.
Windblütler ſind daher
wie ſchon angedeutet
honiglos, unſcheinbar,
klein
und beſitzen keinen
auffälligen
Geruch.
Als
Beiſpiel
eines Waſſer-
blütlers
führt uns die
Abbildung
39 die in ſüd-
europäiſchen
Gewäſſern
anzutreffende
Vallisnerie
vor
.
Die kurzgeſtielten
Staubblattblüten
dieſer
Pflanzen
löſen ſich
ſobald
ſie reif ſind
vollſtändig
von ihrem
Mutterſtock
los;
ſie gelangen vermöge ihres geringen Gewichtes
an
die Oberfläche des Waſſers, wo ſie ſich öffnen.
Hier
ſchwimmen
ſie von Wind und Wellen getrieben wie
kleine
Nachen frei umher und beſtäuben die Stempelblüten,
die
an langen, fadenförmigen, ſpiraligen Stielen ebenfalls die
a. Vernſtein, Naturw. Volksbücher.
124114
Waſſeroberfläche erreichen. Nach erfolgter Beſtäubung ziehen
ſich
dieſe langen Stiele ſpiralförmig zuſammen, ſo daß die
Frucht
unter Waſſer reift.
X. Windblütler.
Was nun die Windblütler anbetrifft, ſo beſitzen dieſe
alſo
natürlich ebenſo wenig wie die Waſſerblütler eine auf-
fallende
Blütendecke.
Sie ſind alſo behufs Beſtäubung auf
die
bewegte Luft angewieſen.
Vor allem fällt auf, daß die
Windblütler
einen ſtäubenden, in der Luft ſich leicht verbrei-
tenden
Blütenſtaub beſitzen, während den inſektenblütigen
Pflanzen
ein zuſammenhängender, klebriger Blütenſtaub zu-
kommt
.
Sodann fällt auch die große Maſſe des Blütenſtaubes
auf
, welche gerade die Windblütler erzeugen.
Schüttelt man
zur
Blütezeit einen Haſelſtrauch, eine Kiefer oder die Ähre
eines
Graſes, ſo löſt ſich der Blütenſtaub in Wolkenform von
den
Äſten ab und verbreitet ſich weithin in die Luft.
Dieſe
maſſenhafte
Loslöſung und Weiterführung des Blütenſtaubes
hat
ihren Grund in beſtimmten Einrichtungen der Blüte.
Die reifen Staubbeutel ragen z. B. bei den Gräſern weit aus
der
Blüte hervor;
ſie ſitzen an langen biegſamen Fäden und
ſchaukeln
außerhalb der Blüte hin und her.
Von ſolchen an
zarten
, fadenförmigen Fäden hängenden, durch die Luft hin
und
her bewegten Staubbeuteln wird begreiflicherweiſe der
Blütenſtaub
leicht ausgeſchüttelt.
In anderer Weiſe wird das
Ausſtäuben
begünſtigt bei den Birken, Erlen, Haſelſträuchern,
Pappeln
u.
ſ. w. , wo ſich die Staubblattblüten an lang-
geſtreckten
, biegſamen, leicht in Bewegung zu verſetzenden
Kätzchen
befinden, welche ſelbſt durch ſchwache Luftſtrömungen
hin
und her geworfen werden.
Die Blütenſtäude mit den
Stempelblüten
haben dieſe leichte Beweglichkeit nicht nötig.
125115 Bei dem Fig. 40 abgebildeten Zweigende der Haſelnuß mit
zwei
Staubblattblüten-Kätzchen m befindet ſich ein Blütenſtand
mit
den Stempelblüten in Form eines Knöſpchens, aus welchem
die
roten Narben hervorragen bei w.
Die Narben vieler
windblütiger
Pflanzen ſind zum Auffangen des Blütenſtaubes
dadurch
beſonders geeignet, daß ſie wie dies z.
B. die
meiſten
Grasblüten in auffälliger Weiſe zeigen reichlich
von
zumeiſt ſtarren, auseinandergeſpreizten Haaren, den Fang-
42[Figure 42]Fig. 40.
Haſelnuß
(Corylus Avellana). Natürliche Größe.
m w
haaren, bedeckt ſind.
Wir ſehen gleichzeitig an ſolcher Blüte,
wie
ungemein unſcheinbar die die Geſchlechtsorgane umhüllenden
Blätter
ſind.
Das wogende Kornfeld iſt das beſte Beiſpiel für einen
Windblütler
:
wenn ſich kein Lüftchen regt, vermag das Korn
auch
nicht zu reifen.
Wir wiſſen jetzt: warum.
Um den Unterſchied zwiſchen Wind- und Inſektenblütler
recht
augenfällig zu erkennen, brauchen wir nur ein Bouquet
aus
Windblütlern mit einem ſolchen aus Inſektenblütlern zu
vergleichen
.
Die Blüten der Windblütler ſind zwar
126116 aber klein, unſcheinbar und eintönig, ohne Auffälligkeit gefärbt:
nur wenn ſie zu Tauſenden und Abertauſenden zu Blüten-
ſtänden
vereinigt beiſammen ſtehen, laſſen wir ſie uns als
Makartſträuße” gefallen.
Wie ganz anders wirkt ein echter
Blumenſtrauß
auch nur weniger Blumen mit ſeiner Farben-
pracht
, ſeinem Wohlgeruch und ſeiner unvergleichlichen Schön-
heit
! Iſt es nötig, hierüber ein Wort zu verlieren, wo unſer
Gefühl
redet und wo die Dichtkunſt Herrſchaft hat?
XI. Der Entdecker des Geheimniſſes der Blumen.
Es iſt ja erklärlich, daß die Blüten und beſonders die
bunten
Blumen wegen ihrer Eigentümlichkeiten, alſo ihres
Reichtums
an lebhaften Farben, welche ſich vom Grün der
Laubblätter
deutlich abheben, wegen ihrer Mannigfaltigkeit
und
ihrer die Luft durchwürzenden Gerüche die beſondere
Aufmerkſamkeit
des denkenden Menſchen auf ſich lenken
mußten
.
Nichtsdeſtoweniger ſtanden ſie ihm Jahrtauſende
hindurch
als ungelöſte Rätſel da, und dieſe Thatſache, daß
alſo
die Gelehrten nichts Weſentliches über ſie zu ſagen
wußten
, hat gewiß nicht wenig dazu beigetragen, die Anſicht
zu
beſtärken, ſie ſeien ausſchließlich dem Menſchen zur Freude
erſchaffen
.
Eine aufmerkſame Beachtung des praktiſchen Lebens hätte
nun
allerdings dem Naturforſcher den richtigen Weg weiſen
können
.
Die Dattelpalme, dergeſegnete Baum” der Araber, der
einen
Teil Arabiens zumglücklichen” geſtempelt hat, wird
ſeit
undenklichen Zeiten ſeiner Früchte wegen kultiviert;
aber
nur
gewiſſe Bäume tragen Früchte, andere können dies nicht.
Jetzt bezeichnet man die erſteren als weibliche, die letzteren als
männliche
Bäume:
beide unterſcheiden ſich nur durch die
127117 ſchiedenheit in der Geſtaltung ihrer Blüten von einander und
ſtimmen
im übrigen durchaus überein.
Schon im graueſten
Altertum
wußten die Beſitzer von Dattelpflanzungen, daß aus
den
Blüten der weiblichen Bäume nur dann reife, genießbare
Datteln
erwachſen, wenn die Blüten der männlichen Bäume
einen
Einfluß auf dieſelben ausgeübt haben, und um dieſen zu
ſichern
, brachten ſie abgeſchnittene Blütenrispen der männlichen
Bäume
in die unmittelbare Nähe der an den Bäumen be-
laſſenen
weiblichen Blütenrispen.
Die Geſchlechtsunterſchiede
des
Tierreiches finden ſich eben im Pflanzenreiche wieder.
Die
Wiſſenſchaft
freilich erkannte dieſe Thatſache verhältnismäßig
recht
ſpät, denn erſt 1691 bis 1698 wies Camerarius, ein
deutſcher
Arzt und Botaniker, durch Verſuche die Notwendigkeit
des
in den Staubblättern der Blüten erzeugten Blütenſtaubes
bei
Erzeugung der Samen nach.
Der Blütenſtaub muß ja
auf
die Fruchtblätter gelangen, welche erſt dann Früchte bildend
zur
Samenreife gelangen.
Inwiefern aber die Farben, die Wohlgerüche und andere
Beſonderheiten
derBlumen” ſo nennt alſo der Pflanzen-
kundige
die auffallenden Blüten den Pflanzen ſelbſt von
Nutzen
ſind, blieb auch dann noch lange ein ungelöſtes Ge-
heimnis
.
Erſt im Jahre 1793 alſo vor mehr als 100 Jahren
hat ein Schulmeiſter, der Rektor Chriſtian Konrad
Sprengel
in Spandau, durch Veröffentlichung eines Meiſter-
werkes
auch dieſen Schleier gelüftet, indem er ſcharfſinnig und
in
genialer Weiſe die Bedeutung der Blumenorgane, nament-
lich
der bunten Blütenblätter in dem Sinne, wie es im Vor-
ausgehenden
dargeſtellt wurde, erläuterte.
Die von ihm gefundenen Ergebniſſe waren ihm ſelbſt ſo
überraſchend
, daß er ſeinem Buch den Titel gab:
Das ent-
deckte
Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung
der
Blumen.
In der That iſt die Entdeckung
128118 der den Floriſten ſeiner Zeit den einfachen, aber guten Rat
gab
, die Pflanzen hübſch in der freien Natur zu beobachten
und
ſich nicht mit dem toten Herbarium im Studierzimmer zu
begnügen
, von ſo außerordentlicher Tragweite für die wiſſen-
ſchaftliche
Auffaſſung der Blütenorgane, daß es unbegreiflich
erſcheint
, wie das heute noch muſtergiltige und durchaus noch
des
Studiums werte Buch Sprengels ſo gänzlich überſehen
werden
konnte.
Es iſt unglaublich aber wahr, daß das geniale
Buch
bis 1862 ſo gut wie vollſtändig unbeachtet und ver-
ſchollen
blieb;
erſt der große engliſche Naturforſcher Charles
Darwin
, der ſich gerade mit dem Gegenſtande beſchäftigte und
deſſen
Genius hier eine mächtige Förderung bewirkte, zog das
grundlegende
Werk Sprengels in dem angegebenen Jahre
wieder
ans Licht.
XII. Bedeutuug der Befruchtung.
Fragen wir uns nun nach der Bedeutung der geſchil-
derten
eigentümlichen Fortpflanzungsweiſe gegenüber der ein-
fachen
Teilung, nach dem Vorteil, welchen die Vereinigung
zweier
verſchiedener Zellen fremder Individuen mit ſich bringt,
ſo
ſehen wir zu unſerem Verdruß bald, daß die Wiſſenſchaft zur
Zeit
noch keine gänzlich befriedigende Auskunft zu geben vermag.
Am beachtenswerteſten erſcheint die Auffaſſung Weis-
manns
, nach welcher das Weſentliche der Befruchtung in der
Vereinigung
zweier Vererbungstendenzen, in der Vermiſchung
der
Eigenſchaften zweier Indididualitäten zu ſuchen iſt.
Aber endgiltig hat der Naturforſcher das große Rätſel
der
Liebe noch nicht zu löſen vermocht.
Die Bildung von Früchten mit ihren Samen iſt das für
die
Erhaltung der Arten wichtige Reſultat der Befruchtung
bei
den Pflanzen;
wir wollen uns daher etwas mit den
Früchten
beſchäftigen.
129119
XIII. Einiges über die Früchte und deren
Erziehung.
An einer reifen Kirſche können wir nichts von den Be-
ſtandteilen
der Blüte wahrnehmen, nur eine Spur des einen
Beſtandteils
derſelben iſt daran ſichtbar.
Die reife Kirſche iſt
der
ausgebildete Fruchtknoten, der ehedem im Kelche ſaß.
Der
Kelch
iſt verſchwunden und der Fruchtknoten ſitzt nunmehr an dem
Stiel
feſt, der einſt den Kelch getragen hatte.
Vom Kelche
bleibt
alſo auf der Kirſche keine Spur zurück und nur der
breite
Rand des Stengels, der an der Kirſche anliegt, ohne
mit
ihr verwachſen zu ſein, zeigt die Stelle, an die einſt der
Kelch
angeheftet geweſen iſt.
Oben an der Kirſche aber iſt
meiſthin
eine kleine Vertiefung, jedesmal aber ein feines
Knöpfchen
und das iſt die Stelle, wo der Griffel ſaß, der
längſt
verdorrt und abgefallen iſt und nur dieſes verhärtete
Knöpfchen
zurückgelaſſen hat.
In ähnlicher Weiſe wie die Kirſche, wachſen faſt alle
Obſtarten
, nur mit dem Unterſchied, daß bei vielen der
oder
die Fruchtknoten nicht in dem Kelch, ſondern unter dem
Kelch
in einer Höhlung am Gipfel des Blütenſtieles ſitzt.
So bemerkt man oben in dem reifen Apfel einige ver-
dorrte
Blättchen und in deren Mitte ein Knöpfchen.
Die
Blättchen
ſind der verdorrte Kelch und das Knöpfchen iſt
gleichfalls
der Reſt des verdorrten Griffels.
Der reife Apfel
trägt
alſo die Spuren ſeiner Blüte deutlicher an ſich, als die
Kirſche
.
Dafür aber iſt der Stiel des Apfels nicht ſo
breitrandig
, als der der Kirſche und iſt feſter mit der Frucht
verwachſen
.
Wäre dies nicht der Fall, ſo würde der Apfel
ſeines
bedeutenden Gewichts halber ſchon im Beginn ſeiner
Reife
vom Baume abfallen.
Dasſelbe wie beim Apfel iſt bei
der
Birne zu bemerken, und bei den Stachelbeeren
130120 Johannisbeeren wird jeder Gelegenheit haben, wahrzunehmen,
daß
auch hier auf dem oberſten Teil der Frucht die verdorrten
Blättchen
ſich befinden, die gleichfalls die letzten Reſte des
Kelches
der ehemaligen Blüte ſind.
Sehr gern würden wir hier zum Schluß noch ein Näheres
von
dem eigentümlichen Saft der Früchte und ihrem Fleiſche
mitteilen
, allein es iſt dies ein Gebiet, das von der Wiſſenſchaft
noch
nicht genügend aufgeklärt iſt.
Die ſorgfältigſte Forſchung
hat
es noch nicht nachweiſen können, woher es kommt, daß die
ſtofflichen
Beſtandteile, die zum Wachstum der Pflanzen nötig, bei
der
einen Pflanze andere ſind, als bei der anderen.
Zwar hat
man
lehrreiche Beobachtungen gemacht, daß gewiſſe Pflanzen
die
Eigenſchaft haben, ganz beſtimmte Stoffe aus dem Boden
zu
entnehmen, dem ſie entſproſſen, und man findet dieſe Stoffe
dann
auch in den Früchten der Pflanzen wieder.
Hat der
Boden
keinen Stoff dieſer Art, ſo gedeiht die Pflanze nicht
mehr
in demſelben.
Zu dieſem Zwecke läßt man die Felder
düngen
, damit der Boden wiederum die geeigneten Stoffe be-
komme
, welche die vorjährigen Ernten ihm entzogen haben,
und
es gehört daher eine durch Beobachtung und Erfahrung ge-
wonnene
Kenntnis dazu, um zu wiſſen, womit man ein Feld
düngen
muß, um es für eine beſtimmte Frucht tragbar zu
machen
.
Deshalb pflanzt oder ſäet der Landmann oft ab-
wechſelnd
verſchiedene Sorten von nutzbaren Pflanzen auf
einem
und demſelben Felde.
Wo das Getreide dem Boden
diejenigen
Stoffe entzogen hat, deren es bedarf, da gedeiht es
im
Jahre darauf nicht, während die Kartoffel noch Stoffe
genug
vorfindet, um gedeihlich zu wachſen.
In betreff der
Obſtarten
jedoch iſt die Unterſuchung noch nicht ſoweit ge-
diehen
, nachzuweiſen, worin die Eigentümlichkeit der Pflanze
liegt
, gerade eine beſtimmte Sorte des Obſtes hervorzubringen,
und
man findet den Grund einzig und allein in der noch un-
erforſchten
Verſchiedenheit, die den Pflanzen eigentümlich
131121 einer Kraft, die ihnen urſprünglich gegeben iſt, nur ſolche und
nicht
andere Blüten und Früchte zu treiben und nur die ihnen
zuſagenden
und nötigen Stoffe und nicht andere aus der Luft
und
dem Boden zu entnehmen.
Gleichwohl hat die Erfahrung gelehrt, daß man die
Früchte
ſelbſt veredeln kann durch künſtliche Mittel, wenn man
edlere
Zweige derſelben Gattung den Bäumen aufpfropft, oder
wenn
man den Blütenſtaub edlerer Früchte den Blüten der-
ſelben
Gattung zuführt.
All unſer beſſeres Obſt iſt in dieſer
Weiſe
veredelt und es iſt ein großes Verdienſt um die Menſch-
heit
, dieſe Veredelung der Fruchtbäume noch weiter zu treiben,
als
es bisher geſchieht.
Merkwürdig iſt es, daß man von
einzelnen
Zweigen eines und desſelben Baumes Früchte von
ſehr
verſchiedenen Eigenſchaften ziehen kann, z.
B. ſauere und
ſüße
Kirſchen, Birnen und Äpfel;
aber dieſe Kunſt hat be-
ſtimmte
Grenzen und dieſe Pfropfung gelingt nur, wenn eine
nahe
Verwandtſchaft zwiſchen den Früchten von Natur aus
gegeben
iſt.
So lauſcht der Menſch der Natur einzelne Geheimniſſe
ab
und zwingt ſie zuweilen, ſeinen Launen und Zwecken zu
dienen
;
aber ſeine Kunſt hat eine Schranke wie ſein Wiſſen,
und
immer iſt es die Natur, deren Spuren er folgen und deren
Geſetze
er reſpektieren muß.
132
Die Nahrungsmittel für das Volk.
I. Umſatz der Nahrungsmittel.
Man nennt die Nahrungsmittel auch gewöhnlich die
Lebensmittel, und das mit Recht;
denn das, was leiblich
in
uns lebt, iſt in der That nichts, als die in uns ſelber ver-
wandelte
Nahrung.
Es iſt daher ſehr leicht anzugeben, was der Menſch eſſen
muß
, um zu leben, was von den Speiſen ſeine Geſundheit zu
erhalten
im ſtande iſt, was ſeine Arbeitskraft immer friſch
erneut
und was ſeinen Verluſt durch Atmung, Schweiß und
Ausſcheidungen
zu erſetzen im ſtande iſt.
Dieſe leichte Auf-
gabe
haben ſich Viele geſtellt und glauben ſie gelöſt, wenn ſie
nachgewieſen
haben, daß alle Teile des menſchlichen Körpers
durch
das Blut geſpeiſt werden, und da man die Beſtandteile
des
Blutes genau kennt, ſo glauben ſie genug gethan zu haben,
wenn
ſie diejenigen Speiſen als die geeignetſten für den Menſchen
bezeichnen
, welche die Beſtandteile des Blutes in ſich haben,
oder
durch die Verdauung in Blut verwandelt werden können.
Im allgemeinen iſt dies ſchon richtig und doch iſt dies
nicht
ausreichend, wirklichen Aufſchluß über die Nahrungs-
mittel
für das Volk zu geben.
Der arme Irländer, der faſt nur von Kartoffeln lebt,
hat
ebenſoviel Blut im Leibe, wie der Engländer, deſſen Ar-
beiter
mit Arbeitseinſtellung droht, wenn er nicht für den Lohn
ſein
Stück Fleiſch und ſein gutes Bier zum Frühſtück haben
kann
.
Das Blut des Irländers hat ganz und gar
133123 Beſtandteile in ſich, wie das des Engländers; und doch iſt
ihre
Speiſe ſo verſchieden, und man nennt den Irländer mit
Recht
elend, wie den Engländer gut genährt.
Man ſieht, daß es am Blute eben nicht allein liegen
kann
, und es liegt auch daran nicht.
Es müſſen vielmehr noch
andere
Dinge hinzutreten, und dieſe wollen wir vorerſt kennen
lernen
, bevor wir auf die einzelnen Nahrungsmittel und deren
Wert
zu ſprechen kommen.
Den erſten Grundſatz, den wir hier allen anderen voran-
ſtellen
müſſen, iſt folgender:
Die Ernährung hängt nicht vom
Blute
allein ab, ſondern von dem ſchnellen Umſatz des-
ſelben
.
Das Blut gleicht einem beſtimmten Kapital, das der
Menſch
beſitzt.
Vom Kapital kann aber kein Menſch leben,
ohne
dasſelbe zu Grunde zu richten;
er muß von dem leben,
was
er durch das Kapital verdient, dadurch leben, daß er ſein
Kapital
immer friſch umſetzt.
Und ſo muß es auch mit dem
Blute
ſein.
Das Gleichnis ſtimmt ſo genau, daß wir uns
dieſen
Gedanken am beſten durch ein Beiſpiel deutlich machen
können
.
Man denke ſich zwei Kaufleute, von denen jeder nur
300
Mark hat.
Beide Kaufleute ſind alſo an Kapital gleich
reich
.
Es findet aber zwiſchen ihnen folgender Unterſchied
ſtatt
:
der eine geht zweimal wöchentlich aufs Land und kauft
Vieh
ein und bringt es zu Markt, wo er es wieder verkauft;
hierbei verdient er jedesmal an ſeinen 300 Mark 15 Mark.
Der
andere macht ſich einen Poſamentierladen, kauft für
300
Mark Ware, die er in einem Monat ganz und gar ver-
kauft
und verdient hierbei 75 Mark.
Wer von dieſen beiden
ſteht
ſich nun beſſer?
Der Poſamentier, der an ſeinen 300 Mark
75
verdient, oder der Viehhändler, der nur 15 verdient?

Sicherlich
der Viehhändler.
Denn während der Poſamentier
im
Monat 75 Mark zum Leben hat, hat der
134124 achtmal 15, alſo 120 Mark. Woher kommt das? Daher, daß
der
Poſamentier nur einmal im Monat ſein Kapital umſetzt,
während
der Viehhändler achtmal in dieſer Zeit ſein Kapital
umſetzt
.
Es geht mit dem Irländer und dem Engländer ganz und
gar
ſo.
Beide haben gleichviel Blut, das iſt ihr Kapital, das
ganz
gleich iſt.
Der Umſatz iſt nur nicht gleich. Der Engländer
arbeitet
kräftig und ißt kräftig.
Wenn er arbeitet, giebt er ſein
Kapital
, ſein Blut aus, jeder Hammerſchlag nimmt ihm ein
Stück
Leib durch den Atem weg, jede kräftige Bewegung führt
durch
den Schweiß einen Teil ſeines Blutes davon, alle
Thätigkeiten
ſeines Lebens ſind kräftig.
Wenn er aber ißt,
ißt
er auch gut und kräftig.
Er giebt daher ſein Kapital
ſchnell
aus und nimmt es auch wieder ſchnell ein, er ſetzt ſein
Kapital
ſchnell um und ſteht ſich alſo gut dabei.
Der elende,
unglückliche
Irländer giebt ſehr langſam ſein Blut aus, er
arbeitet
nicht;
er ißt Kartoffeln, die allein eine ſehr ſchlechte
Nahrung
bilden, alſo er nimmt auch ſein Kapital wieder ſehr
langſam
ein, und obgleich das Kapital immer dasſelbe iſt, iſt
doch
der langſame Umſatz die Urſache, daß der Irländer elend,
denkfaul
, arbeitsſcheu, während der Engländer ein an Leib und
Geiſt
geſunder Menſch iſt.
Es kommt alſo nicht auf das Blut allein, ſondern haupt-
ſächlich
auf den ſchnellen Umſatz des Blutes an.
II. Die Verdauung.
Wir haben im vorigen Artikel gezeigt, daß der ſchnelle
Umſatz
des Blutes die Hauptſache bei der Ernährung aus-
macht
, und will man hiernach die Nahrungsmittel für das
Volk
betrachten, ſo muß man nur ſolche Nahrung für eine
gute
und geſunde erklären, welche das durch Arbeit
135125 Lebensthätigkeit verloren gehende Blut ſchnell wieder zu er-
ſetzen
im ſtande iſt.
Hieraus aber folgt, daß die Chemiker nicht genug thun,
wenn
ſie die Speiſeſtoffe prüfen und den Wert derſelben nach
ihrem
Inhalt allein beſtimmen, ſondern man muß die Speiſe-
ſtoffe
auch prüfen nach der Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit
welcher
ſie in Blut verwandelt werden können.
Ein Speiſeſtoff, der wenig für das Blut brauchbare Be-
ſtandteile
enthält, ſich aber ſchnell und leicht in Blut ver-
wandelt
, iſt beſſer als ein Speiſeſtoff, der viel dergleichen Be-
ſtandteile
in ſich hat, aber nur langſam und ſchwer zu Blut
wird
.
Ein Beiſpiel wird das, was wir hier geſagt haben, deut-
lich
machen.
Es iſt chemiſch nachgewieſen, daß die Hülſen des Ge-
treides
, die reine Kleie, eine außerordentlich reiche Menge von
Pflanzeneiweiß
und Fettſtoff in ſich haben, ja, ſie ſind an
dieſen
Beſtandteilen reicher ſogar als das Weizenmehl, und
ein
bedeutender Chemiker, Millon in Paris, hat im Jahre
1849
Aufſehen erregt durch die dringliche Aufforderung, die
Kleie
nicht mehr als Futter, ſondern, mit dem Mehl gemiſcht,
als
Nahrung für Menſchen zu verwenden.
Er berechnete genau
und
wies unwiderleglich nach, daß ſolch eine Nahrung für
Europa
als ein wahres Glück und ein großer Segen zu be-
trachten
wäre.
Obgleich aber ſeine Prüfung und Rechnung vortrefflich
und
unumſtößlich war, hat ſich doch erwieſen, daß ſein Vor-
ſchlag
falſch iſt.
Als Chemiker hat er ſchon ganz recht ge-
habt
;
allein der menſchliche Magen hat nicht ſo viel Zeit und
Geduld
, wie ein Chemiker, der ſtudiert, und wenn es auch
ganz
richtig iſt, daß die Kleie ſehr viel Stoff enthält, den das
Blut
gebrauchen kann, ſo hilft es uns doch nichts, ſobald nicht
unſere
Verdauungswerkzeuge danach eingerichtet ſind, die
136126 wandlung der Kleie in Blut ſchnell und leicht zu vollziehen.
Wenn die Kleie wieder unſeren Körper unverdaut verläßt, was
ſelbſt
bei den kräftigſten Menſchen der Fall iſt, ſo iſt es gewiß
richtiger
, damit die Tiere zu mäſten, die ſie gut verdauen,
davon
kräftig und fett werden und uns dafür Fleiſch, Fett und
Milch
liefern.
Wir haben alſo noch einen Grundſatz feſtzuhalten, und das
iſt
der, daß von zwei gleichen Nahrungsſtoffen immer der der
beſte
und vorteilhafteſte iſt, der am ſchnellſten und leichteſten
verdaut
, das heißt, in Blut verwandelt wird.
Wir haben noch einen dritten Grundſatz feſtzuſtellen, daß
man
ja nicht glaube, es ſei die große Auswahl von Speiſen
etwas
Unwichtiges und Gleichgiltiges;
es haben vielmehr Ver-
ſuche
dargethan, daß einförmige Speiſen ſchädlich ſind und das
Abwechſeln
derſelben der Geſundheit und der Ernährung ſehr
zuträglich
iſt.
Endlich aber iſt es bei Betrachtung der Nahrungsmittel
hervorzuheben
, daß der Geſchmack dabei eine bedeutende Rolle
ſpielt
und eine richtige Miſchung und Würze der Speiſen ein
weſentlicher
Beſtandteil guter Ernährung ſind.
Der fleißige
Arbeiter
ernährt ſein Weib;
aber die brave Hausfrau, die für
eine
ſchmackhafte, geſunde Nahrung ſorgt, verrichtet wahrlich
in
ihrem Kreiſe einen wichtigen Dienſt und leiſtet mehr zur
Arbeitsfähigkeit
ihres Mannes, als dieſer zuweilen ein-
ſehen
mag.
III. Kaffee.
Wir kommen jetzt zur Betrachtung der einzelnen Nahrungs-
mittel
und wollen hierbei weder das üppige Leben des Reichen
betrachten
, der oft wegen ſeines ewig verdorbenen Magens nur
ſeinen
Gaumen kitzelt, und eben ſo wenig das
137127 Leben des Darbenden in Erwägung ziehen, der wegen des
leeren
Magens alles genießbar zu fiuden genötigt iſt.
Wir
wollen
vielmehr die Speiſen des Mittelſtandes betrachten, wo
der
Mann, ein tüchtiger Arbeiter, kräftig im Leben wirken
muß
, um Weib und Kind zu ernähren, und das Weib eine
brave
Hausfrau ſein will, die für Kräftigung und Stärkung
des
Mannes und der Kinder Sorge trägt.
Wir wollen mit
einem
Worte die Speiſen betrachten, die man zur Haus-
mannskoſt
zählt, und uns hierbei ſowohl an das häusliche
Leben
, wie an das Genießen der Speiſen durch den ganzen
Tag
vom Morgen bis zum Abend halten.
Es iſt bei uns Sitte, daß man des Morgens Kaffee
trinkt
und etwas Weißbrot dazu genießt.
Was aber hat es für Bewandnis mit dem Kaffee? Iſt
der
Kaffee ein Nahrungsmittel?
Iſt er ein Getränk um den
Durſt
zu ſtillen?
Iſt er ein Mittel der Erwärmung? Iſt er
ein
Gewürz?
Iſt er eine Medizin? Oder iſt er gar ein Gift?
Es iſt merkwürdig, daß die Wiſſe@ſchaft über die Fragen
wirklich
nicht ganz im Klaren iſt.
Man hat den Kaffee chemiſch unterſucht und gefunden,
daß
in ihm ein eigentümlicher Kaffeeſtoff (Kaffeïn) vorhanden
iſt
, der außerordentlich reichhaltig iſt an Stickſtoff;
merk-
würdigerweiſe
hat man auch im Thee bei einer chemiſchen Unter-
ſuchung
Kaffeïn gefunden, der alſo ganz dieſelbe chemiſche
Zuſammenſetzung
hat wie im Kaffee.
Ferner haben Reiſende in
Weſtafrika
in der Kolanuß, einer von den Eingeborenen ſehr
hoch
geſchätzten Frucht, denſelben Stoff, den Thee- oder Kaffee-
ſtoff
gefunden.
Da nun Kaffee, Thee und Kolanuß von den
verſchiedenſten
Völkern genoſſen, ſich gegenſeitig erſetzen, und
da
wir finden, daß Millionen und Millionen dazu getrieben
werden
, einen dieſer Stoffe, die einen wichtigen Beſtandteil ge-
meinſchaftlich
enthalten, zu genießen, ſo kann uns ſchon dies
als
Zeichen dienen, daß Kaffee für den Menſchen vorteilhaft iſt.
138128
Worin beſteht nun die vorteilhafte Wirkung des Kaffees?
Die Unterſuchungen haben dahin geführt, den Kaffee teils
als
Gewürz, teils als eine Art Medizin zu betrachten.
Ein Gewürz iſt er inſofern, als er wie viele andere Ge-
würze
dahin wirkt, daß der Magen mehr Verdauungsflüſſigkeit
abſondert
.
Die Verdauung der Speiſen geht nämlich nur dann
im
Magen vor ſich, wenn die Wände des Magens eine Flüſſig-
keit
in den Magen ergießen, die die Eigenſchaft beſitzt, Speiſen
zu
verdauen.
Daher genießt auch der Reiche, der ſich beim
Mittagsmahl
ſtark angegeſſen hat, eine Taſſe Kaffee gleich nach
dem
Mahle, um die Verdauung der Speiſen zu befördern.

Da
nun des Nachts die Verdauung geſchwächt iſt weshalb
man
auch ſchlecht ſchläft, wenn man etwas ſchwer Verdauliches
zum
Abendbrot gegeſſen hat und namentlich der Magen
gegen
Morgen erſchlafft und unthätig iſt, ſo wirkt eine Taſſe
Kaffee
belebend und anreizend auf die Häute des Magens und
befördert
eine friſche Thätigkeit desſelben.
Man hat auch
wirklich
nach dem Kaffee meiſt mehr Appetit, als vor dem-
ſelben
.
Dies iſt nun die Bedeutung des Kaffees als Gewürz.
Man ſchreibt aber auch dem Kaffee mit Recht eine medi-
ziniſche
Wirkung zu, indem man ihn als eine Medizin für
unſere
geiſtige Thätigkeit, für die Thätigkeit unſerer Nerven
betrachtet
.
Es iſt bekannt, daß der Kaffee des Nachts die Müdigkeit
vertreibt
und daß man ſich durch ſtarken Kaffeegenuß außer-
ordentlich
lange des Schlafes erwehren kann.
Ja, diejenigen,
die
geiſtig beſchäftigt ſind, fühlen oft nach dem Genuß des
Kaffees
eine friſche, geiſtige Auregung und benutzen ihn nicht
ſelten
als ein Mittel, ihre geiſtige Thätigkeit zu erfriſchen,
wenn
ſie ſich mitten in der Arbeit abgeſpannt fühlen.
Da nun des Nachts der Geiſt zwar geruht hat, aber trotz-
dem
am Morgen ſich eher ſchläfrig als rege fühlt, ſo iſt es
erklärlich
, daß man die Nerven durch eine Taſſe Kaffee
139129 anregt und ſo gewiſſermaßen ſeinen Geiſt zum Tageswerk auf-
weckt
.
Der ebenſo geiſtvolle wie kenntnisreiche Naturforſcher
Moleſchott
ſchrieb den ſehr verbreiteten Kaffeegenuß in neuerer
Zeit
dem Bedürfnis nach geiſtiger Regung zu, die das Leben
der
Gegenwart in höherem Maße erfordert, als das Leben in
vergangenen
Zeiten.
IV. Nützlichkeit und Schädlichkeit des Kaffees.
Da nun der Kaffee die Eigenſchaft hat, die Nerventhätig-
keit
anzuregen, läßt es ſich von ſelbſt leicht erklären, daß er
in
vielen Fällen eher ſchädlich als nützlich iſt.
Phlegmatiſche
Naturen
bedürfen des Kaffees und trinken ihn auch gerne,
weshalb
er auch in Deutſchland ſowie im Orient außerordent-
lich
beliebt iſt und in ungeheurer Menge getrunken wird.
Auf-
geregten
Naturen aber iſt er eher ſchädlich, und darf deshalb
nur
ſehr wäſſerig von ihnen genoſſen werden.
Lebhaften Kin-
dern
ſagt der Kaffee nicht zu, und es iſt Unrecht, ſie zum Genuß
desſelben
zu zwingen, dahingegen iſt es alten Leuten, die einer
Auregung
der träge gewordenen Nerventhätigkeit bedürfen, nicht
zu
verdenken, wenn ſie der Kaffeekanne ſtark zuſprechen.
Es iſt üblich, dem Kaffee in ärmeren Haushaltungen etwas
Cichorien
zuzuſetzen.
Daß dieſe ſchädlich iſt, läßt ſich eigent-
lich
nicht ſagen;
aber jedenfalls iſt ſie ein ſchlechter Erſatz für
den
Kaffee, weil ſie nichts von den wirkſamen Beſtandteilen
des
Kaffees enthält, und der Gebrauch der Cichorien hat durch-
aus
nichts Empfehlenswertes an ſich.
Dahingegen hat das
Miſchen
des Kaffees mit Milch und das Verſüßen durch Zucker
einen
ſehr richtigen Grund.
Milch und Zucker ſind gute Nah-
rungsmittel
.
Die Milch hat die Beſtandteile des Blutes, und
der
Zucker wird im Körper in Stoffe umgewandelt, die für
das
Leben des Menſchen durchaus notwendig ſind.
Da man
A. Bernſtein, Naturw, Volksbücher.
140130
nun des Nachts keine Nahrung zu ſich genommen und demnach
den
Verluſt, den das Blut durch Ausdünſtung und die Atmung
erlitten
hat, erſetzen muß, ſo iſt Milch und etwas Zucker im
Kaffee
durchaus zu empfehlen.
Namentlich darf man es den
Kindern
nicht als Leckerei auslegen, wenn ſie ſüßen Milchkaffee
lieben
.
Die Natur hat ihnen nicht umſonſt das Wohlgefallen
am
Zucker verliehen, er iſt ihnen in der That nötig, weil
ihr
Puls ſchneller, ihre Atmung ſtärker ſein muß, um ihren
Umſatz
der Speiſen in Körperteile zu befördern, und um ihr
Wachstum
zu unterſtützen.
Freilich bedarf auch der Erwachſene
des
Zuckers, aber bei dieſem bildet ſich der Zucker auch aus dem
Stärkemehl
, das er in den Speiſen genießt.
Da aber hierzu
erſt
eine Thätigkeit der Verdauungswerkzeuge nötig iſt, ſo
erleichtert
man den Kindern die Verdauung, wenn man
ihnen
ſtatt des Stärkemehls fertigen Zucker giebt.
Es giebt
viel
Krankheiten, namentlich die unter Kindern der Armen
häufige
engliſche Krankheit, welche mitverſchuldet iſt durch den
Genuß
von Brot und Kartoffeln, die Stärkemehl enthalten,
welches
aber bei den ſchwachen Verdauungswerkzeugen der
Kinder
nicht genügend verdaut und in Zucker umgewandelt
werden
kann.
Es bleibt dann als Ballaſt im Magen lange
liegen
, ſtrengt die Verdauungskräfte in zu hohem Grade an,
ohne
daß der Ernährung dafür der entſprechende Gewinn ge-
boten
wird.
Die Kinder werden deshalb ſchwächlich, magern
ab
und erkranken leicht an den verſchiedenſten Leiden.
Wer jedoch gleich nach Tiſch Kaffee trinkt, um die Ver-
dauung
zu befördern, der thut gut, weder Zucker noch Milch
dazu
zu genießen, denn beides fördert nicht die Verdauung,
ſondern
giebt dem vollen Magen noch einen Stoff zum Ver-
arbeiten
und ſtört demnach das Geſchäft desſelben mehr, als
der
Kaffee es erleichtert.
Man thut gut, zum erſten Imbiß des Morgens etwas
Weißbrot
zu genießen.
Die Beſtandteile des Weizens
141131 faſt noch einmal ſo reich an Stärkemehl, als die des Roggens
und
ſind bei weitem leichter verdaulich, als dieſe.
Da es nun
am
Morgen darauf ankommt, dem Magen nicht gleich neue,
ſchwere
Arbeit aufzubürden, ſo iſt es wichtig, ihm neben dem
ſeine
Thätigkeit anregenden Kaffee nur leicht verdauliche Speiſe
zu
bieten.
V. Das Frühſtück.
Der Körper ſelbſt desjenigen, der ſchwere Arbeiten zu
verrichten
hat, iſt durch Kaffee und ein wenig Weißbrod hin-
länglich
geſtärkt, um leiblich und auch geiſtesfriſch an das
Tagewerk
zu gehen.
Allein man hat Urſache anzunehmen,
daß
er nur erſetzt hat, was ihm am allernötigſten war.
Es
iſt
daher ein allgemeines Bedürfnis, wenn man nicht allzu-
ſpät
Tag gemacht und um 7 Uhr den erſten Imbiß zu ſich
genommen
hat, zwiſchen 9 und 10 Uhr für ein nahrhaftes
Frühſtück
zu ſorgen.
Das Frühſtück iſt nur bei wenigen die Hauptmahlzeit,
aber
faſt bei allen, die zeitig aus dem Bette ſind, diejenige
Mahlzeit
, die mit dem beſten Appetit verzehrt wird.
Dieſe
Thatſache
iſt hinreichend, um dem Frühſtück Aufmerkſamkeit
zu
ſchenken und namenlich für denjenigen, der die Morgen-
ſtunden
nicht müßig hat hingehen laſſen.
In dieſer Morgenſtunde ſchmeckt Dem das Eſſen gut, dem
die
Arbeit wohlbekommt, und Dem, dem Arbeit ziemt, ziemt
auch
ein gutes, geſundes Frühſtück.
Es iſt bei uns üblich, daß
man
zum Brot greift und ihm tüchtig zuſpricht.
Das Brot
hat
in ſeinen Beſtandteilen hauptſächlich Stärkemehl und
einen
fleiſchähnlichen Stoff, den Kleber, und wenn es gut ge-
backen
iſt, ſo iſt ein Teil des Stärkemehls bereits zuckerartig
geworden
und das Geſchäft der Verdauung dadurch
142132 erleichtert. Franzöſiſche Naturforſcher haben vortreffliche
Arbeiten
geliefert über die Veränderung, die das friſche Brot
erleidet
, wenn es alt wird, und es iſt durch dieſe Arbeiten
erwieſen
, daß das Brot am verdaulichſten und nahrhafteſten
iſt
, wenn es etwa einen Tag alt geworden iſt.
In der Veränderung, die das Brot im Körper erleidet,
wird
es teilweiſe in Fleiſch, hauptſächlich aber in Zucker und
fettähnliche
Stoffe umgewandelt, was mit allen Speiſen geſchieht,
die
Stärkemehl enthalten.
Dieſe Fettbildung aber wird außer-
ordentlich
erleichtert, wenn dazu ein wenig fertiges Fett mit-
genoſſen
wird.
Zu dieſem Zweck wird die Butter zum Brote
genoſſen
.
Die Butter zum Brote iſt alſo nicht eine zufällige
und
gleichgültige Beigabe, ſondern iſt weſentlich dazu gehörig
und
man thut ſehr Unrecht, wenn man namentlich Kindern die
Butter
entzieht.
Das Fett ſpielt nämlich im menſchlichen Körper eine be-
deutende
Rolle, es dient zur Unterhaltung des Atmens.
Der
Sauerſtoff
, der eingeatmet wird, bringt eine Zerſetzung des
Fettes
hervor und bildet einesteils Waſſer, andernteils Kohlen-
ſäure
.
Das Waſſer geht im Schweiß davon und die Kohlen-
ſäure
wird wieder ausgeatmet.
Wo nun im Körper Fett
vorhanden
iſt, wird der Schweiß und die Ausatmung eine
Verminderung
des Fettes hervorbringen, aber hierdurch wird
das
Fleiſch geſchützt, daß nicht dieſes ſich in Kohlenſäure und
Schweiß
verwandle und den Menſchen ſchwäche.
Das Fett iſt
alſo
gewiſſermaßen ein Notgroſchen im Körper, während das
Fleiſch
das Kapital iſt.
Das Fett an ſich macht nicht kräftig,
ſondern
das Fleiſch.
Aber wo kein Fett vorhanden iſt, da wird
das
Fleiſch im Körper von Schweiß und Atmung angegriffen,
und
wenn nicht ſehr reichlicher Erſatz dazukommt, ſo beginnt es
ſchnell
zu ſchwinden und die Kräfte fangen an, bedeutend ab-
zunehmen
.
Daher kommt es, daß ſehr magere Menſchen
143133 viel eſſen, während man oft Gelegenheit hat, zu bewundern,
wie
wenig Speiſen fette Menſchen zu ſich nehmen.
Der
Magere
hat kein Fett, um Schweiß und Atem zu verſorgen,
er
atmet und dunſtet daher auf Koſten ſeines Fleiſches aus
und
hat daher das Bedürfnis, immerfort Speiſen zu ſich zu
nehmen
.
Der Fette lebt dagegen nicht von ſeinem Kapital,
dem
Fleiſch und Blut, ſondern von dem Fettvorrat, den er
beſitzt
, er zehrt gewiſſermaßen aus ſeiner Sparbüchſe und
verliert
daher an Kraft ſehr wenig.
Es folgt hieraus, daß Derjenige, der viel atmet und bei
ſeiner
Arbeit viel ſchwitzt, viel fettgebende Speiſen verzehren
und
zu dieſen wirkliches Fett zuſetzen muß, Derjenige, der
weniger
atmet und wenig ſchwitzt, mit wenig ſolcher Nahrung
auskommt
.
Daher kommt es aber auch, daß man im Winter,
wo
die Luft dichter iſt, man alſo mehr Sauerſtoff einatmet,
auch
mehr Fett verbraucht beim Ausatmen, und deshalb auch
mehr
fette Speiſen genießen muß, während man im Sommer
weniger
fette Speiſen liebt.
Daher kommt es, daß man in
kalten
Ländern Fettſpeiſen zu ſich nimmt, deren Genuß in
heißen
Ländern Krankheiten erzeugt.
Wenn daher der kräftige Arbeiter bei der Arbeit Schweiß
verloren
und infolge ſeiner Thätigkeit weit mehr atmet, als
der
ruhende und müßige, ſo darf man es ihm nicht verargen,
wenn
er ein wenig Fett oder Speck zu ſeinem Frühſtück ver-
langt
, denn der Genuß desſelben erhält ihn im ſtande, ſein
Blut
und Fleiſch vor Verminderung zu wahren.
Sein Körper
bleibt
kräftig und ſein Arm wird mehr verdienen, als ſein
Magen
ihn koſtet.
Man glaube aber nicht, daß Fett allein ein Nahrungs-
mittel
iſt und man hüte ſich vor dem Irrtum, daß fertiges
Fett
beſſer zu genießen ſei, als fettgebende Speiſen.
Es ſind
vorzügliche
Verſuche mit Fettfütterungen der Tiere gemacht
worden
und es hat ſich herausgeſtellt, daß fertiges Fett
144134 ſchädlich iſt und, ohne dem Körper zu nutzen, wiederum abgeht,
während
fettbildende Speiſen das Fettwerden der Tiere be-
günſtigen
.
Wer es ſchon geſehen hat, wie man Gänſe mäſtet, der
wird
ſich eine richtige Vorſtellung von der Fettbildung im
Körper
auch des Menſchen machen.
Es wird den Gänſen
wider
Willen ein Mehlkloß in den Mund und in den Schlund
hinabgeſchoben
, dabei wird die Gans in einem ſo engen Raum
eingeſchloſſen
, daß ſie kaum aufſtehen oder gehen kann.
Dem
armen
Tiere wird daher die Ausdünſtung durch Schweiß
entzogen
und die Atmung im höchſten Grade erſchwert;
weil
es
aber wenig atmet und wenig ſchwitzt, verwandelt ſich das
genoſſene
Mehl nicht in Kohlenſäure und Waſſer, ſondern in
Fett
;
dies ſammelt ſich deshalb im Körper krankhaft an, bis
man
das Tier durch das Schlachten von ſeiner Lebenspein
befreit
.
Das Fett iſt alſo nichts, als das verwandelte Stärke-
mehl
des Kloßes, welches das Tier eingenommen, ohne es
auszugeben
.
Wollte man verſuchen, eine Gans durch wirkliches
fertiges
Fett zu füttern, ſo würde ſie zwar krank, aber nicht
fett
werden.
Die Urſache, warum das fertige Fett nur als Zuſatz zu
fettbildenden
Speiſen genoſſen werden darf, liegt darin, daß
nur
ein Teil des Darmes einen Saft ausſchwitzt, der Fett
auflöſen
kann, während die Flüſſigkeit, die der Magen abſondert,
das
Fett nicht auflöſt, ſondern es obenauf ſchwimmen läßt,
wie
das Waſſer.
Deshalb iſt ſelbſt dem Arbeiter, der bei ſeiner Arbeit viel
ſchwitzt
und ſtark atmet, ſehr dringend zu empfehlen, daß er
nicht
viel Speck zum Frückſtück und es namentlich nur mit viel
Brod
oder Semmel zugleich genieße, und hauptſächlich nur an
ſolchen
Tagen, wo er noch viel Arbeit vor ſich hat.
145135
VI. Branntwein.
Soll man nicht aber auch ein Schnäpschen zum Frückſtück
zu
ſich nehmen?
Es iſt dies eine Frage von der größten Wichtigkeit und
erfordert
eine höchſt unparteiiſche und möglichſt klare Antwort,
die
man in allzu kurzen Worten nicht genügend geben kann.
Der Branntwein iſt kein Nahrungsmittel und iſt, als
Nahrung
betrachtet, nicht einmal ſoviel wert wie Zuckerwaſſer.
Was ihn aber dennoch zum Bedürfnis des Volkes und namentlich
des
arbeitenden Volkes gemacht hat, iſt eine gute und zugleich
auch
gefährliche Eigenſchaft, die er beſitzt.
Das, was am Branntwein eigentlich ſo beliebt iſt, iſt der
darin
enthaltene Weingeiſt, den man Alkohol nennt, und dieſer
iſt
nichts anderes, als ein durch Gährung verwandelter Zucker.
Aus allen Pflanzen, aus denen man Stärkemehl gewinnen kann,
kann
man Alkohol machen, denn durch geeignete Vorrichtung
wird
das Stärkemehl in Zucker und der Zucker in Alkohol ver-
wandelt
.
Dem Körper ſelber bringt alſo der Alkohol nicht
mehr
an Nahrungsſtoffen zu, als der Zucker;
aber er beſitzt
Eigenſchaften
, welche der Zucker nicht hat, und dieſe machen
ihn
eben ſo beliebt wie gefahrvoll.
In ſehr geringer Portion genoſſen, wirkt er wie eine
Medizin
auf den Körper, in größeren Portionen leicht wie ein
Gift
;
man muß ſich daher nicht wundern, wenn man ihn einer-
ſeits
nicht miſſen kann und andererſeits ihn vollſtändig ver-
dammen
hört.
Das allergefährlichſte ſeines Genuſſes aber
liegt
darin, daß der Branntwein, obgleich er kein Nahrungs-
mittel
iſt, doch hungernden Perſonen eine Art Erſatz für die
mangelnde
Nahrung bietet und leider oft den billigſten und den
ſchnellwirkendſten
Erſatz, den der Unglückliche ſich verſchaffen kann.
Und grade dadurch gehört ſein Genuß zu den unheilvollſten
Übeln
, die jemals unglückliche Menſchen ſich zugezogen haben.
146136
Wir wollen die mediziniſchen Eigenſchaften des Brannt-
weins
kennen lernen, um zu zeigen, wie es natürlich iſt, daß
er
ſo beliebt iſt;
wir wollen ferner die Gefahren ſeines Ge-
nuſſes
kennen lernen, um zu rechtfertigen, daß man ſeinen
unmäßigen
Genuß zu verdammen Urſache hat und ſodann
ſchließlich
zeigen, woher es kommt, das trotz der augenſchein-
lichen
Schädlichkeit ſeines Genuſſes ſeine völlige Verbannung
eine
Thorheit iſt, die nicht zum Ziele führen kann.
Der Branntwein hat in ſeiner Wirkung viel Ähnlichkeit
mit
dem Kaffee.
Er beſitzt die Eigenſchaft, daß er, in ſehr
kleiner
Portion genoſſen, die Verdauungsſäfte mehrt.
Er reizt
die
Wände des Magens, damit aus ihnen die Flüſſigkeit ſich
ausſondere
, in welcher die Speiſen ſich auflöſen.
Hat man
ein
wenig Fett genoſſen, ſo umhüllt dasſelbe die Speiſen im
Magen
, und da der Magenſaft das Fett ſchwer auflöſt, ſo
bleibt
die genoſſene Speiſe oft unverdaut, und die Ernährung
geht
mangelhaft vor ſich.
Man kann daher die Verdauung
nur
befördern, wenn man den Magen dazu reizt, mehr Ver-
dauungsſaft
herauszugeben, und man thut dies auch durch Ge-
würze
, indem man z.
B. ein wenig Pfeffer auf Speck und
Schinken
ſtreut.
Der Pfeffer ſelber löſt die Speiſen nicht auf,
ſondern
er reizt nur den Magen, ebenſo wie er die Speichel-
drüſen
reizt und vermehrt dadurch den auflöſenden Saft, der
die
Verdauung vollzieht.
Ein wenig Branntwein thut nach dem Genuß von Fett
dieſelbe
Wirkung und hat noch inſofern den Vorzug, als er
auch
ſelbſt Fette auflöſt.
Der Branntwein bildet ſomit eine Art Arznei, die man
freilich
verſuchen muß, möglichſt nicht zu bedürfen.
Es iſt daher
richtiger
, wenn man gegen den Genuß von vielem Fett eifert;
hat man aber einmal zuviel davon genoſſen, ſo iſt der Eifer gegen
den
mediziniſchen Gebrauch einer kleinen Portion Branntwein
durchaus
nicht zu loben.
Die Leute, die ſo ohne weiteres
147137 Teufel im Alkohol ſehen, greifen wohl ſelber einmal zu tief in
eine
fette Speiſe ein, und helfen ſich dann dadurch, daß ſie ein
wenig
Hoffmannstropfen auf Zucker nehmen.
Die Hoffmanns-
tropfen
aber ſind ſelber nichts als eine Miſchung von Schwefel-
äther
und Alkohol, und wenn Alkohol der leibhafte Teufel iſt,
ſo
wird er durch das Stückchen Zucker nicht zum Engel um-
gewandelt
.
Der Branntwein hat aber noch eine zweite Wirkung, die
bei
ſeinem Genuß ſehr weſentlich iſt.
Der Alkohol des Branntweins geht ſofort ins Blut über,
durch
dieſes wirkt er auf Gehirn und Nerven und reizt auch
dieſe
zu erhöhter Thätigkeit.
Da er auch auf die Herznerven
wirkt
, bringt er einen ſchnelleren Umlauf des Blutes zuwege;
der ſchnellere Umlauf des Blutes aber bewirkt im ganzen
Körper
eine ſchnellere Lebensthätigkeit.
Der Wein, ſo ſagt ſchon die Schrift, erfreut des Menſchen
Herz
;
der Wein aber enthält ebenfalls Alkohol. Was im
Wein
Ermunterndes liegt, rührt von demſelben Stoff her, der
im
Branntwein vorhanden iſt.
Er erfreut aber des Menſchen
Herz
, das heißt nichts anderes, als er erhöht die Lebens-
thätigkeit
, er macht munter, er ſtärkt den Müden, ſowohl den
geiſtig
, wie den körperlich Abgeſpannten und regt Geiſt und
Leib
zu friſcher Bewegung an.
In ſehr kleiner Portion ge-
noſſen
, hat der Branntwein auch dieſelbe Wirkung.
Er iſt
daher
nicht allein für die Verdauung, ſondern auch gegen Ab-
ſpannung
eine ſchuell helfende Arznei.
Auch hier iſt es vollkommen richtig, daß dieſe Ermunterung
an
ſich kein wirklicher Gewinn iſt.
Die Abſpannung und Er-
müdung
wird am beſten durch die Natur ſelbſt, durch die
Ruhe
wieder hergeſtellt.
Ermuntert man ſich künſtlich, ſo
folgt
ſpäter darauf die größere Abſpannung und man verliert
in
dieſer, was man durch die künſtliche Erregung gewonnen
hat
.
Allein es kommen im Leben oft genug Fälle vor,
148138 man nicht Zeit hat, die natürliche Wiederherſtellung der Kräfte
abzuwarten
und es vorziehen muß, in einem Zuge die vor-
genommene
Arbeit zu vollenden, um dann längere Zeit der
Ruhe
zu pflegen.
In ſolchen Fällen iſt das Greifen nach
künſtlicher
Ermunterung ſehr erklärlich;
und in manchen Fällen
darf
man dieſes Mittel in der That nicht verdammen.
Der Wanderer auf der Reiſe, der Soldat im Felddienſt
oder
in der Schlacht hat oft nicht Zeit oder Gelegenheit, ſich
durch
eine Mahlzeit und durch Ruhe zu ermuntern, wenn er
ermattet
iſt;
es kommt darauf an, ſofort ans Ziel zu kommen
und
dort zu ruhen.
In ſolchen Fällen in welche auch zu-
weilen
der Arbeiter bei ſeiner Arbeit geraten kann hilft ein
wenig
Branntwein, der die Lebensthätigkeit und auch den Mut
erhöht
;
und darum halten wir es auch für ganz richtig, wenn
die
preußiſche Militärbehörde den Beſchluß gefaßt hat, den
mäßigen
Genuß von Branntwein den Soldaten nicht ganz und
gar
zu verbieten.
Der Kaffee thut zwar, wie wir geſehen haben, ganz das-
ſelbe
;
aber er wirkt nicht ſo ſtark und ſo ſchnell wie der
Branntwein
.
Er muß beſonders zubereitet werden und dazu
kann
man nicht zu jeder Zeit und in allen Verhältniſſen, in
denen
man Erfriſchung und Aufmunterung bedarf, Gelegenheit
finden
.
Der Branntwein wird dann viel leichter und bequemer
ſeinen
Dienſt thun und iſt deshalb nicht zu miſſen.
VII. Gefahren des Branntweins.
Haben wir ſo von dem mediziniſchen Gebrauch des Brannt-
weins
geſprochen, ſo wollen wir für jetzt die Gefahren des-
ſelben
näher kennen lernen und die Urſache deutlich machen,
weshalb
ſein Genuß ſo verführeriſch iſt, daß er zur Leidenſchaft
werden
kann.
149139
Wenn man ein wenig Branntwein beim Frühſtück genießt,
ſo
fühlt man ſchnell die erhöhte Lebensthätigkeit.
Der Puls
geht
ſchneller, der Geiſt wird reger, die Verdauung geht beſſer
von
ſtatten, und ehe noch die Speiſen ins Blut übergegangen
ſind
, um die Ernährung hervorzubringen, fühlt man ſich ſchon
angeregt
zu friſcher Leibesbewegung und körperlicher Thätig-
keit
.
Der Branntwein füllt ſo gewiſſermaßen eine Pauſe aus
zwiſchen
dem Eſſen der Speiſen und der Verwandlung der
Speiſen
zu Blut.
Wer ſich entkräftet fühlt und Speiſe zu ſich
nimmt
, hat vorerſt nur den Magen befriedigt, ohne daß davon
weſentlich
ſein Blut erſetzt wird;
es dauert eine ganze Zeit
oft an fünf bis ſechs Stunden bis wirklich das Blut
ſeinen
Gewinn davon zieht.
Man iſt daher nach dem Eſſen
nicht
ermuntert, ſondern im Gegenteil, man fühlt ſich träge
und
zur Ruhe geneigt.
Derjenige alſo, der nach dem Eſſen
nicht
der Ruhe pflegen, ſondern öfters ſofort wieder an die
Arbeit
gehen muß, der ſieht, daß er durch einen Schluck Brannt-
wein
ſchneller ermuntert wird, als durch die Speiſe.
Der
Branntwein
füllt die Pauſe bei ihm aus, die zwiſchen dem
Eſſen
und der vollendeten Blutbildung der Speiſen liegt.
Will man ſich wundern, daß gerade unter den Arbeitern
der
Genuß des Branntweins häufig iſt?
Wir wundern uns
nicht
darüber;
wir beklagen es nur, daß man das Volk nicht
ernſtlich
und der Wahrheit gemäß belehrt, ſondern ihm von
Teufel und Hölle” ſpricht, ſtatt es durch Kenntnis der Natur
dahin
zu führen, daß es die Täuſchungen und Gefahren näher
einſehen
lerne.
Die Gefahr des Branntweins liegt darin, daß ſeine guten
Eigenſchaften
und ſeine vorteilhaften Einwirkungen ſich ſchnell
zeigen
, während ſeine Übel erſt ſpäter kommen.
Er gleicht
einem
Menſchen, deſſen Tugenden offenkundig und deſſen Laſter
verſteckt
ſind und der deshalb verführeriſch und gefährlich iſt.
Will man vor ſolchem warnen, ſo darf man ſeine
150140 nicht verleugnen und verheimlichen und lieber offen ſagen, was
Gutes
an ihm iſt;
dann wird um ſo ernſter und eindringlicher
die
Warnung wirken, in welcher man ſeine Laſter aufdeckt.
Es iſt wahr, der Branntwein iſt eine Arznei, aber er wird
wie
jede Arznei ein Gift im Körper, wenn man ſich fort-
während
in den Zuſtand verſetzt, von der Arznei Gebrauch
machen
zu müſſen.
Der Menſch, der ſeine Geſundheit erhalten will, darf der
Natur
nicht immer durch künſtliche Mittel nachhelfen;
er wird
ſie
nur dadurch erſchlaffen machen.
Es iſt z. B. eine aus-
gemachte
Sache, daß Milch eine Nahrung iſt, die alle Beſtand-
teile
des Blutes enthält;
wollte man aber einen Menſchen nur
mit
Milch nähren, ſo würden diejenigen Organe, die ihm die
Natur
verliehen hat, damit er eben feſte Speiſen verdauen ſoll,
derart
erſchlaffen, daß er tötlich daran erkranken würde.
Der
Menſch
iſt nur geſund, wenn er die Natur ſelber ihre Funktionen
ausüben
läßt;
hilft er der Natur zu viel nach, ſo vernichtet er
ſich
.
So geht es auch mit dem Branntweingenuß. Wer
dann
und wann der Natur nachhilft, wo ſie der Nachhilfe be-
darf
, der thut recht daran;
wer aber nachhilft, wo die Natur
ſich
ſelber helfen kann, der ſchadet ſich.
Und dies geſchieht
leider
zu oft und iſt die Grundquelle des Übels.
Der Un-
wiſſende
, der die Erfahrung macht, daß der Branntwein die
Verdauung
befördert, glaubt gut zu thun, wenn er immer aufs
neue
dem Magen nachhilft;
aber er irrt ſich. Er erſchlafft den
Magen
und gewöhnt ihn, nur nach dem Genuß von Brannt-
wein
Verdauungsſaft abzuſondern.
Die natürliche Verdauung
wird
dadurch mangelhaft, und der Genuß des Branntweins,
anfangs
eine entbehrliche Arznei, wird dann ſchnell ein dringen-
des
Bedürfnis.
Wer ſeinen Magen gewöhnt hat, nur den Verdauungsſaft
auf
ſolchen Reiz abzuſondern, wie ihn der Branntwein ausübt,
deſſen
Verdauung iſt geſtört.
Der Unglückliche iſt ohne
151141 liche Kur nicht mehr im ſtande, Speiſen zu verdauen, wenn er
dem
Magen die Aufreizung durch Branntwein entzieht.
Der
ſchwache
Magen aber wird durch die Gewöhnung immermehr
geſchwächt
;
was ſonſt ein wenig Branntwein bewirkt hat, muß
nun
ſchon eine größere Portion zu Wege bringen, und da dies
ſo
immer weiter fort geht, muß endlich aus dem Trinker
ein
Säufer werden.
Es iſt gut, daß man die ſchrecklichſten Folgen etwas näher
kennen
lernt, ſich ſo klar wie möglich über dieſen Zuſtand
macht
, und die Umſtände genau erwägt, welche ihn leider
Gottes
ſo oft herbeiführen, und zwar am allermeiſten bei der
armen
, arbeitenden Klaſſe.
Der Zuſtand eines Betrunkenen iſt wohl zu unterſcheiden
von
dem Zuſtand eines wirklichen Trunkenbolds.
Der Be-
trunkene
hat Alkohol genoſſen;
dieſer geht ins Blut über, ge-
langt
mit dieſem in das Gehirn und reizt die Nerven zu er-
höhter
Thätigkeit an.
Die Nerven des Herzens werden davon
angeregt
und verurſachen einen heftigen Herz- und Pulsſchlag.
Das Blut ſtürmt durch den Körper und verurſacht das An-
drängen
desſelben nach dem Gehirn.
Dadurch entſtehen Sinnes-
täuſchungen
und Verwirrungen der Vorſtellungen, Funken vor
den
Augen, Ohrenſauſen, Schwindel, der den Gang unſicher
macht
, Röte der Haut und der Augen, vermehrte Ausdünſtung
der
Haut, erhöhte Thätigkeit der Lungen und ſchleuniges, kür-
zeres
Atmen, zuweilen Erregung des Gemütes zu Zorn und
Verdunkelung
des Urteils, durch welche der Trunkene ſich über-
mäßige
Kräfte zutraut.
Schreitet der Trunkene fort, ſo nehmen
die
Erſcheinungen und auch der Schwindel überhand, und das
leiſeſte
Hindernis macht den Trunkenen ſtolpern und fallen, ſo
daß
er ſich endlich nicht mehr aufrichten, auch nicht einmal
ſitzen
kann, bis er, daliegend, in Bewußtloſigkeit verſinkt und
ihn
als Wirkung der höchſten Aufregung eine Abſpannung be-
fällt
, die ihn für alles gleichgiltig macht.
Endlich
152142 ſich ſeiner ein ruheloſer Schlaf, der, wenn er lange genug an-
hält
, den Unglücklichen wieder zu ſich bringt, aber ermattet
und
abgeſpannt erwachen läßt und in jener Stimmung, die als
Katzenjammer
bekannt genug iſt.
Dieſem Zuſtand iſt jeder unterworfen, der ſich einmal zu
weit
im Genuß geiſtiger Getränke gehen läßt.
Es iſt ein un-
würdiger
, oft ekelhafter und ſchändlicher Zuſtand;
aber es kann
ſelbſt
der Unſchuldigſte einmal hineingeraten und gerade darum,
weil
er eben kein Trinker iſt.
Von dieſem Zuſtand ſprechen
wir
hier eigentlich nicht, denn er gehört nicht in das Kapitel
von
der Ernährung, ſondern in das des Leichtſinns, der Lüder-
lichkeit
oder der ſchlechten Geſellſchaft.
Der ordentliche Menſch,
der
ſich einmal dergleichen hat zu Schulden kommen laſſen,
wird
gut thun, ſeinen körperlichen Katzenjammer durch ein
recht
kaltes Bad und ſeinen moraliſchen Katzenjammer durch
das
ernſtliche Gelübde gegen dergleichen von ſich abzuſchütteln.
Anders jedoch iſt der Zuſtand des wirklichen Trunken-
bolds
und die Betrachtung desſelben gehört in das Kapitel
von
der Ernährung, denn leider iſt es am allerhäufigſten der
Fall
, daß mangelhafte oder ſchlechte Ernährung zum Trunken-
bolde
macht;
immer aber iſt die wirkliche Trunkſucht begleitet
von
dem krankhaften Zuſtand, in welchem der Magen nicht
fähig
iſt, feſte Speiſen zu verdauen.
Man kann es mit einem Worte ſagen: Wer ſeinen Magen
daran
gewöhnt hat, das Verdauungsgeſchäft nur zu vollziehen,
nachdem
er denſelben durch Branntwein gereizt hat, der hat
den
Grund dazu gelegt, ein Trunkenbold zu werden.
Zwar
iſt
es bei vermögenden Klaſſen auch oft der Fall, daß man
ſich
ſolcher Angewöhnung hingegeben hat:
allein hier iſt die
Gefahr
ſo groß nicht.
Wenn der Vermögende auch ſpät
zur
Einſicht kommt, ſo kann er dennoch oft wirkſam ein-
greifen
.
Er fängt an, ſtatt feſter Nahrung flüſſige, leicht
verdauliche
zu ſich zu nehmen.
Er genießt wenig, aber
153143 und ſehr verdaulich zubereitetes Fleiſch, leichte Gemüſe. Er
macht
ſein Frühſtück durch Kaviar und eine Zitronenſcheibe
ſchmackhaft
, nimmt zu Mittag reichhaltige Kompotte in An-
ſpruch
, die den Appetit und die Verdaulichkeit erhöhen.
Fühlt
er
ſich gleich nach dem Eſſen nicht gekräftigt, ſo hat er Zeit,
es
abzuwarten, bis die Nahrung ſich in Blut verwandelt hat.
Er ruht nach Tiſch und macht ſich dann eine kleine Bewegung
im
Freien, um zum Appetit für das wohlgewählte Abendeſſen
zu
gelangen.
Das Alles ſind Mittel für beſſeren Appetit und
geſtärkte
Verdauung, ſelbſt wenn ſich der Vermögende ſchon
ſo
weit mit geiſtigen Getränken eingelaſſen, daß ſein Magen
darunter
gelitten hat.
Nicht die Tugend und die Enthalt-
ſamkeit
macht die Trunkenbolde unter den Reichen ſeltener,
ſondern
der Erſatz, den ſie ſich leicht bieten können, um ſich
zu
heilen.
Es iſt ſehr leicht, bei dem reichbeſetzten, mit wür-
zigen
Speiſen ausgeſtatteten Tiſch für die Enthaltſamkeits-
vereine
zu ſchwärmen.
Gar nicht ſelten aber iſt es, daß der
Vermögende
, wenn er ſein Geld verliert und, was man ſo
nennt
, herabgekommen iſt, ſelber ein Trunkenbold wird.

Freilich
entſchuldigt man das mit dem Wort:
Verzweiflung;
aber
es iſt meiſthin ganz anders:
er wird zum Trunkenbold,
weil
er ſich den koſtbaren Erſatz nicht mehr ſchaffen kann, der
ihn
früher vor dieſem Schickſal bewahrt hat.
Wie aber ergeht es dem Armen, dem Arbeiter namentlich
in
ſolcher Lage?
VIII. Der Arme und der Branntwein.
Der arme Arbeiter, der ſeinen Magen daran gewöhnt,
nur
durch den Branntweinreiz die Verdauung zu vollziehen,
kann
, ſelbſt wenn er anfängt ſein Unglück einzuſehen, nicht
mehr
zurück, ohne faſt übermenſchliche Anſtrengungen zu machen.
154144
Die Arbeit macht ihn hungrig; aber da ſein Magen die
feſten
Speiſen nicht verdaut, ſo wird ihm das Eſſen wider-
wärtig
.
Seine ſchwachen Glieder jedoch fordern Stärkung.
Die Lebensthätigkeit iſt in ihm unterdrückt; er will ſie kräf-
tigen
, um etwas arbeiten und verdienen zu können, und er
ſicht
kein anderes Mittel hierzu, als wiederum den Brannt-
wein
! denn die Erfahrung hat ihn leider belehrt, daß der
Branntwein
ihn nicht nur für den Augenblick anregt und ſeine
Lebensthätigkeit
erhöht, ſondern daß er auch wirklich eine Art
Erſatz
für die Nahrung ſein kann.
Wiſſenſchaftlich iſt man erſt in neuerer Zeit zur Klarheit
darüber
gekommen, wie und auf welche Weiſe der Branntwein
wirklich
die Arbeitsfähigkeit des Hungernden erhöhen kann,
und
es iſt von äußerſter Wichtigkeit, ſich dies klar zu machen.
Die Arbeit befördert die Ausdünſtung und die Atmung.
Die Ausdünſtung aber, der Schweiß iſt wirklich nichts als ein
Teil
der genoſſenen Speiſen, der durch die Haut aus dem
Körper
austritt und der Atem, den wir aushauchen, beſteht
aus
Kohlenſäure, welche ebenfalls von den Speiſen, die wir
gegeſſen
haben, gebildet wird.
Ein ruhender Menſch ſchwitzt
und
atmet nicht ſo viel, er braucht alſo weniger zu eſſen als
der
arbeitende.
Arbeitet aber der Menſch, ohne zu eſſen, ſo
bildet
ſich der Schweiß und die Kohlenſäure des Atems aus
den
Muskeln und dem Fett ſeines Leibes und er nimmt ſo-
wohl
an Kraft wie an Umfang außerordentlich ſtark ab.

Nun
aber iſt es eine Eigenſchaft des Branntweins, daß er im
Körper
ſehr leicht in Waſſer und Kohlenſäure zerſetzt wird;

das
Waſſer tritt im Schweiß, die Kohlenſäure im Ausatmen
aus
dem Körper.
Arbeitet alſo ein Menſch, ohne zu eſſen, ſo
wird
er ſofort hinfällig, denn Schweiß und Atem zehren am
Fleiſch
ſeines Leibes;
trinkt er aber dabei Branntwein, ſo bildet
ſich
Schweiß und Atem aus den Beſtandteilen des Brannt-
weins
, und das Fleiſch ſeines Leibes bleibt teilweiſe verſchont.
155145
Das iſt die Löſung des großen Geheimniſſes: wie Trunken-
bolde
eine ganze Zeit nur von Branntwein leben und dabei
ſogar
noch arbeiten können.
Der Branntwein giebt ihnen die
Stoffe
für Schweiß und Atem her, und ihr Leib wird nicht ſo
angegriffen
, wie es der Fall wäre, wenn ſie keinen Branntwein
trinken
würden! Da nun der Trunkenbold nicht eſſen kann
und
er auch vom Eſſen nicht ſatt würde, weil es unverdaut
von
ihm geht, ſo muß er nun ſchon Branntwein trinken, wenn
er
auch nur ein wenig arbeiten ſoll.
Der Branntwein hilft
ihm
bei der Arbeit und erſpart das Aufzehren ſeines Leibes.
Der Branntwein iſt kein Nahrungsmittel, das wußte man
ſchon
lange, aber erſt in neuerer Zeit iſt man zu der Einſicht
gekommen
, woher der Branntwein ein Erſatz der Nahrungs-
mittel
ſein kann, oder richtiger eine Art Sparmittel der
Nahrung
.
Leider iſt dies ein ebenſo trauriger Erſatz wie ein un-
heilvolles
Sparmittel und iſt nur geeignet, den Unglücklichen
vollſtändig
zu Grunde zu richten.
Höchſt wichtig iſt es daher, daß man den Grund einſehe,
weshalb
der Trunkenbold den Branntwein nicht laſſen kann,
wenn
man ihm nicht andere Mittel zu ſeiner Beſſerung bietet
als
Beten” und Spukgeſchichten vomAlkohol-Teufel”.
Am
allerwichtigſten
aber iſt es, daß alle Menſchenfreunde dafür
ſorgen
mögen, daß dem Arbeiter geſunde und gute Nahrung
zugänglich
ſei, und er ſtets ſo viel verdient, daß er ſeine
mangelhafte
Nahrung nicht durch Branntwein zu erſetzen brauche.
Der arme Arbeiter, der nur Kartoffeln zu genießen hat,
muß
ein Trunkenbold werden.
Die mangelhafte Nahrung
reicht
nicht aus, ihm den Schweiß und die Nohlenſäure zum
Atmen
zu bieten;
er zehrt ab von ſeinem Körper, wenn er
arbeiten
ſoll, und greift deshalb zum Branntwein, der dieſes
Abzehren
verhütet.
a. Bernſtein, Naturw. Volksbücher.
156146
IX. Die Folgen der Trunkſucht und deren
Verhütung.
Die Verdauung des Trunkenboldes iſt zerſtört und auch
der
Prozeß der Ernährung weſentlich verändert.
Es findet
eine
Veränderung der Gewebebildung im Innern des Körpers
ſtatt
.
Es ſetzt ſich aus dem zu reichlich genoſſenen und nicht
verarbeiteten
Branntwein Fett an die inneren Organe an und
auch
unter der Haut bilden ſich krankhafte Fettlagen.
Dies
giebt
dem Trunkenbold das aufgedunſene Anſehen, das ſehr
charakteriſtiſch
iſt und als ein Zeichen gilt, daß die Krankheit
ſchon
einen hohen Grad erreicht hat.
Der Magen, das meiſt
erweiterte
Herz erhalten Fettumhüllungen unnatürlicher Art.
Die Thätigkeit des Herzens, bald unmäßig erhöht, bald furcht-
bar
herabgeſtimmt, treibt das Blut in die feinen Blutgefäße
der
Haut und erweitert auch dieſe Gefäße.
Deshalb das ge-
rötete
Anſehen des Trunkenbolds.
In dem verfetteten Bruſt-
kaſten
vermögen die Lungen ſich nicht gehörig auszudehnen
und
das Blut mit dem nötigen Sauerſtoff zu ſpeiſen, der es
rot
macht, deshalb erhält das Blut ſein bläuliches Anſehen,
daher
rührt die blaue Naſe, die blauen Lippen und endlich
das
bläuliche Antlitz.
Der Geiſt iſt ewig umdüſtert, die
Nerventhätigkeit
teils erhöht, teils unterdrückt, die Hände fangen
an
zu zittern und unſicher zu werden;
bald ſind es auch die
Beine
, die ihren Dienſt verſagen.
Zuerſt iſt der Geruch des
Atems
alkoholartig, bald wird es auch der Schweiß, ja der
ganze
Körper wird in Alkohol getränkt.
Bedenkt man, daß all dies im erſten Anfang nur davon
herrührt
, daß der Unglückliche ſich daran gewöhnt hat, durch
Branntwein
der Verdauung nachzuhelfen, ſo wird man es er-
klärlich
finden, wenn wir aufs ernſtliche von der Angewöhnung
des
Branntweins abraten und ſelbſt ſolchen Arbeitern, die viel
bei
der Arbeit ſchwitzen und atmen müſſen, wie namentlich
157147 Feuerarbeitern, aufs allerdringendſte äußerſte Mäßigung und
den
dasſelbe leiſtenden Kaffee anempfehlen.
Wer ernſtlich acht
auf
ſich giebt, wird das Maß genau für ſich ſelbſt zu beſtimmen
wiſſen
, wo ihm ein wenig Branntwein dann und wann als
Arznei
gut thut, und in ſolchem Falle wird ihm kein Vernünf-
tiger
den Genuß als ein Verbrechen anrechnen dürfen.
Es iſt ſehr ſchwer, eine allgemeine Regel für die Mäßig-
keit
anzugeben, wir wollen aber hier einen Hauptlehrſatz
hinſtellen
, von dem wir wünſchen, daß er recht ernſtlich be-
herzigt
werden mag.
Es giebt viele Menſchen, die von ſich ſagen: Ich kann
ein
Schnäpschen vertragen! und ſie verſtehen darunter, daß
ſie
davon nicht berauſcht werden.
Das aber iſt ein ſchlechter
und
gefährlicher Maßſtab! Will man einen ſicheren Maßſtab
haben
, ſo muß man nicht auf den Rauſch, ſondern auf den
Magen
acht haben.
So lange man ein tüchtiges Butterbrot
zum
Frühſtück ohne Branntwein verdauen kann, ſo lange iſt
die
Gefahr nicht groß, ſelbſt wenn man nach ein wenig Speck
oder
fettem Schinken das Bedürfnis nach etwas Branntwein
fühlt
;
ſobald aber der Moment kommt, wo man nach einem
Butterbrot
zum Frühſtück ein wenig Branntwein haben muß,
dann
iſt Gefahr vorhanden, und es iſt höchſte Zeit, daß man
ſich
an einen vernünftigen und menſchenfreundlichen Arzt wendet
und
ihm offen ſagt, daß man nur zu ihm komme, um das ſo
billige
Hilfsmittel des Branntweins meiden zu können.
Iſt
er
der rechte Mann, der er ſein ſoll, ſo wird er mit Freuden
Rat
und Hülfe bringen.
Mehr aber noch, als der Arzt, kann in ſolchen Fällen die
Hausfrau
helfen.
Eine aufmerkſame, wackere Hausfrau merkt ſchnell, wie es
um
den Magen des Mannes ſteht, und wenn ſie klug iſt und
ſich
und ihrem Hauſe eine wahre Wohlthat erweiſen will, ſo
kann
ſie durch leichte Opfer ſchweres Unglück abwenden.
158148 Hausfrau muß bedenken, daß nur ein wohlgenährter Mann
ſie
und ihre Kinder ernähren kann.
Jeder Pferdebeſitzer weiß
es
, daß ſein Pferd ihn nicht nähren kann, wenn er das Pferd
nicht
gut ernährt;
wie ſollte eine Frau nicht einſehen, daß ihr
Mann
, ihr Ernährer, wohlgenährt werden muß!?
Eine kluge,
brave
Frau merke ſich’s alſo:
Wenn der Mann zum Brannt-
wein
greift, ſo iſt meiſt die vernachläſſigte und ſchlechte Er-
nährung
daran ſchuld, und ſie eile, dem Übel mit aller Kraft
abzuhelfen
.
Muß ſie es ſich auch zuweilen von ihrem Munde
abſparen
, ſo thut ſie dennoch eine Wohlthat gegen ſich, wenn
ſie
in ſolchen Fällen, wo der Magen des arbeitenden Mannes
geſchwächt
iſt, für eine kräftige, mit Salz und Pfeffer gut ge-
würzte
Taſſe Fleiſchbrühe zum Frühſtück ſorgt.
Sie überraſche
den
Mann zuweilen mit einem Lieblingsgericht zum Frühſtück,
das
er mit Appetit verzehrt.
Oder ſie gewöhne ihn daran,
zum
Frühſtück noch einmal Kaffee zu trinken, der ihm bald den
Branntwein
vollſtändig erſetzen wird.
Sie hüte ſich ganz be-
ſonders
, ihm Ärger und Gram zu Hauſe zu machen, und
ſtrenge
alle ihre Kräfte an, dem Manne ſolch ein Mittagbrot
vorzuſetzen
, auf das er gerne ſeinen Appetit aufſpart.
Mit ſolchen kleinen Anſtrengungen, die einer braven Frau
nicht
ſchwer fallen dürfen, wird oft Mann und Weib und
Kind
, und dazu Ehre und Familie und Staat im wahren
Sinne
gerettet, und das brave Weib erwirbt ſich Verdienſte,
die
in der Folge nicht unbelohut bleiben.
X. Der Mittagstiſch.
Wir kommen jetzt zum Mittagstiſch, zur Hauptmahlzeit des
Tages
, und werden auch bei dieſem nicht den unglücklichen
Armen
, der eſſen muß, was er hat, und nicht den üppigen
Reichen
, der einen Genuß darin findet, das zu eſſen, was ein
anderer
nicht haben kann, ſondern die mittlere
159149 des Bürgers hauptſächlich in Betracht ziehen, der ein geſundes
Eſſen
wünſcht, um zur Thätigkeit friſch geſtärkt zu ſein.
Weshalb mag man wohl die Hauptmahlzeit in die Mitte
des
Tages verlegt haben?
Es geſchieht deshalb, weil das Eſſen auch eine Arbeit iſt
und
man während dieſer Arbeit wirklich ruhen muß.
Nun
halten
aber die körperliche Ermüdung und der Appetit gleichen
Schritt
, ſie ſtellen ſich beide gemeinſam nach drei bis vier Stunden
beim
Menſchen ein.
Da man nun ſchon um die Mittagszeit
körperlich
ruhen muß vor Ermüdung, und es ebenfalls gut iſt,
die
Arbeit des Eſſens nicht bei der Arbeit des Leibes vorzunehmen,
ſo
iſt es ganz richtig, wenn man dieſe Ruhe zum Mittagseſſen
benutzt
.
Und weil es eben die Mitte des Tages iſt, weil man
ſich
in dieſer Stunde erholen muß von der verrichteten Arbeit
und
vorbereiten zu der noch zu verrichtenden, darum iſt es ganz
in
der Ordnung, daß man hier die Hauptruhe des Tages wählt
und
in dieſer Hauptruhe die Hauptmahlzeit zu ſich nimmt.
Aber die Hauptmahlzeit will vorbereitet werden. Die
Hausfrau
muß in die Küche, denn dieſe Hauptmahlzeit vor-
nehmlich
iſt es, die warm genoſſen wird.
Es ſtellt ſich nun vor allem die Frage heraus: weshalb
kocht
man überhaupt die Speiſen?
Iſt es nicht natürlicher, die
Nahrung
ſo zu ſich zu nehmen, wie ſie die Natur bildet?
wes-
halb
genießt der Menſch außer ein wenig Obſt faſt garnichts
im
rohen Zuſtande?
Wozu macht er ſich ſo unendliche Mühe
mit
Mahlen und Backen, Kochen und Braten, welche das Tier
nicht
hat, das ſeine Speiſen fertig zubereitet findet in der Natur?
Woher rührt es, daß der Menſch ſo unendlich wähleriſch iſt
im
Eſſen und Trinken und eine ſo unendliche Reihe von Speiſen
in
Auſpruch nimmt, wie kein Geſchöpf in der Welt?
Warum
giebt
es Tiere, die nur vom Fleiſch, und wieder andere, die
nur
von Pflanzen leben, und weshalb genießt der Menſch ge-
miſchte
Koſt, zum Teil Fleiſch-, zum Teil Pflanzenſpeiſe?
160150
Der Magen des Menſchen iſt ſo geſchaffen, daß er nur
äußerſt
wenig rohe Speiſen verdauen kann.
Ganz ſo wie der
Nahrungsſtoff
der Erbſe eingeſchloſſen iſt in eine Hülle, ebenſo
iſt
in jeder Speiſe der eigentliche ernährende Stoff von einer
Hülle
umſchloſſen, den Zellwänden.
In der Kartoffel z. B.
iſt das Stärkemehl, welches ernährend iſt, eingeſchloſſen in
Millionen
kleiner Zellen, deren Wände unverdaulich ſind für
unſeren
Magen.
Durch gute Vergrößerungsgläſer kann man
dieſe
einzelnen Zellen ſehen, die für das bloße Auge unſichtbar
ſind
.
Würde man eine Kartoffel roh eſſen, ſo würden dieſe
Zellen
mit dem von ihnen eingeſchloſſenen Stärkemehl unver-
daut
wieder aus dem Körper ausſcheiden.
Wird aber die
Kartoffel
gekocht oder gebraten, ſo platzen durch die Aus-
dehnung
in der Wärme die Zellen und laſſen das Stärkemehl
frei
.
Während nun Tiere ſolche Magen und Verdauungs-
werkzeuge
beſitzen, die die härteſten Zellen auflöſen können,
während
z.
B. Tauben ganz rohe Erbſen verſchlucken und auch
verdauen
, beſitzt der Menſch den Geiſt, der ihn lehrte, ſich die
Speiſen
zuzubereiten und all das, was Tiere für ſich genießbar
vorfinden
, ſich durch Kunſt genießbar zu machen.
Das Kochen alſo iſt für den Menſchen ebenſo natürlich,
wie
das Kauen, denn das Kauen, das Zermalmen mit den
Zähnen
, iſt bei Tieren, die von Pflanzen leben, ebenfalls nichts
als
ein Zerreißen der Zellen.
Tiere, die keine Zähne haben,
z
.
B. die Vögel, beſitzen ungeheuer ſtarke Verdauungskräfte.
Aber ſo unnatürlich es wäre, wenn der Ochs, der Zähne zum
Zermalmen
von Erbſen hat, dieſe ganz verſchlucken wollte, wie
die
Taube, ebenſo unnatürlich wäre es, wenn der Menſch die
Erbſen
roh zermalmen wollte, wie ein Ochs.
Das, was man oft Kunſt nennt, iſt am Menſchen gleich-
falls
Natur;
denn ſeine geiſtigen Gaben ſind ſeine natürlichen
Gaben
;
und darum üben die Frauen eine ganz natürliche
Kunſt
, wenn ſie der Kochkunſt obliegen.
161151
XI. Notwendigkeit der verſchiedenartigſten Koſt.
Man halte es nicht für eine bloße Leckerei, wenn der
Menſch
wähleriſch in Speiſen iſt und von der verſchieden-
artigſten
Koſt ſeine Nahrung zieht.
Der menſchliche Leib iſt die verwandelte Speiſe, die er
ſelber
gegeſſen hat.
Nun iſt es zwar richtig, daß man auch
von
Brot und Waſſer eine Zeitlang leben kann, aber das
Weſen
des Menſchen iſt ſo mannigfaltig, ſeine Eigenſchaften
ſind
ſo außerordentlich vielfältig, ſein Thun und Laſſen, ſeine
Leidenſchaften
und ſein Trieb, ſein Begehren und ſein Wollen,
ſein
Schaffen und Denken ſind ſo unendlich an Verſchiedenheit
und
ſo reich an Veränderungen, daß der Leib, der der Träger
all
dieſer Verſchiedenheiten iſt, in der That auch aus dem
verſchiedenartigſten
Material gebildet werden muß.
Man hat die Beobachtung gemacht, daß Tiere, die nur
eine
und dieſelbe Nahrungskoſt haben, ſehr weſentlich ärmer
an
Geiſt ſind als Tiere, die reichhaltigere und verſchiedenere
Speiſen
zu ſich nehmen.
Ja, es iſt erwieſen, daß die Speiſe
die
Natur der Tiere vollſtändig umwandelt und ſie zu andere.
Weſen macht. Mit Recht leitet der geiſtvolle Moleſchott ſein
vortreffliches
Werk:
Lehre von den Nahrungsmitteln” mit
folgenden
Worten ein:
Die Nahrung hat die wilde Katze zur
Hauskatze
gemacht”, und beweiſt dadurch, wie die Nahrung die
Natur
der Tiere ändert, ja ihren Leib völlig umgeſtaltet.

Wenn
aber der ziviliſierte Menſch ein anderes und höheres,
geiſtiger
belebtes Weſen iſt, als der Wilde, ſo hat man Ur-
ſache
, dies auch dem Trieb zuzuſchreiben, der den Menſchen
lehrt
, in ſeinen Speiſen nicht auf das Einfachſte herabzuſinken,
ſondern
durch die mannigfachſte Koſt ſeinem Leibe die mannig-
fachſten
Eigenſchaften zu verleihen.
Die Natur ſelber aber hat dem Menſchen die untrüg-
lichſten
Merkmale verliehen, daß ſie es für gut hält, wenn er
verſchiedenartige
Speiſen genieße.
162152
Die Tiere, die von Pflanzen leben, und die Tiere, die
von
Fleiſchſpeiſen leben, ſind körperlich genau von einander
unterſchieden
.
Die Zähne der Pflanzenfreſſer ſind breit und
oben
abgeſtumpft, wie unſere Backzähne.
Sie haben die Be-
ſtimmung
, die Pflanzenfaſern zu zermalmen und die Zellen,
die
den Nahrungsſtoff in ſich einſchließen, zu zerkauen, wäh-
rend
die fleiſchfreſſenden Tiere nur ſpitze Zähne zum Zerreißen
der
Koſt haben, wie unſere Augenzähne.
Auch der Magen der
Pflanzenfreſſer
hat mehrere Abteilungen, die verſchiedene Dienſte
verrichten
.
Denn aus den Pflanzen wird nicht ſo leicht Vlut
bereitet
, wie aus Fleiſch, das die Blutſtoffe ſchon fertig in ſich
hat
.
Die Pflanzenfreſſer ſind zum großen Teil Wiederkäuer,
das
heißt, die Speiſen kommen aus der erſten Magenabteilung
wieder
in den Mund, wo ſie von den Zähnen nochmals zer-
malmt
werden.
Bei den Fleiſchfreſſern iſt dies nicht der Fall.
Endlich iſt der Darm der Pflanzenfreſſer lang, weil in ihm die
letzte
Arbeit der Verwandlung zu Blut vorgeht, und dieſe
Arbeit
bei Pflanzenkoſt bedeutender iſt, wohingegen der Darm
der
fleiſchfreſſenden Tiere kurz iſt, weil hier das Blut ſchon in
der
Koſt vorgebildet iſt.
Sieht man nun, daß der Menſch ſowohl Schneidezähne
vorn
, zu beiden Seiten ſpitze Zähne und an den Backen Malm-
zähne
hat, daß ſein Magen zur Verdauung von Pflanzen- und
Fleiſchkoſt
eingerichtet und ſein Darm ſo beſchaffen iſt, daß er
beide
Arten von Speiſe verarbeitet und zu Blut ausbildet, ſo
iſt
es keinem Zweifel unterworfen, daß die Natur ſelber ihm
gebietet
, in den Speiſen abzuwechſeln und die verſchiedene Koſt
zu
ſich zu nehmen.
Bemerkt man nun hierzu, daß die Fleiſchkoſt allein ein
Tier
wild, ſchnell und liſtig, während die Pflanzenkoſt es
zahm
, ausdauernd, aber auch träge an Geiſt macht, ſo kann
man
den Einfluß der Speiſe auf die Eigenſchaft des Leibes
nicht
leugnen, und man wird einſehen, daß es eine
163153 gegen den Menſchen iſt, wenn man ihn widernatürlich zu nur
einer
Art von Koſt gewöhnen wollte.
Das Beiſpiel an der Katze iſt in der That ſehr lehrreich:
man ſieht an ihr, wie die Gewöhnung an die Speiſe ſie wirk-
lich
leiblich und geiſtig umgeſtaltet hat.
Die wilde Katze hat
einen
kurzen Darm und iſt raubgierig;
die gezähmte Katze hat
einen
langen Darm und verrät nur zuweilen ihre alte Natur
durch
Argliſt und Falſchheit.
Man lernt hieraus, daß ver-
ſchiedene
Koſt Verſchiedenheit der Leibesbeſchaffenheit und ſogar
der
geiſtigen Natur verleiht, und man darf den Schluß ziehen,
daß
die Natur, die den Menſchen leiblich zu verſchiedener Koſt
ausgeſtattet
und ſeinem Geiſte ſo verſchiedene Eigenſchaften
reichhaltig
verliehen hat, auch verlangt, daß die Koſt des
Menſchen
reichhaltig und verſchiedenartig ſein ſoll.
Nach dieſer kurzen Vorbereitung wollen wir nun zu den
Speiſen
ſelbſt kommen, und zwar zur Hauptmahlzeit, zu dem
Mittageſſen
, zu welchem mit Recht die verſchiedenartigſte Koſt
gewählt
wird.
XII. Fleiſchbrühe.
In der Hausmannskoſt ſpielen Suppe, Gemüſe und Fleiſch
die
Hauptrolle bei der Mittagsmahlzeit.
Der richtige Takt lehrt die Frauen, dieſe Speiſen ſo zu-
ſammenzuſtellen
, daß ſie ſich gegenſeitig ergänzen, und jeder
Teil
dem Körper etwas biete, was dem anderen fehlt.
Die Hauptſpeiſen des Menſchen werden im allgemeinen
eingeteilt
in fettgebende und fleiſchgebende Speiſen.
Alle mehl-
haltigen
Speiſen verſorgen den Körper vorzugsweiſe mit Fett,
alle
eiweißhaltigen Speiſen verſorgen den Körper vorzugs-
weiſe
mit Fleiſch.
Zur Erhaltung des Körpers aber iſt es
auch
nötig, daß er außerdem noch Salze genießt, aus denen
ſich
die Knochen, die Haare, die Nägel und die Zähne bilden.
164154
Unſere häusliche Küche ſorgt in der That für all dies.
Noch bevor die Wiſſenſchaft es erforſchte, weshalb gerade
Speiſen
von ſolcher Beſchaffenheit gegeſſen werden, hatten
bereits
die vorſorglichen Hausfrauen ihre Küchen ſo eingerichtet,
daß
ſie die Naturbedürfniſſe wirklich befriedigten.
Aber nicht
allein
die Stoffe, ſondern auch die Art und Weiſe, wie dieſe
zubereitet
und aufgetragen werden, ſind weſentlich für die Er-
nährung
, und die Hausmannskoſt kann mit vollem Recht als
ein
Leitfaden für die wiſſenſchaftliche Betrachtung dienen.
Eine vorſorgliche Hausfrau wird vor allem erſt das Fleiſch
ans
Feuer ſetzen und für eine Suppe und ein gutes, weich-
gekochtes
Fleiſch ſorgen.
Sie zieht das Rindfleiſch anderen
Fleiſcharten
vor, weil in dieſem weniger Fett und mehr Eiweiß
und
Fleiſchfaſer enthalten iſt und es deshalb eine beſſere Brühe
und
ein kräftigeres Fleiſch abgiebt.
Durch das Kochen gewinnt das Fleiſch an Nahrkraft.
Vor allem wird durch dasſelbe der Verdauung vorgearbeitet.
Es
iſt eine Aufgabe der Küche, die Verdaulichkeit zu erleichtern
und
dem Magen eine Arbeit zu erſparen.
Das Fleiſch in rohem
Zuſtande
hält, wie geſagt, ſeine nährenden Beſtandteile in Zellen
eingeſchloſſen
, die leimartig ſind.
Durch das Kochen erweicht
der
Leim und geht in die Brühe über, daher wird die Fleiſch-
brühe
, wenn ſie kurz eingekocht iſt, klebricht, und wenn ſie er-
kaltet
, erſcheint ſie ſteif und gallertartig.
Dieſer Leim ſelber
iſt
zum Teil nährend und durch geeignete Vorrichtungen wird
er
ſogar aus Knochen und Knorpel gewonnen und zu Gallert-
tafeln
umgewandelt, die in Waſſer gekocht, eine mäßige Suppe
geben
.
Das Kochen hat alſo vor allem den Zweck, den Leim
der
Zellſtoffe aufzulöſen.
Iſt dieſer aber aufgelöſt, dann wird
der
eigentliche Nahrungsſtoff des Fleiſches frei, und der Magen
nimmt
ihn nicht nur leicht auf, um ihn zu verdauen, ſondern
er
findet ihn ſchon ſo vorbereitet, daß er ſich leichter in Blut
umwandelt
.
165155
Bevor aber das Fleiſch ins Kochen kommt, löſt ſich von
der
Oberfläche desſelben das Eiweiß des Fleiſches ab und ver-
miſcht
ſich mit dem Waſſer, und dies giebt der Fleiſchbrühe
die
eigentliche Kraft, die ernährend wirkt.
Später, wenn das
Waſſer
kocht, gerinnt das Eiweiß, die Brühe wird weiß, als
ob
das Weiße von Eiern darin wäre, und aus dem Innern
des
Fleiſches entweicht nun immer mehr dieſer Stoff und macht
die
Brühe immer kräftiger.
Während deſſen aber zerfließt das
Fett
des Fleiſches und löſen ſich die Salze desſelben auf, ſo
daß
eine gute Brühe zwar dem Fleiſch viel von ſeiner Kraft
entzieht
, aber die Kraft bleibt in der Brühe, und das Fleiſch
wird
durch das Kochen zerteilbarer für die Zähne und ver-
daulicher
für den Magen.
Inzwiſchen wird keine Hausfrau
vergeſſen
, das Kochſalz reichlich hinzuzuthun.
Dieſes löſt ſich
ſchnell
im Waſſer auf;
aber in demſelben Maße, wie das
Fleiſch
Teile ausſcheidet und dem Waſſer abgiebt, in demſelben
Maße
nimmt das Fleiſch Kochſalz in ſich auf, wodurch es nicht
nur
ſchmackhafter und verdaulicher, ſondern auch nahrhafter
wird
.
Denn ſowohl die Gewebe des menſchlichen Körpers,
wie
das Blut und namentlich die Knorpel bedürfen zu ihrer
Bildung
des Salzes.
Ein guter Landwirt miſcht daher auch
gerne
einige tüchtige Hände voll Salz unter das Futter der
Tiere
, und die Erfahrung lehrt, daß ſie dadurch ſtark und
wohlgenährt
werden.
Freilich kommen Fälle vor, wo man weniger eine gute
Brühe
und das Fleiſch ſelber dafür kräftiger haben will.
In
ſolchem
Falle darf die Hausfrau das Fleiſch nicht mit kaltem
Waſſer
beiſetzen, ſondern mit kochendem Waſſer.
So wie das
Fleiſch
ins kochende Waſſer kommt, gerinnt das Eiweiß auf
der
Oberfläche des Fleiſches und verſchließt dasſelbe, daß es
nicht
die Nahrungsſtoffe aus dem Innern frei läßt.
Auch das
Braten
im Ofen, wo das Fleiſch nicht vom Waſſer bedeckt
wird
, bringt dieſelbe Wirkung hervor.
Richtiger und
166156 iſt es indeſſen fürs Haus, eine gute Brühe zu bereiten und
mit
dieſer das Mittagseſſen zu beginnen.
Denn wer den Vormittag über thätig geweſen iſt, deſſen
Magen
bedarf vor allem einer Nahrung, die ihm nicht viel
Arbeit
macht, und eine Suppe iſt eine ſolche Nahrung.
Darum
bringt
eine gute Hausfrau vor allem eine gute Suppe auf den
Tiſch
.
XIII. Zweckmäßige Zuthat zur Fleiſchbrühe.
In der Suppe wird die Hausfrau gern etwas Mehl-
haltiges
einrühren und mitkochen, und in der That paßt dies
ganz
vortrefflich dazu.
Die Fleiſchbrühe enthält Leim und Eiweiß, und dieſe Be-
ſtandteile
verwandeln ſich im Körper zu Fleiſch.
Allein nicht
nur
der tieriſche Körper, ſondern hauptſächlich der thätige,
arbeitende
Körper erfordert ſolche Speiſen, die ſich in Fett um-
wandeln
können.
Denn Schweiß und Atem, die ſo notwendig
ſind
bei der Arbeit, werden ja durch das Fett unterhalten.
In einer Suppe alſo, die nur fleiſchgebende Beſtandteile
enthält
, iſt es ganz paſſend, etwas mitzukochen, das mehlhaltig
iſt
und im Körper auch Fett heranbildet.
Es iſt an ſich
gleichgültig
, was man hier wählt.
Es kann fertiges Mehl
oder
eine Gries- und Graupenart oder Reis oder auch Kar-
toffeln
ſein, immer iſt der Hauptbeſtandteil darin das Stärke-
mehl
, welches ſchon im Kochen zuckerhaltig wird und im Körper
ſich
in Fett umwandelt.
Der Unterſchied liegt nur darin, daß
in
der einen oder der anderen Suppenſpeiſe mehr oder weniger
Stärkemehl
enthalten iſt.
Am reichſten iſt das Stärkemehl im
Reis
vorhanden, weshalb lebhafte Kinder mit Recht ſo gerne
den
Reis eſſen.
In hundert Kilo Reis ſind fünfundachtzig
Kilo
Stärkemehl, während hundert Kilo Weizenmehl nur etwa
vierundſechzig
Kilo Stärkemehl enthalten.
Eine kluge
167157 frau wird alſo wiſſen, daß ſie von Reis weniger in die Suppe
zu
kochen braucht, als vom Mehl.
Die Gries- und Graupen-
arten
enthalten nur etwa die Hälfte ſo viel Stärkemehl, als der
Reis
, und Kartoffeln ſind ſo arm daran, daß fünf Kilo Kartoffeln
nur
ſo viel Stärkemehl geben, als ein Kilo Reis.
Dieſer iſt
daher
in der Suppe der Haushaltungen ſehr empfehlenswert.
Indeſſen liegt die Brauchbarkeit einer Suppenſpeiſe nicht
immer
an dem Nahrungsreichtum, ſondern oft auch an der
Leichtigkeit
, mit welcher ſie zubereitet wird.
Der Reis kann
nicht
in der Fleiſchbrühe ſelber, ſondern muß, wenn ſeine
Zellen
ordentlich auflockern ſollen, beſonders im Waſſer ab-
gekocht
werden, was dann eine gute halbe Stunde dauert.
Er
erfordert
alſo einen beſonderen Feuerraum und apartes Feuer-
material
;
im Gries dagegen iſt die Zelle bereits durch das
Mahlen
zerrieben und er wird gar, wenn er nur mit der
Fleiſchbrühe
ein paarmal aufkocht.
Man darf ſolche Umſtände
niemals
bei wiſſenſchaftlicher Betrachtung der Speiſen aus den
Augen
laſſen, denn Zeit und Feuermaterial koſten Geld und ver-
teuern
eine Speiſe in den Augen der praktiſchen Frauen, die der
Gelehrte
bei ſeinen chemiſchen Unterſuchungen für billig hält.
Es kommen auch noch andere Umſtände hinzu, welche
Speiſen
beliebt und allgemein gebräuchlich machen, trotzdem
ſie
wenig Nahrungsſtoff enthalten.
Ein Beiſpiel hierfür ſind
die
Kartoffeln.
Wie arm dieſe an Stärkemehl ſind, haben wir oben bereits
erwähnt
, und der Mann der Wiſſenſchaft ſtaunt mit Recht,
wenn
er ſieht, daß nach ſeiner Rechnung der Nahrungsſtoff der
Kartoffel
verhältnismäßig oft teurer bezahlt wird, als der des
Mehls
.
Und doch hat der ſtarke Gebrauch der Kartoffeln
ſeinen
guten Grund.
Die Zubereitung iſt für die Kartoffel,
wenn
ſie mit der Schale gekocht wird, die leichteſte.
Die arme
Hausfrau
, die ſich durch Arbeit etwas verdienen muß, hat oft
nicht
Zeit zur Vorbereitung des Mittageſſens und ſchlägt
168158 nicht gering an, wenn ſie ſolch ein Eſſen in der letzten halben
Stunde
gar hat, ohne dieſe Zeit am Herd zuzubringen.
Denn
die
Kartoffeln kochen nicht über und laufen nicht aus.
Hierzu
kommt
noch der Umſtand, der die Kartoffel ſelbſt am Tiſch des
Reichen
beliebt macht und der darin liegt, daß die Beſchaffen-
heit
des Stärkemehls in derſelben derart iſt, daß es ſich ſchon
im
einfachen Kochen in Zuckerſtoff umwandelt und ihr einen
angenehmen
Geſchmack verleiht, der anderen billigen Speiſen
mangelt
.
Wie außerordentlich leicht der Zuckerſtoff in der Kar-
toffel
ſich bildet, wird wohl jeder ſchon erfahren haben, wenn er
eine
Kartoffel gegeſſen, die etwas Froſt wegbekommen hat, wo-
durch
die Zelle ſchon im rohen Zuſtande berſtet und das Stärke-
mehl
ſchon während des Kochens in Zucker umgeſetzt wird.
XIV. Hülſenfrüchte.
Das Suppengrüne hat ſeine Beliebtheit vornehmlich als
Würze
und viel auch durch mediziniſche Eigenſchaften, die es
zum
Teil beſitzt;
wir übergehen dasſelbe, um zu den nahr-
hafteſten
Speiſen zu kommen:
das ſind die Hülſenfrüchte.
Erbſen, Bohnen und Linſen ſind ſo außerordentlich reich
an
fettgebenden und fleiſchbildenden Stoffen, daß ſie nicht nur
dem
Brot, ſondern ſogar dem Fleiſch nahe kommen.
Dieſe
Speiſen
ſind daher, wenn ſie gut zubereitet werden, mit Recht
ſehr
beliebt, denn ſie ſind billig und nahrhaft zugleich.
In
Haushaltungen
, wo das Fleiſch ein ſeltener Gaſt auf der Tafel
iſt
, da darf die Hülſenfrucht nicht fehlen.
In Kaſernen und
Gefängniſſen
ſpielt die Hülſenfrucht eine bedeutende Rolle, und
nachdem
man eine richtigere Einſicht in die Nahrungsfähigkeit
der
einzelnen Speiſen erhalten, ſucht man es mit Recht ſo ein-
zurichten
, daß in den ſechs Werkeltagen, in denen es kein
Fleiſch
giebt, der Gefangene einen Tag um den anderen eine
der
drei Hülſenfrüchte zur Speiſe erhält.
169159
Der fleiſchgebende Stoff, der dieſen drei Hülſenfrüchten
gemeinſam
iſt, wird Erbſenſtoff (Legumin) genannt.
Sie ſind
außerdem
an Stärkemehl noch etwas reicher als Brot und faſt
dreimal
ſo reich wie die Kartoffel.
Zum Teil iſt in der
Hülſenfrucht
auch fertiger Zuckerſtoff vorhanden, den man
namentlich
in der friſchen Zuckererbſe herausſchmeckt.
Daher
iſt
der fleiſchgebende Inhalt außerordentlich reich und reicher,
als
in anderen Pflanzen;
nur der Waſſergehalt iſt gering, und
deshalb
iſt es nicht gut, die Hülſenfrucht trocken zu genießen.
Die junge Erbſe und Bohne hat noch einen beſonderen Vor-
zug
, daß ſie grün mit den Hülſen und Schalen gegeſſen werden
kann
, die ebenfalls reich ſind an Stärkemehl und Zucker.
Dahingegen kann man es den Hausfrauen nicht dringen@
genug
empfehlen, die trockenen Hülſenfrüchte durchzuſchlagen,
wodurch
die Hülſen abgeſondert werden, denn die trockene
Hülſe
wird weder durch den Speichel noch durch den Magen-
oder
Darmſaft aufgelöſt, und beläſtigt den Körper in einer
Weiſe
, die ihn oft krankhaft reizt.
Eine Eigentümlichkeit beim Kochen der Hülſenfrüchte wird
jede
Hausfrau wohl ſchon gemerkt haben.
Zuweilen kochen
Erbſen
ſtundenlang, ohne weich zu werden;
im Gegenteil
werden
junge Erbſen, die roh weich ſind, beim Kochen härter,
während
oft dieſelben Erbſen ſehr leicht nach halbſtündigem
Kochen
ſich weich anfühlen und aus den Hülſen hervorplatzen.
Der Grund hiervon liegt nicht in der Erbſe, ſondern im
Waſſer
, worin ſie gekocht wird.
Unſere Frauen wiſſen ſchon
von
der Wäſche her das harte Waſſer vom weichen zu unter-
ſcheiden
.
Im harten Waſſer zerkrümelt ſich die Seife und ſieht
wie
graue aus, in weichem Waſſer löſt ſie ſich vollſtändig auf
und
bildet eine ſchleimige Flüſſigkeit.
Es rührt dies daher,
daß
das harte Waſſer, unſer meiſtes Brunnenwaſſer, Kalk in
ſich
hat, der eine chemiſche Verbindung mit den Fettſäuren der
Seife
eingeht und einen unlöslichen Stoff damit bildet,
170160 rend Regenwaſſer wenig oder gar keinen Kalk enthält und daher
die
Seife vollſtändig auflöſt.
Es geht mit dem Erbſenſtoff
ebenſo
.
Der Kalk des Brunnenwaſſers, der ſich im Theekeſſel
am
Boden als Waſſerſtein anſetzt, verbindet ſich mit einigen
Stoffen
der Erbſe und bildet einen ſehr harten, unverdaulichen
Körper
, während das Regenwaſſer den Erbſenſtoff auflöſt.
Es iſt daher klar, daß man an Brennmaterial ſpart und
an
Nahrung gewinnt, wenn man Erbſen, Bohnen und Linſen
in
weichem Waſſer kocht, und zur Beruhigung unſerer Haus-
frauen
wollen wir ihnen nur ſagen, daß Regenwaſſer, durch
Leinwand
gegoſſen, recht reinlich iſt, namentlich wenn man es
ein
paar Stunden ruhig ſtehen läßt und dann einen Teil von
oben
abſchöpft.
Von Erbſen, Bohnen und Linſen wird im geſunden Körper
Blut
und Fleiſch und Milch und Fett gebildet.
Wenn die
unverdaulichen
Hülſen entfernt werden, dann verlieren ſie auch
das
Beläſtigende und Blähende, das ſie unbeliebt macht;
und
außerdem
iſt in dem Erbſenſtoff noch Phosphor enthalten, der
zur
Bildung der Knochen und des Gehirns notwendig iſt, ſo
daß
man es wohl dem Erbſenſtoff nachrühmen kann, er ſei gut
für
den Leib und den Geiſt.
XV. Gemüſe und Fleiſch.
Es iſt eine deutſche Gewohnheit, Gemüſe und Fleiſch als
zuſammengehörig
zu betrachten.
In den gewöhnlichen Gemüſen iſt wenig Nahrungsſtoff
vorhanden
.
In unſeren Kohl- und Kräuterarten beſteht neun
Zehntel
ihres Gewichts aus Waſſer.
Es bleibt alſo nur ein
kleiner
Reſt für den eigentlichen Nahrſtoff, für das Pflanzen-
Eiweiß
, das Stärkemehl und den Zucker.
Nur die Wurzel-
gemüſe
, z.
B. die Rüben und die jungen Mohrrüben,
171161 einen großen Zuckerreichtum, weshalb die letzteren namentlich
für
Kinder und ſelbſt für Geneſende und Wöchnerinnen zu
empfehlen
ſind.
Der Genuß unſerer gewöhnlichen Gemüſe alſo
wäre
, wenn man nur auf den Nahrungsſtoff ſieht, eine Art
Verſchwendung
.
Allein ſie beſitzen Stoffe, die ſehr wohlthätig für die Er-
nährung
werden, wenn man ſie mit Fleiſch genießt.
Sie ent-
halten
dieſelben organiſchen Säuren, die das Obſt ſo beliebt
machen
und die Eigenſchaft beſitzen, das lösliche Eiweiß des
Fleiſches
im gelöſten Zuſtand zu erhalten.
Sie erſparen alſo
den
Verdauungswerkzeugen eine Arbeit und führen das feſte
Fleiſch
ſchneller in die blutbildende Flüſſigkeit über.
Daher iſt
es
auch erklärlich, daß man nach Tiſch, ſelbſt wenn man voll-
ſtändig
geſättigt iſt und keinen Biſſen mehr zu ſich nehmen
mag
, noch gern ein wenig ſaftiges Obſt ißt oder vom Obſt-
Kompott
etwas zu ſich nimmt, und ſtatt Beſchwerde nur noch
Erleichterung
im Genuß empfindet.
Unſere üblichen Gemüſe-
arten
haben denſelben Nutzen und ſind daher, mit dem Fleiſch
genoſſen
, dem Körper zuträglich.
Weshalb aber mögen wohl manche Hausfrauen das Ge-
müſe
vor dem Fleiſch und das Obſt nach dem Fleiſch auf den
Tiſch
bringen?
Schwerlich werden die Hausfrauen hierauf eine richtige
Antwort
zu geben wiſſen;
aber trotzdem ihnen der Grund nicht
klar
iſt, handeln ſie dennoch hierin, wie in unendlich vielen
anderen
Dingen, nach richtigem Herkommen.
Im Obſt iſt die
wohlthuende
organiſche Säure bereits fertig vorgebildet, ſie
braucht
vom Magen nur aufgenommen, aber nicht produziert
zu
werden.
Man handelt alſo vorteilhaft, das Obſt nach dem
Fleiſch
zu genießen und die Verdauung gemeinſam vor ſich
gehen
zu laſſen.
In unſeren Gemüſearten aber wird die
organiſche
Säure meiſt erſt im Magen während des Ver-
dauungsgeſchäftes
frei.
Genießt man ſie vor dem Fleiſch, ſo
172162 kann die freiwerdende Säure die Verdauung des Fleiſches fördern, wohingegen nach dem Fleiſch genoſſen, die Säure oft einen Poſttag zu ſpät kommen würde. Daher iſt es auch er- klärlich, daß man ſolche Gemüſearten, wo die Säure bereits durch Gährung hervorgebracht iſt, wie bei dem ſo beliebten Sauerkraut, ſehr gern mit dem Fleiſch zugleich als eine Art Kompott genießt.
Die Gemüſe aber haben noch den großen Vorzug, daß ſie
reich
ſind an denjenigen Erdſalzen, die der Körper zu ſeinem
Wohlergehen
bedarf.
Es ſind in den verſchiedenen Gemüſe-
arten
ſehr verſchiedene Dinge vorhanden, von denen man kaum
glauben
ſollte, daß man ſie eſſen kann, denn ſie gehören u.
a.
zu den Metallen, wie Eiſen, Kalium und Natrium, die aber
alle
in unſerem Körper wichtige Rollen ſpielen.
Man muß
ſich
daher nicht wundern, wenn ein verſtändiger Hausarzt oft
Gemüſe
verſchreibt ſtatt einer Arznei, ja man hat Urſache, ihm
zu
danken, wenn er öfter die Hausfrau auf den Markt, als
das
Dienſtmädchen nach der Apotheke ſchickt, denn mannigfache
Krankheitserſcheinungen
werden im Keim unterdrückt durch
ſolche
organiſche Medikamente, welche die Natur ſtets nach-
haltiger
zu bereiten verſteht, als der Chemiker im Laboratorium.

Um
nur eines dieſer Mittel zu erwähnen, wollen wir den
Spinat
anführen, deſſen Genuß für bleichſüchtige Kinder und
junge
Mädchen ganz vortrefflich iſt.
Die Bleichheit rührt von
einem
Mangel an Eiſen im Blute her.
Nun kann zwar jeder
Arzt
Tropfen verſchreiben, die Eiſen enthalten, aber die Wirkung
ſolcher
künſtlichen unorganiſchen Doſen iſt zuweilen der Ver-
dauungskraft
des Magens ſchädlich, während der Spinat eiſen-
haltig
von Natur und immer eine beſſere, eine organiſche
Arznei
und Speiſe zugleich iſt.
Genießt man nun Gemüſe und Fleiſch, ſo hat man ſeinem
Leib
genüge gethan.
Es braucht auch nicht viel Fleiſch zu
ſein
.
Etwa 100—150 Gramm täglich reichen vollkommen
173163 einen Menſchen aus. Das Fleiſch iſt arm an Waſſer, dafür
iſt
das Gemüſe reich daran, das Gemüſe iſt arm an Eiweiß,
dafür
thut das Fleiſch das ſeinige hinzu, und es ſtellt ſich ſo
eine
Gleichmäßigkeit heraus, die gerade geeignet iſt, ein Gemenge
zu
bilden, wie es das Blut braucht, das unſeren Leib ernährt.
Unſere Hausmannskoſt iſt alſo nicht zufällig ſo, und noch
weniger
iſt es Willkür unſerer Hausfrauen, wenn ſie den Tiſch
derart
verſorgen und ordnen, ſondern wir haben Urſache, an-
zuerkennen
, daß ſie durch die Praxis weit früher auf richtigere
Bahnen
geleitet worden ſind, als die Wiſſenſchaft, die erſt ſehr
ſpät
dieſer praktiſchen Bahn zu folgen im ſtande war.
Wie aber ſieht es nun mit einem Mittagsſchläf-
chen
aus?
XVI. Das Mittagsſchläfchen.
Ein altes Sprichwort ſagt: Nach dem Eſſen ſollſt du
ſtehen
oder tauſend Schritte gehen! Die Gewohnheit indeſſen
hat
ſtark um ſich gegriffen, weder zu ſtehen, noch zu gehen,
ſondern
möglichſt gemächlich zu ruhen und, wenn’s angeht,
ein
wenig zu ſchlummern.
Wir haben es bereits erwähnt, daß Eſſen und Verdauen
auch
eine Arbeit iſt.
Freilich mag es für Viele die liebſte und
für
Manche die einzige Arbeit ihres Lebens ſein;
aber eine
Arbeit
iſt es jedenfalls für All und Jeden, und es iſt wichtig,
daß
man während derſelben Ruhe hat.
Wer ſich einbildet,
fleißig
zu ſein, wenn er ſich nicht Zeit zum Eſſen nimmt, wer
unter
ſtarker leiblicher Bewegung ſein Mittagbrot verzehrt, der
bringt
ſich mehr aus als ein.
Die Thätigkeit nach außen ſtört
die
innere Thätigkeit.
Der Schweiß, der nach außen tritt,
entführt
dem Körper Feuchtigkeit, ſo daß ſchon der Speichel
des
Mundes ſpärlich wird.
Dieſer aber iſt zur Verdauung
notwendig
.
Es wird wohl ſchon Jeder die Erfahrung
174164 haben, daß man bei großer Ermüdung das Gefühl der Trocken-
heit
im Munde verſpürt und ein Stückchen Semmel einem ſo
ausgetrocknet
vorkommt, daß es, wie man ſich ausdrückt, im
Halſe
ſtecken bleibt.
Wie es mit dem Speichel iſt, ſo iſt es
mit
den anderen Verdauungsflüſſigkeiten, und oft fühlt man in
ſolchen
Fällen, daß ein Biſſen im Magen wie ein Stein liegt,
der
erſt durch einen Trunk aufgeweicht werden müßte.
Es iſt daher wichtig, vor dem Eſſen ein wenig zu ruhen,
während
desſelben nicht andere Arbeiten vorzunehmen und
hauptſächlich
nach dem Eſſen den Körper nicht äußerlich anzu-
ſtrengen
.
Das Eſſen iſt eine innerliche Arbeit, und man ſoll
möglichſt
bei dieſer nicht zugleich äußerlich arbeiten.
Die Er-
fahrung
werden wohl ſchon viele gemacht haben, und ſie iſt von
der
Wiſſenſchaft beſtätigt, daß ſich ſelbſt im heißeſten Sommer
kurz
nach dem Eſſen der Echweiß verliert;
Beweis genug, daß
bei
der Thätigkeit der inneren Organe die äußeren ruhen müſſen.
Es iſt alſo während, vor und nach dem Eſſen durchaus Ruhe
nötig
, und dieſe Ruhe iſt es, die uns auch nach Tiſch träge
macht
und uns die Neigung giebt, ein wenig zu ſchlummern.
Aber auch nur ein wenig. Selbſt diejenigen, die ſich
daran
gewöhnt haben, fühlen es, daß ſie mit einem halb-
ſtündigen
Halbſchlummer genug haben und daß ſie unerquickt
ſind
, wenn ſie lange ſchlafen.
Der Grund hiervon iſt folgender:
Der Verdauungsprozeß im eigentlichen Sinne geſchieht
auf
chemiſchem Wege, durch Auflöſung der Speiſen vermittelſt
des
Magenſaftes.
Dieſe Verdauung wird aber befördert durch
Bewegungen
des Magens, der die Speiſen von einer Seite
zur
anderen hinſchiebt und ſie unter einander bringt und zu
einem
Ballen umgeſtaltet, deſſen einzelne Teile verſchmolzen
ſind
.
Zu dieſem erſten Akt der Verdauung iſt die Ruhe zu-
träglich
, und darum iſt der Schlaf während dieſer Zeit ſo ſüß
und
angenehm.
Zur weiteren Verdauung jedoch iſt
175165 Energie nötig, die während des Schlafes nicht vorhanden iſt
und
die, weil ſie eben fehlt, den Schlaf unruhig oder die Ver-
dauung
unvollkommen macht.
Wer ſich mit vollem Magen abends zu Bette legt, der
wird
dies oft empfinden.
In der erſten Stunde iſt der Schlaf
angenehm
und ungeſtört;
denn dem erſten Akt der Verdauung
iſt
die äußerliche Ruhe günſtig.
Sodann aber beginnt der
Schlaf
geſtört zu werden, man hat mit Ermüdung und Ver-
dauungsbeſchwerden
zu kämpfen und erhebt ſich am Morgen
aus
dem Bette mit Kopfſchmerz, belegter Zunge und halb-
verdorbenem
Magen.
Dies wird genügen, um anzudeuten, daß es kein Nachteil
iſt
, wenn man nach Tiſch ein wenig ſchlummert, daß es aber
nachteilig
iſt, wenn ſich dieſer Schlummer lange hinzieht.
Schwere im Kopf und übler Geſchmack im Munde ſind die
beſten
Anzeichen, daß man des Guten zu viel gethan hat, und
wer
dieſe Empfindungen hat, der thut gut, ſchnell aufzubrechen,
durch
ein Glas friſches Waſſer ſich anzuregen, ſich durch Waſchen
mit
recht kaltem Waſſer zu ermuntern.
Denn der Moment iſt
da
, wo die Verdauung beſſer vor ſich geht bei der Thätigkeit,
als
bei der Ruhe, und jeder, der dies fühlt, betrachte es als
eine
Aufforderung der Natur, die ihm zuruft:
Menſch, du haſt
genoſſen
und geruht, friſch auf, die Zeit iſt da zur Arbeit.
Wer dieſem Rufe munter folgt, deſſen Thätigkeit wird
gedeihen
.
XVII. Waſſer und Bier.
Wenn am Vormittag der Appetit nach Speiſen bei den
arbeitenden
Menſchen vorwaltet, ſo iſt am Nachmittag mehr
der
Durſt rege und das natürlichſte und friſcheſte Getränk iſt
in
dieſem Falle ein gutes Glas Waſſer.
Macht das Waſſer auch nicht ſatt, ſo bewirkt es doch
176166 die eigentliche Verflüſſigung der Speiſen, die zu Blut werden,
und
das Blut iſt ſo reich an Waſſer, daß unſere gleichfalls waſſer-
haltigen
Speiſen uns damit nicht genügend verſorgen können.
Ohne Waſſer findet weder die Verdauung noch die Er-
nährung
, weder die Blutbildung noch die Abſonderung ſtatt.
Es iſt bemerkenswert, daß die thätigſten Organe des menſch-
lichen
Körpers, das Gehirn und die Muskeln, am waſſerreichſten
ſind
.
Das Waſſer alſo, obgleich es keine Nahrungsſtoffe ent-
hält
, iſt hiernach wohl eine Nahrung zu nennen und es iſt
bekannt
, daß man längere Zeit ohne Speiſen, als ohne Trank
ſich
erhalten kann.
Das Waſſer, das wir genießen, ſpielt demnach eine wichtige
Rolle
im Körper;
es hat eine dreifache Verwendung.
Erſtens verbinden ſich die Beſtandteile des Waſſers, der
Waſſerſtoff
und der Sauerſtoff, mit den Speiſen und bewirken
die
Verwandlung derſelben.
Das Stärkemehl, das wir in
Pflanzenkoſt
genießen, kann ohne Waſſer nicht in Zucker ver-
wandelt
werden.
Da das Stärkemehl ſich in Fett umwandelt,
ſo
würden wir des Fettes entbehren, wenn wir nicht Waſſer
zu
uns nehmen, ſo ſonderbar es auch klingt, daß wir vom
Waſſer
fett werden ſollten.
Das Waſſer hat ferner die Eigenſchaft, all die Flüſſig-
keiten
zu erhalten, die in unſerem Körper nötig ſind;
und da
dieſe
ausgeſchieden werden, ſo muß das Waſſer den Erſatz
desſelben
bieten.
In Atem, Schweiß und Harn verlieren wir
fortwährend
Waſſer und müſſen deshalb ſolches wieder ein-
nehmen
.
Wer viel ſchwitzt und viel atmet, wie z. B. bei der
Arbeit
oder auf der Fußwanderung, der muß auch deshalb
mehr
Waſſer trinken.
Es hat aber der Genuß des Waſſers noch eine dritte Be-
ſtimmung
, indem dieſes uns einen Teil der Salze und der
Stoffe
zuführt, die in ihm beigemiſcht oder aufgelöſt ſind und
deren
unſer Körper zu ſeiner Bildung bedarf.
Zum
177167 wenden wir daher nicht deſtilliertes Waſſer an, das künſtlich
gereinigt
iſt von all den metalliſchen und erdigen Stoffen,
ſondern
wir brauchen das Quell- und Brunnenwaſſer, das
reichhaltig
damit verſehen iſt und ziehen dies ſogar dem reinſten
Regenwaſſer
vor, das wenig davon enthält.
Das Waſſer hat die vortreffliche Eigenſchaft, daß man
nicht
leicht davon zu viel trinken kann.
Es wird dasſelbe ſchon
im
Magen aufgeſogen und geht von da ins Blut über.
Es
gewährt
daher eine ſchnelle Kühlung, die nur ſchädlich werden
kann
, wenn man zu ſehr erhitzt iſt.
Nur dann wird das
Waſſer
nicht im Magen aufgeſogen, wenn es Salze enthält,
die
es concentrierter machen, als die Blutflüſſigkeit iſt, z.
B.
wenn man Glauberſalz oder Bitterſalz darin aufgelöſt hat.
Es
gelangt dann in den Darm und äußert hier teils als
Flüſſigkeit
, teils durch Reiz des Salzes auf die Darmnerven
jene
mediziniſche Wirkung, die oft benutzt wird.
Ähnlich wie
dieſes
ſalzhaltige Waſſer wirken manche Brunnenkuren, die
namentlich
bei Unterleibskrankheiten angewandt werden.
Das gewöhnliche Trinkwaſſer aber, das ſchnell ins Blut
übergeht
, bewirkt die ſchnelle Ausſcheidung durch Schweiß,
Atem
und Harn, und hierauf beruht die ſehr beachtenswerte
Wirkung
der Waſſerkuren, wo ein Glas Waſſer oft beſſer wirkt
als
eine Flaſche Medizin.
Wartet man mit der Stillung des Durſtes, bis mehrere
Stunden
nach dem Mittageſſen verfloſſen ſind, dann erquickt
uns
ein Trunk Bier.
Das Bier enthält Nahrungsſtoffe und
iſt
je nach ſeinem Inhalt mehr oder weniger reich an Eiweiß,
Zucker
, Gummi, Hopfenbitter und Alkohol.
Die Verſchiedenheit
der
Gährung und der Zubereitung giebt die verſchiedenen Bier-
klaſſen
, von denen in Berlin das Braunbier, Bitterbier und
Weißbier
die gebräuchlichſten ſind.
Im Braunbier iſt der Nahrungsſtoff vorherrſchend; es wird
daher
mit Recht dem andern vorgezogen, wenn es darauf
178168 kommt, Nahrungsſtoffe in der leichteſten und ſchnellſten Form
zu
ſich zu nehmen.
Mit Recht giebt man es daher den Müttern
und
den Ammen, wenn ſie Kinder an der Bruſt haben.
Dieſe
Bierſorte
, wenn ſie gut iſt, iſt eine Art kalte Suppe.
Wer
hungrig
und noch ſo ſehr echauffiert iſt, daß er noch nichts
eſſen
kann, dem wird ſolche kalte Suppe einen guten ſchnellen
Dienſt
leiſten.
Das jetzt ſo ſehr in Aufſchwung gekommene
bairiſche
Bier nach unſerer obigen Klaſſifikation ein Bitter-
bier
iſt außerordentlich verſchieden an Bitterſtoffen und ent-
hält
eine ſtärkere Portion Alkohol, der ihm die Vorteile des
Branntweins
giebt, meiſt ohne deſſen Nachteile nach ſich zu
ziehen
.
Es ſättigt daher nicht, ſondern reizt den Appetit und
iſt
weniger für den Nachmittag, als für das Frühſtück und
den
Abend geeignet.
Das Weißbier hat ſeinen Wert im Zucker
und
in der Kohlenſäure, die es enthält;
es hat daher die
Wirkung
des Zucker- und Selterwaſſers an ſich und iſt für
diejenigen
zu empfehlen, denen ein Brauſepulver oft gut thut.
XVIII. Abendbrot.
Keine Stunde iſt ſo angenehm als die Abendſtunde nach
vollbrachtem
Tagewerk, und das Volk hat Recht, wenn es die-
ſelbe
den Feierabend nennt, denn es liegt eine Feierlichkeit und
eine
Ruhe über derſelben, die der Seele und dem Leibe wohl thut.
Auch der Genuß des Leibes in dieſen Abendſtunden, auch
die
Speiſen des Abendbrotes ſollen nicht die Feierlichkeit des-
ſelben
ſtören durch eine Laſt, die man dem Magen aufbürdet.
Das Eſſen ſoll nur ergänzen, was man in den letzten Stunden
der
Arbeit an Kraft verloren hat;
es ſoll nicht mehr im vor-
aus
gegeſſen werden, um Kraft zur nächſten Arbeit zu haben.

Denn
man hat die Nachtruhe vor ſich, die am ungeſtörteſten
iſt
, wenn der Magen wenig zu verarbeiten hat.
179169
Wer Schlafende flüchtig beobachtet und die langen Atem-
züge
und den Schweiß bemerkt, der meint wohl, daß man im
Schlafe
viel Kohlenſäure und Waſſer verliert und deshalb auch
nur
gehörig mit Speiſen verſorgt den Körper zu Bette legen
müſſe
.
Allein das iſt ein Irrtum. Der Atem des Schlafenden
iſt
lang und tief, aber außerordentlich langſam, und der Schweiß
rührt
nicht von der größern Menge des Waſſers her, die man
im
Schlafe verliert, ſondern davon, daß der Körper durch Decken
und
geſchloſſene Zimmer mehr geſchützt iſt vor Luftzug, der die
Hautdünſtung
entfernt, und deshalb während des Wachens den
Schweiß
nicht ſo leicht ſich anſammeln läßt.
Im Gegenteil
verbraucht
man während des Schlafes weniger von den Kräften
des
Körpers als während des Wachens und man verſpürt auch
deshalb
des Nachts keinen Hunger und iſt am Morgen weniger
ermattet
, als man ſein müßte nach ſo vielſtündigem Faſten.
Hieraus aber ergiebt ſich ſchon, daß das Abendeſſen nicht
ein
Eſſen für die Nacht, ſondern für die letzten Stunden des
Tages
ſein ſoll.
Es ſoll kein Eſſen pränumerando, ſondern
ein
Eſſen poſtnumerando ſein.
Es ſind deshalb zum Abendeſſen nur leicht ernährende
Speiſen
zu wählen und dieſe müſſen auch, wenn der Schlaf
ruhig
von ſtatten gehen ſoll, leicht verdaulich und mindeſtens
zwei
bis drei Stunden vor dem Schlafengehen genoſſen werden.
Ein warmes Abendbrot iſt für geſunde Menſchen nicht
notwendig
.
Denn das Mittagbrot wird darum nur warm ge-
geſſen
, damit der Leim und das Fett der Speiſen flüſſig bleiben
möge
, am Abend aber ſind ſolche Speiſen nicht nötig.
Wer indeſſen mit einem Butterbrot und einem Glas Bier
nicht
zufrieden iſt, der mag, wenn er es haben kann, etwas
Käſe
eſſen;
allein man hüte ſich Fettkäſe als Speiſe für den
Abend
zu betrachten, denn alle Fette ſind ſchwer löslich im
Magen
;
dahingegen ſind alle Sauermilchkäſe, wie z. B. unſere
Sorten
von Kuhkäſe nicht nur leichter verdaulich, ſondern
180170 reizen zugleich, wenn ſie mit Kümmel und Salz gut verſorgt ſind,
den
Magen und befördern, wie eine Art Gewürz, die Abſonde-
rung
des Magenſaftes.
Dieſer Eigenſchaft verdankt ſelbſt der
Süßmilchkäſe
den Vorzug, daß man ihn am Schluß der reichlich
verſorgten
Tafel herumreicht.
Denn wenn er auch an und für
ſich
ſchwer verdaulich iſt, ſo bewirkt er doch in ſehr kleiner
Portion
durch Reizung des Magens die Vermehrung des Magen-
ſaftes
und trägt daher zur Verdauung der andern Speiſen bei.
Will man jedoch durchaus etwas Nahrhaftes zum Abend
genießen
, ſo verſehen weichgeſottene Eier dieſen Dienſt vor-
trefflich
.
Der Nahrungsreichtum der Eier ſteht dem des Fleiſches
vollkommen
gleich.
Unſere Hühnereier vereinigen in ſich alle
Vorzüge
des Fleiſches;
ja das eigentliche Fleiſchgebende im
Fleiſche
iſt das Eiweiß, das ſeinen Namen vom Eiweiß der
Eier
entlehnt hat.
Da ganz hart geſottene Eier ſchwerer verdaulich ſind, ſo
iſt
das halbgeſottene am zuträglichſten.
Man bereitet dieſe am
beſten
, wenn man das Waſſer früher kochen läßt und dann
erſt
die Eier einlegt.
Der Grund davon iſt, daß durch das
kochende
Waſſer die oberſte Schicht des Eiweißes ſchnell hart
wird
und ſo eine dicke Schale bildet, die die Wärme nicht
vollſtändig
bis zu dem Dotter eindringen läßt.
Setzt man die
Eier
aber mit kaltem Waſſer bei, ſo erwärmt ſich das Ei mit
dem
Waſſer gleichmäßig bis ins Dotter hinein und läßt dieſes
beim
Kochen ſchnell hart werden.
In Geſellſchaften und Familien iſt es üblich, eine Taſſe
Thee
zum Abendbrot herumzureichen.
Der Thee iſt kein Nah-
rungsmittel
, aber er hat alle Eigenſchaften des Kaffees.
Er
erwärmt
das Blut, er erhöht die Thätigkeit des Herzens;
er
verhilft
zu einer gewiſſen Munterkeit des Geiſtes und belebt
daher
oft die Unterhaltung und die Gemütlichkeit.
Druck von S. Bernſtein in Berlin.
181
Naturmiſſenſchaftliche Volksbiicher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Auflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Eotonié und R. Hennig.
Zweiter Ceil.
43[Figure 43]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
182
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
183
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
## Die Ernährung.
I
. # Nichts als Milch # 1
II
. # Der Menſch, die verwandelte Speiſe # 3
III
. # Was für wunderliche Speiſen wir eſſen # 5
IV
. # Wie die Speiſen für uns von der Natur vorbereitet werden # 7
V
. # Was wird aus der Muttermilch, wenn ſie in den Körper
# des Kindes kommt # 9
VI
. # Wie das Blut im Körper zum lebendigen Körper wird # 11
VII
. # Der Kreislauf der Stoffe # 13
VIII
. # Die Nahrung # 16
IX
. # Einige Verſuche über die Ernährung # 18
## Vom Inſtinkt der Tiere.
I
. # Was iſt Inſtinkt? # 21
II
. # Unterſchied des Inſtinkts der Pflanze und des Tieres # 26
III
. # Der Inſtinkt des Tieres # 28
IV
. # Die beſtimmten Zwecke des Inſtinkts # 30
V
. # Inſtinktmäßige Liſt der Tiere # 33
VI
. # Inſtinktmäßige Wahl der Nahrungsmittel # 35
VII
. # Inſtinkt zum Sammeln und Aufſpeichern der Nahrungs-
# mittel # 36
VIII
. # Kunſt der Tiere bei Einrichtung ihrer Wohnungen # 39
IX
. # Vorſorge der Inſekten für ihre Jungen # 43
X
. # Elterlicher Unterrricht der Tiere # 47
XI
. # Das Benehmen der Tiere gegen ihre Feinde # 49
XII
. # Der Inſtinkt der Geſelligkeit # 51
XIII
. # Verſtändigung der Tiere untereinander # 54
XIV
. # Das Leben der Bienen # 57
XV
. # Anſiedelung der Bienen # 59
XVI
. # Der Bau der Bienenzellen #
11184IV # # Seite
XVII
. # Bienen-Eier und deren Entwickelung # 64
XVIII
. # Tod und Entſtehung einer Bienenkönigin # 66
XIX
. # Das Geſellſchaftsleben der Ameiſen # 68
XX
. # Das Geſellſchaftsleben der Termiten # 72
XXI
. # Der Soldatenkrieg der Termiten # 73
XXII
. # Der Wander-Trieb der Tiere # 76
XXIII
. # Der Wander-Inſtinkt der Störche # 78
XXIV
. # Die Taube # 80
XXV
. # Der Einfluß der menſchlichen Umgebung auf die Haustiere # 83
XXVI
. # Bewußtſein bei Tieren # 84
XXVII
. # Merkwürdige Eigentümlichkeiten des Hundes # 86
XXVIII
. # Verſtandes-Entwickelung bei den Affen # 92
XXIX
. # Die Menſchenähnlichkeit der Affen hinſichtlich ihres Be-
# nehmens # 98
XXX
. # Das Nervenſyſtem der Tiere # 100
XXXI
. # Die Sonderung der verſchiedenen Nervenſyſteme bei den
# höheren im Gegenſatz zu den niedern Tieren # 103
1851
Die Grnährung.
I. Nichts als Milch.
Denke dir einen Menſchen, der mit dem ſchärfſten Verſtand
begabt
iſt, der es aber nicht aus Erfahrung weiß, daß Säug-
linge
wachſen und zu großen Menſchen werden, und ſtelle dir
einmal
vor, was er dazu ſagen würde, wenn du ihm folgendes
erzählteſt
.
Wiſſe es, daß dieſes kleine Weſen, was du hier ſiehſt,
ein
Säugling iſt, das heißt ein angehender Menſch, der nach
und
nach dicker und breiter und größer und ſchwerer wird.
Die weichen Knochen ſeines Körpers werden immer feſter und
immer
ſtärker und immer länger und immer kräftiger werden.

Die
Muskeln, die dieſe Knochen bewegen, werden gleichfalls
zunehmen
an Größe, an Maſſe und Ausdehnung.
Dasſelbe
wird
mit Augen, Ohren, Naſe, Mund, überhaupt mit Kopf,
Rumpf
und Füßen geſchehen, denn jedes Glied dieſes kleinen
Leibes
wird ſich entwickeln und ausbilden, bis das Kind ein
ganzer
fertiger Menſch iſt.
Ohne Zweifel wird derjenige, der all’ dieſes nicht ſchon
aus
Erfahrung weiß, voller Unglauben den Kopf ſchütteln.
Wie aber, wenn du ihm ſagteſt: all’ das Wachſen und
Gedeihen
und Entwickeln und Größer- und Schwererwerden
kommt
davon her, daß der Säugling mit ſeinem Munde aus
der
Bruſt der Mutter einen weißen Saft einſaugt und verſchluckt,
den
man Milch nennt, und aus dieſer Milch wird im Innern
1862 des Säuglings all’ das fabriziert, woraus der anwachſende Körper beſteht”, gewiß, dein Zuhörer würde dir ins Geſicht lachen und dich einen leichtgläubigen Thoren ſchelten.
Wie? würde er ſagen, iſt denn in dieſer Milch Fleiſch
vorhanden
?
Kann man denn aus Milch Knochen machen, kann
ſich
denn Milch in Haare verwandeln, können denn aus Milch
Nägel
und Zähne gemacht werden?
Soll ich mir einreden laſſen,
daß
aus Milch ein Fuß, eine Hand, eine Backe, ein Augenlid
und
all’ die hundert Dinge dieſes Körpers fabriziert werden
können
?
Wenn du ihm hierauf ſagteſt: Ja! es iſt ſo! Im Innern
dieſes
kleinen Geſchöpfes iſt eine Fabrik, die nicht nur all’ dieſes
macht
, ſondern noch weit mehr.
In dieſer Fabrik werden
Knochen
und Haare und Zähne und Nägel und Fleiſch und
Blut
und Adern und Nerven und Häute und Säfte und Waſſer
ſogar
fabriziert, und all’ dies macht die Fabrik aus Milch und
in
der erſten Zeit ſogar aus nichts als aus Milch wahrlich,
dein
Zuhörer, und hätte er den Verſtand der allerverſtändigſten
Menſchen
in ſeinem Kopfe, er würde ſeine Hände über ſeinem
klugen
Kopf zuſammenſchlagen und würde dich himmelhoch an-
flehen
, ihm zu ſagen, was denn das eigentlich für eine Fabrik
iſt
?
Wie viel Dampfkeſſel, wie viel Cylinder, wie viel Ventile,
wie
viel Drähte, wie viel Schaufeln, wie viel Räder, wie viel
Pumpen
, wie viel Haken, wie viel Zapfen, wie viel Speichen,
wie
viel Kolben drin ſein mögen?
und hauptſächlich: ob all’
dieſe
wunderbare Maſchinerie aus Stahl oder Holz oder Guß-
eiſen
oder Gold oder gar aus Diamanten gemacht iſt.
Wie aber, wenn du ihm ſagteſt, es iſt nichts von alledem,
wie
du es dir vorſtellſt, darin.
Alles, was du ſchon im Leben
von
künſtlichen Fabriken geſehen haſt, hat keine Ähnlichkeit
mit
dieſer Fabrik.
Ja, ich muß dir’s nur ſagen, daß dieſe
Fabrik
ſelber nicht eine fertige Fabrik iſt, ſondern ſie ſelber
wächſt
und wird immer größer und ſchwerer, ganz ſo wie
1873 Körper dieſes Geſchöpfes; auch beſteht dieſe Fabrik nicht aus
Eiſen
oder Stahl oder Gold oder Diamant, ſondern dieſe
Fabrik
fabriziert ſich in jedem Augenblick ſelber und zwar
wiederum
aus einem Teil derſelben Milch, die das Kind
trinkt
.
Gewiß, dein Zuhörer würde anfangen, an ſeinem
Verſtande
irre zu werden und würde ausrufen:
Was iſt der
Verſtand
aller Verſtändigen, was iſt Einſicht aller Einſichtigen,
was
iſt die Weisheit aller Weiſen gegen ein wenig Muttermilch!
Und doch weißt du, mein lieber Leſer, daß Muttermilch
nichts
iſt als Milch, und daß Milch nichts iſt als ein Mittel
der
Ernährung, und Ernährung wiederum nichts als ein Teil
der
Lebensthätigkeit des menſchlichen Körpers.
Darum aber, hoffe ich, wirſt du mir deine Aufmerkſamkeit
ſchenken
, wenn ich es verſuchen will, von der Ernährung des
menſchlichen
Körpers zu ſprechen.
II. Der Menſch, die verwandelte Speiſe.
Wir wollen von der Ernährung des menſchlichen Körpers
ſprechen
;
aber wir müſſen uns erſt klar machen, was iſt denn
eigentlich
Ernährung?
Weshalb iſt man genötigt, Nahrung zu ſich zu nehmen?
Freilich weiß jedes Kind, daß der Hunger dazu nötigt.
Allein es wird wohl Jeder wiſſen, daß man ſich vor allem
fragen
muß, woher denn der Hunger kommt?
daß man alſo
erſt
den Hunger näher kennen muß, bevor man begreift, was
Nahrung
iſt.
Um aber dieſes klar zu machen, iſt es nötig, daß man
ſein
Augenmerk noch auf etwas anderes richte, das nicht weniger
ein
Wunder iſt, wie die Ernährung, und das iſt dasjenige,
was
man wiſſenſchaftlich mit dem Namen Stoffwechſel bezeichnet.
Es iſt nämlich eine Thatſache, daß nichts im
1884 Körper auch nur einen Augenblick ſo bleibt, wie es iſt, ſondern
daß
ein fortwährender Umtauſch in jedem Teil des Körpers
ſtattfindet
.
Man atmet Luft ein und atmet Luft aus; aber
die
Luft, die man einatmet, iſt anders, als die Luft, die man
ausatmet
.
Es hat mit dieſem Vorgang ein Stoffwechſel ſtatt-
gefunden
, ein Umtauſch, wodurch ein neuer Stoff in den Körper
hinein
kam und ein verbrauchter Stoff hinausgeworfen wurde.
Dieſer Stoffwechſel iſt aber eine hauptſächliche Not-
wendigkeit
des Körpers und ſeines Lebens;
denn dieſer beſteht
eigentlich
nur in einem unausgeſetzten Umtauſch.
Er iſt ge-
zwungen
, Stoffe, die Teile ſeines Leibes waren, von ſich zu
geben
und darum genötigt, neue Stoffe in ſich aufzunehmen
und
den Verluſt zu erſetzen.
Es iſt daher nichts Übertriebenes
darin
, wenn man ſagt, daß ſich der Menſch fortwährend er-
neuert
, denn in der That verlieren wir in jedem Augenblick
Teile
unſeres Leibes und erhalten neue.
Der regelmäßige Stoffwechſel aber ſetzt voraus, daß es
im
Körper des Menſchen ſo hergehe, wie bei einem ſoliden
Tauſchgeſchäft
, wo man in demſelben Maße einnehmen muß,
ſo
wie man ausgiebt.
Da man aber genötigt iſt, unwillkürlich
auszugeben
und der Menſch ſo Verluſte erleidet an ſeinem
Körper
, indem ſchon beim Ausatmen gewiſſe Stoffe fortgehen,
die
er neu erſetzt haben muß, ſo iſt dieſer Stoffwechſel die
einzige
Urſache, daß der Körper das Gefühl des Mangels beſitzt.
Er hat ausgegeben und nichts eingenommen. Dies wird in
ganz
eigener Weiſe empfunden, kommt uns als Hunger zum
Bewußtſein
und nötigt uns ſo viel einzunehmen, wie wir aus-
gegeben
haben.
Ernährung alſo iſt ein Erſetzen von fortwährend vor ſich
gehenden
Verluſten an Körperteilen und iſt in der That nichts
anderes
, als eine höchſt wunderbare Umwandlung, in welcher
aus
Speiſen wirklich menſchlicher Körper gemacht wird.
Ein Menſch, den man vor ſich ſieht, beſteht leiblich
1895 eben aus einem Weſen, das nur Speiſen verzehrt hat, ſondern
er
ſelber iſt mit Haut und Haar und Knochen und Gehirn
und
Fleiſch und Blut und Nägeln und Zähnen er iſt nichts
als
ſeine eigne verzehrte und verwandelte Speiſe!
III. Was für wunderliche Speiſen wir eſſen.
Der Menſch beſteht alſo leiblich nur aus ſolchen Stoffen,
die
er zu ſich genommen hat;
er iſt thatſächlich die lebendig
gewordene
, von ihm ſelber aufgegeſſene Speiſe!
Da dies vollkommen wahr iſt, ſo läßt ſich mit Leichtigkeit
überſehen
, daß, wenn man chemiſch die Speiſen genau kennt,
man
auch weiß, aus welchen chemiſchen Stoffen der Menſch
beſteht
;
und umgekehrt, wenn man die Stoffe genau kennt,
woraus
der Menſch beſteht, ſo weiß man auch genau, was er
für
Stoffe in den Speiſen zu ſich nehmen muß, um zu leben,
das
heißt, um ſeinen Körper immer neu zu bilden.
Da die Muttermilch die einfachſte und allernatürlichſte
Speiſe
des Kindes iſt, ſo wollen wir jetzt eine kurze Betrach-
tung
in dieſem Sinne anſtellen;
ſie wird uns dazu verhelfen,
daß
wir dann ſpäter um ſo leichter die für Erwachſene wich-
tigen
Nahrungsmittel und deren Wirkung werden überſehen
können
.
Die Muttermilch hat alle Stoffe in ſich, aus denen
der
menſchliche Leib ſich bilden kann;
würde ihm ein einziger
dieſer
Stoffe fehlen, ſo müßte das Kind, ohne Erſatz, unfehl-
bar
untergehen.
Hätte die Milch z. B. keine Beſtandteile der Kalkerde, ſo
würden
die weichen Knochen des Kindes, die es mit zur Welt
bringt
, nicht erhärten:
das Kind würde knochenbrüchig werden.
Man hat mit Tieren den Verſuch gemacht und ſie mit Nah-
rungsmitteln
gefüttert, worin die Beſtandteile der Kalkerde
fehlten
, ſie wurden zwar fett, aber ihre Knochen
1906 dünner, bald ſo weich wie Knorpel, und konnten endlich dem
Körper
nicht mehr den nötigen Halt geben;
ſie verkrüppelten.
Hätte die Milch nicht Phosphor in ſich, das iſt der Stoff,
der
zu unſeren Zündhölzchen gebraucht wird, ſo würden nicht
nur
Knochen und Zähne darunter leiden, ſondern es würde
auch
die Ausbildung des Gehirns im Kinde nicht vor ſich
gehen
.
Das Kind könnte nicht das vollſtändig erſetzen, was
es
mit jedem Augenblick an verbrauchtem Gehirn von ſich giebt.
Wäre in der Muttermilch nicht Eiſen vorhanden, ſo würde
das
Kind an der Bleichſucht umkommen, eine Krankheit, die
auch
Erwachſenen gefährlich iſt und die man nur hebt, wenn
man
dem Kranken in reichem Maße eiſenhaltige Speiſen oder
derartige
Medikamente giebt.
Wäre in der Muttermilch nicht auch Schwefel vorhanden,
ſo
würde ſich das Protoplasma (vergl.
den erſten Teil der
Volksbücher
S.
97), das Schwefel enthält, nicht ausbilden
können
.
Wir haben hierbei gewiſſermaßen nur nebenſächliche Be-
ſtandteile
der Muttermilch erwähnt, die man ſonſt nicht als
Nahrungsmittel
oder Speiſen anſieht;
denn wer denkt daran,
daß
er täglich Phosphor, Eiſen, Kalkerde und Schwefel eſſen
muß
und auch ißt.
In der That aber geſchieht dies, und
noch
eine ganze Reihe ſolcher Stoffe, wie Natrium, Kalium,
Magneſium
, Chlor und Fluor wird von uns verſpeiſt, und
außerdem
beſteht die eigentliche Nahrung im weſentlichen aus
drei
Luftarten, aus Stickſtoff, aus Sauerſtoff und aus Waſſer-
ſtoff
und ſchließlich als wichtigſten Beſtandteil aus einer feſten
Subſtanz
, die Kohlenſtoff heißt und nichts mehr und nichts
weniger
iſt, als reine Kohle.
Und all’ dies iſt in der That in der Milch enthalten, und
all’
dies ſind die Urſtoffe, die in Wahrheit den menſchlichen
Körper
bilden.
Vielleicht aber meint jemand, daß es hiernach ſehr
1917 wäre, ſich Speiſen zu verſchaffen; denn man brauchte eben nur
ſo
und ſo viel Kohlenſtoff und die richtige Portion von Waſſer-
ſtoff
und Sauerſtoff und Stickſtoff zu nehmen und ein bischen
Natrium
und Kalium und Calcium und Magneſium und ein
Stückchen
Eiſen und Schwefel und Phosphor und Chlor und
Fluor
untereinander zu mengen und löffelweis zu genießen,
um
dem Körper das zu geben, was ihn ernährt.
Allein,
das
wäre ein Irrtum, den man ſicherlich mit dem Leben
büßen
müßte.
Es iſt wahr, daß dieſe Stoffe die richtigen und wichtigen
der
Nahrung ſind;
allein in ihrer Urgeſtalt helfen ſie uns
nichts
, ſondern ſie müſſen, ehe wir ſie genießen, ſchon unter
einander
in ganz beſtimmter Weiſe verbunden ſein, um im
Körper
zur Nahrung zu werden.
Die Natur muß erſt ihre Stoffe vorher verarbeiten, ehe
ſie
uns ſolche darbietet, und wir verzehren z.
B. in der Mutter-
milch
freilich dieſe Stoffe in ganz anderer Form und Ver-
bindung
, und zwar als Käſeſtoff, als Butterſtoff, als Milch-
zucker
, als Salze und als Waſſer.
IV. Wie die Speiſen für uns von der Natur
vorbereitet werden.
Den wunderlichen Verbindungen von Luftarten und Kohle
ſind
in der Muttermilch noch einzelne Stoffe beigegeben, aber
in
ſehr winziger Portion, die dem Volk zum Teil unbekannt
ſind
, wie Natrium, Kalium, Calcium, Magneſium, Chlor und
Fluor
und einige, die wohl jedermann kennt wie Eiſen, Schwefel
und
Phosphor.
Allein dieſe Dinge ſind von der Natur ſchon in der Milch
zur
Speiſe verarbeitet und zum Genuß vorbereitet.
Denn die
chemiſchen
Urſtoffe und deren Verbindungen ſind
1928 nicht immer geeignet, zur Nahrung zu dienen. Es iſt vielmehr
unumgänglich
nötig, daß die Natur ſelber ſie vorbereite zur
Speiſe
, und zwar, daß ſie dieſe Stoffe erſt durch das Pflanzen-
reich
wandern läßt, ſie erſt in einem Pflanzenleben zu neuen
Verbindungen
umwandelt.
Die Pflanze lebt von einfachen chemiſchen Verbindungen
der
Urſtoffe, oder richtiger ausgedrückt, die Pflanzenwelt iſt
nichts
als verwandelte einfache Verbindungen der Urſtoffe.

Erſt
nachdem dieſe Verwandlung der Urſtoffe in der Pflanzen-
welt
vor ſich gegangen iſt, ſind die Urſtoffe fähig geworden,
Tieren
und Menſchen zur Speiſe zu dienen.
Alles, was der
Menſch
verſpeiſt, muß vorher erſt Pflanze geweſen ſein.
Zwar
lebt
der Menſch auch von Fleiſch, Fett und Eiern der Tiere,
aber
woher haben denn die Tiere dieſe Beſtandteile?
Eben
auch
nur aus den von ihnen verzehrten Pflanzen.
Hierzu iſt
die
Thatſache beachtenswert, daß die Fleiſchnahrung des
Menſchen
ſo gut wie ausſchließlich von pflanzenfreſſenden
Tieren
ſtammt.
Es ſtellt ſich daher in der Natur eine merkwürdige Reihen-
folge
von Verwandlungen dar.
Die einfachen Verbindungen
der
Urſtoffe ernähren die Pflanzen, die Pflanzen ernähren die
Tiere
, und Tiere und Pflanzen ſind die Nahrung des Menſchen.
Auch die Muttermilch, dieſe einfachſte und naturgemäßeſte
Speiſe
des Kindes, iſt nur entſtanden, indem die Mutter
Pflanzen-
und Tierſtoffe verzehrt hat.
Dieſe bereits vorgebil-
deten
Stoffe zur Speiſung der Mutter ſind in dem Körper der
Mutter
umgewandelt, und ein Teil derſelben iſt zu Milch in
der
Bruſt der Mutter geworden, die das Kind ernährt.
Es iſt alſo ganz richtig, wenn man ſagt, daß die Mutter-
milch
aus Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff
und
einer kleinen Portion anderer chemiſcher Urſtoffe beſteht;
aber dieſe Stoffe ſind in der Milch ſchon ſo untereinander
verbunden
, daß ſie Speiſeſtoff gebildet haben und wie
1939 bereits geſagt nunmehr Käſeſtoff, Butterſtoff, Milchzucker,
Salze
und Waſſer geworden ſind.
Welche Rolle aber ſpielen dieſe Speiſeſtoffe im Körper
des
Kindes?
Was wird aus dieſen Stoffen, wenn ſie in den
Körper
des Kindes gebracht ſind?
Wie verwandeln ſie ſich
während
der Zeit, daß ſie im Körper verweilen?
Auf welchem
Wege
entfernen ſich wieder dieſe Stoffe aus dem Körper und
nötigen
das Kind, neue Stoffe aufzunehmen?
Wenn wir dieſe Fragen beantwortet haben werden, wird
uns
auch ein weiterer Blick erlaubt ſein, nämlich der Blick
auf
die Frage:
welches ſind die geſundeſten und dem menſch-
lichen
Körper zuträglichſten Speiſen, wenn er nicht mehr
Muttermilch
genießt, ſondern aus einem großen Vorrat von
Pflanzen-
und Tierſtoffen die Wahl hat, dieſelben Stoffe, die
in
der Muttermilch enthalten ſind, als Nahrung zu entnehmen.
V. Was aus der Muttermilch wird, wenn ſie in
den Körper des Kindes kommt.
Wenn das Kind ſich dem Schoße der Mutter entrungen
hat
, bringt es Blut und Fleiſch und Knochen und Organe mit
zur
Welt, die bis dahin von dem Blute der Mutter gebildet
und
ernährt wurden.
So wie aber das Kind an das Licht der Welt getreten
iſt
, hört es auf, in der bisherigen Weiſe von der Mutter ge-
nährt
zu werden und durch den Körper der Mutter das aus-
zuſcheiden
, was von Stoffen in ihm unbrauchbar geworden.
Das Kind atmet nun ſelbſtändig und ſcheidet ſofort auch durch
den
Atem Kohlenſtoff als Kohlenſäure aus;
die Haut beginnt
auszudünſten
und ſcheidet hauptſächlich Waſſerſtoff und Sauer-
ſtoff
ab, in der Geſtalt von Waſſer oder Waſſerdunſt;
und
durch
den Harn entfernt es Stickſtoff.
Dieſe Stoffe,
19410 ſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff waren vorher be-
lebte
Teile im Körper des Kindes, ſie ſind aber jetzt ver-
braucht
und werden aus dem Körper entfernt.
Es iſt klar, daß das Kind Erſatz dafür braucht, und der
wird
ihm durch die Muttermilch zugeführt, die vornehmlich
dieſe
Stoffe enthält.
Die Milch gleitet durch den Schlund des Kindes aus
dem
Munde ſchnell in den Magen;
aber ſchon im Munde
findet
die Milch eine eigene Flüſſigkeit vor, mit der ſie ſich
miſcht
, den Speichel, der die Eigenſchaft hat, die nötige Ver-
änderung
der Milch im Magen vorzubereiten.
Die Wände
des
Magens ſondern eine Flüſſigkeit aus, die Magenſaft heißt
und
die Eigenſchaft beſitzt, nicht nur Milch, ſondern auch
harte
Speiſen, die zerſchnitten und angefeuchtet ſind, in
einen
Brei zu verwandeln.
Die Wiſſenſchaft hat gelehrt, dieſen Magenſaft künſtlich zu
bereiten
, und man kann jetzt den Verdauungsprozeß, das heißt,
die
Verwandlung von harten Speiſen, z.
B. Brotrinde und
Fleiſch
, zu einem Brei in einem Glaſe beobachten, in welches
man
erwärmten künſtlichen Magenſaft gethan hat.
Sobald die Magen-Verdauung vollendet iſt, öffnet ſich die
untere
zum Darm führende Öffnung des Magens, die während
der
Verdauung durch einen Muskel verſchloſſen iſt, und der
Brei
fließt in die Fortſetzung des Magens, in den Darm, der
nur
ein einziger langer, in vielen Windungen übereinander
liegender
Schlauch iſt.
Auch hier miſchen ſich mit dem Brei
eine
Reihe von Flüſſigkeiten, der Bauchſpeichel, die Galle und
der
Darmſaft, welche die Verdauung fortſetzen, bis der Brei
ſich
in zwei Teile ſondert, in einen feinen Saft, der Speiſeſaft
heißt
und die Beſtandteile enthält, die den Körper ernähren,
und
in einen feſteren Teil, der zur Ernährung untauglich iſt
und
ſpäter durch die untere Öffnung des Darms entleert wird.
Die Anſicht, daß der Magen das wichtigſte
19511 Organ iſt, iſt nicht richtig; der Magen ſpeichert die auf-
genommene
Nahrung auf und bereitet die eigentliche Ver-
dauung
nur vor, die weſentlich im Darm vor ſich geht.
Auf-
genommen
wird in den Körper durch die Magen-Wandung
nur
wenig.
In der Magen- und Darmwand verbreitet ſich
ein
feines Netz ganz dünner Blutgefäßchen, die während der
Verdauung
das Waſſer und was in ihm gelöſt iſt, aufnehmen.
Außerdem befinden ſich längs des Darms in ungewöhnlich
großer
Zahl außerordentlich kleine Kanäle, die man Saug-
adern
nennt.
Dieſe Gefäße ſaugen den Saft in ſich ein, und
weil
der Darm ſehr lang iſt beim Erwachſenen an 30 Fuß
geſchieht
die Aufſaugung in geſundem Zuſtand ſehr vollkommen,
und
die eigentliche Nahrung befindet ſich nun in lauter ver-
einzelten
, kleinen Kanälen.
All dieſe kleinen Gefäße aber laufen hinten und unten an
der
Wirbelſäule zuſammen und vereinigen ſich zu einem
Schlauch
, demMilchbruſtgang”, der in die Höhe ſteigt bis
hoch
an den Bruſtkaſten;
und hier ergießt ſich der Schlauch
in
eine Hauptblutader, in welcher ſich Blut befindet, das im
Kreislauf
begriffen und auf dem Wege iſt, ins Herz zu
fließen
, um von dieſem aus auf anderem Wege durch den
ganzen
Körper getrieben zu werden.
Die Speiſe, und ebenſo die Muttermilch, gelangt alſo in
veränderter
Form, als ein Saft, der ſchon Ähnlichkeit mit dem
Blut
hat, auf einem weiten Umweg in das Blut und miſcht
ſich
mit demſelben oder richtiger, verwandelt ſich in wirk-
liches
Blut.
VI. Wie das Blut im Körper zum lebendigen
Körper wird.
Man hat vollkommen recht, das Blut des Menſchen den
in
flüſſigem Zuſtand befindlichen Körper des Menſchen
19612 nennen. Das Blut hat die Beſtimmung, ſich in lebendigen
feſten
Körper des Menſchen zu verwandeln.
Man hat geſtaunt, als der große Naturforſcher Juſtus
von
Liebig
(1803—1873) das Blutflüſſiges Fleiſch” nannte;
man hat aber das Recht, noch weiter zu gehen und das Blut
flüſſigen Menſchenkörper” zu nennen.
Aus Blut wird nicht
nur
Muskelfleiſch, ſondern aus Blut wird auch Knochen, wird
auch
Gehirn, wird auch Fett, werden auch Zähne, werden
Augen
, Adern, Knorpel, Nerven, Sehnen und ſelbſt Haare;

das
Blut iſt alſo das Baumaterial zu all’ den Teilen des
Körpers
.
Das Blut wird von einer Abteilung des Herzens aufge-
nommen
und von dieſer, wie von einer Druckpumpe, in die
Lungen
getrieben.
Da die Lunge Luft einatmet, ſo nimmt
hierbei
in einer höchſt merkwürdigen Weiſe das Blut den
Sauerſtoff
der Luft in ſich auf.
Dieſes ſauerſtoffhaltige Blut
kehrt
nun wieder zu dem Herzen, und zwar in eine beſondere
Abteilung
desſelben zurück.
Nun zieht ſich das Herz wieder
zuſammen
und treibt das ſauerſtoffhaltige Blut durch den
ganzen
Körper, durch Schlagadern, die ſich immer mehr und
mehr
verzweigen, dabei immer feiner werden und endlich ſolche
Feinheit
annehmen, daß ſie für unſer Auge unſichtbar ſind.
Das Blut dringt in ſolcher Weiſe in alle Teile des Körpers
und
kehrt dann durch ebenſo feine Äderchen, die ſich dann zu
großen
Adern vereinigen, wiederum in das Herz zurück, um
wiederum
zu den Lungen getrieben zu werden, um wieder
zum
Herzen zurückzukehren und wieder durch den Körper be-
wegt
zu werden.
Während dieſes doppelten Kreislaufs des Blutes vom
Herzen
zu den Lungen, und wieder zurück, und dann vom
Herzen
nach allen Teilen des Körpers, und wieder zurück, ge-
ſchieht
der merkwürdige Stoffwechſel, geſchieht der Umtauſch,
durch
welchen Unbrauchbares, Verbrauchtes aus dem
19713 des Menſchen entfernt und neuer Stoff nach jedem Teil ge-
tragen
wird.
Das Blut, das z. B. aus der Muttermilch im Kinde ge-
bildet
worden iſt, enthält Phosphor, Sauerſtoff und Calcium
als
phosphorſauren Kalk und dieſer lagert ſich beim Blut-
umlauf
an den Knochen ab und bildet einen Hauptbeſtandteil
derſelben
.
An die Zähne giebt es in gleicher Weiſe Fluor-
Calcium
ab.
Die Muskeln, das Fleiſch, erhalten aus dem
Blute
ihre Beſtandteile, ebenſo entſtehen und erneuern ſich aus
dem
Blute die Nerven, die Adern, die Häute, das Hirn und
die
Nägel, und auch die inneren Organe:
das Herz, die Lungen,
die
Leber, die Nerven, der Darm und der Magen.
Sie alle aber geben dem Blute dafür die abgenutzten Teile
ab
, und von dieſem werden ſie dort hingetragen, wo ſie aus
dem
Körper wieder ausgeſchieden werden können.
Unterbindet man ein Glied des Körpers, ſo daß das Blut
nicht
in ihm zirkulieren kann, dann ſtirbt es ab, denn das Leben
des
Körpers beſteht im fortwährenden Wechſel desſelben, im
Umtauſch
des Verbrauchten gegen den neuen Stoff, und dieſer
lebendige
Umtauſch wird eben durch das immerfort kreiſende
Blut
erhalten, das immer neu gebildet wird durch Nahrung
und
immer vermindert wird, indem es ſich in lebendige Körper-
teile
verwandelt.
Man nennt daher Nahrungsmittel mit vollem Recht Lebens-
mittel
, und das aus Nahrung entſtandene Blut kann man mit
Recht
den Lebensſaft nennen.
VII. Der Kreislauf der Stoffe.
Der menſchliche Körper iſt alſo verwandeltes, feſtgewordenes,
belebtes
Blut.
Blut iſt verwandelte Speiſe. Speiſe beſteht
aus
von der Natur vorgebildeten verwandelten Urſtoffen.
19814 Menſch beſteht demnach aus verwandeltem, lebendig gewordenen
Urſtoffe
.
Da aber das Menſchengeſchlecht viele, viele Jahrtauſende
alt
iſt, da zugleich mit dem Menſchengeſchlecht die ganze Tier-
welt
auf der Erde lebt, die eben auch körperlich nur ſo entſteht
und
ſich erhält und ernährt, wie der Menſch, ſo entſteht die
Frage
:
wo kommen all’ die Urſtoffe her, die immerfort ſich ver-
wandeln
müſſen, um belebt zu werden?
Werden nicht fort und
fort
dieſe Urſtoffe immer weniger, wenn ſie verwandelt werden
zu
Pflanzen und verzehrt werden von Tieren und Menſchen,
um
ſelber Tier- und Menſchenkörper zu bilden?
Die Antwort auf dieſe Frage haben wir bereits gegeben.
Der Menſchenkörper wird nicht nur durch Nahrung in jedem
Augenblick
neu gebildet, neu geſchaffen, ſondern es ſterben in
jedem
Augenblick auch einzelne Körperteilchen ab, und die ab-
geſtorbenen
gehen wieder zurück zu den Urſtoffen und kehren
zur
Muttererde wieder, aus der ſie gekommen.
Nicht nur der tote Menſch giebt der Erde zurück, was ihr
gehört
, giebt den Elementen wieder, was die Elemente ihm
gegeben
, ſondern weit mehr noch, als der Tote, den man in
den
Schoß der Muttererde bettet, zahlt der Lebende dieſe
Schuld
zurück.
Der Leib des Menſchen iſt nicht ſein eigen; er iſt ein
Darlehn
der Natur, nur für kurze Zeit geliehen, um ſofort
nach
abgethanem Dienſt wiederum zurückgenommen zu werden;
und der Menſch, der ſtolze Menſch, er iſt genötigt, fortwährend
dies
Darlehn von der Natur anzunehmen und fortwährend ihr
die
Schuld abzutragen, bis er mit dem letzten Atemzug das
letzte
Darlehn macht und ſterbend den Hinterbliebenen die Pflicht
auferlegt
, die letzte Schuld der Erde abzutragen.
Sein eigenes Blut iſt der Bote, der ihm immer neues
Darlehn
bringt und als verwandelte Speiſe, als verwandelte
Urſtoffe
ihm den Leib ausrüſtet.
Sein eigen Blut iſt
19915 auch der Kaſſierer, der ihm nach geleiſtetem Dienſt das Dar-
lehn
abnimmt und die Urſtoffe aus dem Körper wieder hin-
ausführt
, um ſie der Natur zurückzuzahlen.
Mit jedem Rundlauf des Blutes durch den Körper fließt
dieſem
verwandelte Speiſe zu, die ſich in ihm in lebendigen
Menſchenkörper
verwandelt;
mit jedem Rücklauf des Blutes
nimmt
das Blut ſelber die verbrauchten Teile mit ſich und
lagert
ſie dort ab, wo ſie hinaus müſſen aus dem Körper, in
den
Nieren, damit ſie hauptſächlich im Harn den verbrauchten
Stickſtoff
als Harnſtoff aus dem Körper führen, dem auch ein
Teil
des phosphorſauren Kalks beigemiſcht iſt, der ehedem
Knochen
und Zähne gebildet hat und jetzt abgenutzt iſt.
Durch
die
Haut des ganzen Körpers ſondert das Blut den Schweiß
ab
, eine Flüſſigkeit, die Waſſer, alſo Sauerſtoff und Waſſerſtoff
enthält
, dem aber auch andere verbrauchte Subſtanzen des
Körpers
beigemiſcht ſind und in welchem auch Fett vorhanden
iſt
.
Vornehmlich aber führt das Blut den verbrauchten
Kohlenſtoff
zu den Lungen, damit dieſe beim Ausatmen die
Kohlenſäure
von ſich geben, eine Luftart, die tötlich wirkt,
wenn
ſie in der Lunge bleibt oder in größerer Quantität ein-
geatmet
wird.
Es iſt nicht wenig, was der Menſch in einem Tage aus
ſeinem
Körper ausſcheidet;
es beträgt etwa den vierzehnten
Teil
ſeines Körpergewichtes, ja das Quantum Waſſer, das
teils
in Luftform, teils als tropfbare Flüſſigkeit durch die
Lungen
, die Haut und die Nieren ausſcheidet, beträgt im Ver-
lauf
von 24 Stunden 2 {1/2} Liter.
Und all die Teile, die ſich von ihm entfernen, haben ſo-
fort
die Eigenſchaft des verwandelten und belebten Stoffes
verloren
, ſie kehren zu den einfachen Verbindungen der Ur-
ſtoffe
zurück und dienen hauptſächlich wieder der Pflanze zur
Nahrung
, die ehedem dieſelben Stoffe dem Menſchen zur
Nahrung
geboten hatte.
20016
So vollendet ſich der große Kreislauf in der Natur. Von
den
unbelebten Urſtoffen zu den Pflanzen, von den Pflanzen
durch
die Nahrung zu den Tieren und Menſchen, und von
dieſen
wiederum als verbrauchte Stoffe zurück zu den Urſtoffen,
um
dann den Kreislauf wieder zu beginnen, der tote Urſtoffe
belebt
, und belebte Urſtoffe vernichtet, um Tod in Leben, um
Leben
wiederum in Tod zu verwandeln.
VIII. Die Nahrung.
Nur ſolche Speiſen ſind natürlich gute Nahrungsmittel,
welche
dieſelben Beſtandteile in ſich haben, aus denen das
Blut
beſteht.
Hierzu iſt nötig, daß die Nahrungsmittel Waſſer, Eiweiß,
Salze
, Fett und Zucker enthalten, und daß all’ dieſe Stoffe in
einem
richtigen Verhältnis zu einander ſtehen.
Daß Waſſer zur Erhaltung und Erneuerung des Körpers
nötig
iſt, ſieht wohl Jeder ein.
Unſer Muskelfleiſch hat an
75
Prozent Waſſer in ſich, und doch muß ein Menſch ſterben,
wenn
man ihm nur Fleiſch zu eſſen giebt und ihm alles Flüſſige
entzieht
, weil eben die 75 Prozent, die er beſitzt, keineswegs
ausreichen
für all’ die Flüſſigkeiten, die im Körper notwendig
ſind
.
Aus dem Eiweiß, das man genießt, bilden ſich im Blute eben
die
Stoffe, aus denen vornehmlich das Muskelfleiſch beſteht.
Es
iſt
aber ein Irrtum, wenn man glaubt, daß man nun immer
nötig
habe, Eier zu eſſen, ſondern der Käſeſtoff z.
B. enthält ganz
dieſelben
Beſtandteile des Eiweißes, wie denn in der Mutter-
milch
nur Käſeſtoff vorhanden iſt, wogegen das eigentliche Eiweiß
als
ſolches fehlt, wer alſo reichlich Käſeſtoff genießt wie
die
Hirten in der Schweiz bedarf der Fleiſchſpeiſen faſt
garnicht
.
Aber nicht nur der Käſeſtoff enthält dieſelben
20117 teile des Eiweißes, ſondern es giebt auch in den Pflanzenſpeiſen
Eiweißſtoffe
, die ſie gleichfalls zu fleiſchbildenden Nahrungs-
mitteln
machen.
Ein ſolches Pflanzeneiweiß iſt der Kleber, der
namentlich
in unſern Getreidearten enthalten iſt.
Ferner iſt
der
Erbſenſtoff, ein Hauptbeſtandteil unſerer Erbſen, Bohnen
und
Linſen ein vorzüglicher fleiſchbildender Eiweißſtoff.
Die Salze, die man dem Blute zuführen muß, beſtehen
nicht
nur in dem allbekannten, gewöhnlichen Kochſalz, oder,
wie
der Chemiker ſagt, in Chlornatrium, ſondern man bezeichnet
auch
damit gewiſſe Verbindungen der Stoffe, die man ge-
wöhnlich
nicht als Nahrungsmittel betrachtet, wie die Ver-
bindungen
des Phosphors, des Eiſens u.
ſ. w. Dieſe ſind in
mannigfachen
Speiſen enthalten, ohne daß ſie dem Auge ohne
weiteres
ſichtbar ſind, und aus ihnen bilden ſich die Knochen,
die
Zähne, die Knorpel und die Haare.
Das Fett, das genoſſen wird, erſcheint Vielen als ein
ganz
beſonders wichtiger Beſtandteil der Speiſe, und ſie
meinen
, daß man vom Fett fett werde.
Dem iſt aber nicht ſo.
Reißende Tiere, die nur von Fleiſch und Fett leben, werden
nicht
fett, dagegen nehmen Pflanzenfreſſer ungemein an Fett
zu
, wenn man ſie mit guter Maſt verſieht, die eben nur aus
Pflanzen
beſteht.
Gleichwohl iſt Fett nicht etwas Über-
flüſſiges
in unſerm Körper.
Zucker iſt ein wichtiges Nährmittel; man glaube aber nicht,
daß
man wirklichen Zucker zu genießen brauche, ſondern jede
Speiſe
, die Stärkemehl enthält, erſetzt vortrefflich die Stelle des
Zuckers
und verwandelt ſich im Körper erſt zu Zucker, der dann
weiter
umgearbeitet wird.
Ein unübertreffliches Nahrungsmittel iſt das Brot, denn
es
enthält faſt alle Beſtandteile der Nahrung.
Es hat Pflanzen-
Eiweiß
und verwandelt ſich daher in Fleiſch.
Es hat faſt
alle
Salze in ſich, die dem Körper nötig ſind, und hat auch
Stärkemehl
in ſich;
wenn man ihm daher ein wenig Fett zuthut
a. Bernſtein, Naturw. Volksbücher II.
20218
und daneben etwas Waſſer trinkt, ſo reicht es zur Erhaltung
des
Körpers aus.
Dahingegen ſind Kartoffeln allein ein
ſchlechtes
Nahrungsmittel, Fleiſch allein minder, und Eiweiß
allein
würde unſern Körper nicht erhalten können.
IX. Einige Verſuche über die Ernährung.
Was die Verdauung betrifft, ſo hat man darüber Beob-
achtungen
angeſtellt, ſowohl mit künſtlichem, einem Tier ent-
nommenen
Magenſaft, als an Menſchen, die eine Magenfiſtel
hatten
, das heißt, eine Wunde am Bauch, die durchging bis
in
den Magen.
Durch dieſe Wunde konnte man genau unter-
ſuchen
, wie ſchnell gewiſſe Speiſen ſich in einen Brei ver-
wandeln
und den Magen verlaſſen.
Aus ſolchen Verſuchen
hat
man gefunden, daß die meiſten Gerichte zwiſchen 2 bis 5
Stunden
im Magen verweilen, ehe ſie als Speiſebrei in den
Darm
wandern.
Hiermit iſt aber die eigentliche Verdauung
nicht
beendet, da ja im Darm noch weitere Umwandlungen
der
Speiſen vor ſich gehen.
Gleichwohl zeigten ſich ferner
wichtige
Unterſchiede in der Zeit, welche die einzelnen Nahrungs-
mittel
erfordern, um vom Magenſafte gelöſt zu werden.
So
wird
z.
B. Weizenbrot ſchneller gelöſt als Eier, Kalbfleiſch
ſchneller
als Ochſenfleiſch, mageres Fleiſch ſchneller als fettes
und
Hühnereiweiß ſchneller als Erbſenſtoff.
Je ſchneller nun
eine
Speiſe ſich in der Magenflüſſigkeit löſt, deſto leichter geht
ſie
ins Blut über, deſto verdaulicher iſt dieſelbe.
Während des Verhungerns ſchwindet mehr als die Hälfte
des
Blutes, das Fett zehrt ſich faſt vollſtändig auf, das Fleiſch
ſchwindet
um die Hälfte, ſelbſt die Haut vermindert ſich und
die
Knochen verlieren an Gewicht.
Am wenigſten vermindern
ſich
die Nerven, und dies giebt den Beweis, daß die Nerven
eine
große Kraft beſitzen, ſich zu erhalten, ſobald nur
20319 eine Spur von Stoff zu ihrer Ernährung da iſt. Aus viel-
fachen
Verſuchen hat man den Schluß gezogen, daß ein aus-
gewachſenes
Tier und der Menſch, deſſen Gewicht auf etwa
{3/5} des urſprünglichen Körpergewichts geſunken iſt, ſterben
muß
.
Was die Wirkung verſchiedener Speiſen betrifft, ſo haben
Verſuche
dargethan, daß z.
B. Hunde von bloßen Knochen eine
ſehr
lange Zeit leben können, dahingegen ſtarben ſie, wenn man
ſie
nur mit Zucker fütterte.
Tiere, die man mit Speiſen fütterte, in denen kein Phosphor
und
kein Kalk vorhanden iſt;
wurden fett, ſtarben aber am
Knochenbruch
.
Mit reinem Eiweiß, reinem Käſeſtoff gefüttert,
ſtarben
die Tiere ebenfalls und das Merkwürdigſte hierbei iſt,
daß ſie in derſelben Zeit ſtarben, als wenn ſie gar
keine
Nahrung erhalten hätten
.
Die Verſuche an Menſchen haben gelehrt, daß es ſchädlich
iſt
, einförmige Koſt zu genießen.
Es iſt dies eine Er-
fahrung
, die man ſowohl in Kaſernen wie in Gefängniſſen
macht
und deshalb wechſelt die Koſt dort mit jedem Tag in
der
Woche, ſo daß es täglich etwas anderes zum Mittag giebt.
Ein Arzt in England hat an ſich ſelbſt die Wirkung
einförmiger
Koſt probieren wollen.
Er genoß 45 Tage lang
bloß
Waſſer und Brot;
er nahm dabei 8 Pfund an Körper-
gewicht
ab.
Sodann er vier Wochen nur Brot und Zucker,
dann
drei Wochen Brot und Baumöl;
aber er erlag ſeinen Ver-
ſuchen
und ſtarb, nachdem er acht Monate in ſolcher Weiſe an
ſich
Proben angeſtellt.
Es iſt daher nicht eine Leckerei, wenn
man
zu verſchiedenen Speiſen Appetit hat und einerlei Speiſe
ſchnell
überdrüſſig wird;
ſondern es iſt notwendig, daß man
wechſelt
.
Verſuche haben gezeigt, daß Kaninchen, die einen
Tag
Kartoffeln und einen Tag Gerſte erhalten, fortleben, er-
halten
ſie aber bloß Kartoffeln oder bloß Gerſte, ſo ſterben
ſie
ſchnell.
20420
Zum Schluß wollen wir nur noch einige Nahrungsmittel
und
deren Eigenſchaften aufführen.
Unter den Getreiden
iſt
Weizen das nahrhafteſte, und genießt man, wie der
Engländer
, Fleiſch zum Weizenbrot, ſo erfreut man ſich einer
guten
Nahrung.
Reis giebt Fett, aber allein iſt er eine
ſchlechte
Nahrung, und iſt vielmehr nur zuträglich, wenn er
mit
Butter oder Fett und ein wenig Fleiſch dabei genoſſen
wird
.
Kartoffeln ſind ein billiges Gericht, aber auch ein teures,
denn
ſie haben wenig Nahrungsſtoff und man muß viel davon
eſſen
, um genährt zu werden;
auch iſt es notwendig, ſie mit
Salz
, Butter oder anderem Fett zu genießen, da ſie ſonſt ganz
unnahrhaft
wären.
Eine gute Mittelkoſt ſind Bohnen, Erbſen
und
Linſen;
nur ſind die Hülſen unverdaulich und müſſen
entfernt
werden.
Gemeinhin zählt man Getränke nicht zu den Nahrungs-
mitteln
, und Kochſalz, glaubt man, ſei nur Geſchmacksſache;
das iſt aber ein Irrtum.
205
Dom Inſtinkt der Ciere.
I. Was iſt Inſtinkt?
Eine der rätſelhafteſten aber auch intereſſanteſten Natur-
erſcheinungen
iſt der Inſtinkt der Tiere.
Wir wollen in
einer
Reihe von Betrachtungen dieſes Naturwunder beſprechen;
aber von vornherein unſern Leſern ſagen, daß wir hierbei nicht
in
jene übertriebenen und fabelhaften Geſchichten verfallen
werden
, die oft nur erfunden ſind, um manche Tiere noch
weiſer
und geſcheiter darzuſtellen als das Menſchengeſchlecht.

Wir
wollen uns vielmehr treu an die Wahrheit und an ſolche
Darſtellungen
halten, die ernſte Naturforſcher mit jener wiſſen-
ſchaftlichen
Zuverläſſigkeit bekunden, welche ihrer würdigen Auf-
gabe
und ihrem herrlichen Berufe ziemt.
Es liegt auch in
ſolchen
Darſtellungen genug des Wunderbaren und Intereſſanten.
Inſtinkt nennt man die lebenden Weſen inne-
wohnende
Kraft, die ſie treibt, zweckmäßige Dinge
zu
thun, ohne daß dieſe Weſen es wiſſen, weshalb
ſie
ſo handeln
.
Freilich iſt es nicht erfahrbar, ob mit
einer
Handlung eines beobachteten Menſchen oder eines Tieres
Bewußtſein
bezüglich der Zweckmäßigkeit dieſes Handelns
verknüpft
iſt.
Die tieriſchen Handlungen werden allgemein als
inſtinktive
bezeichnet.
Daß man hierin vielfach zu weit geht,
iſt
zweifellos.
Eine weiße Spinne, die gerade weiße oder hellgelbe
Blüten
auswählt, um dort ihr Netz auszuſpannen,
20622 ſie ſelber ſich zurückzieht und auf ihre Beute lauert, handelt
gewiß
höchſt zweckmäßig für ihr eigenes Wohl.
Sie würde
44[Figure 44]Fig. 1. wegen ihrer weißen Farbe auf einem dunkeln Zaune, einer
ſchwarzen
Mauer oder einem grünen Gebüſch gewiß nicht ſo
viel
Inſekten fangen, weil dieſe ihre Feindin, die ſie fürchten
und
fliehen, leicht ſehen müßten.
Können wir aber ihre
20723 lung klug nennen? Weiß ſie, daß ihre weiße Geſtalt auf
dunkelm
Hintergrund in die Augen fällt und leicht geſehen
wird
?
Das wird ſchwerlich jemand behaupten. Weiß ſie
es
nicht, ſo iſt es nicht ihre Klugheit, ihre geiſtige Überlegung,
die
ſie weiße oder helle Blüten wählen läßt.
Wir können
dieſen
Mangel an bewußter Überlegung um ſo eher annehmen,
wenn
wir ſehen, daß ganz unerfahrene junge Spinnen ſchon
ſo
zweckmäßig handeln.
Färbungen und Formverhältniſſe,
45[Figure 45]Fig. 2. welche Tiere zeigen,
ſtehen
wie bei dieſer
Spinne
ſehr häufig
im
Dienſte ihrer
Erhaltung
, ſei es,
daß
ſie dadurch
geſchützt
ſind vor
Feinden
, ſei es, daß
ſie
dadurch eine
Deckung
finden bei
der
Aufſpürung der
Beute
.
Auch der
Eisbär
iſt weiß,
wie
der Boden, auf dem er lebt, das Chamäleon nimmt durch
ſofortigen
Farbenwechſel die Färbung ſeiner augenblicklichen
Umgebung
an.
Einige Beiſpiele, die außerdem mit beſtimmten,
der
Umgebung angepaßten Formverhältniſſen in Zuſammen-
hang
ſtehen, bieten unſere Figuren 1—4, die die Objekte alle in
{1/2} der natürlichen Größe bieten.
Fig. 1 veranſchaulicht einen
Schmetterling
Oſtindiens (Kallima Inachis), der oberſeits
bunt
und dadurch auffallend gefärbt iſt, aber ſobald er die
Flügel
beim Niederſitzen zuſammenſchlägt und ſich an einen
Zweig
mit eiförmigen Blättern ſetzt, wie rechts in der Mitte
auf
unſerer Abbildung, durchaus ein Blatt des Zweiges vor-
täuſcht
, nicht nur hinſichtlich der Färbung der
20824 ſondern auch hinſichtlich der Geſtalt des ſitzenden Tieres.
Fig. 2 ſtellt den auſtraliſchen Fetzenfiſch (Phyllopteryx eques)
dar
, deſſen bandartige Anhänge einem roten Seetang gleichen,
zwiſchen
dem ſich das Tier aufhält.
Fig. 3 veranſchaulicht
die
Geſpenſterſchnecke Borneos:
ein wandelndes Stabinſekt,
denn
alles an ihm erinnert an abgeſtorbenes Geäſt des Ge-
büſches
, an welchem die Tiere zum Blattfraß ſitzen.
Fig. 4
endlich
iſt daswandelnde Blatt” (Phyllium) Oſtindiens.

Solche
Fälle bezeichnet man alsNachäffung”, oder mit wiſſen-
46[Figure 46]Fig. 3. ſchaftlichem Namen Mimicry.
Zu ihrer Wirkſamkeit im
Intereſſe
des Tieres gehört vielfach auch ein beſtimmtes Ver-
halten
des Tieres;
wie weit das aber mit Bewußtſein ver-
knüpft
iſt, vermögen wir nicht zu ſagen.
Inſofern der Inſtinkt gleich iſt unbewußt ausgeführten
und
zweckmäßig erſcheinenden Bewegungen und wir ſehen, daß
die
Wurzeln der Pflanze unter der Erde dorthin wachſen,
woſelbſt
ſie nahrungsreichen Boden findet, daß die Blätter
dorthin
ſich neigen, wo das ihrem Daſein notwendige Tages-
licht
herkommt, inſofern kann man dies auch Inſtinkt nennen.
Die Pflanze weiß nur noch weniger davon, als das Tier.
Wenn
man alſo dieſe Bewegungen auch mit dem Namen In-
ſtinkt
belegen will, ſo lohnt es ſich nicht, über dieſe
20925 dung eines Wortes zu ſtreiten; genug, wenn wir wiſſen, daß
zwiſchen
dem, was das Tier inſtinktmäßig thut, und dem,
was
die Pflanze bewußtlos Zweckmäßiges thut, ein gewiſſer
Unterſchied
vorhauden iſt, obgleich es nicht leicht iſt, dieſen
Unterſchied
ganz genau und ſcharf zu bezeichnen.
47[Figure 47]Fig. 4.
Hat der Menſch Inſtinkt? Gewiß. Man muß zu-
geben
, daß er Dinge von außerordentlicher Zweckmäßigkeit ver-
richtet
, ohne zu wiſſen, warum er ſo thut.
Das Kind verſteht
das
Saugen, wenn es geboren iſt, ſo vollſtändig, daß es dies
beſſer
verrichtet, als der weiſeſte Menſch, der es durch
ſeinen
Scharfſinn erfinden wollte;
und das Kind weiß nicht,
was
es thut, ja es weiß nicht einmal, daß es ſo thut.
Im
Schlaf
macht der Menſch die zweckmäßigſten Bewegungen, legt
ſich
von einer Seite, wenn er lange darauf gelegen hat,
21026 die andere, dreht ſich, wenn er auf der oberen Seite kalt ge-
worden
iſt, um und legt ſich darauf, um ſie ſo zu erwärmen.
Ja, ſelbſt im Wachen verrichtet er tauſend Dinge nach den
Geſetzen
der höchſten Zweckmäßigkeit, nicht nur ohne daran zu
denken
, ſondern auch ohne davon zu wiſſen, daß er es thut.

Beim
Gehen allein werden außerordentlich viel zweckmäßige
Bewegungen
unbewußt gemacht.
II. Unterſchied des Inſtinkts der Pflanze und des
Tieres.
Man kann im allgemeinen wohl ſagen, daß das ganze
Reich
der lebendigen Natur von einem Triebe der Erhal-
tung
und Zweckmäßigkeit zur Thätigkeit angeregt wird, daß
demnach
ſowohl Pflanzen wie Tiere und Menſchen von
einem
Inſtinkt im allgemeinen beherrſcht werden, der ſie zwingt
oder
anleitet, Dinge zu thun, die zu ihrem Wohl oder ihrer
Erhaltung
notwendig ſind.
Man könnte hiernach wohl an-
nehmen
, daß das ganze Leben auf dem Rund der Erde in-
ſtinktmäßig
ſei.
Indeſſen bei einer nähern Betrachtung der
Sache
wird man einen weſentlichen Unterſchied in den Trieben
zur
Erhaltung leicht einſehen, und man wird das, was in der
Pflanze
vorgeht, von dem, was im Tiere vorgeht, genauer
unterſcheiden
können.
Die Pflanze hat kein Bewußtſein, ſie hat alſo auch keinen
Willen
.
Alles, was ſie thut, geſchieht, ohne daß ſie es weiß,
ohne
daß ſie es will.
Wenn z. B. die Blüten der Vallis-
neria
(vergl.
im erſten Teil der Volksbücher S. 113) an die
Oberfläche
des Waſſers kommen, um das Befruchtungsgeſchäft
zu
vollziehen, ſo ſind das Wachstums-Bewegungserſcheinungen,
die
für das Beſtehen der Pflanzenart ſehr zweckmäßig ſind.
Bei Tieren und Menſchen kommen ebenſolche
21127 nungen in größter Zahl vor, aber die Tiere führen außerdem
Dinge
aus, zu welchen ein Wille gehört.
Das Tier macht
hierbei
Bewegungen, die es, wie uns ſcheint, ebenſogut würde
thun
oder laſſen können.
Das Tier thut das, was es inſtinkt-
mäßig
thut, mit einer gewiſſen Luſt;
es räumt Hinderniſſe,
die
ſich der Ausführung ſeines Triebes in den Weg ſtellen,
mit
großer Beharrlichkeit aus dem Wege, ja das Tier wendet
Liſt
, Gewandtheit und oft ganz ungewöhnliche Überlegung an,
um
den Inſtinkt befriedigen zu können.
Man kann alſo nicht
anders
ſagen, als daß das Tier in ſeinem Inſtinkt eine Energie
des
Willens zeigt und in der Befriedigung des Triebes durch
Mitwirkung
geiſtiger Werte thätig iſt, was bei der Pflanze
garnicht
der Fall iſt.
Man ſieht nun hieraus, daß zwar der Naturtrieb, der in
den
Pflanzen thätig iſt, dem gleich iſt, der in den Tieren zum
Vorſchein
kommt;
allein es liegt ein Hauptunterſchied darin,
daß
die Pflanze willenlos iſt, das Tier ein mit Willen begabtes,
vom
Naturtrieb geleitetes Weſen iſt.
Durch die ganze Natur der Lebeweſen geht ein Trieb des
Lebens
, der fortwährend ſchafft und wirkt.
In der ſchaffenden
Hand
dieſes Lebenstriebes entwickelt ſich alles, was da iſt.
Derſelbe Lebenstrieb, der die Pflanze zum Wachſen zwingt,
ſolange
die Bedingungen ihres Wachstums vorhanden ſind,
derſelbe
Trieb treibt den Menſchen wie das Tier zum Atmen,
zum
Verdauen, zum Schlafen, zur Bewegung wie zur Ruhe.
Was beim Inſtinkt ſo ſehr anzieht und intereſſiert, iſt der
Zweifel
, wie weit er bewußt, und wie weit er nur bewußtlos
beim
Tier zum Vorſchein kommt.
Sehen wir eine Pflanze, z. B. wie ſie ihre Blätter nach
der
Sonne wendet, ſo wiſſen wir, daß dies ein Teil des
Lebenstriebes
iſt, der die ganze organiſche Welt durchpulſt
und
in der Pflanze thätig iſt, aber nicht mit Bewußtſein
verbunden
iſt.
Sehen wir dagegen die Spinne ihr Netz
21228 ſo intereſſiert es uns darum viel lebhafter, weil wir in hohem
Grade
zweifelhaft ſind, wie weit hiermit ein Willen dieſer
Spinne
verbunden iſt.
III. Der Inſtinkt des Tieres.
Man kann beim Inſtinkt der Tiere unterſcheiden zwiſchen
dem
, was die Natur ſie lehrt, und dem, was der Menſch ſie
verrichten
läßt.
Was die Natur das Tier lehrt, bringt das Tier mit zur
Welt
, es gehört mit zum Weſen des Tieres, und das Tier
bedarf
keiner Zeit, um ſich dazu fähig zu machen.
Legt man einem Huhn Enteneier unter und läßt ſie von
demſelben
ausbrüten, ſo iſt es ein höchſt überraſchender Anblick,
zu
ſehen, wie die jungen Entchen ihrer Stiefmutter folgen und
gehorchen
, und wie ſie mit der kindlichſten Anhänglichkeit ihrer
Pflegerin
anhangen;
aber wenn die Pflegerin ſie in die Nähe
eines
Waſſers bringt, eilen die Enten mit voller Sicherheit
hin
, um ſich im Waſſer zu baden und auf demſelben umherzu-
ſchwimmen
, und achten weder auf das Rufen noch auf die
Angſt
der Pflegerin, die am Ufer ängſtlich umherläuft und
mit
kläglicher Stimme ſie auf das Trockene lockt.
Man ſieht
bei
ſolcher Gelegenheit, daß das Huhn die Gefahr meidet, die
das
Waſſer ihm bringen würde.
Die jungen Enten begeben
ſich
aber auf das Waſſer, weil eben die Natur ihnen keine
Scheu
vor dem Waſſer einflößt.
Im Huhn aber, das ſie angſt-
voll
zurückruft, geht offenbar noch etwas mehr vor als der
bloße
Trieb, etwas zu thun oder zu laſſen.
Bei dieſem ſtellt
ſich
wohl eine geiſtige Thätigkeit ein, eine Sorge, eine Angſt,
die
offenbar nur daher rührt, daß es ſich ſeine Brut in Lebens-
gefahr
vorſtellt.
Hier alſo begegnen wir ſogar ſchon einer
Vorſtellung, einem Denken.
21329
Man kann ſchon bei einem ſolchen Falle vielerlei über
den
Inſtinkt der Tiere lernen, und es giebt ſolch ein einfacher
in
jedem Bauernhofe gewöhnlicher Vorfall reichlichen Stoff
zum
Nachdenken;
für jetzt indeſſen wollen wir uns nicht weiter
dabei
aufhalten, ſondern aus der einen Thatſache, daß die
Entchen
mit Sicherheit ſchwimmen, ohne es je geſehen zu
haben
, den Schluß ziehen, daß der Inſtinkt das, was er lehrt,
nicht
erſt durch das Beiſpiel beibringt;
er iſt von Anfang an
vorhanden
, ſo daß man ſagen muß, das Tier wird mit ſeinem
Inſtinkt
und ſeinen Fähigkeiten geboren.
Durch Zwang vermag der Menſch dem Tiere ſeinen natür-
lichen
Inſtinkt zu benehmen und ihm Fähigkeiten anzulehren,
die
oft bis zu einem hohen Grade geiſtigen Verſtändniſſes ſich
ſteigern
.
Ein gutdreſſierter Hund ſcheint viel von dem zu ver-
ſtehen
, was ſein Herr ihm ſagt;
unterſcheidet zwiſchen Freund
und
Feind ſeines Herrn, merkt vortrefflich, wenn der Herr auf
ihn
böſe iſt, verſteht ihm zu ſchmeicheln, ſucht ihn zu erheitern,
wenn
er mißmutig iſt.
Die Tiere könuen durch den Menſchen in ihren Inſtinkten
weſentlich
verändert, in ihren Bedürfniſſen umgewandelt werden,
ſo
daß ſie zu den menſchlichen Verhältniſſen paſſend abgerichtet
werden
und dadurch den Charakter einer Kultur erhalten, ſo-
daß
aus der gezähmten Art ein ganz anderes Weſen gemacht
wird
, als ſie, in der Wildnis fortlebend, auf ſich ſelber an-
gewieſen
, geworden ſein würde.
Ein ſolches Tier verliert daher
ſehr
oft Naturinſtinkte und Fähigkeiten, ja, es ſcheint faſt, als
ob
die Natur ſelber dem Tiere gar nicht mehr jenen Inſtinkt
gewähre
, den ſie ihm ſonſt mit der Geburt gab.
So verliert
manche
Hauskatze nebſt ihrer Nachkommenſchaft die Fähigkeit
und
die Luſt Mäuſe zu fangen, wenn ſie nicht vom Hunger
dazu
getrieben wird, und verwandelt ſich in ein wirklich zahmes
Haustier
, das nur auf Augenblicke noch durch einen ſpielenden
Sprung
etwas von ſeiner alten Raubtier-Natur verrät.
21430
Das Tier paßt ſich eben im Umgange mit dem Menſchen
neuen
Verhältniſſen an;
thäte es das nicht, ſo würde es zu
Grunde
gehen.
Auch hier handelt es ſich alſo wie in der
freien
Natur um denſelben Erhaltungstrieb, der alle Lebeweſen
auszeichnet
.
Wenn ein Tier durch Zähmung in ſeinem Weſen eine
wirkliche
Kultur annehmen ſoll, ſo muß ihm die Natur Eines
urſprünglich
verliehen haben, ohne welches die Zähmung nicht
gelingt
:
den Geſellſchaftstrieb.
Viele Tiere, die dieſen Trieb beſitzen, die in der Wildnis
in
Gemeinſchaft mit ihres Gleichen leben, ſind zähmungsfähig,
können
in menſchenfreundliche Haustiere umgewandelt werden.
Solche Tiere jedoch, die von Natur und in der Wildnis nur
auf
ſich ſelber angewieſen ſind, die nicht in Gemeinſchaft leben,
können
zwar, wie man in Menagerien ſieht, abgerichtet und
bis
zu einem gewiſſen Grade in ihrer Wildheit gemäßigt, ja
für
ihren Wärter ſogar umgänglich werden;
allein zu einer
wirklichen
Zähmung bringt man es bei denſelben kaum.
Und
hierfür
iſt ein Vergleich der Hauskatze mit dem Haushund ein
gutes
Beiſpiel.
Die Katze, in der Wildnis nie in Gemeinſchaft
lebend
, iſt nie wirklich gezähmt, ſie führt ſelbſt im Hauſe immer
noch
ein halbwildes Leben, während der Hund, in der Wildnis
in
Gemeinſchaft lebend, ſtets das Muſter eines gezähmten und
nützlichen
Haustieres wird.
IV. Die beſtimmten Zwecke des Inſtinkts.
Die Inſtinkte der Tiere laſſen ſich nach folgenden Zwecken
ordnen
:
1) zur Erreichung ihrer Nahrung oder zur Erlangung
ihrer
Beute;
2) zur Aufbewahrung derſelben für die Zeit der Not;
21531
3) zur Erbauung einer Wohnung, wohin ſich das Tier
zurückzieht
, wenn ihm die Witterung feindlich iſt oder ein Feind
ihm
nachſtellt;
4) im Erkennen ſeines Feindes und jeder Art von Todes-
gefahr
;
5) in der Vorſorge für die Erhaltung der Nachkommen-
ſchaft
(Geſchlechtstrieb);
6) in der Sorge für die Erziehung der Jungen;
7) in dem Geſellſchaftstrieb, in welchem ſich große Maſſen
von
Tieren einer Gattung zur Führung eines geſelligen Lebens
einrichten
;
8) in dem Wandertriebe, welcher Tiere beſtimmter Gattung
oft
zu höchſt wunderbaren, weiten Reiſen von einem Weltteile
zum
anderen veranlaßt.
Oft erſcheinen dieſe Inſtinkte als vollkommene Kunſt-
fertigkeiten
oder verbunden mit geiſtigem Nachſinnen;
oft kann
man
ſich des Gedankens nicht erwehren, daß Gefühle, Für-
ſorge
, Zärtlichkeit, Mitleid wie beim Menſchen auch in hohem
Grade
bei den Tieren obwaltet;
öfter aber noch hat man Ge-
legenheit
zu bewundern, wie die Natur einem Tiere Triebe
eingepflanzt
hat, deren Zweck das Tier auch nicht im Entfern-
teſten
ahnt und ahnen kann, denn es verrichten viele Tiere
Werke
, nicht für ſich, ſondern für eine Nachkommenſchaft, die
ſie
nicht kennen, die ſie nie geſehen haben, noch jemals ſehen
werden
.
Der Inſtinkt, mit welchem die Tiere ihrer Nahrung oder
ihrer
Beute nachgehen, iſt oft wunderbar genug.
Das Raub-
tier
folgt meiſt dem Geruche, und ſein Geruchsſinn iſt ſo fein
ausgebildet
, daß er auf unglaublich weite Strecken hin ihm
verkündet
, wenn ein Tier naht, das ihm zur Speiſe dienen
kann
.
Die Tiere gehen immer gegen den Wind auf Raub aus,
ſodaß
der Wind ihnen den Geruch ihrer Beute zuführt, niemals
aber
kann ſo ihrer Beute Nachricht gebracht werden, daß
21632 Gefahr naht. Der Löwe, der Tiger, der Leopard, die Hyäne,
der
Wolf, der Fuchs, wie alle Tiere, die auf lebende Beute
angewieſen
und von der Leibesbeſchaffenheit ſind, daß ſie nicht
allzulanges
Faſten vertragen, ſie alle ſind mit dem feinen Ge-
ruchsſinne
begabt, der ihnen die Spur ihrer Beute durch die
Luft
verrät, und ſie alle wiſſen dies ſo zu benutzen, daß ſie
auf
ihrem Auszuge nach Beute ſtets dorthin gehen, wo der
Wind
herkommt.
Intereſſanter aber noch iſt die Betrachtung derjenigen
Tiere
, die zu ſchwach ſind, um vom offenen Raube leben zu
können
, denen aber die Natur als Erſatz einen ſchlauen Kunſt-
ſinn
mitgegeben hat, um ſich durch Liſt und Fallen ihre Beute
einzufangen
.
Die Art und Weiſe, wie die Spinne ein feines Gewebe
aus
einer klebrigen Flüſſigkeit ihres Leibes ausſpiunt, die
Emſigkeit
, mit welcher ſie das Netz ausbreitet, die Kunſtfertig-
keit
, mit welcher ſie regelmäßig Fädchen an Fädchen knüpft
und
ein Geflecht zu ſtande bringt, das keine Menſchenhand
nachahmen
kann, die Schlauheit, mit welcher ſie ſich dann
zurückzieht
auf einem langen Faden, um daſelbſt den Zeitpunkt
abzuwarten
, wo ein Inſekt, eine Fliege dieſes Netz berührt
und
daran kleben bleibt, die Ruhe, mit welcher die Spinne
harrt
, bis das Inſekt in ſeiner Todesangſt weiter um ſich
gegriffen
und ſich dadurch nur noch mehr in die Fäden ver-
ſtrickt
hat, die Eile, mit welcher die Spinne jetzt hervorſtürzt,
und
die Fertigkeit, mit welcher ſie das wehrlos gewordene
Inſekt
nun erſt mit einem feinen, dichten Netz umſpinnt und
um
und um bewickelt, um es mit Ruhe töten und ausſaugen
zu
können, all’ das hat wohl Jeder bereits zu beobachten
Gelegenheit
gehabt.
21733
V. Inſtinktmäßige Liſt der Tiere.
Zu den intereſſanteſten Erſcheinungen, wie der Inſtinkt
bei
einem ſchwachen Tierchen wirkt, um ſich der ſtärkeren Tiere
durch
Liſt zu bemächtigen und ſie dann als Beute zu ver-
zehren
, gehört die Art, wie die Larve des Ameiſenlöwen die
ſchnelleren
Ameiſen einfängt.
Das Tierchen, das ſich nur äußerſt langſam und mit
Mühe
fortbewegen kann, gräbt eine wirtliche Falle, in welche
die
Ameiſen ſtürzen.
Die Larve beginnt damit, daß ſie den
Boden
unterſucht, wo ſie ihre Falle anbauen will.
Meiſt
wählt
ſie ihn dort, wo eine Paſſage von Ameiſen oder
anderer
kleiner Inſekten vorhanden iſt.
Iſt der Boden ge-
eignet
, ſo beginnt ſie zu graben, wobei ſie ſich abwechſelnd
eines
Fußes als Schaufel bedient.
Den ausgegrabenen Sand
legt
ſich das Tierchen auf den Kopf, und durch einen heftigen
Ruck
wirft es dieſelbe ſo weit, daß die Erde noch ein paar Zoll
über
den entſtehenden Kreis hinausfliegt, ſodaß das Tier nicht
nötig
hat, die bereits ausgegrabene Erde wieder fortzuſchaffen.
Iſt nun die Vertiefung im Mittelpunkt gemacht, ſo rückt das
Tier
ein wenig weiter und gräbt immer rückwärts ſchreitend, ſo
daß
es die Grube immer mehr und mehr erweitert, bis ſie endlich
tief
und weit genug für den beabſichtigten Zweck iſt.
Sehr
oft
trifft das Tier im Verlauf der Arbeit auf einen Stein,
der
ſeiner Arbeit hinderlich und ſeiner Falle ſchädlich werden
kann
.
Es fährt indeſſen in der Arbeit fort, indem es den
Stein
umgeht, kehrt aber nach vollendetem Werke zu dem Steine
zurück
und entwickelt nun eine wunderbare Anſtrengung und
Ausdauer
, um den Stein auf den Rücken zu laden und hin-
auszuwerfen
;
vermag es dies nicht, ſo entſchließt es ſich ungern
dazu
, den Stein langſam hinauszuſchieben, weil dies eine Furche
und
eine teilweiſe Verſchüttung der Grube herbeiführt.
Hat
es
aber den Stein in der einen oder andern Weiſe aus der
a. Bernſtein, Naturw. Volksbücher II.
21834
Grube gebracht, ſo ſtößt oder ſchiebt es ihn weit ab vom
Rande
, damit der Stein nicht einmal hinabrolle und in die
Grube
falle.
Nur wenn alle Mühe, den Stein fortzubringen,
vergebens
iſt, giebt das Tier den Bau auf und beginnt an
einer
andern Stelle einen neuen.
Iſt aber der Bau glücklich vollendet, ſo gräbt ſich das
Tier
auf dem Boden der Grube halb ein, nimmt ein wenig
loſen
Sand auf den Kopf und wartet nun geduldig, bis eine
Ameiſe
oder ein anderes Tierchen dieſer Art in die Grube hin-
abſtürzt
.
Iſt dies der Fall, ſo wird es ſofort ergriffen und
ihm
das Blut ausgeſogen;
ſtürzt das Schlachtopfer aber nicht
bis
hinab, ſondern verſucht, ſich auf halbem Wege zu halten
und
macht Anſtalt, ſich durch die Flucht zu retten, ſo wird es
mit
Erde und Sand beworfen, ſodaß es nun ſicherlich hinab
und
in ſeinen Tod ſtürzt.
Zu den gewöhnlichen Liſten der Tiere beim Ergreifen
ihrer
Beute gehört das leiſe Herbeiſchleichen und der plötzliche
Überfall
, und gerade ſolche Tiere beſitzen dieſe Liſt in hohem
Maße
, die zu befürchten haben, daß ſich ihr Opfer ihnen durch
die
Flucht entziehen werde.
Sie verſtehen ihm aufzulauern
und
es plötzlich unverſehens zu überfallen.
Als ein furchtbares
Beiſpiel
dieſer Art iſt die entſetzliche Schnelligkeit und Geräuſch-
loſigkeit
bekannt, mit welcher Krokodile Menſchen von den
Kähnen
ins Waſſer hinunterreißen.
Dies geſchieht zuweilen ſo
unverſehens
, daß die Gefährten des Unglücklichen keinen Schrei
vernehmen
und ihn erſt dann vermiſſen, wenn er bereits in
die
Tiefe hinabgeriſſen worden iſt.
Zu den intereſſanten Fällen, wie ſich Tiere einer Fertigkeit
und
einer Liſt bedienen, um ihrer Opfer habhaft zu werden,
gehören
noch folgende zwei Thatſachen, die von Beobachtern
feſtgeſtellt
ſind.
Im Ganges-Strom giebt es einen Fiſch, dem
man
den Namen Schütze beigelegt hat, und der ſich von In-
ſekten
nährt;
da er dieſe nicht verfolgen kann, ſchleicht er
21935 nahe, wenn ſie auf den Uferpflanzen ſitzen, und ſchleudert
plötzlich
Waſſertropfen nach ihnen, damit ſie herabfallen, und
ihm
zur Beute werden.
Noch intereſſanter iſt es, wie ge-
wiſſe
Krabben, deren Bruſtpanzer mit langen Dornen beſetzt
iſt
, es anfangen, ſich vor ihren Feinden zu verbergen und ſich
ihren
Opfern unbemerkt zu nähern.
Sie zwicken nämlich mit
den
Scheren Stücke von Tangarten ab und ſtecken ſich die ab-
gezwickten
Pflanzenteile mit Hilfe ihrer Scheren auf den Dornen
des
Rückenpanzers feſt.
Durch dieſe Kriegsliſt gleichen die
Krabben
ganz einem Haufen von Pflanzenwerk, ſo daß ſowohl
die
Tiere, auf welche ſie Jagd machen, keine Furcht empfinden
und
ruhig ſitzen bleiben, bis ſie von der Krabbe erfaßt werden,
als
auch die Feinde der Krabbe in dem Ballen von Tang
ihre
Beute nicht vermuten.
VI. Inſtinktmäßige Wahl der Nahrungsmittel.
Die Tiere ſind mit einem beſonderen Erkennen aller der
Speiſen
begabt, die für ſie förderlich ſind, und ein eigener
Trieb
hält ſie ab, ſchädliche Speiſen zu ſich zu nehmen.
Der
Menſch
genießt mannigfache Speiſen, von denen es zweifelhaft
iſt
, ob ſie ihm dienlich ſind;
beim Tiere kommt dies nicht vor,
und
noch weniger kann man ſagen, daß irgend ein Tier im
Naturzuſtande
im Verzehren von Speiſen ſo unmäßig iſt, ſich
Krankheiten
durch Zuvieleſſen zuzuziehen.
Dieſer Inſtinkt der Tiere erſtreckt ſich nicht auf die Nah-
rungsmittel
allein, ſondern auch auf alle Dinge, deren ſie zum
Lebensunterhalt
bedürfen und die man nicht als Speiſen be-
zeichnen
kann.
Es iſt bekannt, wie ſehr die Tauben es lieben,
den
Kalk von den Wänden abzueſſen, wie viel Sand die
Hühner
mit ihren Körnern mit verzehren.
Dieſe Stoffe, die
zur
Erhaltung der Knochen und zur Bildung der
22036 dieſer Tiere notwendig ſind, werden alſo, obwohl ſie keine
eigentlichen
Nahrungsmittel ſind, von denſelben aufgeſucht und
verzehrt
, und es leitet ſie hierbei ein Inſtinkt, der in der
ganzen
Tierwelt allgemein herrſchend iſt.
Nur in einzelnen Fällen findet ſich bei den Menſchen ein
ähnlicher
Trieb ein, der ihnen einen ſonderbaren Appetit auf
Dinge
verleiht, die ihnen ſonſt als Speiſen widerſtreben würden.
Man will dieſe Fälle in Krankheiten beobachtet haben, ſicher
aber
findet dies in der Schwangerſchaft der Frauen ſtatt,
während
welcher ſie oft unwiderſtehlichen Appetit haben, Dinge
zu
verzehren, die ihnen ſonſt widerwärtig ſind.
Daß dieſer
Appetit
, der oft von einer Verſtimmung des Nervenſyſtems
herrührt
, immer von einem richtigen Naturinſtinkt geleitet iſt,
läßt
ſich zwar mit Sicherheit nicht behaupten, indeſſen iſt es
bekannt
, wie ſchädlich oft die Verſagung des Begehrten auf die
Frauen
einwirkt, und wie in den meiſten Fällen die Gewäh-
rung
nicht von den zu vermutenden ſchädlichen Folgen be-
gleitet
iſt, ja der oft vorkommende Appetit der Schwangern
nach
Kreide und Kalk hat einen richtigen Grund in der Not-
wendigkeit
dieſer Stoffe für die zu bildenden Knochen des
Kindes
.
VII. Inſtinkt zum Sammeln und Aufſpeichern
der Nahrungsmittel.
Unmöglich kann der Trieb vieler Tiere, Speiſen zu
ſammeln
und aufzubewahren, von der Vorſorge der Tiere für
nahrungsloſe
Zeiten herrühren, denn ſelbſt junge Tiere, die
noch
nie einen Winter erlebt haben, ſammeln für die kommende
Zeit
des Winters Speiſen ein.
Auch manche Tiere, die in wohl-
verſorgtem
Gewahrſam unter der Obhut der Menſchen leben,
haben
die Neigung, von den Speiſen, die ſie erhalten,
22137 aufzubewahren. Wir werden weiterhin noch einen hiermit ver-
wandten
Trieb erwähnen, der die Sorge für die Nahrung der
Nachkommenſchaft
betrifft, ein Trieb, der um ſo wunderbarer
iſt
, als er auch bei Tieren vorkommt, die niemals ihre Jungen
ſehen
, weil dieſe erſt im Frühjahr aus den Eiern kriechen,
nachdem
die Alten längſt im Herbſt geſtorben ſind.
Zu den bekannteſten Tieren, die den Inſtinkt zum An-
ſammeln
von Speiſen beſitzen, gehört das Eichhörnchen.
Mit
einer
Lebendigkeit ſonder gleichen iſt dies Tierchen im Herbſt
damit
beſchäftigt, Nüſſe und Eicheln in hohlen Bäumen auf-
zuſammeln
.
Meiſthin begnügt ſich das Tierchen nicht mit
einem
einzigen Magazin, indem dies durch einen Unfall, wie
einen
Umſturz des Baumes oder durch die Raubgier eines
Feindes
verloren gehen kann;
es legt daher mehrere Magazine
an
verſchiedenen Stellen an, und obwohl die Landſchaft im
Winter
ſehr verändert iſt in ihrem Ausſehen gegen die Land-
ſchaft
in der Herbſtzeit, weiß es dennoch meiſt mit großer
Sicherheit
die Notmagazine aufzufinden, ſobald es ſeine Zu-
flucht
zu denſelben nehmen muß.
Der Eifer des Hamſters zum Einſammeln von Speiſen
iſt
ſprüchwörtlich;
das Tierchen baut ſich aber zu dieſem Zweck
eine
Wohnung, die zugleich einen ſo bequemen Aufenthalt dar-
bietet
, wie er ſich für ein ſo gut verſorgtes, reiches Tier
ziemt
.
Der Hamſter gräbt ſeine Wohnung unter der Erde
aus
, und zwar wie eine herrſchaftliche Wohnung mit zwei
Ausgängen
.
Der eine, der zum Ein- und Ausgehen beſtimmt
iſt
, liegt ſenkrecht, der andere, der dazu dient, um Erde oder
andere
überflüſſige Dinge aus der Wohnung hinauszuſchaffen,
führt
ſchräg nach der Oberfläche der Erde.
Beide Gänge aber
führen
in eine Reihe von Höhlen, die mit großer Zierlichkeit
rund
gewölbt, und die unter einander durch einen ſchmalen
Gang
wie eine Gallerie verbunden ſind.
Eine dieſer Zellen
enthält
ein Bett von trockenen Kräutern und iſt die
22238 Wohnung des reichen Hamſter, die anderen Höhlen dienen als
Vorratskammern
und enthalten ſtets ſo viel, daß das Tier die
längſten
Winter des Nordens überdauert.
Nicht alle Tiere aber, denen im Winter die Ernährung
ſchwer
wird, haben den Inſtinkt, ſich Speiſen anzuſammeln.
Es hat ihnen vielmehr die Natur eine Eigenſchaft verliehen,
durch
welche ſie im eigenen Körper eine Art Speicher anlegen,
und
der ſie leitet, einen ſolchen Reichtum von Nahrung in der
Zeit
des Sommers zu ſich zu nehmen, daß ſie den ganzen
Winter
, welchen ſie ſchlafend zubringen, daran zehren und
ihren
Körper damit erhalten.
Während dieſes Schlafes lebt und
atmet
das Tier;
nur iſt das Leben ein ſehr zurückgezogenes,
denn
das Blut zirkuliert nur äußerſt langſam und der Atem
wird
faſt unmerklich.
Es findet daher bei dieſen Tieren in der
Schlafenszeit
ein äußerſt ſchwacher Stoffwechſel ſtatt, und es
reicht
das Fett, mit welchem ſie ſich hinlegen, aus, um das
Lebenslicht
ſpärlich zu erhalten, bis dann die Wärme das
Tier
wieder erweckt, ihm aber auch zugleich neue Nahrung
bietet
.
Die Tiere, die den Winter ſchlafend zubringen, legen ſich
deshalb
außerordentlich fett zu Bette, und ſtehen vollſtändig
abgemagert
wieder auf.
Sie haben die Vorratskammer in ſich
ſelber
.
Das bekannteſte dieſer Tiere iſt das Murmeltier, welches
man
in den Alpen findet und das Savoyardenknaben in ihren
Höhlen
aufſuchen, woſelbſt ſie ſchlafend liegen.
Durch Er-
wärmen
erwacht das Tier wieder vollſtändig, und wenn es in
der
Wärme verbleibt, ſo hat es ſeine ganze Munterkeit wieder
und
läßt ſich leicht zu jenen kleinen Kunſtſtücken abrichten, die
die
Savoyardenknaben hauptſächlich in Frankreich auf den
Straßen
zeigen.
Nicht minder iſt der Bär bekannt, der
gleichfalls
den Inſtinkt hat, im Sommer viel Fettvorrat im
Körper
anzuſammeln, den Winter in einer Höhle ſchlafend
zuzubringen
und vom eigenen Fett zu zehren.
22339
Der Trieb vieler Tiere, auszuwandern, iſt ein Inſtinkt,
der
oft mit der Ernährung zuſammenhängt.
Das Bedürfnis
nach
Nahrung treibt die Tiere aus kälteren Gegenden in
warme
, woſelbſt die Nahrung nicht mangelt.
VIII. Kunſt der Tiere bei Einrichtung ihrer
Wohnungen.
Zunächſt wollen wir die Kunſt der Tiere, die nicht in
Gemeinſchaft
leben, vorführen, welche ſie bei Einrichtung ihrer
Wohnungen
an den Tag legen.
Eines der merkwürdigſten Beiſpiele dieſer Art iſt die Woh-
nung
einer Gattung von Spinnen, die unter dem Namen
Minier-Spinnen
bekannt ſind.
Die Wohnung dieſer Spinne
beſteht
aus einer Grube, die ſie ſich in Lehmboden ausgräbt
und
die wie ein Fingerhut geſtaltet iſt.
Die Wände der Grube
verkleidet
ſie mit einem ſehr feſten Mörtel;
die obere Öffnung
aber
, die ſo groß iſt, daß ſie jedem Feinde Zutritt geſtatten
würde
, verſchließt ſie mit einem Deckel, der ſich ganz wie eine
Fallthür
in einer Angel bewegt, und zwar ſo genau auf die
Öffnung
paßt, daß dieſe Thür als ein Muſter für Zimmer-
leute
gelten kann.
Die Angel dieſer Thüc ſpinnt die Spinne
aus
Fäden, die eine Schlinge bilden, die an der Thür und
dem
oberen Rande der Grube angebracht iſt.
Auf der anderen
Seite
, da wo ſich an Thüren das Schloß befindet, bringt die
Spinne
ſowohl an der Thür wie an der Wand, an welche
dieſelbe
anſchließen ſoll, eine Reihe kleiner Löcher an, und
wenn
ein ſie verfolgendes Tier die Thür zu öffnen verſucht,
ſteckt
die Spinne ihre Beine in dieſe Löcher der Thür und der
Wand
, und verſchließt ſie auf ſolche Art feſt genug, um ihres
Lebens
ſicher zu ſein.
Der Inſtinkt der Tiere, ſich anzubauen und in
22440 einer Weiſe häuslich einzurichten, ſteht in den meiſten
Fällen
in genauem Zuſammenhang mit dem Inſtinkt, für die
Nachkommenſchaft
zu ſorgen.
Während das Leben der älteren
Tiere
nicht mehr ſo zart iſt, daß es des künſtlichen Schutzes
bedarf
, und das erwachſene Tier für ſich höchſtens für die
Winterzeit
eine Wohnung einrichtet, iſt das Leben des jungen
Tieres
meiſt ſo zart, daß zur Erhaltung desſelben eine eigene
Einrichtung
nötig wird, und zu dieſem Zwecke leitet der In-
ſtinkt
die älteren Tiere an, eine Wohnung zu bauen für die
Jungen
, die ſie erzeugen ſollen.
Allein dieſer Inſtinkt iſt in
ſolchem
Falle nur ein Teil eines anderen Triebes, nämlich der
Sorge
für die Nachkommenſchaft.
Die Emſigkeit, welche die Vögel an den Tag legen zum
Bau
ihres Neſtes, iſt allbekannt.
Mühſam ſammelt der Vogel
Grashalme
, Spänchen, Thon u.
ſ. w. , und bringt ſie Stück
um
Stück zuſammen, um ein Neſt aufzubauen.
Man kann
nicht
ohne Rührung dieſen Fleiß mit anſehen, welchen ſie auf
die
Einrichtung der Wiege ihrer Kinder verwenden.
Ein
Vogelneſt
iſt immer ein höchſt wunderbarer Bau, iſt ſo kunſt-
voll
verwebt und durch einander geſchlungen, daß Menſchen-
hände
dergleichen nicht in ſo kurzer Zeit zu Stande bringen
könnten
.
Und all dies verrichtet der Vogel mit Hilfe des
Schnabels
und der Füße.
Iſt aber das Neſt fertig, ſo bereitet
der
Vogel ein weiches Lager in demſelben etwa durch Stückchen
Moos
, und beginnt nun Eier zu legen, um ſie auszubrüten.
Der Inſtinkt, für Nachkommenſchaft zu ſorgen, iſt ſo groß,
daß
die Vögel, ſonſt ſo lebhaft und wenig zum Stillſitzen
geneigt
, wochenlang unbeweglich über den Eiern ſitzen, ſo daß
ſie
kaum mit Gewalt aus dieſer Stellung zu bringen ſind, und
nur
vom peinigendſten Hunger getrieben ſie auf kurze Augen-
blicke
verlaſſen.
Es iſt dies der Beginn eines Familienlebens,
das
bei den Tieren, ſo lange die Jungen noch nicht für ſich
ſelber
ſorgen können, von rührenden Zügen begleitet iſt.
22541 aber zeigt ſich ſchon hier ein Zug des ehelichen Lebens, denn
nicht
ſelten übernimmt der Gatte die ſchwere Sorge, die über
den
Eiern ſitzende Mutter zu ernähren, ihr Speiſen zuzutragen,
und
wenn ſie davonfliegen muß, um ſich den Durſt durch einen
Trunk
zu ſtillen, ſetzt er ſich ſtatt ihrer auf die Eier, um dieſe
vor
dem Erkalten zu ſchützen.
Bewunderungswürdig tritt dieſes eheliche Leben beim
Storch
auf.
So lange die Störchin über den Eiern ſitzt, ſteht
der
Storch vor ihr auf einem Bein und harrt bei ihr aus,
klappert
, vielleicht zu ihrer Unterhaltung, mit dem Schnabel
und
fliegt nur davon, um für das Weibchen Speiſe heim-
zubringen
.
Daß im Bau der Neſter nicht eine freiwillige Thätigkeit
liegt
, geht ganz unzweifelhaft daraus hervor, daß jedes be-
ſondere
Tier angewieſen iſt, ſeine beſondere Gattung von Neſt
zu
bauen.
Nie lernt ein Vogel durch Beiſpiele eine andere
Art
von Neſt zu errichten, als ihm die Natur angewieſen hat.
Vögel, die man in Bauern gefangen hielt, woſelbſt ſie nie ein
Neſt
, wie es im Freien von ihrer Gattung gebaut wird, geſehen
haben
, und wo man ihnen künſtliche Neſter bereitete, die ſie
auch
benutzen, ſind ohne weiteres, ſobald man ihnen die Freiheit
gab
, darangegangen, Neſter zu bauen, wie ſie die Natur ihnen
vorſchreibt
.
Es ſind deshalb die Neſter charakteriſtiſch für
jede
beſondere Art.
Während ein Finken-Neſt ſo ausſieht wie
das
andere, unterſcheidet es ſich weſentlich vom Neſt eines
Vogels
anderer Art.
Es hat daher jedes Neſt eine beſondere
Eigentümlichkeit
, und einzelne ſind für ihren Zweck ſo be-
wunderungswürdig
angelegt, daß ſie das höchſte Staunen
erregen
.
Eines der merkwürdigſten Neſter iſt das gewiſſer tropiſcher
Vögel
, die ihr Neſt ſo anlegen, daß die Affen, Schlangen und
Eichhörnchen
dasſelbe nicht erreichen können.
Zu dieſem Zwecke
bauen
ſie ihr Neſt am äußerſten Ende eines biegſamen
2264248[Figure 48]Fig. 5. der nicht imſtande iſt, ein etwas größeres Tier zu tragen.
(Fig. 5). Zu mehrerer Sicherheit aber ſtellen ſie ihr Neſt nicht
aufrecht
, ſondern bauen es in der Geſtalt einer länglichen
22743 hängen es mit der Spitze durch ſehr künſtliche Verſchlingungen
von
Gräſern an den Zweig und laſſen den Eingang nicht oben,
ſondern
unten, ſo daß man nur fliegend hineingelangen kann.
Dieſes hängende Neſt iſt von langen hängenden Gräſern her-
geſtellt
und in zwei Abteilungen geteilt, in deren einer das
Weibchen
ſitzt und die Eier ausbrütet, während das Männchen
die
ganze Zeit hindurch in der andern Abteilung ſitzt und ſeine
Gattin
durch Geſang unterhält.
Noch intereſſanter iſt das Neſt eines kleinen Vogels im
Orient
, der unſern Grasmücken ähnlich iſt.
Das Neſt beſteht
aus
Blättern des Baumwollen Baumes, die das Tierchen
im
wirklichen Sinne des Wortes zuſammennäht.
Es ſpinnt
mit
Schnabel und Beinen wirkliche Fäden aus Baumwolle,
ſticht
Löcher in die Blätter, zieht die Fäden durch und näht
ſo
Blatt an Blatt, bis das Neſt fertig iſt.
IX. Vorſorge der Inſekten für ihre Jungen.
Wir haben bereits bei dem Baue der Neſter die Sorgfalt
der
Tiere für ihre Jungen bewundert.
Noch wunderbarer tritt
dieſe
Erſcheinung aber in Geſchlechtern der Inſekten hervor.
Solche Inſekten, die niemals ihre Nachkommenſchaft ſehen
und
die niemals ihre Eltern geſehen haben, weil ſtets die
Jungen
erſt im Frühjahr aus den Eiern kriechen, während die
Alten
bereits im Herbſte ſtarben, auch ſolche Inſekten ver-
raten
eine ungemein große Vorſorge für ihre Jungen und
legen
die Eier dorthin, wo ſie am leichteſten von der Sonne
ausgebrütet
werden, wie z.
B. Schmetterlinge, die meiſt an
der
Sonnenſeite der Bäume Eier legen und ſie mit einem
warmen
Geſpinnſt umgeben, damit ſie dort überwintern können.
Im Monat Auguſt hat man Gelegenheit, dieſe wunderbare
Erſcheinung
an einem Schmetterling zu beobachten, der
22844 uns zu den gewöhnlichſten gehört. Es iſt ein weißer Schmet-
terling
, den man kurze Zeit, nachdem er aus der Puppe her-
ausgekrochen
iſt, herumflattern ſieht;
aber ſein Leben iſt kurz,
es
iſt nur der Begattung gewidmet, und ſchon zwei Tage,
nachdem
das Tierchen die Hülle der Puppe verlaſſen hat, ſieht
man
es auf allen Landſtraßen in großer Maſſe auf der
Sonnenſeite
der Bäume, woſelbſt ſich das Weibchen niederläßt
und
Eier legt und über den Eiern auch gleich erſtarrt und
ſtirbt
.
Dort, wo das Weibchen geſeſſen, bemerkt man leicht
eine
pelzige, braune Erhöhung etwa ſo groß wie ein Zehn-
pfennigſtück
, und nimmt man den Pelz ab, ſo bemerkt man,
daß
eine große Anzahl Eier ſorglich damit umhüllt war, zum
Schutz
gegen den Winter, damit der Frühling und die Früh-
lingsſonne
die Eier noch unverdorben antreffen möge.
Die
dann
aus den Eiern kriechenden jungen Raupen finden ihre
Nahrung
ſofort in der Nähe, und ahnen nicht die mütterliche
Sorgfalt
, die die Natur hierbei in den Schmetterling gelegt.
Noch intereſſanter iſt es, wenn man bemerkt, wie manche
Inſekten
ihre Eier mitten in Stoffe hineinlegen, die das Inſekt
ſelber
weder zum Bau noch zur Speiſe gebraucht, die aber
der
Larve, die ſich aus dem Ei entwickeln wird, zum Hauſe
oder
zur Nahrung dienlich ſind.
So legt die bekannte Kleidermotte, ein ſilbergrauer kleiner
Schmetterling
, die Eier in Pelzwerk und Wollenzeug.
Die
kleine
Raupe, die dort auskriecht, nagt die Wollen- und Pelz-
Fäſerchen
ab und baut ſich aus denſelben eine Röhre, in welcher
ſie
wohnt und welche ſie verlängert und erweitert, ſobald ſie
weiter
wächſt.
Es iſt alſo zu bedenken, daß der Schmetterling
weder
die Kunſt verſteht, eine ſolche Röhre zu bauen, noch
einer
ſolchen Wohnung bedarf, daß aber dennoch ſein Trieb
ihn
leitet, das Ei dort hinzulegen, wo die künftige Brut, die
er
nicht ſehen wird, das Material zum Bau vorfindet.
Bei weitem intereſſanter iſt in dieſer Beziehung das,
22945 man an einem Käfer wahrnimmt, der den Namender Toten-
gräber”
führt.
Dieſes Tier legt ſeine Eier in den verweſenden
Teil
eines Tieres, damit die Jungen, wenn ſie auskriechen,
ſofort
mitten im Aas desſelben ſich befinden, von welchem ſie
ſich
nähren.
Legt man nun im Sommer einen toten Maul-
wurf
oder eine tote Maus, einen Vogel u.
dgl. auf trockene
Erde
nieder, ſo fliegen ſofort, vom Geruch angezogen, die Toten-
gräber
herbei, unterſuchen die Erde und ſcharren ſie mit ihren
kräftigen
Vorderbeinen unter der Leiche weg, bis dieſe einige
Zoll
tief in die Erde hinein verſinkt.
Hierauf ſcharren die
Käfer
die Erde oben über der Leiche zuſammen, und nach voll-
brachtem
Geſchäft begiebt ſich das Weibchen ſofort hinunter ins
Grab
, um in den Leichnam etwa dreißig Eier zn legen.
Merkwürdig iſt folgende Erzählung, die ein zuverläſſiger
Naturforſcher
, Clairville, von dem Totengräber mitteilt:
Ich trat einſt an einem ſchönen Maitage in meinen
Garten
bei Winterthur und bemerkte in einem der Wege eine
tote
Maus ausgeſtreckt, die ſich von Zeit zu Zeit hin und her
bewegte
.
Als ich ſie mit dem Stocke umwendete, erblickte ich
einen
Totengräber, der ohne Zweifel durch ſein Bemühen,
dieſes
Aas zu begraben, jene Bewegung bewirkt hatte.
Auch
ließ
er ſich durch mich in ſeinem Vorhaben keineswegs irre
machen
, ſondern fuhr emſig fort, ſein Totengräberamt zu be-
treiben
, welches ihm jedoch, aller Anſtrengung ungeachtet,
nicht
gelingen wollte, weil der Boden feſtgeſtampft und zugleich
mit
grobem Kiesſande überſchüttet war.
Endlich ſchien er es
aufgeben
zu wollen, er verließ die Maus und lief eine ziemlich
weite
Strecke im Wege fort.
Nach einigem, wie mir däuchte,
ganz
zweckloſen Hin” und Herlaufen wendete er ſich ſeitwärts
nach
einem Gartenbeete.
Kaum ſpürte er hier lockern Boden,
als
er ſofort ſein voriges Scharren wieder begann, und da
dieſes
hier weit beſſer von ſtatten ging, ſo ſah ich ihn bald
geraden
Weges nach der Maus zurückkehren, die er nun
23046 Zerren, Stoßen und Schieben fortbringen zu wollen ſchien.
Allein ſein Bemühen war ohne Erfolg, und nach manchen
vergebens
wiederholten Verſuchen flog er plötzlich auf und
davon
.
Somit glaubte ich nichts gewiſſer, als daß er das
ganze
Unternehmen völlig aufgegeben habe.
Allein wie groß
war
mein Erſtaunen, als ich ihn nach wenigen Augenblicken
mit
drei oder vier andern ſeinesgleichen zurückkehren ſah.
Wie
verabredet
, krochen alle augenblicklich unter den toten Körper,
der
nachher anfing mobil zu werden, und auf dem Rücken der
Käfer
zwar langſam, aber geraden Weges nach jenem Garten-
beete
ſich forbewegte.
Als der ſonderbare Leichenzug auf der
Stelle
, wo der Käfer zuvor geſcharrt hatte, angelangt war,
ging
die Beſtattung des Leichnams förmlich vor ſich.
Immer
tiefer
ſenkte er ſich in den Boden ein;
endlich erſchienen
ſämtliche
Totengräber auf der Oberfläche, und in großer
Schnelligkeit
war das Grab bald zugeſcharrt, worauf ſie teils
davonflogen
, teils aber ſich in das Grab verkrochen.
Man hat Tiere, die auf ganz eigene Art für ihre Jungen
ſorgen
.
So z. B. legt der Kukuk wirklich ſeine Eier in das
Neſt
fremder Vögel, wie der Grasmücken, der Goldammern,
der
Amſeln und anderer Inſekten freſſender Vögel;
und die
Brutvögel
werden für dieſes fremde Kind zärtliche Mütter
und
verſorgen es, obwohl dadurch gerade die eigene Brut dem
Untergange
entgegengeführt wird.
Es iſt nämlich eine That-
ſache
, daß die wirklichen Jungen der Brutvögel, welche ein
Kukuksei
ausbrüten, jedesmal dem Tode geweiht ſind.
Wie
einige
Naturforſcher beobachtet haben, rührt dies daher, daß
der
alte Kukuk die Eier, die er im fremden Neſte vorfindet, zer-
ſtört
, ſo daß die Brut nicht auskommt;
der berühmte Jenner
jedoch
, der Erfinder der Pocken-Impfung, hat die Beobachtung
gemacht
, daß auch der junge Kukuk die Stiefgeſchwiſter, ſowie
ſie
aus den Eiern kommen, mit vielen Kunſtgriffen erfaßt und
aus
dem Neſte zu werfen verſteht, ſo daß ſie zur Erde
23147 und dort umkommen. Und bei all’ dem hört die Pflege des
Brutvogels
gegen den mörderiſchen Eindringling nicht auf,
und
er erfüllt nach wie vor, ohne die eigenen Jungen zu ver-
miſſen
, die Mutterpflicht gegen ihn, bis der junge Kukuk das
Neſt
verläßt.
Es iſt nicht erklärt, weshalb der alte Kukuk nicht ſelber
das
Geſchäft der Brütung übernimmt.
Man glaubt den Grund
darin
zu finden, daß das Kukuksweibchen nur alle 4—6 Tage
ein
Ei legt, und ſo alſo, bevor ſie zum Brüten käme, die erſten
Eier
bereits der Fäulniß anheim gegeben wären.
Die Kukuks-
mutter
ſoll verſchieden gefärbte Eier legen und dieſelben immer
einem
ſolchen Vogel zur Brütung übergeben, deſſen Eier eine
ähnliche
Farbe haben.
Die Thatſache lehrt wenigſtens, daß die
Eier
des Kukuks recht verſchieden gefärbt ſind, ob aber ein und
dasſelbe
Weibchen imſtande iſt verſchiedene Färbungen zu er-
zeugen
oder ob ein und dasſelbe Individuum ſtets gleichgefärbte
Eier
legt, iſt noch nicht ſicher.
Eine Spur mütterlicher Sorgfalt
zeigt
aber auch dieſer Vogel.
Er behält das Neſt, in das er
ſein
Ei gelegt, im Auge und kehrt öfter wieder, um die Eier
der
Pflegemutter, aber nie die eigenen zu vernichten.
Kommt
das
Junge ſpäter aus der fremden Penſion heraus, dann kehrt
es
zur Mutter zurück, um von ihr im Fliegen und allen
Kukuks-Kunſtſtücken
unterwieſen zu werden.
X. Elterlicher Unterricht der Tiere.
Höchſt intereſſant iſt es, den Unterricht, den viele Tiere
ihren
Jungen erteilen, mit anzuſehen, ſo beobachten die Jäger
oft
, daß weibliche Rehe (Ricken) durch Nötigung ihrer Jungen
zum
Niederducken dieſe zum Selbſtſchutz anleiten.
Der Storch
und
die Störchin lehren mit großer Umſicht und Sorgfalt
die
Jungen den merkwürdigen Stelzengang, machen es
23248 vor und ſehen zu, wenn ſie es ihnen nachmachen. Ja, ſie beißen
das
Junge, welches ihre Lehrergeduld auf zu harte Proben ſtellt
und
nicht ſchnell genug die rechte Manier lernt.
Das Stehen
auf
einem Beine, das Drehen des Kopfes, das Halten der
Flügel
, alles iſt ein beſonderer Kurſus des Unterrichts.
Be-
ſonders
ungeſchickt benehmen ſich die Vögel beim erſten Fliegen;
und hier iſt die Geduld der Alten bewunderungswürdig. Der
Storch
und die Störchin machen gleichzeitig die Bewegung des
Fliegens
vor, erheben ſich ein wenig in die Luft und ſchweben
dann
ſofort wieder zurück, und wiederholen dies, bis die Jungen
ein
Gleiches zu thun beginnen.
Nun erſt gehen ſie weiter und
machen
größere Kreiſe im Fliegen, und bringen es ſo von Stufe
zu
Stufe, bis die Jungen mit ausfliegen auf die Jagd und
nun
das Ergreifen von Eidechſen und Fröſchen ſtudieren.
Wie die Katze den mütterlichen Unterricht erteilt, iſt eine
bekannte
Thatſache.
Sie fängt eine Maus und bringt ſie
lebendig
zum jungen Kätzchen.
Hierauf läßt die Mutter das
Mäuschen
los und dies ergreift die Flucht.
Kaum iſt es je-
doch
einige Schritte weit geflohen, da ſpringt die Mutterkatze
mit
einem Satze nach und fängt es wieder ein, und wieder
hält
ſie es eine Weile im Maul und macht das junge Kätzchen
danach
lüſtern.
Bald aber läßt ſie wieder das Mäuschen los,
bis
die junge Katze den rechten Fangſprung macht und das
Mäuschen
einfängt, das nun ſeine alleinige Beute bleibt.
Wir haben es bereits erwähnt, daß bei ſolchen Familien-
Scenen
oft ein eheliches Leben ſich zu erkennen giebt und wie
manche
männliche Vögel im Brutgeſchäft die Gattin ablöſen
oder
ihr Geſellſchaft leiſten und zuweilen auch die Erziehung
der
Jungen mit leiten.
Ein noch ausgebildeteres Beiſpiel
zeigt
ſich in jedem Hühnerhofe, wo ein Haushahn unter ſeinen
Hennen
und Jungen herumſpaziert.
Es tritt hier ganz un-
verkennbar
der Zug des Familienlebens auf, in welchem der
Haushahn
das Regiment führt und mit merkwürdiger
23349 und Strenge zugleich ſein Benehmen einrichtet. Er iſt der
Beſchützer
des ganzen Hühnerhofes und zieht oft in feierlichem
Gange
an der Spitze des ganzen Troſſes einher.
Findet er
ein
Korn, ſo ruft er die Familie und überläßt es großmütig
den
Andern.
Entſteht ein Streit zwiſchen ihnen, ſo iſt er
ſofort
geſchlichtet, wenn der Haushahn dazwiſchen tritt.
Bei
Strafe
darf es kein Hähnchen wagen, ſein Kikriki vor dem
Haushahn
hören zu laſſen.
Hört er den Ruf einer Henne, der
ihm
anzeigt, daß ſie ein Ei gelegt, ſo eilt er ſofort zu ihr hin
und
ſtimmt in ihren Freudenruf mit ein.
Bringt man aber
einen
andern fremden Hahn auf den Hof, ſo beginnt er einen
Kampf
der Eiferſucht mit ihm auf Tod und Leben und ruht
nicht
eher, bis der Feind oder er ſelbſt vernichtet iſt.
XI. Das Benehmen der Tiere gegen ihre Feinde.
Zu beobachten, wie das Tier ſeinen Feind erkennt, wie
es
ſich vor ihm zu hüten ſucht und wie es ſich ihm gegenüber
verteidigt
, bietet auffallende Schauſpiele.
Läßt man zu einem jungen Salamander im Glaſe, der
nie
einen Blutegel geſehen hat, ein ſolches Tier, ſo bemerkt
man
ſofort das Entſetzen des Salamanders vor dem blut-
dürſtigen
Gaſte.
Daß hier nicht etwa eine Luftart, die dem
Blutegel
entſtrömt, dem Salamander ſo widerwärtig iſt, daß
er
die Flucht ergreifen muß, geht aus einem Verſuche hervor,
bei
welchem man ein Glas durch eine Glaswand in zwei Ab-
teilungen
trennte, und in die eine den Salamander, in die
andere
den Blutegel brachte.
So lange man eine undurchſichtige
Wand
zwiſchen die Tiere ſchob, erriet das eine nichts von der
Anweſenheit
des andern, ſobald man aber die undurchſichtige
Wand
wegnahm, und nun die Glaswand es geſtattete, daß die
Tiere
ſich ſahen, bemerkte man ſofort an dem Benehmen
a. Bernſtein, Naturw. Volksbücher II.
23450
der Tiere, daß ſie Blutsfeinde ſeien und ſich als ſolche er-
kannten
.
Es findet ein Gleiches bei allen Tieren ſtatt, die nicht zu
den
Haustieren gehören;
bei dieſen letzteren jedoch verlieren ſich
oft
Naturinſtinkte.
Und doch kann es eben nur ein blinder
Inſtinkt
ſein, der den Feind erraten läßt, denn man beobachtet
Fälle
, wo Tiere, die ſonſt mit feinem Inſtinkt begabt ſind, ganz
blind
, trotz der mannigfaltigſten Erfahrung, in den Tod rennen.
Die Ameiſen, die mit ſo merkwürdigen Inſtinkten verſorgt ſind,
und
welche man zu den geſcheiteſten Tieren rechnen möchte, ſetzen
ſich
haufenweiſe auf die lange Zunge des Ameiſenbärs, der ſie
mitten
in das Neſt hineinſteckt, und werden ſo ſeine Beute,
indem
er die Zunge voll Ameiſen wieder in den Mund hin-
einzieht
.
Oft aber führt ein Trieb die Tiere ſogar gerade
ins
Verderben.
Die Mücke und viele andere Inſekten, die
ſonſt
vortrefflich dem Tode zu entfliehen wiſſen, können dem
Trieb
ſich einer Lichtflamme zu nähern, nicht widerſtehen;
ver-
gebens
warnt ſie die Erfahrung, daß ſie ſich an der Flamme
verbrennen
wird.
Sie fliegt einmal heran und ergreift, halb
verbrannt
, noch glücklich die Flucht;
aber die Lehre iſt um-
ſonſt
:
ſie wiederholt ihr Vergnügen ſo lange, bis ſie der Tod
ereilt
.
Wir haben es bereits erwähnt, daß der Inſtinkt der Tiere
ſie
überhaupt nur in Zuſtänden leitet, die in der Natur ſelbſt
ſich
darbieten, daß aber künſtlichen Zuſtänden gegenüber die
Natur
ſie verläßt.
Die Fliege kann Tauſende ihrer Genoſſen
auf
dem Fliegenleimſtocke kleben und ſich zu Tode abquälen
ſehen
, ſie wird dadurch nicht abgehalten, ſich neben ſie zu
ſetzen
und in den Tod zu gehen.
Die ſchlaueſten und vor-
ſichtigſten
Tiere gehen in die plumpſte Falle und kehren in
dieſelbe
zurück, wenn ſie ihr einmal glücklich entronnen ſind.
Nur die durch Erziehung klug gewordenen Haustiere machen
Erfahrungen
und wiſſen ſie anzuwenden.
23551
Intereſſant iſt bei dem Tiere die Art, wie es ſich vor
dem
Feinde bewahrt, mit demſelben kämpft und ihn zu bei
wältigen
ſucht.
Das Stachelſchwein läßt ſich gar nicht in einen Kampf
mit
einem Feinde ein.
Es rollt ſich zuſammen, ſtellt ſeine
Stacheln
hoch auf und liegt ruhig, wie im Bewußtſein, daß
ihm
kein Tier etwas anhaben kann.
Der Stacheligel thut es
ebenſo
, nur zuweilen rennt er das Tier, von dem er ange-
griffen
wird, etwas an, ohne es jedoch zu verletzen.
Der Fuchs weiß ſehr wohl ſich der ihn jagenden Hunde
dadurch
zu erwehren, daß er ſeinen Schwanz mit ſeinem
beißenden
Harn benetzt und dieſen den Hunden in die Augen
ſpritzt
, wie ja bekanntlich auch gewiſſe Ameiſen, namentlich die
rote
Waldameiſe (Formica rufa) unſerer Wälder ihren An-
greifern
die in ihrem Körper reichlich aufgeſpeicherte Säure
(“Ameiſenſäure”) entgegenſpritzen.
Das Stinktier, ein Wieſel
in
Nordamerika, hat einen entſetzlich ſtinkenden Saft in einer
Blaſe
und ſpritzt ihn den Feinden entgegen, um ſie von ſeiner
Verfolgung
abzuhalten.
Der Tintenfiſch ſpritzt einen ſchwarzen
Saft
ins Waſſer, wenn er verfolgt wird, und trübt dasſelbe ſo,
daß
der Verfolger ihn nicht ſieht.
Ja, manche Spinnen und
viele
Inſekten ſtellen ſich tot, wenn ſie von übermächtigen
Tieren
angegriffen werden, und bleiben ſtundenlang in dieſer
Lage
, ohne ſich zu rühren.
XII. Der Inſtinkt der Geſelligkeit.
Zwei beſondere Inſtinkte erſcheinen nur bei einzelnen
Tieren
und fehlen bei anderen:
die Inſtinkte der Geſelligkeit
und
der Wanderung.
Dieſe beiden Inſtinkte ſind inſofern mit einander ver-
bunden
, als der Inſtinkt der Wanderung meiſt immer
23652 Inſtinkt der Geſelligkeit vorausſetzt. Es giebt Tiere, die an
Ort
und Stelle einſam und ungeſellig leben, aber ſie ſammeln
ſich
zu einer ganzen Geſellſchaft, ſobald ſie eine Wanderung
antreten
, und führen während der Wanderung ein Leben, das
entſchieden
den Charakter einer organiſierten Geſellſchaft an
ſich
trägt.
Man kann daher annehmen, daß jedem Wandertiere der
Trieb
der Geſelligkeit beiwohne, während nicht immer mit dem
Triebe
der Geſelligkeit auch die Wanderluſt vorhanden iſt.
Im Allgemeinen iſt der Geſelligkeitstrieb mit einem hohen
Grade
von Kunſttrieb verbunden.
Derſelbe Inſtinkt, der
Tiere
anleitet, in großer Gemeinſchaft mit ihres Gleichen zu
leben
, derſelbe lehrt ſie auch, Ordnung in der Geſellſchaft zu
erhalten
und gemeinſame Arbeiten auszuführen.
Wenn Tiere
bei
einander leben, erhalten Wohnung, Arbeit, Lebensweiſe,
Verteidigung
und Angriff, ſowie Jugenderziehung immer einen
ganz
beſtimmten, eigentümlichen Charakter, der an menſchliche
Kultur
erinnert.
Die Tiere bilden einen Staat, der zum Teil
auf
die geſchloſſene Familie, zum Teil auf die freie Geſellſchaft
gegründet
, zum Teil gemiſchten Charakters iſt.
Darum darf man auch die Vereinigung von Tieren zu
einem
gemeinſamen Zwecke nicht mit dem Inſtinkt der Geſellig-
keit
verwechſeln.
Sowohl Wölfe wie Hyänen vereinigen ſich
oft
zu gemeinſamen Raubzügen, und während des Zuges
ſcharen
ſich noch mehr an, ſo daß ſie gemeinſchaftlich ihre
Jagd
machen;
aber ſie leben nicht bei einander, ſondern
trennen
, ja befeinden ſich, ſobald der gemeinſchaftliche Jagdzug
vollbracht
iſt.
Es iſt offenbar, daß ſie nicht vom Geſelligkeits-
triebe
, ſondern von dem bei jedem Einzelnen gleich ſtarken
Triebe
des Hungers gemeinſam zu einer Handlung, die dieſem
Triebe
Befriedigung verſpricht, angehalten werden.
Iſt der
Hunger
geſtillt, ſo hat das Band der Gemeinſamkeit auch auf-
gehört
.
Ganz wie der Angriff und der Raubzug,
23753 oft auch der Trieb der Verteidigung eine Maſſe gleicher Tiere
und
läßt ſie für einen Augenblick eine geſchloſſene Geſellſchaft
bilden
, die ihren Zweck nach einem beſtimmten Plane durch-
führt
.
So z. B. lebt das Pferd in der Wildnis zwar in Ge-
meinſchaft
mit ſeines Gleichen, ader ſie bilden deshalb immer
noch
nicht eine Geſellſchaft, denn ſie führen keinen geſellſchaft-
lichen
Zweck aus.
Sobald ſie jedoch von Raubtieren ange-
griffen
werden, vereinigen ſie ſich ſofort zu einer Verteidigungs-
geſellſchaft
, ſchließen einen Kreis, in deſſen Mitte ſie die
49[Figure 49]Fig. 6. weiblichen und jungen Mitglieder der Familie bringen und
halten
dann gemeinſchaftlich durch Beißen und Schlagen den
Räuber
fern.
Ein höherer Grad des Geſellſchafts-Inſtinkts thut ſich an
ſolchen
Tieren kund, die zwar nicht in Geſelligkeit und mit ge-
meinſchaftlichem
Eigentum leben, aber doch ihre Wohnungen
unter
gemeinſchaftlichem Dache einrichten.
Am Vorgebirge
23854 guten Hoffnung lebt eine Vogelart, der man den Namen Re-
publikaner
gegeben hat;
wegen des kunſtvollen Neſtbaues der
Vogel-Gruppe
, zu der der Republikaner gehört, bezeichnet man
dieſelbe
als die der Webervögel.
Die Republikaner bauen zu
vielen
Hunderten ein einziges, ungeheures Schirmdach um den
Stamm
eines hohen Baumes, ſo daß der Baum mit dem
Dache
wie ein ungeheurer rieſiger aufgeſpannter Regenſchirm
ausſieht
, Fig.
6, und in dieſem Dache hat jeder Vogel ſein
beſonderes
Neſt.
Sie beſitzen alſo zwar ein gemeinſchaftlich
erbautes
Eigentum aber ſie leben nicht gemeinſchaftlich, teilen
weder
ihren Überfluß, noch ihren Mangel und ſcheinen nur den
Raum
unter dem Dache gemeinſchaftlich zu benutzen.
Wo der Trieb der Geſelligkeit noch weiter ausgebildet iſt,
da
bemerkt man, daß die Tiere ihre Wohnungen vor den Nach-
barn
nicht abſperren, ſondern ſie womöglich durch Gänge mit
einander
in Verbindung ſetzen.
So zeigt es ſich bei den
Kaninchen
.
Wenn man zwei Kaninchen-Familien nicht gar zu
weit
von einander ihre Wohnung in die Erde graben läßt, ſo
bemerkt
man bald, daß ſie einen unterirdiſchen Gang von der
einen
Wohnung zur anderen anlegen, als ob ihnen der freund-
ſchaftliche
Umgang auf der Oberfläche der Erde nicht intim
genug
wäre.
XIII. Verſtändigung der Tiere untereinander.
Daß eine Verſtändigung der Tiere untereinander oftmals
vorkommt
, iſt ganz zweifellos, wie wir ſchon im Abſchnitt IX
bei
Erwähnung desTotengräbers” angedeutet haben;
ähnliche
Beiſpiele
hiervon laſſen ſich häufen, ſo beobachtete ein Inſekten-
freund
, wie ein Goldlaufkäfer (Carabus auratus) einen lädierten
Maikäfer
vergeblich zu bewältigen ſuchte und daher ſeine Arbeit
unterbrach
um Genoſſen ſeiner Art zu holen, mit deren Hülfe
der
Maikäfer ſchnell ein Opfer ſeiner Feinde wurde.
23955
Ein höherer Geſelligkeits Inſtinkt giebt ſich bei den
Elefanten
und Affen kund.
Sie leben nicht nur in der
Wildnis
gemeinſchaftlich, ſondern ihre Vereinigung hat den
Charakter
einer geſchloſſenen Geſellſchaft, indem ſie bei ihren
Zügen
die Rollen verteilen und Vorpoſten und Schildwachen
ausſtellen
, die ihnen ein Zeichen geben müſſen, wenn Feinde
nahen
.
In dieſer Teilung der Arbeit, in dieſer Anordnung,
daß
der eine thätig ſein muß für die übrigen, liegt der Zug
des
geſellſchaftlichen Lebens, und zu dieſem gehört denn auch
die
gegenſeitige Verſtändigung durch Mitteilung.
Die Art der Verſtändigung der Tiere untereinander gehört
zu
den unerforſchteſten Dingen.
Es iſt möglich, daß bei den
meiſten
Fällen nur ein Verſtändnis ſtattfindet ohne beabſichtigte
Mitteilung
.
Die Wölfe, die ihren Genoſſen leidenſchaftlich
nach
einem Orte hinſtürzen ſehen, mögen verſtehen, was ihn
treibt
, ohne daß der Wolf die Abſicht hatte, ſich mitzuteilen.
Sie ſehen das Funkeln ſeiner Augen, das Lechzen ſeiner Zunge
und
das reizt ſie zu gleicher Handlung.
Sie vereinigen ſich
demnach
in einer Leidenſchaft, ohne ſich zu verſtändigen.
Sie
verſtehen
einander dadurch, daß ſie unwillkürlich erraten, was
in
ihnen vorgeht;
nicht dadurch, daß ſie ſich willkürlich das-
ſelbe
mitteilen.
Hieraus dürſte der Nachahmungstrieb
entſtanden
ſein
.
Wo aber wirklich, wie bei Elefanten und
bei
Affen, der Führer vorangeht und Poſten ausgeſtellt werden,
die
die Aufgabe haben, durch ein Zeichen das Nahen einer
Gefahr
den anderen bekannt zu machen, da iſt ſchon Mitteilung
vorhanden
, jene höhere Art der Verſtändigung, aus der im
höchſten
Grade der Ausbildung die Sprache entſteht, wie denn
Prof
.
Garnier direkt von einer Affenſprache redet, die er zu
ſtudieren
befliſſen war.
Brehm erzählt in ſeinemTierleben” Folgendes:
In der Höhe der dürren Jahreszeit, ſagt Major
Skinner
, trocknen bekanntlich alle Ströme aus und die
24056 ebenſo. Die indiſchen Tiere leiden dann große Not des Waſſers
wegen
und ſammeln ſich maſſenhaft in der Nähe derjenigen
Teiche
, welche das ihnen ſo notwendige Element am längſten
behalten
.
In der Nähe eines ſolchen Teiches hatte ich einmal
Gelegenheit
die erſtaunliche Vorſicht der Elefanten zu beob-
achten
.
An der einen Seite des Pfuhls und hart an ſeinem
Ufer
begann ein dichter Urwald, auf der anderen umgab ihn
offenes
Land.
Es war eine jener prachtvollen, klaren Mond-
lichtnächte
.
Ein gewaltiger Baum, deſſen Zweige über den
Teich
weg hingen, bot mir ein ſicheres Unterkommen in ſeiner
Höhe
.
Endlich ſchlüpfte etwa dreihundert Schritt vom Teiche
entfernt
ein großer Elefant aus dem dunklen Wald, ging mit
höchſter
Vorſicht beiläufig zweihundert Schritt vor und ſtand
dann
ſtill, um zu lauſchen.
Er war ſo ruhig gekommen, daß
nicht
das leiſeſte Geräuſch gehört werden konnte, und er blieb
mehrere
Minuten ſtehen, bewegungslos, wie ein Felsblock.
Dann erſt rückte er in drei Abſätzen weiter und weiter vor,
zwiſchen
jedem Vorrücken mehrere Minuten lang anhaltend
und
die mächtigen Ohren nach vorwärts öffnend, um auch das
leiſeſte
Geräuſch aufzufangen.
So bewegte er ſich langſam bis
an
das Waſſerbecken.
Er dachte nicht daran ſeinen Durſt zu
löſchen
, obgleich er dem Waſſer ſo nahe ſtand, daß ſeine ge-
waltige
Geſtalt ſich in ihm wieder ſpiegelte.
Minutenlang
verweilte
er lauſchend ohne ein Glied zu rühren.
Dann drehte
er
ſich vorſichtig und leiſe um, und ging nach derſelben Stelle
des
Waldes zurück, von woher er gekommen war.
Nach einer
kleinen
Weile erſchien er wieder mit fünf anderen, mit denen
er
wieder nun ebenſo vorſichtig, aber weniger lautlos als früher
auf
das Waſſer losging.
Die fünf wurden von ihm als
Wächter
aufgeſtellt.
Er kehrte in den Wald zurück und erſchien
nochmals
, umgeben von der ganzen Herde von etwa achtzig
bis
hundert Stück und dieſe führte er über die Blöße mit
ſolcher
Stille, daß ich trotz der Nähe die Tiere nur ſich
24157 wegen ſah, nicht aber ſie auch ſich bewegen hörte. In der
Mitte
der Blöße blieb die Herde ſtehen.
Er ging von neuem
vor
, verkehrte mit den Wächtern, unterſuchte alles, überzeugte
ſich
von vollſtändiger Sicherheit, kehrte zurück und gab nun
Befehl
zum Vorrücken.
In demſelben Augenblick ſtürzte die
Herde
gegen das Waſſer los und warf ſich ohne jede Scheu
und
ohne noch an Gefahr zu denken in die Fluten.
Merkwürdig iſt, daß die Ausbildung des Inſtinkts nicht
abhängig
iſt von der Höhe der körperlichen Entwickelung.
Viel-
mehr
ſind es Inſekten, bei denen man den vollendetſten Grad
des
Inſtinkts beobachtet, obwohl ſie in ihrer leiblichen Bildung
niedriger
ſtehen, als die Wirbeltiere.
Die Bienen, Ameiſen und Termiten, die wir unter den
Inſekten
näher betrachten wollen, haben nicht nur Männchen
und
Weibchen, ſondern noch eine dritte Kategorie, nämlich ge-
ſchlechtsloſe
Individuen, Arbeiterinnen, und gerade dieſe
ſind
es, die ſich durch beſondere Fähigkeiten auszeichnen.
Nun,
die
haben ja auch Zeit, da ſie ihre Kräfte nicht im Intereſſe
der
Nachkommenſchaft zu verwenden brauchen.
XIV. Das Leben der Bienen.
Das Leben der Bienen iſt immer mit Recht der Gegen-
ſtand
der Bewunderung geweſen;
aber gerade das Wunder-
bare
daran hat den Übertreibungen in der Schilderung Thür
und
Thor geöffnet.
Dies zu meiden iſt unſer Wunſch; aber
es
iſt ſehr ſchwierig.
Die Bienen ſind Tiere, die in Geſellſchaften leben, in
welchen
nur ein einziges Weibchen, an 6—800 Männchen und
an
10—30 000 Arbeiterinnen, das ſind die geſchlechtsloſen
Tiere
, vorhanden ſind.
Allenthalben, wo zwei Weibchen vor-
handen
ſind, bekämpfen ſie ſich gegenſeitig, bis eines
24258 iſt, oder das eine wandert aus und bildet mit einem Anhange
von
Männern und Arbeiterinnen eine zweite Geſellſchaft.
Die Eigentümlichkeiten hierbei ſind aber höchſt wunder-
bar
, und wir wollen, um das Ganze klarer zu überſchauen,
den
Kreislauf dieſes Geſellſchaftslebens dort beginnen, wo ein
Weibchen
zum Auswandern genötigt iſt, aus einem Bienen-
ſtock
auszieht und eine Anzahl Männchen und Arbeiterinnen
mit
hinausführt ins Freie, um eine neue Geſellſchaft zu gründen.
Man nennt einen ſolchen Bienenzug einen Bienenſchwarm.
Das Weibchen kommt aus dem alten Bienenſtock mit
großem
Geräuſch heraus und hinter ihm her ein ungeheurer
Schwarm
von Anhängern, der ihm allenthalben folgt, wo es
hinzieht
.
Meiſthin dauert dieſer Flug nicht lange, ſondern das
Weibchen
läßt ſich auf einen Baum oder ein Gebäude nieder
und
all ihre Begleiter ſetzen ſich um und an es heran, eines
an
und auf das andere, ſo daß ſie einen Klumpen bilden, der
oft
vom Zweige eines Baumes ganz ſo herabhängt, wie eine
Frucht
.
Dieſer Bienenklumpen iſt oft ſo groß wie ein mäßiger
Kürbis
oder eine große Melone und verharrt oft mehrere
Stunden
in dieſer ſonderbaren Stellung.
Das Weibchen iſt das Tier, das man die Königin des
Schwarmes
nennt, und der Schwarm zeigt eine ſolche Anhäng-
lichkeit
an dasſelbe, daß es lebensgefährlich iſt, das Weibchen
in
ſeiner Gegenwart zu töten.
Es iſt nun beobachtet worden, daß in der Wildnis einige
Arbeiterinnen
herumſchwärmen und einen Ort ſuchen, wo die
Geſellſchaft
ſich niederlaſſen kann.
Haben dieſe Kundſchafter
einen
hohlen Baum oder ſonſt eine Höhle ausfindig gemacht,
die
hierzu ſich eignet, ſo kehren ſie zu dem Haufen zurück und
machen
offenbar hiervon Mitteilung;
denn man gewahrt nun,
daß
der ganze Schwarm mit der Königin an der Spitze ſich
in
Bewegung ſetzt und ſich zu dem ausfindig gemachten Wohn-
ſitze
hinbegiebt.
24359
XV. Anſiedelung der Bienen.
Während der Bienenſchwarm im wilden Zuſtande ſelber
ein
Unterkommen ſucht, ſorgt die Kultur der Menſchen aller
Orten
dafür, ihm ein ſolches vorrätig zu halten.
Der Land-
mann
, der bemerkt, daß ſolch ein Bienenſchwarm im Begriff
iſt
, einen neuen Bienenſtock zu gründen, hält einen Bienen-
korb
bereit.
Wenn der Schwarm ſich feſtgeſetzt hat, hält er
den
Korb mit der offenen Seite unter denſelben, ſtreicht ſchnell
mit
einem bereit gehaltenen Brett den ganzen Schwarm ab
von
der Stelle, wo er ſich feſtgeſetzt hat, ſo daß er in den
Korb
hineinfällt und deckt denſelben ſofort mit dem Brett zu.
Nachdem ſo der Schwarm eingefangen iſt, kehrt er den Korb
mit
dem verſchließenden Brett um und bringt ihn ſo an Ort
und
Stelle.
Die Bienen ſind hiernach eingefangen und haben
nur
einen Ein- und Ausgang zur Seite des Korbes durch ein
kleines
Loch, das man ihnen dort offen läßt.
Man kann nun an den Bewohnern des Schwarmes ſofort
bemerken
, ob auch das Weibchen, die ſogenannte Königin,
glücklich
mit eingefangen iſt oder nicht.
Iſt das Weibchen
mit
eingefangen, ſo bleiben die Bienen eine ganze Weile ruhig
im
Korbe und ziehen nur einzeln aus, um ihr Tagewerk ſo-
fort
zu beginnen;
iſt jedoch das Weibchen nicht drinnen, ſo
ſtürmen
ſie ſofort mit ungeheurer Schnelligkeit aus dem Korbe
heraus
, ſo daß nicht eine einzige darin zurückbleibt, und beeilen
ſich
, die Königin aufzuſuchen, um mit ihr aufs neue zu
ſchwärmen
und ſich irgendwo wieder auf einen Klumpen an-
zuſetzen
.
In ſolchem Falle ſind die Bienen im höchſten Grade
zornig
und es iſt gefährlich, ſich ihrer Wut auszuſetzen, wes-
halb
denn der Landmann bei dieſem Geſchäft ſtets Geſicht und
Hände
durch Drahtwerke und Handſchuhe wohl verwahrt.
Wunderbar iſt die Beobachtung, die man hierbei gemacht
hat
, daß die Bienen, die bereits im Korbe waren und um
24460 gutes Neſt in Verlegenheit ſind, nicht in denſelben Korb frei-
willig
mit ihrer Königin zurückkehren.
Ja, man will bemerkt
haben
, daß ſie überhaupt dieſen Korb nicht gerne mehr be-
wohnen
, und die Landleute halten für ſolche Fälle einen zweiten
in
Bereitſchaft, um den neuen Schwarm darin einzufangen.

Indeſſen
muß man ſich hier wie in allen Fällen, die die Bienen-
zucht
betreffen, hüten, den Bemerkungen der Bienenzüchter vollen
Glauben
zu ſchenken, da dieſe meiſt ſo eingenommen von der
Klugheit
ihrer Bienen ſind, daß ſie ihnen nicht ſelten auf die
leiſeſten
Veranlaſſungen hin ganz außerordentliche Eigentüm-
lichkeiten
und Charakterzüge andichten.
Hat man nun das Weibchen mit dem Schwarme glücklich
eingefangen
, ſo beginnen die Bienen ſofort ihre Arbeit.
Die
Königin
(wir wollen das Weibchen nun immer ſo nennen)
bleibt
ſtets im Korbe, und in ihrer Umgebung halten ſich die
Männchen
, die man Drohnen nennt, auf.
Auch mehrere Ar-
beiterinnen
bleiben da, und alle umdrängen die Königin.
Die
übrigen
Arbeiterinnen, die wir fortan nur Bienen nennen
wollen
, ziehen nun ſofort aus, um Nahrung und Baumaterial
in
den Blüten aufzuſuchen und heimzubringen.
Die Biene, deren ganzer Körper mit feinen Härchen be-
ſetzt
iſt, begiebt ſich nämlich in eine Blume, in der Honigſaft
oder
Blütenſtaub reichlich vorhanden iſt, um davon zu holen.
Nun ſteigt ſie wieder heraus, ballt den Blütenſtaub zu einem
kleinen
, gelben Knäuel zuſammen, welchen ſie in die innere
Fläche
ihrer Hinterbeine einklebt, woſelbſt eine Art Becken zu
dieſem
Zweck vorhanden iſt.
Der Bienenzüchter nennt die ge-
füllten
Becken das Körbchen oder das Höschen der Biene!
Um genau beobachten zu können, was nun im Korbe vor-
geht
, wohin die Bienen zurückkehren, hat man ſolche aus Glas
angefertigt
, die man mit gewöhnlichen Körben verdeckt hält, weil
die
Bienen nur im Dunkeln arbeiten.
Man hat nun gefunden,
daß
die erſte Arbeit der Bienen darin beſteht, den
24561 Korb wohl zu verkitten und jede Spalte des Korbes zu ver-
ſchließen
.
Zu dieſem Zwecke entledigen ſich die heimkehrenden
Bienen
ihres geſammelten Materials, das teils zur Nahrung,
teils
zum Bauſtoff verwendet wird, und fliegen ſofort davon,
um
neue Materialien zu ſammeln, während daheim andere
Bienen
die eingebrachte Beute in Beſitz nehmen und ſofort wieder
zu
arbeiten beginnen.
Einige von ihnen reichen der Königin das
Futter
dar, wobei ſie eine ſorgſame Auswahl treffen.
XVI. Der Bau der Bienenzellen.
Wenn der ganze Bienenkorb inwendig austapeziert worden
iſt
, hat er das Anſehen, als ob er eine Glaſur aus Wachs
hätte
, und dieſe iſt ſo fein und glatt, daß man es kaum glaub-
lich
halten könnte, daß dies alles mit den Kinnladen der Tiere
vollbracht
worden iſt.
Bringt man einen Bienenſchwarm
nicht
in einen neuen, ſondern in einen bereits von einer
früheren
Vienengeſellſchaft glaſierten Korb, ſo begnügen ſie ſich
mit
der Reinigung und Ausbeſſerung desſelben und begeben
ſich
dann ſofort zum Bau ihrer eigentlichen Neſter.
Das Baumaterial dieſer Neſter beſteht aus Wachs, einem
Stoff
, den die Bienen zwiſchen ihren Hinterleibsringen aus-
ſcheiden
.
Auch der Honig, von dem wir ſpäter ſprechen werden,
iſt
nicht ein reines Produkt der Pflanzen, das die Biene ſam-
melt
, ſondern er iſt ein umgewandelter Pflanzenſtoff und wird
von
den Bienen in Tropfen aus dem Munde ausgeſchieden
und
in den Vorratskammern angeſammelt.
Der Bau dieſer Neſter iſt höchſt wunderbar. Es iſt ſchwer,
eine
klare Beſchreibung davon zu geben, auch gewinnt man
durch
Abbildungen keine zweifelloſe Vorſtellung davon;
man
thut
am beſten, wenn man ſich etwas Honigſcheibe verſchafft,
die
käuflich zu haben iſt, den Honig mit lauwarmem
24662 auswäſcht und nun die Zellen betrachtet, in welchen der Honig
eingeſpeichert
gelegen hat.
Man wird ſehen, daß die Neſter
aus
ganz regelmäßigen, ſechsſeitigen Zellen beſtehen, die zu
beiden
Seiten der Scheibe ſo gebaut ſind, daß die Spitzen an
einander
grenzen, daß dieſe Zellen genau eine wie die andere
gebaut
ſind, daß die Wachswände, die ſie trennen, von außer-
ordentlicher
Zartheit, Glätte und regelmäßiger Stärke in allen
Teilen
ſind, und wird Gelegenheit genug finden, den Inſtinkt
zu
bewundern, der ſich in dieſer Baukunſt zu erkennen giebt.
So genau in den Winkeln, in Länge, Breite und Tiefe zu
bauen
, vermag der Menſch nur mit Hilfe vieler mathematiſcher
Werkzeuge
und nach ſehr ſicherm Plane und ſo vorteilhaft Zelle
an
Zelle von beiden Seiten der Scheibe zu legen und jeden
Raum
aufs genaueſte zu benutzen, dazu würde für den Menſchen
ein
Aufwand von geiſtiger Überlegung, der nur einem aus-
gebildeten
wiſſenſchaftlichen Geiſte möglich iſt, gehören.
Manche
Naturforſcher
glauben indeß, daß die ſechseckige Form der
Zellen
einfach phyſikaliſch erklärt werden kann.
Der Bau der Neſter wird von Tauſenden von Bienen
gleichzeitig
begonnen.
Nun iſt die Regelmäßigkeit aber ſo
groß
, daß, wenn ein einziges Neſt nicht an der richtigen Stelle
angefangen
wäre, alle übrigen dadurch verſchoben würden.
Man muß alſo nicht nur annehmen, daß der Inſtinkt während
des
Baues die genaueſten mathematiſchen Angaben macht, ſon-
dern
auch ſchon beim gleichzeitigen Beginn jeder einzelnen
Zelle
der Inſtinkt einer jeden Biene genau den Punkt anweiſt,
wo
ſie die Zelle zu beginnen hat, damit ſie ſo genau an die
Nachbarzelle
paßt.
Jede Scheibe ſolcher Zellen nennt man eine Wabe. Die
Waben
hängen ſenkrecht im Korbe und zwiſchen einer Wabe
und
der andern iſt nur ſo viel Raum, daß zwei Bienen an
einander
vorüber wandern können.
Die Waben ſind oben am
Korbe
und an den Seiten befeſtigt, und werden noch
24763 dem, wenn ſie zu ſchwer ſind, von einigen Pfeilern geſtützt,
welche
die Bienen aus Wachs aufbauen.
Die Bienenzüchter
laſſen
meiſthin einige Stäbe in den Körben und die Bienen
benutzen
ſie als Balken, auf welche ſie die Wabenwände
ſtützen
.
In günſtiger Jahreszeit geht die Arbeit ſo ſchnell vor ſich,
daß
der Korb in kurzer Zeit voll ſolcher Zellenwerke iſt, in
welche
indeſſen nur wenig Honigſtoff eingebracht wird, denn
die
Zellen haben zunächſt eine andere Beſtimmung:
ſie ſollen
die
Wiege ſein, in welcher das junge künftige Bienengeſchlecht
zum
Leben erwacht.
Wie bereits geſagt, nimmt das Weibchen, die Bienen-
königin
, ebenſowenig an dieſer Arbeit Teil, wie die ſie um-
gebende
Zahl der Männchen, die Drohnen.
Sie leben von
den
Speiſen, die die Arbeiterbienen einbringen und von denen
einige
Zellen gefüllt werden, welche die Bienen auch mit einem
Wachsdeckel
verſchließen.
Zugleich aber mit ihren Zellen bauen
die
Arbeiterbienen mehrere Zellen für die weibliche Nachkommen-
ſchaft
;
und man nennt dieſe Zellen die Königinzellen; ſie ſind
von
anderer Form wie die übrigen, indem ſie etwa die Geſtalt
einer
Eichel haben, größer und von weit ſtärkeren Wachs-
wänden
gebaut ſind.
Die übrigen Zellen unterſcheiden ſich in
größere
und kleinere, letztere in der Mehrzahl und für die
Arbeiter
, erſtere für die Drohnen beſtimmt.
Um die Zeit, wo
dieſe
Bauten fertig ſind, begiebt ſich bei heiterm Wetter das
Weibchen
hinaus ins Freie;
es folgen ihr die Männchen alle
und
umſchwärmen ſie.
Dieſer Zug, den man den Hochzeits-
flug
nennt, erhebt ſich hoch in die Luft und entzieht ſich ſo
dem
menſchlichen Geſichtskreiſe und der Beobachtung.
In-
zwiſchen
iſt unter den zurückgebliebenen Arbeitsbienen im Korbe
große
Geſchäftigkeit, und man nimmt wahr, daß ſie der Rück-
kehr
mit einer Art Ängſtlichkeit und Ungeduld harren.
Nach kurzer Zeit kehrt die Königin mit ihrer
24864 zuruck, und ſchon nach 46 Stunden beginnt ſie Eier zu legen,
und
zwar begiebt ſie ſich zu dieſem Zweck von Zelle zu Zelle
und
legt in jede derſelben ein Ei.
Die Königin kann 5 Jahre
alt
werden und in dieſer Zeit gegen 1 000 000 Eier ab-
legen
.
Übrigens wird behauptet, daß namentlich dann, wenn
keine
Königin da iſt, auch Arbeiterinnen Eier legen können.
XVII. Bieneneier und deren Entwickelung.
Sowie die Bienenmutter beginnt, die Beweiſe ihrer Frucht-
barkeit
darzuthun, haben die Drohnen, die Bienenmännchen, keinen
Lebenszweck
mehr, ſie werden von den Bienen, den Arbeiterinnen,
mit
ihren Stacheln getötet und aus dem Korbe hinausgeworfen.
DieſeDrohnenſchlachtnimmt immer mehr überhand, je
fruchtbarer
ſich die Bienenmutter zeigt, je geſicherter alſo die
Nachkommenſchaft
iſt.
Meiſthin ſind bereits im erſten Sommer
ſämtliche
Bienenmännchen getötet, und man findet ihre Leichen
in
den Monaten Juni, Juli und Auguſt oft haufenweiſe am
Eingange
des Bienenkorbes liegen, ſo daß der Winter keine
Drohnen
mehr antrifft, die, weil ſie nicht einſammeln und nicht
arbeiten
, den Speiſevorrat im Winter nur verringern helfen
würden
.
Alle Eier, die die Bienenmutter nun legt, werden von ihr
vorher
durch in einem beſonderen Behälter ihres Körpers an-
gehäuften
Samen, den die Drohne beim Hochzeitsfluge ab-
gegeben
hat, befruchtet, oder unbefruchtet in die beſtimmte Zelle
gelegt
.
Die letzteren werden zu männlichen Bienen, während
aus
den befruchteten Eiern entweder Arbeiterinnen oder weib-
liche
Bienen auskommen, je nach der Zelle, in welcher ſie ſich
entwickeln
und nach der Nahrung und Pflege, die ihnen zu
teil
wird.
Das Auskommen all der Eier geſchieht der Reihe
24965 wie ſie gelegt worden ſind. Drei bis vier Tage nach dem
Legen
öffnen ſich die Eier und es kommt aus ihnen eine kleine
Made
von weißlicher Farbe heraus, welche keine Füße hat.
Und nun beginnt das eigentliche Geſchäft der Arbeitsbienen.
Man
erkennt jetzt erſt, zu welchem Zwecke die Zelle erbaut iſt,
ſie
dient als Wohnung der Made, aus der ſich die Biene ent-
wickeln
ſoll.
Die Arbeitsbienen übernehmen nun die Er-
nährung
der jungen, ſehr gefräßigen Maden und bringen ihnen,
je
nach dem Alter der Made, die geeigneten Speiſen in der
Form
eines Speiſebreies, der weſentlichen Einfluß auf das Leben
und
die Entwickelung der jungen Tiere hat.
Fünf bis ſechs Tage
lang
dauert dieſe Fütterung der Made, während welcher Zeit
ſie
vollſtändig geworden iſt, und nun beginnt die Made ſich
nach
Art der Seidenraupe in ein Geſpinſt einzuhüllen
und
verwandelt ſich innerhalb drei Tagen in eine Puppe.
Die
Arbeitsbienen
verkleben während dieſer Zeit die Zelle mit einem
Wachsdeckel
, ſo daß die Puppe in der Zelle eingeſchloſſen iſt.
Nachdem die Puppe 8—15 Tage alt geworden iſt, geht
die
letzte Verwandlung vor ſich, und aus der Puppe kriecht eine
junge
Biene heraus.
Ihr erſtes iſt nun, daß ſie den Wachs-
deckel
ihrer Zelle aufbricht und die Freiheit ſucht.
Schon nach
wenig
Tagen geht ſie, wenn ſie ein Arbeiter geworden, hinaus
aus
dem Korbe und teilt mit ihren Genoſſen Beruf und Be-
ſchäftigung
.
So vermehrt ſich denn das Geſchlecht der Arbeitsbienen
außerordentlich
ſtark, und mit dieſer Vermehrung füllt ſich der
Korb
mit Wachs- und Honigvorräten.
Nachdem nun alle Eier
der
Arbeitsbienen ausgekommen ſind, beginnen auch in ähn-
licher
Weiſe die Eier der Männchen und der Weibchen aus-
zukommen
.
Bei den jungen Drohnen bemerkt man nur, daß
ſie
, die ſich nicht auf Arbeit und Einſammeln verſtehen, von
den
Bienen geſpeiſt werden;
die Geſchichte dieſer Bienen-
männchen
alſo iſt im ganzen ſehr einförmig.
Nicht alſo iſt es
25066 bei den Bienenweibchen der Fall. Sowie dieſe ſo weit ſind, daß ſie den Deckel ihrer Zelle zu erbrechen beginnen, um ins Freie hinauszukommen, ſo erwacht die Eiferſucht des alten Weibchens, ihrer Mutter. Sie eilt hinzu, um das junge Weibchen durch ihren Stachel zu töten; allein die Arbeits- bienen legen ſich ins Mittel und verſtopfen die Öffnung zu der Zelle reichlich mit Wachs. Es entſteht nun ein wunder- barer Tumult im Bienenkorbe, in welchem ſich Parteien bilden. Die Bienen des ältern Geſchlechts halten es meiſthin mit dem alten Weibchen, und dieſem ſchließt ſich auch eine Zahl der jungen Männchen an, während die jüngere Generation den Zugang zum jungen Bienenweibchen verſperrt und es zu keinem Kampfe der beiden Nebenbuhlerinnen kommen läßt.
In dieſem Tumulte geſchieht es, daß das alte Weibchen,
welches
die alte Kolonie gegründet hatte, den Bienenkorb
wieder
verläßt, gefolgt von ihrer Umgebung und ihrem An-
hang
, der nun wiederum zu ſchwärmen beginnt, um ein neues
Unterkommen
zu ſuchen und eine neue Kolonie zu gründen.
XVIII. Tod und Entſtehung einer Bienenkönigin.
Nachdem die alte Bienenkönigin davongezogen und das
Reich
der jungen, ihrer Tochter, hinterlaſſen hat, räumen die
Arbeitsbienen
eifrig alles Wachs fort, das den Ausgang aus
der
Zelle verſperrt, und nun kommt die junge Königin heraus
und
ihre erſte That iſt, daß ſie nach den andern Zellen eilt,
worin
die weiblichen Maden oder Puppen liegen, die ſie mit
ihrem
Stachel alle tötet, ſo daß ihr das Reich einſt nicht ſtreitig
gemacht
werden kann.
Wenn jedoch bereits eine zweite weibliche Biene aus ihrer
Puppe
herausgekommen iſt, ſo wiederholt ſich oft der Kampf.
Die zweite Königin findet ebenfalls ihren Anhang, der
25167 Zelle verwahrt und oft tagelang vor der Mörderin ſchützt, bis
die
jüngere Biene ſtark genug iſt, einen Kampf mit der älteren
Schweſter
einzugehen, der zuweilen mit dem Tode der einen,
oder
mit dem beider endet, oder die ältere iſt wieder zum Aus-
wandern
genötigt.
Indem ſich auch dieſer ein Teil Männchen
und
Arbeitsbienen anſchließt, bildet ſie einen Nachſchwarm, der
zwar
ſchwach, aber auch ſofort, wenn er ein Unterkommen ge-
funden
hat, bereit iſt, eine neue Kolonie zu bilden.
In der alten Kolonie aber tritt die Siegerin auch ferner
grauſam
auf;
ſie vernichtet oder tötet die noch übrigen Neben-
buhlerinnen
oder wird gleichfalls zur Auswanderung gezwungen,
oder
ſie und ihre Nebenbuhlerinnen erliegen alle dem Kampfe,
und
der Bienenkorb bleibt ohne weibliche Regentin.
Der Tod der Königin kann die Auflöſung der ganzen
Bienengeſellſchaft
herbeiführen.
Die Bienenzüchter erkennen den-
ſelben
aus dem thatenloſen Summen der Bienen.
Sie fliegen
nicht
mehr nach Speiſe aus und vollbringen keine Arbeit mehr.
Alles Leben im Bienenkorbe hört auf, zum Teil fliegen die
jüngern
Bienen davon und ſuchen ein anderes Reich auf, das
ſie
ſich erſt erobern müſſen, zum Teil bleiben die alten im
Korbe
, um hier zu ſterben, trotz allen Vorrats an Nahrung.

Gelingt
es nun dem Bienenzüchter, eine junge Königin eines
andern
Korbes, oder die Made oder die Puppe einer ſolchen
in
den Korb zu bringen, ſo iſt wieder neues Leben in dem
Reiche
.
Nach kurzer Zeit ſchon erkennen die Bienen in dem
neuen
Weibchen ihre Regentin und füttern und behandeln ſie
wie
die eingeborene Königin.
Kann jedoch der Bienenzüchter
den
Verluſt nicht erſetzen, ſo tritt ſehr oft der Fall ein, daß
die
Bienen ſelber ſich zu helfen wiſſen, wenn nur in irgend
einigen
Zellen des Bienenkorbes noch unausgekommene Eier
vorhanden
ſind.
In dieſem Falle beeilen ſich die Bienen, die Zellen ein-
zureißen
, und bauen mit ungemeinem Eifer ſtatt
25268 mehrere Königinnenzellen. In dieſe bringen ſie die betreffenden
Eier
, die ja auch befruchtet ſind, und aus denen, wenn ſie
nicht
beſonders gepflegt und gut untergebracht ſondern ſich
ſelbſt
überlaſſen worden wären, gewöhnliche Arbeitsbienen
entſtanden
wären.
Durch die beſondere Nahrung jedoch, die ſie den aus-
gekrochenen
Maden reichen, durch die beſondere Form und be-
deutendere
Größe der Zellen, in denen ſich die Eier nun ent-
wickeln
, werden aus ihnen weibliche Maden, weibliche Puppen
und
endlich wirklich weibliche Bienen, die befruchtungsfähig
ſind
, ſpäter Eier legen und die ganze Natur und alle Triebe
der
Bienenkönigin annehmen.
XIX. Das Geſellſchaftsleben der Ameiſen.
Das Geſellſchaftsleben der Ameiſen iſt noch verwickelter
als
das der Bienen, und in vieler Beziehung noch mannig-
faltiger
.
Auch hier leben in einer Kolonie ſtets mindeſtens drei
Sorten
verſchiedenartig ausgebildeter Individuen:
Männchen,
Weibchen
und Arbeiterinnen.
Während die Männchen und
Weibchen
urſprünglich geflügelt ſind, iſt die Arbeiterin am
kleinſten
und ohne Flügel.
Es iſt allein die Arbeiterin, die
den
gemeinſchaftlichen Bau unter der Erde auszuführen hat.
Die ungeflügelten Individuen der geflügelten Gattungen ſind
für
den Bau geeigneter, da ſonſt die Flügel leicht beſchädigt
werden
können und die Tiere auch weniger behindert ſind.

Der
Ameiſenarbeiterin liegt ebenſo, wie der der Biene, die
eigentliche
Erziehung der Jugend und die Fütterung der ganzen
Geſellſchaft
ob.
Die Wohnungen der Ameiſen ſind nicht minder ſorgſam
ausgebaut
als die der Bienen, nur ſind ſie nicht ſo ſauber
anzuſchauen
, da ſie nicht aus weißem, reinen Wachs,
25369 aus Erde beſtehen. Die Ameiſen graben unter der Erde Gänge
mit
einzelnen Zellen und Abteilungen dicht neben einander
und
bringen den Schutt nach oben, wo ſie ihn über der
Wohnung
anhäufen.
Sobald die eine Etage fertig iſt, bauen
ſie
eine zweite darauf als zweites Stockwerk und ſtützen dies
durch
beſondere Pfeiler aus Spänen oder Thon.
Auf das zweite
Stockwerk
wird noch ein drittes und auf dieſes werden oft noch
mehrere
Stockwerke aufgeſetzt.
Der Eingang zu ihrem Bau
wird
ſo eingerichtet, daß er ſich verſchließen läßt, und dies
geſchieht
regelmäßig des Abends, während er am Morgen ge-
öffnet
wird.
Aus dieſen Wohnungen führen verdeckte oder
freie
Gänge nach einem nahen Baume, woſelbſt die Ameiſen
ihre
Lieblingskoſt finden, einen ſüßen Saft, welchen die Blatt-
läuſe
aus ihrem Körper ausſondern.
Im Monat Auguſt verlaſſen ungeheure Schwärme von
geflügelten
Ameiſen, Männchen und Weibchen, die Neſter und
erheben
ſich hoch in die Luft zur Hochzeitsfahrt.
Aber es
kehren
von dieſer nur die Weibchen lebend zurück und ver-
lieren
ſofort ihre Flügel, während die Männchen faſt unmittel-
bar
darauf ſterben.
Die zurückgekehrten Weibchen begeben ſich
nicht
nach den alten Wohnungen, ſondern laſſen es darauf an-
kommen
, daß ſie von Arbeiterinnen eingefangen werden.
Dieſe
bringen
die Weibchen in die Wohnung, ſpeiſen ſie daſelbſt und
überwintern
mit ihnen, indem ſie alle in Winterſchlaf ver-
fallen
.
Im Frühjahr aber erwachen ſie und die Weibchen
beginnen
Eier zu legen.
Wird eines der befruchteten Weibchen nicht eingefangen,
ſo
macht ſich dasſelbe einen kleinen Bau zurecht, indem es ſo-
fort
Eier legt, aus welchen ſich Arbeiter-Ameiſen entwickeln,
und
dieſe ſchließen ſich nun der Mutter an, pflegen ſie, bauen
die
Wohnung kunſtgerecht aus, überwintern daſelbſt und bilden
ſo
eine neue Kolonie.
Die arbeitenden Ameiſen verrichten alle ihre Arbeiten
25470 ausſchließlich zum Zweck der Pflege der Larven, die aus den
Eiern
auskriechen, dann zum Schutz der Puppen, den fälſchlich
ſogenannten
Ameiſeneiern.
Sowie das Weibchen ein Ei gelegt hat, ſo holt eine
Arbeiterin
das Ei fort und bringt es in eine Zelle.
Mit der
größten
Sorgſamkeit tragen die Ameiſen die Eier von einem
Orte
zum andern, bald um ſie in die Sonne zu legen, bald
um
ſie vor Regen zu ſchützen.
Meiſthin bringen ſie am
Morgen
die Eier nach dem oberſten Stockwerk ihres Baues,
woſelbſt
ſie den Tag über bleiben, wenn kein Regen droht;
zuweilen tragen ſie dieſelben auch hinaus in die freie Luft und
breiten
ſie reihenweis im Sonnenlichte aus.
Des Abends
werden
die Eier wieder in die untern Etagen gebracht.
Mit
Lebensgefahr
verteidigen die Ameiſen die Eier, wenn ſie von
anderen
Tieren ihnen entriſſen werden ſollen, und verwenden
nicht
mindere Sorgfalt wie die Bienen für die Speiſung der
Larven
, die aus den Eiern auskriechen, wie für die Fütterung
der
Weibchen, die für die Vermehrung der Kolonie ſorgen.

Man
ſieht hier alſo wiederum ein Arbeitergeſchlecht, das nicht
zeugen
und nicht gebären kann und das eigentlich die Haupt-
maſſe
der Tiergattung ausmacht, ganz außerordentliche Hand-
lungen
begehen, um ihr geſchlechtsloſes Geſchlecht nicht unter-
gehen
zu laſſen, und beobachtet wiederum, wie bei den Bienen,
daß
der Geſellſchaftstrieb gerade bei ſolchen Tieren am ent-
wickeltſten
iſt, die ſich nicht ſelber vermehren, nicht ſelber eine
Familie
bilden können und alſo ſtatt des leiblichen Familien-
lebens
ein geſellſchaftliches führen müſſen.
Der Geſellſchaftstrieb iſt aber deshalb ſo merkwürdig,
weil
durch ihn ganz andere Inſtinkte zum Vorſchein kommen
als
bei anderen Tieren.
Es zeigt ſich offenbar, daß ſich in
dem
Geſellſchaftsleben höhere Gaben entwickeln als im einzelnen
Familienleben
;
und dies tritt bei den Ameiſen ebenſo wie bei
den
Bienen hervor.
25571
Wir haben bereits angeführt, daß die Lieblingsſpeiſe der
Ameiſe
in dem ſüßen Saft beſteht, den die Blattläuſe aus-
ſcheiden
.
Die Ameiſen verſtehen es nun, dieſe Tierchen mit
ihren
Fühlhörnern ſo zu ſtreichen, daß ſie den Honig von ſich
geben
, und laſſen dann die Tierchen nicht nur in Ruhe, ſondern
ſorgen
ſogar für ihr Wohlergehen.
Man hat bemerkt, wie
Ameiſen
die Blattläuſe ſorgſam auf andere Pflanzen trugen
und
ſie dort auf die Blätter niederſetzten.
Ja, viele Ameiſen
nehmen
dieſe Inſekten ganz und gar mit ſich und behandeln
ſie
, wie wir unſere Kühe, das heißt, ſie bringen ihnen Futter
und
melken aus ihnen den Honig heraus.
Es kommt oft vor, daß Ameiſen, nachdem ſie ihre Bauten
eine
Zeit lang haben ruhen laſſen, ſich einer Art Müßiggang
ergeben
und nun auf Raub ausziehen gegen andere Ameiſen,
deren
Bauten ſie überfallen, um die vorhandenen Puppen zu
rauben
, in ihre Zellen bringen, und dort, nachdem ſie aus-
gekrochen
, zwingen, bei ihnen als Gefangeue zu leben und wie
Sklaven
alle Arbeiten für ſie zu verrichten.
Das Beiſpiel, daß ein Tier ein anderes ſeiner Gattung
gewaltſam
beherrſcht und es zum Sklaven für ſich macht, ſteht
hier
einzig da.
Die gefangenen Ameiſen leben nun bei den
herrſchenden
und verrichten da alle Arbeiten.
Sie erziehen die
Jungen
des herrſchenden Geſchlechts, bauen die Neſter des-
ſelben
, füttern deren Larven, beſchäftigen ſich mit deren Eiern
und
verrichten mit einem Worte Alles, was die herrſchende
Klaſſe
ſonſt ſelber verrichten müßte.
Nur in Einem Punkte zeigt ſich die herrſchende Klaſſe
thätig
, nämlich in der Verteidigung ihrer Wohnungen bei
Überfällen
von Feinden.
In ſolchem Falle ſind weder die
Sklaven
noch die Weibchen oder die Männchen der Kolonie
thätig
, ſondern einzig und allein die herrſchenden Arbeiterinnen.
Sie greifen Feinde an und ſchlagen ſie zurück und entwickeln
hierbei
eben ſoviel Geſchicklichkeit als Mut, vielleicht auch Liſt.
25672
XX. Das Geſellſchaftsleben der Termiten.
Die Termiten ſind Inſekten, die gleichfalls in Geſellſchaften
leben
, in welchen nur ein einziges Weibchen vorhanden iſt,
während
die Geſchlechtsloſen, die die eigentliche Geſellſchaft aus-
machen
, aus zwei Formen beſtehen:
aus Arbeiterinnen und
aus
Soldaten, wie das übrigens bei gewiſſen Ameiſen-Arten
auch
vorkommt.
Wir haben aber dann 1. Männchen, 2. Weibchen,
welche
Augen beſitzen, während 3.
die Arbeiterinnen und 4.
die Soldaten blind ſind.
Die Termiten leben in den wärmeren Zonen. Die
Männchen
und Weibchen ſind bei gewiſſen Arten bis 3 cm
lang
und haben bis zum Moment der Begattung Flügel.
Die
Arbeiterinnen
können ungefähr dreimal ſo groß als unſere ge-
wöhnlichen
ſchwarzen Ameiſen ſein, während die Soldaten ſich
durch
eine dicke Figur und einen Kopf auszeichnen, der ſo
groß
iſt wie ihr übriger Körper.
Auch die Fangwerkzeuge
der
Soldaten beſtehen aus ſtarken und ſcharfen Pfriemen, die
ſie
am Kopfe haben, und mit welchen ſie eben ſo heftig ver-
wunden
als energiſch ſich an ihren Feinden feſthalten können.
Das Geſellſchaftsleben dieſer Tiere iſt dem der Ameiſen
ſehr
ähnlich.
Die mit Flügeln verſehenen Männchen und
Weibchen
fliegen in Schwärmen abends oder nachts aus,
verlieren
aber, ſobald ſie zur Erde nieder gelangen, die Flügel
und
werden zu vielen Tauſenden ein Raub der Vögel und
anderer
von Inſekten lebender Tiere.
Ein Weibchen jedoch
wird
von den arbeitenden Termiten eingefangen und in ihren
Bau
gebracht, woſelbſt dasſelbe Eier legt, aus denen ſich
Arbeiterinnen
, Soldaten und Männchen und Weibchen ent-
wickeln
, und welche alle, von den Arbeitern gepflegt, erzogen
werden
, bis wiederum Männchen und Weibchen ausfliegen
und
, wenn ſie eingefangen werden, eine neue Kolonie gründen.
Im gewöhnlichen Haushalte dieſer Geſellſchaft leben die
25773 unthätig und haben gar keine andere Beſtimmung, als die
Kolonie
zu ſchützen.
Der Erd-Bau wird einzig und allein von den Arbei-
terinnen
aufgeführt.
Er kann ſich kegelförmig bis zu einer Höhe
von
4 m erheben, ſo daß man dann von außen einen breiten
Kegel
vor ſich ſieht, der etwa zweimal ſo hoch iſt wie ein
Menſch
und unten im Umfange ſo weit iſt, wie eine kleine
Wohnſtube
.
Dieſer kegelförmige Hügel iſt ſo feſt, daß man
ihn
ohne Gefahr erklettern und auf der Spitze ſtehen kann.
Im Innern desſelben ſind unzählige Zellen und Gänge, Ma-
gazine
und Galerien angelegt, die außerordentliche Sorgfalt
und
Kunſt verraten.
Das eingefangene Weibchen, das man auch hierKönigin”
nennt
, lebt in einer Zelle, die von den Arbeiterinnen rings
vermauert
iſt, ſo daß nur eine kleine Öffnung bleibt, durch
welche
nur die Arbeiterinnen ein und aus können.
Der Leib
des
Weibchens ſchwillt nun in dieſer Zelle ungeheuer an und
verlängert
ſich wurmartig.
Die Arbeiterinnen verlängern daher
fortwährend
die Zelle, ohne die Gefangene hinauszulaſſen.
Endlich
beginnt
das Weibchen Eier zu legen und zwar ſtößt es dieſelben
fortwährend
aus;
es kann 80 000 Stück legen. Die Arbeite-
rinnen
holen dieſe Eier fort, bringen ſie nach beſtimmten Zellen
und
ſorgen für deren weitere Entwickelung.
Die Arbeiterinnen eilen ab und zu, um das gefangene
Weibchen
zu füttern, um die Jungen zu pflegen und den
Soldaten
die Speiſen zu bringen.
XXI. Der Soldatenkrieg der Termiten.
Haut man mit einer Axt oder mit einem andern Werkzeuge
eine
Öffnung in einen Hügel, ſo iſt der erſte Gegenſtand,
welcher
Aufmerkſamkeit verdient, das Betragen der
25874 Sobald der Schlag geſchehen iſt, kommt ein Soldat heraus,
geht
um das Loch herum, und ſcheint die Beſchaffenheit des
Feindes
oder die Urſache des Angriffs zu unterſuchen.
Dann
geht
er zu dem Hügel, giebt ein Zeichen, und in kurzer Zeit
ſtürzen
große Korps ſo ſchnell, als es die Öffnung erlaubt,
heraus
.
Die Wut, welche die ſtreitenden Inſekten verraten,
iſt
ſchwer zu ſchildern.
In ihrem Eifer, den Feind zurückzu-
treiben
, ſtürzen ſie ſich oft von den Seiten des Hügels herab;
zugleich ſind ſie äußerſt ſchnell und beißen Alles, was ihnen
vorkommt
.
Dies Beißen, verbunden mit dem Schlagen ihrer
Zange
auf das Gebäude, verurſacht ein zitterndes Geräuſch,
das
etwas heller und lebhafter iſt, als das Picken einer Taſchen-
uhr
, und in einer Entfernung von drei bis vier Fuß gehört
werden
kann.
Während des Angriffs ſind ſie in der heftigſten
Bewegung
und Unruhe.
Wenn ſie irgend einen Teil des
menſchlichen
Körpers erreichen, ſo machen ſie ſogleich eine
Wunde
.
Greifen ſie das Bein des Menſchen an, ſo dehnt ſich
der
Blutfleck auf dem Strumpfe weiter als einen Zoll aus.

Ihre
krummen Kinnladen treffen beim erſten Biſſe ſogleich auf-
einander
;
ſie halten unabläſſig feſt und laſſen ſich lieber in
Stücke
zerreißen, als daß ſie den geringſten Verſuch zur Flucht
machen
.
Iſt aber Jemand außer ihrem Erreichungskreiſe und
beunruhigt
ſie nicht weiter, ſo ziehen ſie ſich in weniger als
einer
halben Stunde in ihr Neſt zurück, als wenn ſie voraus-
ſetzten
, der Feind, der ihre Burg angriff, ſei geflohen.
Kaum
ſind
die Soldaten alle hinein, ſo ſetzen ſich ſchon die arbeiten-
den
Inſekten in Bewegung, eilen nach den beſchädigten Teilen
hin
und jedes von ihnen hat eine Quantität zubereiteten
Mörtels
im Munde.
Dieſen Mörtel kleben ſie, ſobald ſie an-
kommen
, auf die Breſche und führen ihre Arbeit mit einer
ſolchen
Eile und Leichtigkeit aus, daß ſie, ungeachtet ihrer un-
geheuren
Anzahl, einander doch nie hindern oder aufhalten.

Während
dieſer ſcheinbaren Unruhe und Verwirrung wird
25975 Zuſchauer ſehr angenehm überrraſcht, wenn er nach und nach
eine
regelmäßige Mauer entſtehen und den Riß ausgebeſſert
ſieht
.
Während die Arbeiter hiermit beſchäftigt ſind, bleiben
faſt
alle Soldaten inwendig, außer daß unter ſechshundert bis
tauſend
Arbeitern hin und wieder ein Soldat umhergeht, der aber
nie
den Mörtel berührt.
Ein Soldat nimmt indeſſen ſeinen
Poſten
immer dicht an der Mauer, welche die Arbeiter auf-
bauen
.
Er dreht ſich gemächlich nach allen Seiten, und in
einer
Zeit von ein paar Minuten hebt er ſeinen Kopf in die
Höhe
, ſchlägt mit ſeiner Zange auf das Gebäude und macht
das
vorhin erwähnte zitternde Geräuſch.
Ein lautes Geziſch
erfolgt
ſogleich aus der innern Seite der Kuppel und allen
unterirdiſchen
Höhlen und Zugängen, und es wird nach jedem
ſolchen
Zeichen mit doppelter Eile und Thätigkeit gearbeitet.
Eine neuer Angriff verändert indes ſogleich die Scene. So-
bald
ein Schlag geſchieht, laufen die Arbeiter mit der größten
Schnelligkeit
in die Röhren und Galerien, womit das Gebäude
durchlöchert
iſt.
In wenig Sekunden ſind ſie alle verſchwunden,
und
die Soldaten ſtürzen eben ſo zahlreich und rachgierig wie
zuvor
heraus.
Finden ſie keinen Feind, ſo kehren ſie gewöhn-
lich
wieder in den Hügel zurück, und bald nachher erſcheinen
die
Arbeiter eben ſo beladen, eben ſo thätig und eifrig wie
vorher
, mit einigen Soldaten hie und da unter ihnen, die
wieder
dasſelbe Geſchäft haben, daß einer oder der andere von
ihnen
das Zeichen giebt, die Arbeit zu beſchleunigen.
Auf
dieſe
Art kann man ſie, ſo oft man will, zum Streiten oder
Arbeiten
herauskommen ſehen, und man wird gewiß immer
finden
, daß die eine Klaſſe ſich nie darauf einläßt zu fechten,
oder
die andere zu arbeiten, wie groß auch die Not ſein möge.
Die Tapferkeit und hartnäckige Gegenwehr dieſer Tiere
macht
es äußert ſchwer, ihren innern Bau genau zu beobachten.
Ihre Soldaten fechten bis aufs äußerſte und verteidigen jeden
Zoll
des Bodens ſo gut, daß kein Menſch, ohne viel Blut
26076 verlieren und ſich den empfindlichſten Schmerzen auszuſetzen,
ihm
nahe kommen kann.
Auch läßt ein Gebäude ſich nicht
in
eine ſolche Lage bringen, daß man ſeine inneren Teile ohne
Störung
betrachten könnte.
Denn während die Soldaten die
Außenwerke
verteidigen, verrammeln die Arbeiter alle Wege
und
verſtopfen die vielen Galerien und Durchgänge, die zu
den
verſchiedenen Zellen und beſonders zu den königlichen
führen
.
Sie füllen nämlich die Eingänge zur königlichen Zelle
ſo
künſtlich an, daß ſie von außen wie ein Thonklumpen aus-
ſieht
und durch nichts als durch die Scharen von Arbeitern
und
Soldaten, die um ſie herum beſchäftigt ſind, erkannt
werden
kann.
Nimmt man dennoch die königliche Zelle heraus,
ſo
entſteht ein Leben und eine unglaubliche Thätigkeit unter
den
mehreren hundert Dienern, die ſich gewöhnlich im Haupt-
gemache
neben dem königlichen Weibchen befinden.
Alle laufen
mit
äußerſter Bekümmernis um die Königin, füttern ſie, ſorgen
für
ihre Eier und verteidigen ſie aufs äußerſte.
XXII. Der Wandertrieb der Tiere.
Der Wanderinſtinkt der Tiere zeigt ſich bei vielen Gattungen,
ſowohl
bei ſolchen, die auf dem Lande, wie bei ſolchen, die im
Waſſer
leben, deren Züge den Wechſel der Jahreszeit und der
Temperatur
ziemlich genau verkünden.
Im allgemeinen hängt der Wandertrieb mit der Nahrungs-
ſuche
zuſammen;
faſt immer geſchehen die Wanderungen in
großer
Geſellſchaft, ſelbſt wenn die Tiere, ſobald ſie ihren zeit-
weiligen
Aufenthaltsort erreicht haben, ſich zerſtreuen und ver-
einzelt
ihr Leben führen.
Die Affen wandern oft in großen Zügen umher und
ſchwingen
ſich dabei durch ganz ungeheure Wälder von Baum
zu
Baum.
Ihre Scharen ſind dabei oft ſo groß, daß es
26177 fahrvoll iſt, ihnen zu begegnen. Dieſe Wanderung iſt nicht
gerade
von der Jahreszeit abhängig, ſondern ſteht mit dem
Suchen
der Nahrung in Verbindung, ſodaß die Auswanderung
dann
beginnt, wenn die Nahrung an einem Orte zu fehlen
anfängt
.
In heißen Gegenden giebt es Arten von Wanderameiſen,
die
in ungeheuren Zügen Reiſen machen.
Wo ſie auf Wohnungen
treffen
, wiſſen die Menſchen nichts Beſſeres zu thun, als die
Wohnungen
auf einige Tage zu verlaſſen, da nicht ein
Winkelchen
im Hauſe ſicher bleibt vor den Beſuchen dieſer
Tiere
.
Sie verbreiten ſich über Dach, Boden, Keller und Küche.
Dafür aber reinigen ſie das Haus auch vollſtändig von Ratten,
Mäuſen
und Schaben, und deshalb ſehen die Bewohner Oſt-
indiens
die Züge derBeſuchs-Ameiſe” zuweilen nicht ungern.
Die Wanderungen der Fiſche gehören zu den bekannteſten
Erſcheinungen
, auf welche ſogar oft tauſende von Menſchen
mit
Sehnſucht warten, indem ſie ihnen den Lebensunterhalt
gewähren
.
So ſammeln ſich die Heringe zur Laichzeit aus der
großen
Tiefe, in der ſie ſonſt leben, in ungeheuren Scharen
an
den Küſten an.
Am bekannteſten aber ſind die Wanderungen der Vögel,
deren
Reiſezüge gewiß von jedermann mit Intereſſe beobachtet
werden
, denn ſchon die Ordnung der Züge iſt auffallend und
eigentümlich
bei jeder verſchiedenen Art, und bei vielen bemerkt
man
ſo wunderbare Erſcheinungen, daß man den ſie treibenden
Inſtinkt
in hohem Grade rätſelhaft nennen muß.
Die Schwalben,
die
Kraniche, die Wachteln und die Droſſeln haben jede ihre
beſtimmte
Reiſezeit und beſondere Art des Zuges.
Die Bach-
ſtelzen
ziehen in einem langen Striche hinter einander durch
die
Luft;
die wilden Gänſe und Enten ziehen keilförmig ihren
Weg
dahin;
die Schwalben gehen in breiten Reihenzügen von
dannen
und die Staare wälzen ſich in großen Haufen dahin,
indem
ſie immerfort um einander einen Wirbelflug machen.
26278
Die Züge der Vögel gehen im Herbſte alle von Norden
nach
Süden.
Das Bedürfnis in wärmerer Luft zu leben, wo-
ſelbſt
ſie Inſekten, Samen und Früchte als Speiſen vorfinden,
führt
ſie nach den wärmeren Gegenden, ſobald die kalte Jahres-
zeit
naht.
Ja, auch bei ſolchen Vögeln, die man aus den
Eiern
aufzog, die alſo niemals eine Wanderung ihrer Genoſſen
geſehen
haben, beobachtete man eine Unruhe um die Zeit, wo
ihresgleichen
ſich zur Wanderung aufmacht, und ſie traten ſo-
fort
die Wanderung mit an, ſobald man ſie frei ließ.
XXIII. Der Wanderinſtinkt der Störche.
Der Flug der Wandervögel iſt ungeheuer ſchnell und ihr
Zug
iſt außerordentlich andauernd.
Die Störche fliegen in der
Auswanderung
an 30 Meilen in der Stunde;
ihre Züge ſind
oft
ſo groß, daß ſie trotz des ſchnellen Fluges ſehr lange ſicht-
bar
bleiben, und dabei fliegen die Störche nicht einzeln hinter-
einander
, ſondern in ziemlich breiten Kolonnen.
Bemerkenswert
iſt
, daß ſie zwei regelmäßige, feſte Wohnſitze haben, den einen
im
Norden bei uns, den anderen im Süden an der egyptiſchen
Küſte
;
ihre Züge gehen direkt und regelmäßig von der einen
Heimat
nach der andern, um an jedem dieſer Orte eine be-
ſtimmte
Zeit zuzubringen.
Brüten thun ſie nur im Norden,
ſie
ſind alſo bei uns heimiſch.
Das Auffallende beim Wanderinſtinkt des Storches liegt
darin
, daß er regelmäßig ſeine vorjährige Heimat wieder auf-
findet
und ſein Neſt, das er einmal aufgebaut, wieder aus-
beſſert
und bewohnt.
Der Storch, der auf einer Dorfſcheune,
auf
dem Giebel eines Bauernhauſes ſein Neſt aufgeſchlagen,
kommt
aus Afrika, einen Weg von tauſend Meilen her, fliegt
über
alles hinweg, läßt rechts und links alles liegen
26379 kommt, ohne zu irren, auf ſeine Heimat zu und nimmt ſie
wieder
in Anſpruch.
Der beſte Geograph der Welt, mit den beſten Landkarten
verſehen
, vermöchte ſich nicht zurechtzufinden, ohne die Aſtro-
nomie
zu Hilfe zu rufen und die genaueſte Meſſung in Länge
und
Breite vorzunehmen.
Der Seefahrer muß zu außerordent-
lichen
Inſtrumenten die Zuflucht nehmen, um mitten im Meere
die
Gegend zu erkennen, nach welcher er hinzuſteuern hat.
Er
muß
den Stand der Sonne mit dem Gange ſeiner ſorgfältig
gearbeiteten
Schiffsuhr vergleichen, und iſt dennoch oft auf
Meilen
weit unſicher über den Ort, wo er ſich augenblicklich
befindet
, und ſolch ein Tier durchzieht die Luft mit unglaub-
licher
Schnelligkeit, durcheilt dieſes ſtürmiſche Meer hoch über
den
Wolken hin, die ihm ſogar den Anblick der Erde entziehen,
und
irrt nicht und findet ſeinen Weg direkt zu dem Dach-
giebel
, wo er vor einem halben Jahre gehauſt hat!
Hier waltet ein Inſtinkt ob, der um ſo unbegreiflicher iſt,
als
er weder mit der Erhaltung noch der Fortpflanzung, noch
der
Ernährung des Tieres in einem unmittelbaren Zuſammen-
hange
ſteht:
denn die Notwendigkeit, dasſelbe Neſt als ſein
alleiniges
Eigentum ſein ganzes Lebenlang zu bewohnen, wo
auf
dem Wege viele tauſende ſolcher Neſter da ſind, deutet
auf
einen Trieb des Eigentums hin.
Nur äußerſt ſelten
findet
ſich ein fremder Storch in einem fremden Neſte ein,
und
wahrſcheinlich nur, wenn ſein eigenes durch Unglück oder
Mutwillen
während ſeiner Abweſenheit zerſtört worden iſt;
aber wenn der wirkliche Eigentümer dazu kommt, ſo entſteht
ein
Kampf zwiſchen den Störchen um den Beſitz, der nur mit
der
Flucht oder dem Tode des Eindringlings oder dem Tode
des
Eigentümers endet.
Man hat noch nie bemerkt, daß der
rechtliche
Eigentümer geflohen ſei, wenn auch der Eindringling
weit
ſtärker war;
lieber läßt er ſich töten, ehe er ſein Recht
aufgiebt
.
Der Eindringling dagegen hat das Gefühl
26480 Rechts nicht und ergreift die Flucht, wenn er einen Beſitzer
findet
, der ihn bewältigen kann.
Wir können bei dieſer Gelegenheit eine Eigentümlichkeit,
die
bei der Wanderung der Störche beobachtet worden iſt,
nicht
unerwähnt laſſen, obwohl dieſe noch völlig unerklärt iſt
und
man keinen Begriff davon hat, was eigentlich da vorgeht.
Wenn der Winter naht und die Störche ſich zur Abreiſe
anſchicken
, verſammeln ſich alle Störche der Gegend zu einem
gemeinſamen
Zuge und treffen mit andern gleichen Zügen bald
zuſammen
, um die Reiſe gemeinſchaftlich zu machen.
Bevor
aber
der Zug ins Weite hinaus beginnt, läßt ſich die Storch-
geſellſchaft
gemeinhin auf ein Feld nieder und ſchließt da einen
großen
Kreis, in deſſen Mitte ein oder zwei Störche bleiben.
Nach vielem Klappern mit den Schnäbeln fallen die Störche
über
die im Kreiſe ſich befindenden her und töten ſie, und ſodann
erhebt
ſich der Zug ſofort und zieht von dannen.
Man
nennt
dieſen Vorgang den Gerichtstag und will darin eine
Art
Rechtspflege erkennen gegen irgend welche verbrecheriſche
Störche
;
allein es iſt wahrſcheinlicher, daß die ſchwächlichen
und
kranken Störche in ſolcher Weiſe getötet werden, die den
Zug
nicht würden mitmachen können und ohnehin umkommen
würden
.
Der Inſtinkt, die Heimat und das eigene gebaute Neſt
wieder
aufzuſuchen, wird wohl bei vielen Vögeln vorkommen;
bei den Schwalben iſt er ſchon oft beobachtet worden. Der
Naturforſcher
Spallanzani hat durch achtzehn Frühlinge ein
und
dasſelbe Schwalbenpaar in ein und dasſelbe Neſt wieder-
kehren
ſehen.
XXIV. Die Taube.
Die auffallendſte Erſcheinung von Tierwanderungen bietet
die
Wandertaube dar;
wir müſſen aber zuvor auch der
26581 abgerichteten Brieftauben erwähnen, deren Heimatsſinn jeden
menſchlichen
Begriff überſteigt.
Die Taubenpoſten ſind eine
allgemein
bekannte Thatſache und beruhen darauf, daß die
Tauben
, die in verſchloſſenen Körben meilenweit fortgeführt
werden
, ſofort nach der Heimat fliegen, ſobald man ſie in
Freiheit
ſetzt.
Intereſſanter noch iſt ein Verſuch, der in
Berlin
von einigen Taubenliebhabern gemacht wurde.
Zwei
Brieftauben
, die von Aachen nach Berlin und zwar auf der
Eiſenbahn
in verſchloſſenen Körben gebracht worden waren,
waren
noch niemals mehr als ſechs Meilen von Aachen ent-
fernt
geweſen.
Als man ſie in Berlin mit Briefen verſehen
nach
einander aufſteigen ließ, fand ſich die eine ſchon nach
zwei
und einer halben Stunde in Aachen ein, während die
andere
gegen vier Stunden zu dieſer Reiſe brauchte.
Beide
Tauben
hatten ſich ſofort, als ſie freigelaſſen worden, hoch in
die
Luft erhoben, flogen in weiten Kreiſen ein paar Mal
herum
und gingen dann in gerader Richtung nach der Gegend
hin
, wo Aachen liegt.
Die Aufmerkſamkeit auf die Brieftauben iſt in den letzten
Zeiten
wegen der Rolle, welche dieſelben während der Be-
lagerung
von Paris geſpielt haben, in hohem Grade ge-
ſtiegen
.
Die Tauben wurden in Luftballons von Paris aus
in
Käfigen aufgelaſſen und wo ſie an einem Orte in Frankreich
herabkamen
, benutzte man ſie, um ſie im freien Fluge nach
Paris
mit Nachrichten über den Stand der Dinge außerhalb
der
cernierten Hauptſtadt zu ſenden.
Luftballons und Brieftauben ſind in der That ein Mittel,
einen
notdürftigen Verkehr zwiſcher einer eingeſchloſſenen Feſtung
und
dem Lande herzuſtellen, weshalb man denn auch gegen-
wärtig
auf die Erweiterung dieſes Mittels großen Wert legt.
Die Wandertauben ſind in Nordamerika heimiſch und ſie
finden
ſich in ſo großen Geſellſchaften auf längere Zeit in ein-
zelnen
Waldſtrecken ein, daß ihre Zahl alle Begriffe überſteigt.
a. Bernſtein, Naturw. Volksbücher II.
26682
Wo ſie ſich in einem Walde niederlaſſen, nehmen ſie oft
einen
Raum von vielen Meilen ein.
Einſt füllte im Staate
Kentucky
eine ſolche Niederlaſſung der Wandertauben einen
Waldraum
von nahe zehn deutſchen Meilen Länge und einer
deutſchen
Meile in der Breite aus.
Auf dieſer ganzen Strecke
war
faſt jeder Baum mit Neſtern bedeckt;
als ſie abzogen,
war
der Boden mehrere Zoll hoch mit ihrem Dünger belegt,
alles
weiche Gras der Gegend und ſämtliches Buſchholz ab-
gefreſſen
, und viele Zweige hoher Bäume waren gebrochen von
der
Laſt der klumpenartig übereinander ſich niederlaſſenden
Vögel
.
Die Spuren ſolcher Verwüſtungen ſind oft jahrelang
ſichtbar
, gleichwohl aber iſt ihr Erſcheinen den Einwohnern
und
namentlich den Indianern willkommen, denn die jungen
Vögel
, von denen nur einer in jedem Neſte ſich vorfindet, ſind
groß
und ganz außerordentlich fett, und ihr Schmalz iſt als
Speiſe
ſehr angenehm.
Das Auffallende dieſer Erſcheinung iſt, daß die Wander-
tauben
das Land ſehr unregelmäßig durchſtreifen, und kommen
und
gehen, ohne daß man Ordnung nach Zeit und Umſtänden
bei
ihnen findet.
Der amerikaniſche Naturforſcher Wilſon
giebt
die Zahl eines einzigen ſolchen Zuges auf zweitauſend
Millonen
an.
Ein anderer zuverläſſiger Schriftſteller erzählt
von
einem ſolchen Zuge folgendes:
Die Luft war ſo voll
von
jenen Vögeln, daß das Licht der Mittagsſonne wie bei
einer
Sonnenfinſternis verdunkelt war und der Kot dicht wie
Schneeflocken
herabfiel.
Vor Sonnenuntergang kam ich zu Louis-
ville
, das fünfundfünfzig engliſche Meilen entfernt iſt, an;
aber
noch
zogen die Tauben in ebenſo dichten Scharen vorüber, und
der
Zug derſelben dauerte noch drei volle Tage;
während dieſer
Zeit
war die ganze Bevölkerung des Landes unter dem Gewehr,
um
Jagd zu machen.
In Anknüpfung hieran ſeien die bekannten Guano-Inſeln
erwähnt
, welche nicht etwa durch den Raum, den ſie
26783 einen hohen Wert haben, denn ſie beſtehen nur aus ganz öden
Gebirgsklumpen
;
aber dieſe Klumpen ſind der vorzüglichſte
Dünger
der Welt, und Schiffsladungen davon werden mit
hohen
Preiſen bezahlt und nach allen Weltgegenden als koſt-
bare
Ware verſendet.
Und doch iſt dieſer Dünger nichts
anderes
als der Unrat einer Sorte von Seevögeln, die millionen-
weiſe
auf dieſen Inſeln brüten und deren Kotmaſſen ſolch
hohe
Gebirgsklumpen aufgetürmt haben.
XXV. Der Einfluß der menſchlichen Umgebung
auf die Haustiere.
Der Unterſchied zwiſchen der wilden und der zahmen Katze
iſt
außerordentlich auffallend.
Die wilde Katze iſt ein Raub-
tier
mit kurzem Darm, deren ganze Verdauungswerkzeuge einzig
und
allein zur Verarbeitung von Fleiſchſpeiſen eingerichtet ſind.
Durch die Zähmung aber und durch die Koſt, an die ſie
gewöhnt
wurde, iſt ihre Beſchaffenheit umgewandelt worden,
ihr
Darm iſt bedeutend verlängert, ihre Verdauungswerkzeuge
ſind
umgeſtaltet, ſo daß ſie auch Pflanzenkoſt genießen kann;

ſie
iſt alſo in Wahrheit durch die Zähmung ihrer Leibes-
beſchaffenheit
ein anderes Tier geworden.
Und doch iſt ſie
kein
Haustier;
ſie geht und kommt wenn ſie Luſt hat, gehorcht
meiſt
nicht, läßt ſich zu nichts gebrauchen und abrichten und
führt
im Hauſe ein halb räuberiſches, wildes Leben.
Was
iſt
es, das dieſem Tiere, das durch die Erziehung leiblich um-
gewandelt
worden iſt, dennoch geiſtig mangelt?
Es iſt nichts
anderes
, als die Anlage durch die Natur.
Die Katze iſt kein
Tier
, das in der Wildnis in Geſelligkeit lebt, und deshalb iſt
ſie
auch nicht im gezähmten Zuſtande einer Ausbildung fähig.
Hieraus erſehen wir, daß die Natur den Tieren die
26884 lagen geben muß, die der Menſch entwickeln und ausbilden
kann
;
hieraus können wir lernen, daß der Geſelligkeitstrieb die
Hauptbedingung
der Ausbildung iſt, und wir dürfen hieraus
ſchließen
, daß auch der Menſch zu jener hohen Stufe der Aus-
bildung
nie kommen würde, wenn er nicht von Natur aus
geſellig
wäre.
Es giebt gewiſſe Tiere, die ſo ſehr Haustiere geworden
ſind
, daß ſie ohne den Schutz des Menſchen garnicht exiſtieren
könnten
.
Die Schafe haben keine Waffen des Angriffs und
der
Verteidigung;
Krankheit, Witterung und Raubtiere würden
ſie
ausrotten, wenn der Menſch nicht wäre, der ſie beſchützt
und
erhält.
Man kann ſich kaum einen Begriff davon machen,
wie
ſie in der Wildnis leben könnten.
Daher iſt in ihnen auch
der
Trieb ſehr rege, ſich dem Menſchen anzuſchließen.
Mit
Hilfe
eines einzigen Hundes hält ein Schäfer im gewöhnlichen
Zuſtande
vierhundert Schafe zuſammen und kann wohl auch
achthundert
bis tauſend ſolcher Tiere leiten und lenken.
Ja,
wenn
der Schäfer noch des Hundes zur Leitung bedarf, iſt es
nicht
der Fall, weil die Schafe davonlaufen möchten;
ſondern
weil
ſie ſich leicht unwillkürlich verlaufen oder verirren.

Wir
haben hier alſo ein Tier, das ganz darauf angewieſen
iſt
, bei Menſchen zu leben, und das auch ſehr wenig Verſtand
hat
, der ausgebildet werden kann, und dennoch hat das Schaf
eine
Kultur angenommen.
Es kennt den Schäfer, verſteht
ſeinen
Ruf, folgt ſeiner Muſik, drängt ſich in Gefahren enge
an
ihn, merkt es, wenn es geſchoren werden ſoll, und ſträubt
ſich
gewaltig dagegen, wenn es zur Schlachtbank geführt wird.
XXVI. Bewußtſein bei Tieren.
Wenn wir im Schafe ein Tier geſehen haben, das geiſtig
ſehr
beſchränkt, das aber auch ganz und gar auf den
26985 der Menſchen angewieſen iſt, wollen wir nun des Pferdes, des
Hundes
und des Affen gedenken, um in dieſen Beiſpielen zu
zeigen
, daß Tieren Bewußtſein nicht ohne weiteres abgeſprochen
werden
kann.
Der bloße Anblick des Pferdes genügt, um den Einfluß
der
Zucht durch den Menſchen ſofort zu erkennen.
Schon
äußerlich
unterſcheiden ſich die Pferde, je nach der Erziehung
und
Beſchäftigung, die ihnen zu teil wird, ſehr von einander.
Der Karrengaul, das Kutſchpferd, das Schlachtroß, das Reit-
pferd
unterſcheiden ſich bedeutend in Bau und Haltung, in
Gang
und Blick, in Mut und Ausdruck des Kopfes.
Die
Pferde
haben einen beſtimmten Charakter, je nach der Erziehung,
und
verſtehen ihre Tücken vortrefflich gegen den anzuwenden,
der
mit ihnen nicht angemeſſen umgeht.
Das Pferd hat ein
gutes
Gedächtnis und findet ſich auf Wegen zurecht, wo es
vor
vielen Jahren einmal gegangen;
und ſchon dies ſetzt eine
bewußte
Auffaſſung der Umgebung voraus.
Es beſitzt aber
das
Pferd auch Zu- und Abneigung für gewiſſe Menſchen.

Man
hat Pferde beobachtet, die die Treue des Hundes gegen
ihren
Herrn ausübten, die dem Herrn nachliefen, wenn er mit
ihnen
ſchmollte, die ihm ſchmeichelten, wenn er böſe ward, die
auf
ſeinen Ruf kamen, auf ſeinen Ruf ſich entfernten.
Nicht
ſelten
iſt es in Schlachten, daß das Pferd bei der Leiche des
Reiters
ſtehen bleibt und ihr nachfolgt, wenn man ſie davon
trägt
.
Mag es nun auch ſehr ſchwer ſein, mit Sicherheit die
Grenzen
anzugeben, wo in ſolchen Fällen Dreſſur, alſo Ge-
wöhnung
oder Selbſtthätigkeit vorhanden iſt, ſo iſt es dennoch
unbeſtreitbar
, daß in Pferden Vorſtellungen wirkſam ſind.
Ja,
die
Pferde träumen ſogar.
Merkwürdig iſt es, daß die Erfahrung auch hier gelehrt
hat
, wie das kaſtrierte, alſo künſtlich geſchlechtslos gemachte
Pferd
(der Wallach), die beſte Anlage zur Kultivierung
27086 als ob ſich gewiſſe geiſtige Eigenſchaften des Tieres beſſer ent-
wickeln
laſſen, wenn der Fortpflanzungstrieb ihm genommen
wird
.
Die gleiche Eigentümlichkeit hat man auch bei anderen
kaſtrierten
Tieren beobachtet.
Das Maultier, ein Miſchling
(Baſtard) von Pferd und Eſel, beſitzt vortreffliche Eigenſchaften,
in
denen es Pferd und Eſel übertrifft;
es kann ſich nicht fort-
pflanzen
.
Das intereſſanteſte der Tiere in Bezug auf Erziehung
durch
Menſchen iſt der Hund.
Gleich dem Pferde hat ihm die
Natur
in der Wildnis den Geſelligkeitstrieb gegeben, ſodaß
faſt
alle wilden Hundearten, welche wir kennen, nur in größeren
Gemeinſchaften
leben und jagen.
Dies iſt bekannt vom Wolf,
welcher
ja oft in förmlichen Heeren auftritt, die viele tauſend
Stück
umfaſſen, ferner vom Schakal des ſüdlichen Europa und
des
nördlichen Afrika.
In Geſellſchaft leben auch die von
verwilderten
Haushunden abſtammenden Pariahunde der ver-
ſchiedenen
Staaten der Balkanhalbinſel und der Dingo.
Erſtere
halten
ſich tags über außerhalb der Ortſchaften auf, kommen
aber
in der Nacht in die Städte und Dörfer, um ſich ihre
Nahrung
in den Abfällen der Haushaltungen zu ſuchen.
Ge-
fährlicher
als ſie iſt der eine ähnliche Herkunft beſitzende wilde
Hund
Auſtraliens, der Dingo, denn er überfällt oft die Schaf-
herden
der Anſiedler und richtet darin große Verwüſtungen an.
XXVII. Merkwürdige Eigentümlichkeiten des
Hundes.
Es giebt kein Tier, das mehr ein Eigentum der menſch-
lichen
Geſellſchaft geworden iſt, als der Hund;
es giebt keines,
das
gleich dem Hunde geiſtig ſo herangebildet werden kann,
daß
es ganz auf des Menſchen Neigung und Bedürfnis willig
eingeht
.
27187
Faſt alle Tiere ſind in ihrem Daſein nur auf ein be-
ſtimmtes
Klima angewieſen;
aber gleich dem Menſchen, der in
heißen
und in kalten Zonen lebt, vermag der Hund ſich unter
allen
Himmelsſtrichen zu erhalten.
Faſt in jedem gezähmten
Tiere
liegt eine beſondere Neigung oder Fähigkeit, die es ge-
ſchickt
macht zu einer beſtimmten Leiſtung.
Im Hunde dagegen
liegen
die verſchiedenſten Neigungen und Fähigkeiten, und je
nach
der Erziehung bildet ſich die eine oder andere bei ihm
aus
.
Mit Verſtändnis und Einſicht weiß er ſich in den ver-
wickeltſten
Fällen zu benehmen, auch wenn er in neue Lagen
kommt
.
Er handelt, wenn er einmal dazu eingeübt wurde,
nur
auf das Wort.
Nicht Zaum und Peitſche, ſondern münd-
licher
Befehl, ja ein Blick reicht oft hin, den Hund zu regieren.
Der Hund verſteht, was man von ihm fordert, er thut es frei-
willig
, ja freudig und energiſch, und iſt belohnt und vergnügt,
wenn
der Herr ihn dafür freundlich anblickt.
Von des Hundes Fähigkeiten für die Jagd, für die Hütung
des
Hauſes, für das Hüten der Herde, für das Ziehen und
Tragen
von Laſten wollen wir, als ganz bekannten Dingen,
nicht
weiter ſprechen.
In Frankreich wird er abgerichtet, den
Spieß
zu drehen;
in Kamtſchatka iſt er das einzig brauchbare
Zugvieh
, in der Wildnis iſt er der vortrefflichſte Schützer, im
Waſſer
ein vortrefflicher, kühner Schwimmer.
Der Hund ver-
ſteht
ſich alſo auf das Antlitz des Menſchen, weiß vortrefflich
zu
unterſcheiden zwiſchen einem, der ihm wohl will, und einem,
der
ihm Böſes gönnt.
Der Hund weiß es vortrefflich, ob er
etwas
Gutes oder Übles gethan hat.
Freudig ſpringt er dem
Herrn
entgegen und macht ihn darauf aufmerkſam, wenn er
ſich
einer richtigen Handlung bewußt iſt.
Offenbar teilt er
ihm
dadurch etwas ganz Beſtimmtes mit.
Wenn der Herr
ihn
nicht verſteht, wird der Hund nicht müde, ihn zum Ver-
ſtändnis
deſſen zu bringen;
er ruht nicht und zerrt den Herrn
dort
hin, wo er ſehen kann, was der Hund ihm mitteilen will.
27288 Hat der Herr das geſehen oder hat er den Hund verſtanden,
ſo
merkt dies das kluge Tier und beruhigt ſich.
Wie ſcheu aber geht der Hund zur Seite, wenn er ſich
bewußt
iſt, etwas Unrechtes gethan zu haben! Er verſteckt
ſich
vor dem Herrn, blickt verſtohlen nach ihm hin, wartet
lange
Zeit, daß der Herr ihn rufe;
aber er kann es nicht lange
ertragen
, daß der Herr ihm böſe iſt, er ſchleicht in der de-
mütigſten
, kriechendſten Stellung herbei, wirft ſich auf den
Rücken
, legt ſich dem Herrn zu Füßen, blickt zu ihm auf, legt
ſich
wieder ſtill nieder, wenn er keinem freundlichen Blicke be-
gegnet
;
endlich zerrt er den Herrn leiſe, ſteht auf und drückt
ſich
enge an ihn, legt den Kopf auf ſeine Kniee, leckt ihm die
Hände
.
Hilft all’ dies nichts und nimmt der Herr immer noch
keine
Notiz von ihm, ſo ſtellt ſich der Hund ein paar Schritte
entfernt
vor ihm hin und fängt an zu heulen und zu bellen.
Dreht ſich der Herr zornig nach ihm um, ſo kriecht er wieder
ſtille
fort, um nach einer Weile wieder die Verſuche zur Aus-
ſöhnung
ſeines Herrn zu wiederholen, und gelingt ihm dies,
lächelt
der Herr ihn auch nur an, ſo gleicht nichts der Freude
und
Luſt dieſes Tieres, die es durch Springen und Schmeicheln
gegen
den Herrn in der auffallendſten Weiſe kund giebt, ſo daß
kein
Menſch zweifeln kann, daß das Tier ſich glücklich fühlt
und
ſeinen Jubel auch kundgeben will.
Iſt aber all’ dies möglich, ohne daß wirkliche Vorſtellungen
in
dem Hunde vorhanden ſind?
Ohne Zweifel hat man Grund,
in
dem Verhalten des Hundes gegen ſeinen Herrn einen be-
deutenden
Grad von Verſtand zu finden.
Tief iſt das Gefühl für das Eigentum beim Hunde aus-
gebildet
;
er kennt vortrefflich die Dinge, die ſeinem Herrn ge-
hören
, und verteidigt deſſen Beſitztum unaufgefordert mit großer
Hartnäckigkeit
.
Ja, ſelbſt gegen andere Hunde weiß er das
Eigentumsrecht
zu behaupten und fühlt ſich ſelbſt gegen ſtärkere
in
einem Übergewicht, wenn er weiß, daß das Recht des
27389 ſitzes auf ſeiner Seite iſt. Man ſehe als Beiſpiel, wie oft ein
kleiner
Hund von der Schwelle des Hauſes herab einen andern
größern
anbellt, wie er ihm nachläuft und kühn mit ihm einen
ungleichen
Kampf eingeht, ſoweit das Gebiet ſeines Herrn
reicht
, wie er ſich aber zurückzieht, wenn er dieſe Grenzen er-
reicht
hat, als ob er wüßte, daß er auf dieſer Strecke im Rechte,
weiterhin
aber im Unrechte ſei!
Wenn der Hund weiß, daß er gewöhnlich ſeinen Herrn
am
Vormittag nicht begleiten darf, verhält er ſich ruhig, wenn
dieſer
fortgeht;
iſt es ihm aber öfter geſtattet worden, ihn am
Nachmittag
zu begleiten, ſo gleicht nichts der Freude des
Hundes
, wenn der Herr ſich ankleidet.
Er weiß, es iſt jetzt
nicht
Vormittag, er kann nun ins Freie.
Er ſtürmt im Zimmer
umher
, ſieht nach, wo der Hut des Herrn iſt, und ſchmeichelt
und
ſpringt, daß der Herr ihn mitnehme.
Beachtenswert iſt
das
Benehmen ſelbſt des gewöhnlichſten Hundes, der ſeinen
Herrn
begleitet.
Er eilt dem Herrn voran, wenn er weiß,
wohin
er gehen will, und bleibt dort am Hauſe ſtehen, um
auf
ihn zu warten.
Weiß er nicht, wohin es geht, ſo hält er
an
der nächſten Ecke an, wartet, wo ſich die Landſtraße ſcheidet,
ſieht
ſich nach dem Herrn um, ſcheint zu fragen, wohin es
gehen
ſoll, und die leiſeſte Andeutung nach rechts oder links
genügt
, um dem Hunde ſeinen Weg vorzuzeichnen.
Höchſt intereſſant aber iſt es, wie der Hund ſeinen Herrn
ſucht
und ruft, wenn er ihn verloren hat, wie er um ihn
trauert
, wenn er geſtorben, oder gar wie er mit unvertilgbarem
Haß
den Mörder ſeines Herrn verfolgt.
Der Hund, der ſeinen Herrn ſucht, eilt zuerſt dorthin, loo
der
Herr am häufigſten iſt, dann erinnert er ſich der ſeltenern
Beſuche
, um ihn dort zu ſuchen, bald kommt er dann auf den
ſeltenſten
, ja zuletzt geht er auch dorthin, wo er ſeinen Herrn
auch
nur ein einzig Mal begleitet hat, und ſein Gedächtnis
iſt
in ſolchen Fällen oft treuer als das des Menſchen.
27490 er aber hinkommt, merkt man ihm an, daß er den Herrn ſucht,
ſo
eigentümlich iſt das Weſen dieſes Tieres und ſo ſprechend
ſein
ganzes Benehmen.
Findet er ihn trotz all’ dem nicht, ſo
ſtellt
er ſich allenthalben hin, wo er ihn nur vermuten kann,
um
ihn durch ſein Bellen herbeizurufen, und nach jedesmaligem
Bellen
ſpitzt er die Ohren und horcht, ob er das Pfeifen oder
den
Ruf des Herrn vernimmt.
Man hat noch nie gefunden,
daß
der Hund ſeinen Herrn geſucht hätte, wenn dieſer in ſeiner
Gegenwart
abgereiſt war oder gar wenn der Herr geſtorben
iſt
, obgleich man am ganzen Betragen des Hundes aufs Ent-
ſchiedenſte
merkte, daß er den Herrn ſehr vermiſſe.
Ja, wenn
es
zu lange währt, ſucht der Hund einen andern Herrn, ſchließt
ſich
dieſem mit großer Treue an, gehorcht ihm wie dem erſten
Herrn
und ſcheint jenen nicht mehr zu miſſen.
Erblickt er ihn
aber
und wäre es auch nach vielen Jahren, ſo erkennt er den
erſten
Herrn wieder und ſchließt ſich oft gegen deſſen Willen
ſeinem
alten Beſitzer an.
Wir wollen noch eine Bemerkung mitteilen, die man bei
einigen
außerordentlichen Hunden machte.
Man hielt dieſen
Hunden
, die ſonſt vorzügliche Klugheit verrieten, die ſehr treu
gemalten
Bilder ihrer Herren vor;
die Hunde ſahen ſie an,
erkannten
ſie aber nicht.
Der Hund des Aubry de Montdidier, der ſogar durch
Theaterdichter
verherrlicht worden iſt, ſoll durch ſeinen unbe-
zähmbaren
Haß gegen den Mörder ſeines Herrn deſſen Mord-
that
verraten haben (im Jahre 1361).
Bedenkt man hierbei, daß der Hund kein rachſüchtiges
Tier
iſt, daß er Beleidigungen leicht verzeiht und die Unbill,
die
man ihm ſelbſt zugefügt, ſchnell vergißt, ſo kann man ſich
des
Gedankens nicht erwehren, daß im Bewußtſein des Hundes
die
Mordthat gegen ſeinen Herrn als eine ſchreckliche nie zu
verzeihende
That erſcheint.
Der Hund alſo urteilt und unter-
ſcheidet
wohl zwiſchen einer Handlung und der andern.
27591
Eine andere Geſchichte, die der franzöſiſche Zoologe
Milne-Edwards
von einem Hunde erzählt, iſt höchſt merk-
würdig
und giebt den Beweis, daß dieſes Tier mit Schlauheit
und
großer Überlegung zu handeln verſteht.
Ein Haushund,
der
alle Nächte an die Kette gelegt wurde, weil er ſehr blut-
dürſtig
war und auf dem nahen Felde Schafe erwürgte, ver-
ſtand
es, mit großer Behutſamkeit nächtlich ſein Halsband über
den
Kopf abzuſtreifen.
Hierauf lief er aufs Feld und erwürgte
dort
ein Schaf, dann aber eilte er regelmäßig nach einem
nahen
Bache, wo er ſich den blutigen Mund abwuſch, und
kehrte
darauf vor Tagesanbruch in den Hof zurück, wo er
unter
großer Mühe wieder den Kopf durch das Halsband
zwängte
und ſich auf ſein Lager ſchlafen legte, damit man ſein
Verbrechen
nicht merke.
Eine ähnliche Geſchichte, wenn
auch
nicht ſo auffallend, wird uns von glaubwürdiger Seite
aus
Berlin mitgeteilt:
Ein Hofhund, der eine beſondere
Neigung
hat im nahen Garten ſein Weſen zu treiben, dem es
aber
verboten iſt, dahin zu gehen, begiebt ſich oft am frühen
Morgen
auf einem Umwege durch den Keller dahin.
Hört er
dann
ſeinen Namen rufen, ſo kommt er nicht ſofort durch die
Gartenthür
herbei, ſondern er ſchleicht auf dem Umwege zurück
auf
den Hof, begiebt ſich ſtill in ſeine Hütte und kommt dann
langſam
hervor, als ob er eben erſt vom Lager aufgeſtanden
wäre
.
In beiden Fällen hat der Hund alſo die Abſicht zu
täuſchen
, und richtet ſeine Handlungen ſo zweckmäßig darnach
ein
, daß man an deſſen Verſtandes-Operationen gar nicht
zweifeln
kann.
Wir wollen nur noch der Hunde auf dem Kloſter
St
.
Bernhardt erwähnen, deren Handlungen ſo wohlthätig für
die
Reiſenden ſind.
In dieſem Kloſter in der Schweiz haben
die
Mönche Hunde abgerichtet, welche in Schnee und Nebel
ausgeſandt
werden, um verirrte Reiſende aufzuſuchen.
Sie
tragen
ein Körbchen mit Brot und ein wenig Branntwein
27692 Halſe und bieten es dem Unglücklichen dar. Finden die Hunde
einen
im Schnee Begrabenen oder vor Kälte Erſtarrten, ſo
kehren
ſie aufs ſchnellſte zum Kloſter zurück, geben den
Mönchen
hiervon Kunde und führen ſie nach der Stelle hin,
wo
der Verunglückte liegt.
Der berühmteſte dieſer Hunde
führte
den NamenBarry”.
Er hat in den zwölf Jahren
ſeiner
unermüdlichen, eifrigen Thätigkeit mehr als vierzig
Menſchen
vom Tode errettet.
XXVIII. Verſtandes-Entwickelung bei den Affen.
Außer den Hunden ſind es auch die Affen, bei denen man
eine
bedeutende Verſtandes-Entwickelung bemerkt, nur zeigt ſich
hier
, daß die Fähigkeit und Klugheit der Affen ſich mit dem
reiferen
Alter verliert, was bei den Hunden nicht ſo der Fall
iſt
.
Da man behauptet, daß die Hunde, die man zeugungs-
unfähig
gemacht hat, am leichteſten einer höheren Ausbildung
fähig
werden, und es eine Thatſache iſt, daß bei den Affen
der
Geſchlechtstrieb ſehr ſtark entwickelt iſt, ſo iſt es wohl
möglich
, daß die Schwächung der geiſtigen Kräfte bei den
Affen
in reifem Lebensalter von dem regen Geſchlechtstriebe
derſelben
herrührt, und daß man durch künſtliche Vernichtung
dieſes
Triebes die Fähigkeit der Affen erhalten oder erhöhen
könnte
.
Nicht nur der äußere Anblick der Affen (Fig. 7) ſtellt ſie
als
die dem Menſchen ähnlichſten Thiere dar, ſondern auch
der
innere Bau, wie u.
a. ein Vergleich der Skelettteile, Fig.
8 und 9, leicht zeigt. Die Form ihres Schädels ſteht der des
menſchlichen
Schädels am nächſten, (Fig.
9). Wenn man mit
Recht
annimmt, daß die geiſtige Unfähigkeit ſich ſteigert, je
mehr
an einem Geſicht die Stirne zurückliegt und der Mund
vorſtehend
iſt, ſo folgt ſchon aus dem Anblick des
27793 der menſchenähn-
50[Figure 50]Fig. 7.
Orang
von Borneo.
lichſten Affen, daß
ſie
in dieſer Be-
ziehung
nicht viel
tiefer
ſtehen unter
gewiſſen
Neger-
raſſen
, als dieſe
unter
den höchſten
Menſchenraſſen
.
Die Hände der
Affen
, ihr, wenn
auch
nur ausnahms-
weiſe
, aufrechter
Gang
, ihr ſtark
entwickelter
Nach-
ahmungstrieb
, der
ſie veranlaßt
menſchliche
Hantie-
rung
vorzunehmen,
ſobald
ſie in menſch-
licher
Geſellſchaft
leben
, und vieles
andere
, hat ſchon
oft
den Gedanken
rege
gemacht, daß
der
Affe eigentlich
der
Übergang aus
dem
Tierreich in
das
Menſchenreich
iſt
.
Nach der jetzigen
Naturforſchung
, die
die
S.
30 ff. im
erſten
Teil
27894 Volksbücher dargeſtellte Abſtammungslehre annimmt, wären
die
Affen in der That als blutsverwandt mit dem Menſchen
anzunehmen
.
Seite 31 des erſten Teiles haben wir die in
Rede
ſtehende Frage bereits angedeutet;
wir fügen hier nur
noch
einen Stammbaum zwiſchen dem Menſchen und den
menſchenähnlichen
Affenarten hinzu, wie man ſich denſelben
etwa
vorzuſtellen hat.
Bei dem Ausgangspunkt des Stamm-
51[Figure 51]Menſch.
Chimpanſe
.
Gorilla
.
Orang
.
Gibbon
.
baumes wäre das Lebeweſen, die gemeinſame Stammform zu
denken
, von dem die Menſchen und die Affen abſtammen.
Das Affengeſchlecht iſt in der Beziehung noch dem Menſchen
ähnlich
, als die Natur dasſelbe mehr mit Ausbildungsfähigkeit
als
mit fertigen Inſtinkten begabt hat.
Während die Biene
ihre
Kunſt.
ohne weiteres nach der Geburt ſchon verſteht, aber
auch
nichts mehr lernt, alſo eine geiſtige Kraft, wenn ſie ſolche
beſitzt
, gar nicht anzuwenden braucht, beſitzt der Affe gar keine
Fertigkeit
nach der Geburt, nicht einmal die der andern Säuge-
tiere
, ſondern iſt einzig und allein auf die außerordentlich
große
Elternliebe angewieſen;
dafür aber hat er den
27995 ſich auszubilden, alſo etwas zu erlernen, was er bisher nicht
gekonnt
hat.
Der Nachahmungstrieb der Affen gleicht dem der Menſchen;
fie ahmen nicht das Benehmen des Pferdes oder Hundes
nach
, ſondern ſie ahmen Menſchen nach, und nur dem
Menſchen
;
das deutet offenbar an, daß dem Affen eine
Erkenntnis
vorſchwebt, daß der Menſch nachahmungswürdig
für
ihn iſt! Bedenkt man, wie tief der Nachahmungstrieb
im
Menſchen wurzelt, wie dieſer Nachahmungstrieb immer
im
ganzen und großen ſo gerichtet iſt, daß nicht der Begabte
dem
Unbegabten, ſondern umgekehrt der Unbegabte dem Be-
gabten
nachahmt, ſo wird man den Nachahmungstrieb als
einen
Trieb erkennen, der in dem Menſchengeſchlechte eine
hohe
Rolle ſpielt und zu deſſen Vervollkommnung unendlich
viel
beigetragen hat.
Wenn man die Fähigkeit des Affen mit der des Hundes
vergleicht
, ſo iſt man oft geneigt, den Hund über den Affen
zu
ſtellen;
allein das iſt ein Irrtum. Der Hund hat Tugenden,
die
ihn dem Menſchen dienſtbarer und brauchbarer machen.
Das ganze Daſein des Hundes geht im Dienſte des Herrn
auf
.
Das aber gerade iſt kein Beweis der Selbſtändigkeit.
Der
Affe iſt für den Menſchen unbrauchbarer;
aber dies iſt
eben
ein Beweis, daß er nicht ganz ſo unſelbſtändig dem
Menſchen
gegenüber wird.
Iſt auch der Hund als Haus-
tier
angenehmer und ſchätzenswerter als der Affe, ſo kann
man
ihn geiſtig doch deshalb nicht höher ſtellen als dieſen.

Ein
treuer Hund iſt oft ein ſchätzbarerer Beſitz als ein untreuer
Knecht
;
aber darum iſt der Knecht keineswegs ein Weſen, das
unter
dem Hunde ſteht.
2809652[Figure 52]Fig. 8. Skelette, a des Menſchen, b des Gorilla, c des Chimpanſe, d des Orang.a b c d
2819753[Figure 53]Fig. 9. a Schädel des Negers, b eines Euroväers, c eines jungen und d eines alten
menſchen-ähnlichen
Affen.
a c b d
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher II.
28298
XXIX. Die Menſchenähnlichkeit der Affen
hinſichtlich ihres Benehmens.
Das geiſtige Vermögen der Affen zeigt ſich gerade bei
denjenigen
Gattungen am ausgebildetſten, die körperlich dem
Menſchen
am ähnlichſten ſind, ſo beim Orang-Utang und dem
Joko
.
Es iſt dies ein offenbares Zeichen, daß die körperliche
Ausbildung
zur Menſchenähnlichkeit mit einer höhern geiſtigen
Befähigung
Hand in Hand geht.
Beachtenswert iſt hierbei
noch
, daß reifere Geiſtesfähigkeit ſich gerade bei ſolchen Säuge-
tieren
zeigt, die ſehr reich ſind an Formen.
Wie verſchieden-
artige
Hunde es giebt, iſt bekannt, wie ganz anders die eine
Raſſe
von der andern ſich unterſcheidet, wird ſchon jedem
Menſchen
aufgefallen ſein.
Der Dachshund und das Wind-
ſpiel
, der Pudel und der Spitz, der Mops und der Schäfer-
hund
ſehen gar nicht wie ein und dieſelbe Tierart aus, gleich-
wohl
ſind ſie es, ja ſie erkennnen ſich ſelber als ſolche und be-
gatten
ſich mit einander, und gerade aus den Miſchlingen geht
eine
beſonders fähige Raſſe hervor.
Es ſcheint mit den Affen,
die
aus vielen Arten beſtehen, ebenſo zu ſein.
Die Befähigung der Affen giebt ſich durch viele Beiſpiele
kund
.
Sie leben wild in großen Geſellſchaften, ohne Inſtinkt-
arbeiten
im Sinne derjenigen wie etwa bei den Bienen aus-
zuführen
und ohne an einander gebunden zu ſein.
Man be-
merkt
vielmehr, daß ſich Einzelne beliebig trennen und ihre
Wohnungen
einzeln aufſchlagen.
Das Familienleben iſt ſehr
ausgebildet
.
Der Affe hat nur eine Äffin und die jungen
Affen
leben lange noch bei den Eltern, auch wenn ſie ſelbſt-
ſtändig
ſind.
Das eheliche Verhältnis löſt ſich nicht, wie bei
andern
Tieren, auf, wenn die Brunſt- oder Brüte- oder Er-
ziehungszeit
vorüber iſt, ſondern währt fort, ja man ſagt
ſogar
, daß es lebenslänglich fortdauere.
Das Auffallendſte
bei
den Affen iſt unſtreitig die ganz unzweifelhafte
28399 daß die männlichen Affen ſich angereizt fühlen von der Schön-
heit
der menſchlichen Frauen.
Es ſind Fälle erzählt, daß
Negerinnen
von Affen mit Gewalt fortgeführt und gefangen
gehalten
worden ſind, aber in der Gefangenſchaft ſanft, ſogar
galant
behandelt wurden (?)
. Die Affen erweiſen ſich gegen
einander
mitleidig, heben den verunglückten Kameraden auf,
führen
ihn, bringen ihn in Sicherheit, ja auf ſein Geſchrei
reicht
man ihm Speiſe und Trank und behandelt ihn überhaupt
wie
einen Patienten.
Im ganzen iſt indeſſen das Leben der Affen in der Wildnis
ziemlich
unbekannt, namentlich das Leben der höheren Affenarten,
denn
es iſt gefährlich, ſich ihren Beſitzungen zu nahen, ohne
mit
ihnen Krieg zu führen und ſie in ihrem gewöhnlichen
Leben
zu ſtören;
und es exiſtieren ſo außerordentlich viel
Fabeln
über dasſelbe, daß man die Berichte mit Mißtrauen
aufnehmen
muß.
Die Rachſucht wilder Orang Utangs gegen
ihnen
feindlich geſinnte Menſchen ſoll furchtbar ſein.
In der Gefangenſchaft iſt der Affe leicht zu zähmen und
zwar
nur durch den Trieb der Nachahmung.
Er lernt ſich vor-
trefflich
auf das Wort verſtehen und giebt auch durch Grimaſſen
und
Zeichen ſeinen Willen kund.
Er iſt ſehr gelehrig, aber
dabei
mürriſch und unwillig und wird es mit den zunehmenden
Jahren
immer mehr.
Dabei hat er Eigenſchaften, die ihm
einen
beſtimmten Charakter verleihen und die ihn dem Menſchen
wenig
nutzbar machen.
Er iſt boshaft, rachſüchtig und vergißt
nicht
leicht eine Beleidigung;
er iſt falſch, ſpielt dem Menſchen
oft
böſe Poſſen und bezeigt ſeine Freude darüber, wenn man
ſich
ärgert.
Der Affe iſt argwöhniſch und diebiſch und dabei
läßt
er ſich nicht zur@ Reinlichkeit anhalten, ſondern bezeigt
einen
Trotz darin, bei aller Nachäfferei des Menſchen, ſich
tieriſch
und unflätig zu benehmen.
Da der Affe ſtark iſt, ſo
wäre
er auch im Hauſe außerordentlich nützlich;
aber er unter-
wirft
ſich dem Menſchen nicht ganz, und es iſt ſelbſt dem
284100 horſamſten Affen nicht zu trauen, mag man ihn mit Nachſicht
oder
mit Strenge behandeln.
XXX. Das Nervenſyſtem der Tiere.
Die Feſtſtellung, ob eine tieriſche oder menſchliche
Handlung
ohne Bewußtſein, alſo inſtinktiv, oder mit Be-
wußtſein
geſchieht, iſt, wie ſchon Seite 21 angedeutet, nicht
möglich
.
Wir können nur von den eigenſten Vorgängen in
uns
ſelbſt auf andere Weſen ſchließen.
Beim Menſchen ſind
Bewußtſeinsvorgänge
und überhaupt geiſtige Werte abhängig
von
dem Vorhandenſein eines Nervenſyſtems, insbeſondere eines
Gehirnes
.
Jedes Glied des Leibes, das wir bewegen, jede Hand,
jeder
Finger, das Augenlid, die Lippen, mit einem Worte jeder
Teil
unſeres Körpers, den wir bewegen können, hat ſeine
eigenen
Nervenfäden, die mit dem Gehirn wie eine elekriſche
Endſtation
mit einer Zentralſtation in Verbindung ſtehen.
Nur wenn die Nervenfäden unverletzt ſind, können wir das
Glied
, zu dem ſie gehen, gebrauchen.
Durchſchneidet man ſolche
Nervenfäden
, oder werden ſie durch Krankheit unwirkſam,
ſo
hängt das Glied unbeweglich an unſerm Körper, obgleich
das
Blut darin nach wie vor zirkuliert.
Dieſe Nerven nennt
man
Bewegungsnerven (motoriſche Nerven).
Andere Nerven
nennt
man Empfindungsnerven (ſenſible Nerven).
Auch dieſes
ſind
Fäden, die ſich auf dem ganzen Körper verbreiten.
An
jeder
Stelle unſeres Körpers, wo ſolche Nervenfäden vorhanden
ſind
, haben wir Gefühl, Empfindung;
wo jedoch ſolche Nerven-
fäden
nicht verbreitet ſind, wie z.
B. an den Nägeln und
Haaren
, hat man keine Empfindung und kann Stücke davon
abſchneiden
, ohne daß es ſchmerzt.
Durchſchneidet man einen
Hauptzweig
eines ſolchen Empfindungsnerves, der z.
B.
285101 Arme führt, ſo verliert der Arm ſofort die Empfindung, ob-
gleich
noch das Blut darin zirkuliert und obwohl man ihn
beliebig
bewegen kann.
Von einem ſolchen Arme kann man
ganze
Stücke Fleiſch ausſchneiden, man kann die Knochen zer-
brechen
, man kann ihn ſtechen und brennen, ohne daß der
Menſch
irgend welchen Schmerz empfindet.
Die Sinnesnerven verſorgen die Sinnesorgane, welche
ohne
dieſe Nerven ihren Verrichtungen nicht obliegen können,
ſodaß
dann die Geruchs-, Geſichts-, Gehörs- und Geſchmacks-
empfindungen
fehlen.
Die ſogenanntenſympathiſchen” Nerven endlich ſtehen in
Beziehung
zu der unwillkürlichen Thätigkeit des Körpers,
z
.
B. zum Herzſchlag, zur Bewegung der Verdauung u. ſ. w.
Wir werden ſpäter etwas Ausführlicheres über die Nerven
unſern
Leſern vorführen, für jetzt müſſen wir uns mit dieſen
wenigen
Andeutungen begnügen, und wollen nur noch einen
Hauptunterſchied
hervorheben, der zwiſchen der Thätigkeit der
ſympathiſchen
Nerven und der der andern Nerven-Gattungen
exiſtiert
.
Die Thätigkeit der Bewegungs- und Empfindungs-
Nerven
iſt mit unſerm Wollen und Wiſſen verknüpft.
Wenn
wir
wollen, heben wir die Hand auf, wenn wir wollen, laſſen
wir
ſie ruhen.
Wir wiſſen es auch, ob ein Empfindungsnerv
in
uns angeregt und thätig iſt, wir haben die Empfindung
von
den Dingen, die uns Wohlbehagen oder Schmerz ver-
urſachen
.
Die Thätigkeit dieſer Nerven iſt mit Bewußtſein
verbunden
.
Ganz anders aber iſt es mit der Thätigkeit der
ſympathiſchen
Nerven.
Dieſe ſind alſo thätig, ohne daß wir
es
wollen und ohne daß wir es wiſſen.
Das Herz iſt thätig und immerfort ohne Aufhören thätig,
zieht
ſich zuſammen und dehnt ſich aus und treibt das Blut
durch
den Körper, auch ohne daß wir es wollen, ja ſogar,
wenn
wir es auch nicht zugeben wollten.
Wir ſind nicht
im
ſtande, es unſerm Willen zu unterwerfen.
Die
286102 währt auch im Schlafe fort, wo wir nichts davon wiſſen.
Ebenſo iſt es mit der Verdauung, mit der Ernährung und
ſelbſt
mit dem Atmen, das wir zwar auf eine kurze Zett
unterdrücken
können, weil beim Atmen auch Bewegungsnerven
thätig
ſind, die in unſerer Willkür ſtehen, aber doch müſſen
wir
atmen ſelbſt wider Willen und ohne Bewußtſein.
Wir ſehen alſo, es giebt auch im menſchlichen Körper
eine
Thätigkeit, die nicht vom Willen und Wiſſen des Menſchen
abhängt
, und dieſe Thätigkeit iſt gerade eine der notwendigſten
zur
Lebenserhaltung, und wer nur einmal mit ernſtlichem Blick
dieſelbe
angeſehen hat, wer auch nur einmal die Rolle betrachtet
hat
, die das Herz als Pumpe ſpielt, um das Blut im kleinen
Kreislauf
durch die Lungen, und im großen durch den ganzen
Körper
zu jagen, der wird geſtehen, daß dieſe Thätigkeit eine
höchſt
zweckmäßige und kunſtvolle iſt, kunſtvoller als das Gewebe
einer
Spinne und doch geht die Thätigkeit im Menſchen
vor
ſich ohne Willen und ohne Wiſſen desſelben.
Freilich iſt ein Unterſchied zwiſchen der Kunſt der Spinne
und
der Kunſt des bewegten Menſchenherzens.
Die Spinne
ſpinnt
den Saft ihrer Geſpinnſtwarzen mit ihren Füßen, und
die
Füße ſind ja Körperteile, die mit Wiſſen und Willen bewegt
werden
müſſen.
Und ſetzt daher die Thätigkeit der Spinne
darum
in ſolches Erſtaunen, weil ſie dazu Körperteile bewegt,
die
ſonſt nur mit Bewußtſein und Willen thätig zu ſein
pflegen
.
Aber es wird erklärlicher, wenn man bedenkt, daß nur in
den
höheren Tiergattungen das Nervenſyſtem genauer geſondert
iſt
, in ein willkürliches und bewußtes und in ein unwillkürliches
und
unbewußtes, während bei den niedrigeren Tieren eine
ſolche
Sonderung nicht ſtattfindet.
Die einfachſten Tiere be-
ſitzen
wie die Pflanzen überhaupt gar kein Nervenſyſtem, haben
aber
wie alle Lebeweſen Reizbarkeit.
287103
XXXI. Die Sonderung der verſchiedenen
Nervenſyſteme bei den höheren im Gegenſatz zu
den niederen Tieren.
Wir können zwar nicht den ſtrengen Beiweis führen für
die
Behauptung, daß bei den niedrigeren Tieren keine ſtrenge
Sonderung
der Nerven für willkürliche und unwillkürliche
Thätigkeit
ſtattfindet wie bei dem Menſchen, doch gewinnt dieſe
Behauptung
große Wahrſcheinlichkeit, wenn man die Unter-
ſchiede
zwiſchen den lebenden Weſen höherer Ordnung und
niederer
Ordnung betrachtet.
Das Hauptmerkmal, wonach man ein Tier höherer Gattung
von
dem einer niederen Gattung unterſcheidet, beſteht darin,
daß
die Tiere niederer Gattung am wenigſten geſonderte
Organe
des Körpers haben, daß ſie aber, je höherer Gattung
ſie
ſind, deſto reicher an geſonderten Organen werden.
Die niedrigſten Tiere ſind weiter nichts als bloße Schleim-
klümpchen
(vergl.
Teil I Seite 32). Solche Tiere haben keine
Füße
, keinen Kopf, keine Sinneswerkzeuge, keine Glieder.
Dieſen gegenüber nennt man höhere Tiere ſolche, wo ſich
ſchon
beſondere Organe, z.
B. Greiforgane vorfinden, mit
welchen
dieſe Tiere ihre Speiſe ergreifen können.
Tiere, die
ſchon
ein Herz und ein Aderſyſtem haben, ſtehen noch höher,
wenn
ſich ein Nervenſyſtem vorfindet.
Die höchſte Ausbildung
zeigt
das Wirbeltier, das ein Skelett, ein Gehirn hat, wo viele
beſondere
Werkzeuge vorhanden ſind, die nur zu beſtimmten
Zwecken
gebraucht werden.
Man kann mit Recht ſagen, das niederſte Tier iſt Alles
in
Allem nur ein Organ;
das höhere Tier iſt eine Zuſammen-
ſetzung
aus vielen Organen, hier findet eine Teilung der Arbeit
ſtatt
.
Die Füße haben eine andere Arbeit zu verrichten als
die
Hände, die Augen eine andere Beſtimmung als die Ohren,
das
Herz eine andere als das Hirn.
Mit einem Worte:
288104 höher ein Tier auf der Stufe der Ausbildung ſteht, deſto mehr
ſondert
ſich jede Verrichtung jedes einzelnen Organs und hat
ein
beſtimmtes, ihm angewieſenes Feld ſeiner Thätigkeit, und
deſto
mehr ſchwindet eine Vermiſchung der Organe und Ver-
miſchung
ihrer Thätigkeit.
Iſt dem aber ſo, ſo haben wir ein Recht, auch aus der
Nerventhätigkeit
einen ähnlichen Schluß zu ziehen.
Wo das Nervenſyſtem vollendet ausgebildet iſt, wie beim
Menſchen
, da ſind die Thätigkeiten der Nerven auch geſondert;
auch für die Nerven tritt hier jene Teilung der Arbeit ein,
daß
gewiſſe Teile derſelben die freiwillige Bewegung vermitteln,
gewiſſe
Teile derſelben unfreiwillige Thätigkeit hervorrufen.

Gleichwohl
ſehen wir ſelbſt beim Menſchen das Gebiet der
unfreiwilligen
Bewegungen in den Bereich freiwillig und will-
kürlich
bewegter Teile übergreifen.
Das Beiſpiel der Atem-
bewegungen
haben wir bereits angeführt.
Das Blinzeln der
Augen
, um den Augapfel anzufeuchten, iſt gleichfalls eine
unwillkürliche
Bewegung, die wir bewußtlos ausführen mit
den
Augenlidern, die wir ſonſt nur willkürlich öffnen und
ſchließen
.
289
Naturwiſſenſchaftliche Volksbiicher
von

A. Bernſtein.
Fünfte, reich illuſtrierte Ruflage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Dritter
Teil.
54[Figure 54]
Berlin.
Ferd
. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
290
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
291
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
I
. # Wenn wir einen Sinn weniger hätten . . . . . . # 1
II
. # Wenn wir einen Sinn mehr hätten . . . . . . . # 3
III
. # Die verſchiedenen Anziehungskräfte . . . . . . . . # 5
IV
. # Von den kleinſten Teilchen und den unſichtbaren Zwiſchen-
# räumen . . . . . . . . . . . . . . . . # 8
V
. # Was man unter Atom zu verſtehen hat . . . . . . # 11
VI
. # Wie die Wärme mit den Atomen ihr Spiel treibt . . # 13
VII
. # Woher die Wirkung der Wärme auf die Atome ſtammt # 17
VIII
. # Von der Anziehungs- und Abſtoßungskraft der Atome . # 20
IX
. # Wodurch die Dinge feſt oder flüſſig oder gasartig erſcheinen # 23
X
. # Die Verflüſſigung der Luft . . . . . . . . . . # 25
XI
. # Der Einfluß der Wärme auf die Atome . . . . . . # 29
XII
. # Die Anziehungskraft der Maſſen . . . . . . . . # 31
XIII
. # Wie die Anziehung der Erde mit der Entfernung abnimmt # 34
XIV
. # Allgemeine Betrachtung über den Fall der Körper . . # 36
XV
. # Wie groß iſt die Geſchwindigkeit des Falls? . . . . # 39
XVI
. # Nähere Betrachtung der Fall-Geſchwindigkeit . . . . # 42
XVII
. # Wichtigkeit der Fallgeſetze . . . . . . . . . . . # 45
XVIII
. # Der Lauf des Mondes verglichen mit dem Lauf einer
# Kanonenkugel . . . . . . . . . . . . . . . # 50
XIX
. # Die Bewegungen und die Anziehungen der Geſtirne . . # 53
XX
. # Worin liegt die Kraft der Anziehung? . . . . . . # 56
XXI
. # Die Anziehungskraft und die Entſtehung der Welt . . # 59
XXII
. # Die Verſchiedenheit ähnlicher Naturkräfte . . . . . # 62
XXIII
. # Die Kraft des Magneten . . . . . . . . . . . . . # 65
XXIV
. # Weitere Verſuche mit einem Magneten . . . . . . # 68
XXV
. # Was es mit den zwei Polen der Magnete für Be-
# wandtnis hat . . . . . . . . . . . . . . # 71
XXVI
. # Was mit einem Magneten geſchieht, der in der Mitte
# durchgebrochen wird . . . . . . . . . . . . #
11292IV # # Seite
XXVII
. # Eine Erklärung der magnetiſchen Erſcheinungen . . # 76
XXVIII
. # Was in einer Nadel vorgeht, die man magnetiſiert # 78
XXIX
. # Wie auf alle Dinge magnetiſch eingewirkt werden
# kann . . . . . . . . . . . . . . . # 82
XXX
. # Die magnetiſche Kraft der Erde . . . . . . . # 85
XXXI
. # Die Unendlichkeit und die Elektrizität . . . . # 89
XXXII
. # Die Elektrizität in ihren einfachſten Erſcheinungen . # 91
XXXIII
. # Weitere elektriſche Verſuche . . . . . . . . . # 94
XXXIV
. # Die Verſchiedenheit der elektriſchen und magnetiſchen
# Erſcheinungen . . . . . . . . . . . . # 97
XXXV
. # Über die Leitung der Elektrizität . . . . . . . # 100
XXXVI
. # Der elektriſche Funke und der Bliß. . . . . . # 103
XXXVII
. # Die Leitung, Anſammlung und Ladung der Elektrizität # 106
XXXVIII
. # Wie man die Elektrizität feſſeln kann . . . . . # 110
XXXIX
. # Eine Erklärung über Ladung und Entladung der
# Elektrizität . . . . . . . . . . . . # 113
XL
. # Welche Rolle die Elektrizität bei einem Gewitter
# ſpielt . . . . . . . . . . . . . . . # 115
293
I. Wenn wir einen Sinn weniger hätten.
Haſt du ſchon einmal daran gedacht, mein freundlicher
Leſer
, wie die Welt uns, den Menſchenkindern, vorgekommen
wäre
, wenn wir ohne Augen geſchaffen wären?
Gewiß fällt dir’s im Augenblick ein: Ei das kann uns
ja
jeder Blindgeborene ſagen, oder:
das können wir uns recht
gut
vorſtellen, wenn wir die Finſternis der Nacht uns ver-
ewigt
denken! oder:
davon können wir uns ſchon einen Begriff
machen
, wenn wir die Augen ſchließen und es verſuchen, uns
durch
Umhertaſten im Zimmer zurecht zu finden.
Glaube es
mir
, mein freundlicher Leſer, es iſt dies ein Irrtum.
Der Blindgeborene ſieht nicht; aber Millionen und Millio-
nen
Menſchen ſehen für ihn.
Er vernimmt ſoviel von Dingen,
die
ſichtbar ſind, daß er unendlich vieles weiß, ohne ſelber
Erfahrungen
hierüber gemacht zu haben.
Er weiß, daß es
eine
Sonne giebt, die ihn erwärmt, obgleich er ſie nie geſehen
hat
.
Er weiß, daß es Häuſer giebt, die gebaut werden, ob-
wohl
ſie für ihn unſichtbar ſind.
Er weiß, daß große Ge-
wäſſer
exiſtieren, obwohl er keine Vorſtellung davon haben
kann
.
Er findet ſich von einer Welt von Gegenſtänden um-
geben
, die er zwar nie ſieht, aber deren Gebrauch er aus Er-
fahrung
und Belehrung anderer Menſchen kennt, die ſehen
können
.
Mit einem Worte: die Welt des Blindgeborenen
und
wäre ſeine Erziehung auch noch ſo vernachläſſigt iſt
immerhin
eine Welt, die für das Sehen eingerichtet iſt.
Das
Auge
Anderer iſt auch eine Art Auge für ihn, und wenn
er
auch fremdartige und ſonderbare Vorſtellungen von tauſend
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher III.
2942
Dingen haben mag, ſo reicht doch der unausgeſetzte Umgang
mit
ſehenden Menſchen hin, ſeinen Vorſtellungen und Urteilen
eine
richtige, der Wahrheit nahe Wendung zu geben.
Iſt das aber ſchon mit dem Blindgeborenen der Fall, ſo
iſt
es in weit höherem Maße noch, wenn uns, die wir ſehen
können
und unſer Lebelang geſehen haben, plötzlich einmal die
Augen
geſchloſſen werden.
Wir haben geſehen; und das iſt genug, um uns einen
Begriff
von Dingen zu geben, die außer uns exiſtieren.
Mögen
wir
auch unſere Phantaſie anſtrengen, ſich eine Welt, bedeckt
mit
ewiger, undurchdringlicher Finſternis, zu denken, immerhin
werden
die Erfahrungen und Erkenntniſſe, deren wir einmal
teilhaftig
ſind, uns ſelbſt in die ewige Finſternis begleiten und
unſerm
Urteile eine richtige Wendung geben.
Und ebenſo wie
ein
Menſch, der ſich zum Scherz die Augen verbinden läßt,
um
ſich umhertappend im Zimmer zurecht zu finden, ſich gerade
deshalb
die lebhafteſte Vorſtellung macht von all’ den Dingen,
die
er geſehen hatte, gerade ebenſo würde es einem Menſchen-
geſchlechte
gehen, das einmal geſehen und die richtige Vor-
ſtellung
von der Außenwelt in ſich aufgenommen hat, ſelbſt
wenn
eine ewige Finſternis dieſe Außenwelt verſchließen
würde
.
Wie anders aber würde die Welt einem Menſchengeſchlechte
vorkommen
, das noch niemals einen Lichtſtrahl der Welt em-
pfangen
hätte?
Von der Welt ſelbſt hätte ſolch ein Menſchengeſchlecht
keine
Ahnung als ſoweit, wie der Fuß reicht.
Von der Höhe
hätte
man keinen Begriff als ſoweit, wie die hocherhobene
taſtende
Hand greifen kann.
Von Entfernungen würde höchſtens
der
Schall eine dunkle Vorſtellung geben.
Über die Anweſen-
heit
der verſchiedenſten Dinge könnte nur der Geruch belehren.
Die Vorſtellungen und Erkenntniſſe der Menſchen würden mit
einem
Worte ſo eingeſchränkt ſein, daß wir uns gar
2953 Begriff davon machen können. Ja, es iſt vielleicht ſo unmög-
lich
, ſich eine richtige Vorſtellung von einem ſolchen blinden
Menſchengeſchlecht
zu machen, wie es unmöglich iſt, daß ſolch
ein
blindes Menſchengeſchlecht eine richtige Vorſtellung von der
Welt
und dem Leben eines ſehenden haben kann.
II. Wenn wir einen Sinn mehr hätten.
Wenn wir nur 4 Sinne hätten ſagt Leſſing und
der
Sinn des Geſichts uns fehlte, ſo würden wir uns von
dieſem
ebenſowenig einen Begriff machen können, als von einem
ſechſten
Sinne.
Man könnte nun meinen, daß der Gedanke an einen ſolchen
ſechſten
Sinn ein ganz müßiger und thörichter wäre, da wir ja
keine
Vorſtellung haben können, was er für uns ſein könnte,
und
wir uns auch keinen Begriff davon machen können, wo-
rüber
er uns Aufſchluß geben ſoll.
Aber inſofern er im
genauen
Zuſammenhang ſteht mit der Frage, auf die wir hin-
auskommen
wollen, ob es in der Natur Kräfte giebt, die wir
nicht
mit unſern Sinnen erfaſſen können, inſofern iſt der Ge-
danke
durchaus kein müßiger.
Es giebt ganz unzweifelhaft ſolche unſern Sinnen ſich
nicht
verratende Kräfte in der Natur, und ein Teil dieſer Kräfte
würde
unbedingt zu unſerer Erkenntnis gelangen, wenn wir zu
unſeren
Sinnen, zu dieſen Werkzeugen unſerer Erkenntnis, noch
einen
neuen hinzubekämen.
Wir nehmen von der Natur und ihren Kräften, von der
Welt
überhaupt nur einen kleinen, wahrſcheinlich nur ſehr kleinen
Teil
wahr und zwar nur den kleinen Teil, der auf unſere vor-
handenen
Sinne einen Eindruck macht, während es ganz un-
zweifelhaft
iſt, daß uns unendlich vieles in der Erkenntnis noch
verſchloſſen
iſt und verſchloſſen bleiben wird, ſo lange dieſe
2964 verborgenen Kräfte der Natur nicht durch verſchiedene Umſtände
dahin
gebracht werden, daß ſie einen Eindruck auf einen unſerer
Sinne
machen.
Ein Beiſpiel wird das, was wir meinen, deutlicher machen
und
uns auch direkt unſerem eigentlichen Thema näher bringen.
Wir wiſſen jetzt alle, daß die ganze Welt, alle Dinge, die
wir
in uns, an uns und um uns haben, erfüllt und bewegt
werden
von einer Kraft, die wir Elektrizität nennen.
Von
dieſer
Materie ſehen wir, hören wir, riechen oder ſchmecken wir
gar
nichts, und deshalb vergingen auch dem Menſchengeſchlechte
viele
Jahrtauſende ohne eine Ahnung von dieſem Dinge, das
eine
ſo ungeheure Rolle in der Welt ſpielt.
Erſt dann, als
Zufall
, Nachdenken und Forſcherdrang die Menſchen dahin ge-
führt
hatte, zu beobachten (zuerſt im Jahre 1600), wie ge-
riebenes
Glas, geriebener Siegellack u.
ſ. w. kleine Fäſerchen
und
Stäubchen an ſich zieht und wieder von ſich ſtößt, erſt
dann
, als eine Wirkung dieſer Kraft hervortrat, die ſichtbar
wurde
, das heißt, einen Eindruck auf unſer Auge machte, erſt
dann
fing man an, dem Dinge nachzuſpüren, und die Natur-
forſcher
haben nicht geruht und ruhen jetzt noch nicht, um
immer
mehr von dieſer bis dahin verborgenen Kraft der Natur
unſern
Sinnen zugänglich zu machen und unſerer Kenntnis
aufzuſchließen
.
Jetzt ſind wir ſchon ſoweit gekommen, daß wir zwar nicht
die
Elektrizität ſelber, aber doch die Wirkung der Elektrizität
auf
alle unſere Sinne jedem Menſchen zeigen können.
Man
kann
jetzt durch elektriſche Funken die Wirkung der Elektrizität
dem
Auge ſichtbar, dem Ohre hörbar, der Zunge ſchmeckbar,
ſogar
durch Ozon-Geruch der Naſe riechbar und durch elektriſche
Schläge
dem Leibe in der ſchmerzhafteſten Weiſe fühlbar machen.
Die Naturforſcher haben alſo eine der Menſchheit verborgene
bisher
geheime Kraft der Natur den menſchlichen Sinnen zu-
gänglich
gemacht, und durch all’ die Umſtände, unter
2975 dies möglich iſt, es dahin gebracht, daß wir Kenntnis von
etwas
haben, für das uns ein direkter Sinn fehlt.
Hätten wir, ebenſogut wie wir Augen haben für das Licht,
von
Geburt an noch irgend ein beſonderes Werkzeug im Kopfe
für
die Elektrizität, ſo würde die Menſchheit ſchon vor vielen Jahr-
tauſenden
mehr von dieſem Stoff oder von dieſer Kraft, oder
wie
man es ſonſt nennen mag, wiſſen, als uns jetzt die Natur-
forſcher
lehren.
Unſere Erkenntnis wäre gewiß unendlich weiter
als
jetzt, wo wir nur durch einen großen Umweg und ziemlich
ſpät
dem Geheimnis nachzuſpüren anfangen.
Und nun, mein freundlicher, Leſer wirſt du verſtehen, wenn
ich
ſage, daß es ſich lohnt, nach ſolchen Geheimniſſen zu forſchen,
und
wirſt mir einige Aufmerkſamkeit ſchenken, wenn ich dich
auffordere
, mit mir einem intereſſanten derartigen Geheimniſſe,
dem
Geheimnis der Anziehung in der Natur, ein wenig nach-
zuſpüren
.
III. Die verſchiedenen Anziehungskräfte.
Unter den vielen uns verborgenen Kräften der Natur
exiſtiert
eine, welcher man ſchon ziemlich nahe auf die Spur
gekommen
und deren Daſein ſo allgemein bekannt iſt, daß man
von
ihr wie von einer ganz ausgemachten Sache ſpricht.
Wir
meinen
die Kraft der Anziehung.
Man lehrt es jetzt ſchon jedem Kinde, daß ein Stein, oder
ſonſt
irgend ein Ding, das von der Höhe zur Erde fällt, dies
nur
darum thut, weil es von der Erde angezogen wird.
Nun ſollte man glauben, daß die Anziehungskraft der
Erde
ſchon etwas wäre, das ſo offen daliegt, daß ſich unſere
Sinne
ſofort von der Exiſtenz derſelben überzeugen können;
aber dem iſt nicht ſo. Bedenkt man, daß durch viele Jahr-
tauſende
die Menſchheit alltäglich viele tauſend Dinge
2986 Erde fallen ſah, ohne zu ahnen, daß hierbei eine Anziehungs-
kraft
der Erde wirkſam ſei, bedenkt man, daß bis auf Newton
(1643—1727) die Anziehungskraft der Erde ſo gut wie ein
unbekanntes
Ding war, ſo hat man Urſache, ſchon aus dieſem
Umſtand
allein darauf zu ſchließen, daß wir es mit einer Kraft
zu
thun haben, von deren Exiſtenz wir uns erſt durch Beob-
achtungen
und Vernunftſchlüſſe überzeugen können, für die uns
aber
eine direkte Empfindung fehlt.
In der That wird auch jeder Naturforſcher geſtehen, daß
die
Anziehungskraft überhaupt ein großes Geheimnis der Natur
iſt
, und wir, trotz der außerordentlich reichen Erfahrungen
und
unzähligen Verſuche, über dieſelbe noch weſentlich im
Dunkeln
ſind.
Wir wollen dieſem Geheimnis nachzuſpüren ſuchen und
die
Anziehungskraft einmal in allen ihren Haupterſcheinungen,
die
weſentlich von einander abweichen, vorführen und dann
durch
einen Geſamtüberblick unſeren Leſern zeigen, wie ſchwierig
es
iſt, den Geheimniſſen der Natur bis auf die Grundurſache
nachzuforſchen
.
Wenn wir hierzu bemerken, daß gerade die
Anziehungskraft
ein Geheimnis iſt, dem man ſchon länger auf
der
Spur iſt als allen andern Naturgeheimniſſen, ſo wird dies
hinreichen
, die Größe der Aufgabe deutlich zu machen, die in
ſolchem
Aufſpüren liegen muß.
Sehen wir uns vor allem einmal an, wie eigentümlich
verſchieden
die Anziehungskraft in einzelnen Fällen auftritt.
Wie wir in den nächſten Abſchnitten noch deutlicher zeigen
werden
, iſt die höchſte Wahrſcheinlichkeit vorhanden, daß alle
Dinge
in der Welt, die wir ſehen können, aus außerordentlich
kleinen
Teilen zuſammengeſetzt ſind.
Ein Stück Eiſen z. B.
erſcheint uns, als wäre es ein einziges Stück, das gar keine
Lücken
in ſich hat, und doch kann man den Beweis führen, daß
es
aus lauter ganz außerordentlich kleinen Teilen zuſammen-
geſetzt
ſein muß, die nur darum ſo feſt aneinander
2997 weil die Teilchen aufeinander eine Anziehungskraft ausüben.
Das iſt nun eine Art von Anziehungskraft, deren Weſen und
Namen
wir ſpäter noch genauer kennen lernen werden.
Eine andere Art von Anziehungskraft herrſcht wieder
zwiſchen
zwei glattgeſchliffenen Körpern, die man aneinander
legt
.
Zwei glattgeſchliffene Glasplatten, die man ein wenig
aneinander
drückt, ſitzen ſo feſt aufeinander, daß man ſie oft
kaum
gewalſam trennen kann, ohne ſie zu beſchädigen.
Das
iſt
eine zweite Art von Anziehung, die wir gleichfalls be-
trachten
werden.
Die Erde, das wiſſen wir, zieht Gegenſtände aus der
Entfernung
an, ſo daß ſie auf die Erde ſtürzen, wenn nicht
andere
Urſachen ſie hieran verhindern.
Es iſt eine ausgemachte
Sache
, daß die Erde eine Anziehungskraft auf den Mond aus-
übt
, daß beide von der Sonne angezogen werden, daß ein
gleiches
Anziehungsverhältnis zwiſchen allen Himmelskörpern
obwaltet
, deſſen Geſetze ſehr genau beſtimmt ſind.
Ja, es iſt
in
neueſter Zeit durch unumſtößliche Beweiſe dargethan worden,
daß
alle Dinge ſich gegenſeitig aus der Entfernung anziehen,
ſo
daß wir uns eigentlich in einem unendlichen Meer von
Anziehungen
bewegen.
Das iſt nun wieder eine dritte Art
von
Anziehung, die wir uns deutlich zu machen haben.
Wie ein Magnet Eiſen anzieht, das hat wohl ſchon jeder-
mann
geſehen;
aber das Eigentümliche, daß es vornehmlich
nur
Eiſen anzieht und die Sonderbarkeit, daß das angezogene
Eiſen
ſelber magnetiſch wird, ja eine große Reihe von Wunder-
lichkeiten
, die beim Magnet vorkommen und die wir gleichfalls
vorführen
werden, zeigen, daß hier auch eine Anziehung, aber
wieder
eine andere Art vorhanden iſt.
Wir werden nun noch ſehen, wie bei der Elektrizität auch
eigentümliche
Anziehungen ſtattfinden, die wiederum in anderer
Art
auftreten.
Wir werden ferner ſehen, daß in der Chemie
ganz
beſondere Anziehungen zum Vorſchein kommen, die
3008 um eigentümlich ſind. Ja, in der Lebensthätigkeit der Pflanze
und
noch mehr in der des Tieres, herrſcht eine außerordentlich
eigene
Art von Anziehung, die durchaus anders iſt als alle
anderen
bisherigen.
All’ dieſe wollen wir in leichten Zügen
einmal
vorführen, um dann zu der Hauptfrage des Geheim-
niſſes
zu kommen, ob es nur eine Anziehungskraft in der Natur
giebt
, die ſich nur unter verſchiedenen Umſtänden verſchieden
äußert
, oder ob es wirklich verſchiedene geſonderte Anziehungs-
kräfte
giebt, von denen ſich uns einige zeigen:
oder endlich,
ob
alle nur herſtammen von einer uns völlig unbekannten
Naturkraft
, von welcher die Anziehung überhaupt nur eine be-
ſondere
Erſcheinung iſt.
Und für dieſe Aufgabe nehmen wir für diesmal das In-
tereſſe
und das Nachdenken unſerer Leſer in Anſpruch.
IV. Von den kleinſten Teilchen und den unſicht-
baren Zwiſchenräumen.
Es giebt zahlreiche Beweiſe dafür, daß all’ die feſten
Dinge
, die unſerem Auge wie ununterbrochene Maſſen erſcheinen,
welche
gar keine leeren Zwiſchenräume in ſich haben, dennoch
voll
von ſolchen Zwiſchenräumen ſein müſſen.
Einen ſcharfen Stahlſtift kann man durch Preſſen oder
Schlagen
in ein Stück Eiſen treiben.
Der Stahlſtift macht ein
Loch
im Eiſen.
Da aber nirgends das Eiſen zu finden iſt,
das
vorher die Stelle des Loches ausgefüllt hat, ſo leuchtet es
jedem
ein, daß der Stahlſtift nur das Eiſen verdrängt hat, und
daß
das Loch nur dadurch entſtanden iſt, daß durch das Ein-
dringen
des Stahlſtiftes das Eiſen rings um das Loch dichter
geworden
iſt.
Wäre Eiſen eine Maſſe, die vollkommen dicht zu-
ſammenhängt
und ein ununterbrochenes Stück iſt, ſo
3019 man kein Loch hineinſchlagen können, am allerwenigſten wäre
es
möglich, die Eiſenmaſſe, die früher an der Stelle des Loches
geweſen
iſt, hineinzudrängen in die nächſte Umgebung.
Nur
wenn
man annimmt, daß das Eiſen leere Zwiſchenräume in
ſich
hat, die unſerm Auge ihrer Kleinheit wegen unſichtbar
ſind
, nur dann iſt es erklärlich, daß durch den Stahlſtift die
verdrängte
Eiſenmaſſe ſich hineingeſchoben hat in die leeren
Räume
der nächſten Eiſenmaſſen und dort jetzt feſtgehalten
wird
, ſo daß das Loch offen bleibt.
Auf ganz dasſelbe Reſultat wird man geführt, wenn man
bemerkt
, wie Eiſen oder ſonſt eine Maſſe durch Hitze ſich aus-
dehnt
und durch Kälte ſich zuſammenzieht.
Ein Stück Eiſen, z. B. eine Eiſenbahn-Schiene, behält
nicht
immer eine und dieſelbe Länge.
Wenn die Sonne die
Schienen
erwärmt, wächſt jede Schiene um ein weniges.
Man
legt
daher die Schienen ſo, daß die Enden ſich nicht berühren,
ſondern
ungefähr fünf Millimeter von einander abſtehen.
Wo
man
anfangs dieſe Vorſicht beim Bau der Eiſenbahnen nicht
beobachtete
, dehnten ſich die Schienen in der Wärme des
Sonnenlichts
wirklich ſo, daß ſie ſich trotz aller Nägel, mit
denen
ſie an den Holzſchwellen befeſtigt waren, heraushoben
und
die ganze Bahn zu Schanden machten.
Wir werden noch ſpäter von dem Einfluß der Wärme auf
die
Ausdehnung der Maſſen ein Näheres mitteilen, für jetzt
muß
es uns genügen, zu wiſſen, daß alle Maſſen in der Wärme
ſich
etwas ausdehnen und in der Kälte etwas zuſammenziehen.
Gäbe es nun keine Zwiſchenräume in den Maſſen, ſo müßten
ſie
offenbar ſchon entſtehen, wenn die Maſſen durch die Wärme
ausgedehnt
werden.
Und noch weniger kann man ſich denken,
wie
in der Kälte alle Maſſen ſich zuſammenziehen, wenn man
annimmt
, daß feſte Maſſen gar keine Zwiſchenräume in ſich
haben
.
Nur die Vorſtellung, daß ſolche Zwiſchenräume vor-
handen
ſind, die in der Wärme größer und in der
30210 kleiner werden, nur dieſe Vorſtellung macht es begreiflich, wie
eine
Ausdehnung und Zuſammenziehung der Maſſen in Wärme
und
Kälte vor ſich gehen kann.
Wir wollen noch ein Beiſpiel anführen, das in anderer
Weiſe
dieſe Vorſtellung beſtätigt.
Ein Jeder, der einmal Zuckerwaſſer getrunken hat, wird
wiſſen
, daß ein Stück Zucker in einem Glas Waſſer nicht nur
zergeht
, ſondern ſich auch zerteilt durch das ganze Waſſer, ſo
daß
in jedem Tröpfchen Waſſer etwas vom Zucker enthalten
iſt
.
Gleichwohl kann kein Auge, auch nicht mit Hilfe eines
Mikroſkops
in einem Tröpfchen Zuckerwaſſer irgend ein Zucker-
ſtäubchen
entdecken, obwohl der Geſchmack den Zucker ſehr
deutlich
verrät.
Läßt man aber das Waſſertröpfchen eintrocknen, ſo ent-
deckt
man ſchon mit bloßem Auge und noch beſſer mit einem
Mikroſkop
kleine Zuckerkryſtalle, und erhält dadurch den Be-
weis
, daß die Zuckerteilchen nur dadurch unſichtbar geworden
ſind
, weil ſie außerordentlich fein zerteilt in dem Waſſer herum-
geſchwommen
und daß ſie ſichtbar werden, ſobald das Waſſer
verdunſtet
und jetzt ſich die Zuckerteilchen an einander legen
und
dadurch ſo groß werden, daß ſie geſehen werden können.

Obgleich
auch dieſes Kryſtalliſieren eine ganz eigene Erſchei-
nung
iſt, die einer beſonderen Erklärung bedarf, ſo iſt es für
unſeren
jetzigen Zweck genügend, zu wiſſen, daß unter Um-
ſtänden
feſte Teile ſich in ſo kleine Teilchen zerlegen können,
daß
ſie ganz unſichtbar werden, und daß zuweilen dieſe kleinen
Teilchen
ſich gegenſeitig wieder aneinander legen und nun ſicht-
bare
, harte, feſte Maſſen werden können.
Wenn wir nun verſichern, daß man Eiſen, Blei, Zinn,
Zink
, Gold, Silber, Kupfer u.
ſ. w. in gewiſſen Flüſſigkeiten,
wie
z.
B. Schwefelſäure, Salzſäure und Salpeterſäure eben ſo
auflöſen
kann, wie man Zucker in Waſſer auflöſt, ſo wird man
ſchon
den Gedanken begreiflicher finden, daß dieſe feſten
30311 wohl auch nur aus lauter ganz kleinen, einzeln für das Auge
unſichtbaren
Teilchen beſtehen, die ſich an einander legen und
ein
ſcheinbar ganzes, ununterbrochenes Stück bilden.
V. Was man unter Atom zu verſtehen hat.
Einen noch treffenderen Beweis dafür, daß alle feſten
Maſſen
, trotzdem ſie wie ein einziges Stück ausſehen, doch nur
aus
einzelnen, ſehr kleinen Teilchen beſtehen, die ſich aneinander
legen
, erhält man ſehr leicht, wenn man Gelegenheit hat, gal-
vaniſch-plaſtiſche
Niederſchläge zu beobachten.
Die erſt vor etwa einem halben Jahrhundert entdeckte
Galvano-Plaſtik
beruht darauf, daß man aus Flüſſigkeiten, in
welchen
Metalle aufgelöſt ſind z.
B. aus einer Auflöſung
von
Kupfer-Vitriol das Metall durch Elektrizität wieder
gewinnen
kann und zwar dadurch, daß es ſich an jede beliebige
Metallform
anſetzt, die man mit dem End-Draht einer gal-
vaniſchen
Kette verbindet.
Wie dies gemacht wird, werden
wir
unſeren Leſern weiterhin deutlich darzulegen ſuchen;
für
jetzt
genügt es uns, Folgendes anzuführen, wovon ſich jeder-
mann
, der ſolch’ eine galvano-plaſtiſche Vorrichtung beſitzt,
überzeugen
kann.
Das Metall, welches in der beſtimmten
Flüſſigkeit
aufgelöſt iſt, läßt ſich weder mit bloßem Auge, noch
durch
Mikroſkope irgendwie entdecken.
Hat man eine Kupfer-
löſung
vor ſich, ſo ſieht ſie wie blaugefärbtes, klares Waſſer
aus
;
bei einer geeigneten galvaniſchen Vorrichtung aber kann
man
das völlig unſichtbare Kupfer der Flüſſigkeit dahin bringen,
daß
es ſich in außerordentlich feinen, zu Anfang unſichtbaren
kleinen
Teilchen an einen Draht oder ſonſt ein Metallſtück an-
ſetzt
;
erſt nach und nach ſieht man dieſen neuen Kupferüberzug,
den
man weiter anwachſen laſſen kann, und der dann wirk-
liches
, feſtes, zu einem Stück gewordenes Kupfer iſt.
30412
Hieraus leuchtet jedenfalls ſo viel ein, daß ſolch ein Stück
Kupfer
vor den Augen des Beobachters ſich gebildet hat aus
den
kleinſten Teilchen Kupfer, die in der Flüſſigkeit aufgelöſt
waren
.
Es hat ſich, wie man ſich überzeugen kann, Teilchen
an
Teilchen angelegt, bis aus den unſichtbaren, kleinen Teilchen
ein
ſichtbares, feſtes Stück Kupfer geworden iſt, das ſich durch-
aus
nicht von anderem Kupfer unterſcheidet;
ſo daß jeder-
mann
mit Leichtigkeit auf den Gedanken kommt, daß jedes
Stück
Kupfer wohl aus kleinen, für unſer Auge nicht ſicht-
baren
Kupferteilchen beſteht, die ſich aneinander legen, um ein
einziges
Stück zu werden.
Man nennt jedes ſolch kleinſtes Stückchen Kupfer, von
dem
wir wiſſen, daß es ſicher exiſtiert, das aber durchaus
nicht
mit dem Auge, ſelbſt wenn man ein Mikroſkop zu Hilfe
nimmt
, geſehen werden kann man nennt ſolch ein kleinſtes
Teilchen
ein Atom.
Unter Kupfer-Atom, oder Blei-, Zink-, Gold-, Silber-
Atom
u.
ſ. w. , kurz unter Atom überhaupt verſteht man die
kleinen
Teilchen einer Maſſe, aus deren Zuſammenlegen ſich
eine
ganze, feſte Maſſe bildet.
Wir werden von jetzt ab nur immer unter Atom ſolche
kleinſte
Teilchen verſtehen und wollen nur im Voraus ſagen,
daß
es in neuerer Zeit durch die Chemie gelungen iſt, nicht
nur
die Exiſtenz ſolcher Atome ganz unzweifelhaft zu machen,
ſondern
auch ſogar die Größen- und Gewichtsverhältniſſe ſolcher
Atome
zu beſtimmen, obgleich noch kein Chemiker in der Welt
ein
Atom jemals geſehen, und noch weit weniger im ſtande war,
es
einzeln auf eine Wagſchale zu bringen.
Die Lehre von
den
Atomen, welche in der Chemie ihre Begründung findet
und
die wir ſpäter deutlich zu machen ſuchen werden iſt ein
wahrer
Triumph der Wiſſenſchaft, denn ſie hat hier über
Dinge
Aufſchluß gegeben, die für unſere fünf Sinne durchaus
nicht
wahrnehmbar ſind;
ſie hat durch ihre geiſtige
30513 ſchaft uns einen Erſatz geboten für das, was möglicherweiſe
nur
ein ſechster Sinn hätte wahrnehmbar machen können.
Wenn aber wirklich jede feſte Maſſe nur eine Anhäufung
von
einzeln unſichtbaren, kleinen Atomen iſt, ſo fragt es ſich,
wodurch
kleben dieſe Atome ſo feſt aneinander, daß man ſie
ſchwer
trennen kann?
Durch vielfache Forſchungen belehrt, giebt uns die Wiſſen-
ſchaft
auf dieſe Frage folgende Antwort:
Jeder feſte Körper, jede feſte Maſſe beſteht aus einzelnen
Atomen
.
Dieſe Atome berühren ſich aber nicht gegenſeitig,
ſondern
laſſen Lücken zwiſchen ſich und hängen nur dadurch
feſt
zuſammen, daß ſie auf einander eine Anziehungskraft
ausüben
.
Freilich ſtellt ſich ſogleich die Frage heraus: wenn dies
ſo
iſt, warum folgen dieſe Atome nicht der Anziehungskraft
und
weshalb rücken ſie nicht immer mehr und mehr aneinander,
ſo
daß ſie gar keine Zwiſchenräume zwiſchen ſich leer laſſen?
Hierauf aber antwortet die Wiſſenſchaft Folgendes:
Es iſt richtig, daß ein Atom immer das andere Atom an-
zieht
;
aber es herrſcht in jeder Maſſe nicht die Anziehungs-
kraft
allein, ſondern es kommt noch eine zweite dazu und zwar
eine
entgegengeſetzte Kraft, eine Abſtoßungskraft, die die
Atome
wieder trennt.
Dieſe Antwort klingt freilich ſehr ſonderbar, und deshalb
wollen
wir auch ſehen, ob denn Wahres hinter derſelben ſteckt.
VI. Wie die Wärme mit den Atomen ihr
Spiel treibt.
Die Lehre von der Anziehung und Abſtoßung der Atome
in
feſten Maſſen gewinnt eine außerordentliche Wahrſcheinlich-
keit
, wenn man damit noch die Beobachtung einer anderen Er-
ſcheinung
verbindet.
30614
Wir haben es bereits geſagt, daß die Wärme alle Maſſen
ausdehnt
, daß die Kälte ſie zuſammenzieht;
wir wollen aber
jetzt
zeigen, wie die Naturwiſſenſchaft dahin gelangt iſt, die
ganze
Beſchaffenheit aller Maſſen nur der in ihnen herrſchenden
Wärme
zuzuſchreiben.
Zu dieſem Zweck wollen wir vorerſt die Erſcheinung ſelbſt
durch
Aufführung einzelner Verſuche kennen lernen, und die
Veränderungen
zeigen, welche die Wärme auf verſchiedene
Maſſen
ausübt.
Wenn man einen Gegenſtand erwärmt, ſo wird er größer,
als
er früher war.
Ein Bolzen, der kalt gerade in das Plätt-
eiſen
hineinpaßt, kann, wenn er glühend gemacht wird, nicht
in
dasſelbe hineingebracht werden.
Dies bemerken Hausfrauen
ſehr
oft, und verfahren daher ganz richtig, wenn ſie einen
ſolchen
Bolzen, ſo weit es geht, mit der Spitze in das Plätt-
eiſen
ſtecken und eine Weile warten, wo er dann willig hinein-
geht
.
Es rührt dies daher, daß der Bolzen in der Hitze ſich
ausgedehnt
, während das kalte Plätteiſen ſich zuſammengezogen
hat
.
Steckt man den Bolzen aber mit der Spitze ins Plätt-
eiſen
und wartet ein wenig, ſo wird der Bolzen etwas kälter
und
auch kleiner;
zugleich wird das Plätteiſen warm und alſo
etwas
größer, und nun paßt das Eiſen ganz gut hinein.
Auch der Schmied kennt und benutzt die Kraft der Wärme,
wenn
er ein Wagenrad mit einem eiſernen Reifen verſieht.
Er
macht
den Reifen etwas kleiner als das Rad, dann aber glüht
er
den Reifen, wodurch er ſich ausdehnt und für das Rad
paßt
.
Wird nun der Reifen auf dem Rade kalt, ſo zieht er
ſich
dort wieder derartig zuſammen, daß er feſt aufſitzt und
nur
durch außerordentliche Gewalt davon losgelöſt werden kann.
Die Ausdehnung und Zuſammenziehung erwärmter und
abgekühlter
Maſſen iſt ſo gewaltig, daß ſie alle anderen Kräfte
weit
überragt.
Ein Verſuch, der in Paris gemacht worden iſt,
hat
dies aufs glänzendſte bewieſen.
In der Abtei St.
30715 des champs in Paris, die ein altes, ſehr feſtes Gemäuer iſt,
fingen
die Wände an ſich nach außen zu biegen, ſo daß man
vorausſah
, daß das Dach und die inneren Etagen einſtürzen
müßten
.
Die meiſten Baumeiſter von Paris waren deshalb da-
für
, das Gebäude niederzureißen und friſch aufzubauen;
allein
ein
Schüler der berühmten polytechniſchen Schule, Namens
Molard, hat die dicken Mauern wieder zurecht geſchoben und
zwar
durch Wärme und Kälte.
Er ſchlug zu dieſem Zweck
Löcher
durch die gegenüberſtehenden Mauern und ſteckte Eiſen-
ſtangen
durch dieſelben, ſo daß ſie durch das ganze Gebäude
gingen
und noch zu beiden Seiten draußen aus den Mauern
hervorragten
.
Hier an den äußerſten Enden waren Schrauben-
gänge
eingeſchnitten, auf welchen große Schraubenmuttern feſt-
gedreht
wurden.
Nunmehr ließ Molard an den Stangen im
Innern
des Gebäudes lauter kleine Spirituslämpchen auf-
hängen
, deren Flammen die eiſernen Stangen erhitzten.
Die
Stangen
dehnten ſich aus und ragten derart draußen aus den
Mauern
heraus, daß die Schraubenmuttern zu beiden Seiten
weiter
geſchraubt werden konnten.
Als das geſchehen war,
ließ
Molard die Lämpchen auslöſchen.
Die eiſernen Stangen
wurden
nun wieder kalt und zogen ſich zuſammen und zwar
mit
ſolcher Gewalt, daß die von den Schraubenmuttern draußen
feſtgehaltenen
Wände dadurch genötigt waren einander näher
zu
rücken.
Hierauf wurden die Lämpchen wieder angezündet,
die
Stangen dehnten ſich wieder aus, die Schraubenmuttern
konnten
nun wiederum an das Gebäude feſtgeſchraubt werden
und
bei der nochmaligen Abkühlung der Stangen ſtellten ſich
die
Wände wieder ein wenig gerader, ſo daß nach wieder-
holtem
Erhitzen und Abkühlen der Stangen die dicken Mauern
wieder
vollkommen gerade aufgerichtet wurden.
Aber nicht nur Eiſen, ſondern alle Dinge in der Welt
dehnen
ſich in der Wärme aus und ziehen ſich in der Kälte
zuſammen
, ſelbſt wenn ſie noch ſo feſt und unbeweglich ſcheinen.
30816
Wer einmal Gelegenheit hat, die Berliner Sternwarte zu
beſehen
, der wird wahrnehmen, daß das große vorzügliche
Hauptfernrohr
nicht auf dem Boden ſteht, wo ſich der Be-
obachter
befindet, ſondern auf einer Säule aufgeſtellt iſt, die
tief
vom Fundament des Gebäudes hinaufgeführt wurde bis
zur
Beobachtungs-Kuppel;
und zwar iſt dieſe Säule ſo auf-
geführt
, daß ſie an keinem Punkte das Gebäude berührt,
ſondern
daß ein leerer Raum rings um ſie iſt.
Der Grund
hiervon
iſt folgender:
Alle Gebäude, alle Häuſer, alle noch ſo feſten Mauern
werden
durch die Wärme des Sonnenlichtes ausgedehnt und
ziehen
ſich, wenn die Sonne nicht ſcheint, wieder zuſammen.
So unmerklich dies für das Auge iſt, ſo weſentlich wird dies
gemerkt
, wenn man genaue aſtronomiſche Beobachtungen macht:

denn
mit dem Gebäude, das ſich hebt und ſenkt in der Wärme
und
Kälte, hebt und ſenkt ſich auch das Fernrohr, wenn es
auf
das Gebäude feſtgeſtellt iſt und zeigt dadurch nicht nach
einem
feſten Punkt des Himmelsgewölbes, den man beobachten
will
.
Da man nun bei genauen aſtronomiſchen Beobachtungen
das
Fernrohr auf eine unverſchiebbare Unterlage ſtellen muß,
ſo
iſt man in den guten Sternwarten genötigt, mindeſtens das
Hauptfernrohr
auf einer Säule aufzuſtellen, die nie vom
Sonnenlicht
getroffen wird und die auch nicht mit dem Ge-
bäude
in Berührung ſteht, welches wie feſt man es auch
bauen
mag doch ſtets durch Kälte und Wärme gedehnt und
zuſammengezogen
wird, und deshalb in einem ewigen, für das
Auge
freilich unſichtbaren, aber doch ganz unzweifelhaften Hin-
und
Herſchwanken begriffen iſt.
30917
VII. Woher die Wirkung der Wärme auf
die Atome ſtammt.
Nachdem wir nun geſehen haben, daß die Wärme eine ſo
bedeutende
Kraft beſitzt, Maſſen auszudehnen, und die Kälte
gewaltig
wirkt, um ſie zuſammenzuziehen, müſſen wir dem
Grund
dieſer Erſcheinung etwas weiter nachſpüren, um zu
ſehen
, ob wir hierdurch auf eine klare Vorſtellung über dieſe
Thatſachen
kommen können.
Die Atome einer Maſſe üben, wie wir geſehen haben,
einerſeits
eine Anziehung auf einander aus, ſo daß ſie nicht
ohne
großen Kraftaufwand von einander losgeriſſen werden
können
;
und andererſeits ſtoßen ſie ſich wieder ab, ſo daß man
ſie
ohne Kraftaufwand nicht einander näher rücken kann.
Hieraus
geht
hervor, daß in jeder Maſſe ein gewiſſes Gleichgewicht
zwiſchen
dieſen beiden Kräften obwaltet, und ſo lange dies der
Fall
iſt, wird ſich die Maſſe weder ausdehnen noch zuſammen-
ziehen
.
Wenn aber die Wärme eine Ausdehnung der Maſſe hervor-
bringt
, ſo iſt dies nur dadurch erklärlich, daß ſie die Eigen-
ſchaft
hat, die Anziehungskraft der Atome zu ſchwächen und
die
Abſtoßungskraft derſelben zu verſtärken.
In der Wärme
dehnen
ſich die Maſſen deshalb, weil durch ſie die Anziehungs-
kraft
geſchwächt und die Abſtoßung vermehrt wird.
Hierdurch
entfernen
ſich die Atome von einander und die Maſſe wird
größer
, ausgedehnter.
Entzieht man aber einem Körper die
Wärme
, das heißt, erregt man in ihm Kälte, ſo ſchwächt dies
die
Abſtoßungskraft und ſtärkt die Anziehungskraft der Atome,
und
deshalb ziehen die Atome ſich ſtärker an und drängen ſich
aneinander
, ſo daß die Maſſe ſich zuſammenzieht.
Vielfache Verſuche beweiſen, daß dieſe Erklärung voll-
kommen
richtig iſt.
Ja, ſie iſt ſo vollkommen richtig, daß
A. Bernſtein, Raturw. Volksbücher III.
31018
man auch die Gegenprobe anſtellen kann. Maſſen, welche
Wärme
in ſich aufnehmen, alſo gewiſſermaßen Wärme ver-
ſchlucken
, dehnen ſich nicht nur aus, ſondern Maſſen, welche
ſich
ausdehnen, verſchlucken auch Wärme in ſich.
Maſſen, aus
welchen
man die Wärme entfernt, drücken ſich nicht nur zu-
ſammen
, ſondern Maſſen, welche man zuſammendrückt, geben
auch
die Wärme von ſich.
Es iſt von der äußerſten Wichtigkeit, ſich dies vollkommen
klar
zu machen, denn obgleich dieſe Behauptungen in jeder
Naturlehre
zu finden ſind, giebt es doch unter hundert Leſern
oft
nicht einen, der ſich eine richtige Vorſtellung hiervon
machen
kann.
Wir müſſen deshalb die Sache noch etwas deutlicher dar-
zuſtellen
ſuchen.
Jeder Schmied, jeder Schloſſer, jeder Feuerarbeiter weiß
es
aus Erfahrung, daß ein Stück Eiſen durch Hämmern heiß
wird
, ja ſogar glühend gemacht werden kann.
Wo kommt aber dieſe Wärme her? Der Hammer war kalt,
der
Ambos war kalt und das Eiſen war kalt, wieſo iſt durch
das
Schlagen Hammer und Ambos warm und das Eiſen ſogar
heiß
und glühend geworden?
Wo hat denn dieſe Wärme ge-
ſteckt
, die jetzt entſchieden heraustritt?
Wenn wir bloß aus der Erſcheinung ſelbſt eine Antwort
auf
dieſe Frage geben ſollen, ſo könnte ſie wie folgt lauten:
Die Wärme hat früher im Eiſen geſteckt. Sie war ge-
wiſſermaßen
vom Eiſen verſchluckt und lagerte zwiſchen den
Atomen
, und weil dies ſo war, war die Wärme im Eiſen ver-
ſchloſſen
und deshalb eben fühlte ſich das Eiſen früher kalt
an
.
Das heißt, das Eiſen gab dieſe verſchluckte, verſchloſſene,
zwiſchen
den Atomen gelagerte Wärme nicht von ſich.
Hämmert
man
aber auf das Eiſen, ſo werden mit jedem Schlage des
Hammers
die Atome des Eiſens näher aneinander gepreßt, die
zwiſchen
ihnen lagernde Wärme wird hinausgedrängt.
31119 früher verſchloſſene Wärme tritt jetzt heraus, die Wärme wird
jetzt
fühlbar und ſichtbar.
Freilich haben wir bei dieſer Erklärung ſo gethan, als ob
die
Wärme eine Art Stoff wäre, der herausgepreßt wird.
Obgleich dieſe Anſicht nach den neueren Unterſuchungen als
falſch
erkannt iſt, ſo wollen wir ſie doch augenblicklich beibe-
halten
, da dieſe Vorſtellung das, was man latente oder in den
Maſſen
eingeſchloſſene Wärme nennt, ſehr erleichtert.
Später
wollen
wir einmal mit dem Leſer die jetzt übliche Anſicht über
die
Wärme beſprechen.
Alſo in Dingen, die ſich kalt anfühlen, kann eine gleichſam
verſteckte
Wärme durch Preſſen, Schlagen, Reiben oder nach-
haltiges
Drücken ſichtbar und fühlbar gemacht werden.
Was aber geſchieht, wenn man Dinge gewaltſam ausdehnt?
Dann ſaugen ſie Wärme in ſich ein, dann verſchlucken ſie
Wärme
aus der Umgebung und machen die Umgebung kalt.
Dieſe Thatſache läßt ſich auch an feſten Maſſen zeigen,
aber
beſſer noch an flüſſigen und luftförmigen.
Wenn man ſich ein wenig Schwefeläther oder Hoffmanns-
tropfen
, die aus Schwefeläther und Alkohol beſtehen, auf die
flache
Hand gießt, ſo verdunſtet die Flüſſigkeit ſchnell.
Sie
verwandelt
ſich in Gas, und nimmt jetzt einen bedeutend
größeren
Raum ein als früher, das heißt ſie dehnt ſich aus.
Hierbei aber wird man ein Gefühl von Kälte in der Hand
empfinden
, als ob man Eis drin hätte, denn bei der Ausdehnung
nimmt
die Maſſe eine Portion Wärme auf und entzieht dieſe
der
Umgebung, alſo auch der Hand.
Wird umgekehrt ein Gas zuſammengedrückt, ſo erwärmt
es
ſich.
Daher kann man durch ſtarkes Zuſammenpreſſen der
Luft
in einem verſchloſſenen Rohr eine ſolche Hitze erzeugen,
daß
ein Stückchen Schwamm, welches am Boden des Rohres
befeſtigt
iſt, zu brennen anfängt.
Aus all’ den und vielen andern Verſuchen geht mit
31220 Beſtimmtheit hervor, daß Maſſen, wenn ſie Wärme in ſich
aufnehmen
, ſich ausdehnen, und auch umgekehrt:
Maſſen, die
ſich
ausdehnen, Wärme aufnehmen und deshalb die Umgebung
abkühlen
.
Maſſen dagegen, welche Wärme von ſich geben,
ziehen
ſich zuſammen und auch umgekehrt:
Maſſen, die man
zuſammenpreßt
, laſſen aus ſich Wärme ausſtrömen.
Nach dieſer Darlegung werden wir im ſtande ſein, unſerm
eigentlichen
Thema, der Anziehung und Abſtoßung der Atome,
etwas
näher zu kommen.
VIII. Von der Anziehungs- und Abſtoßungskraft
der Atome.
Da es wahr iſt, daß Maſſen, welche Wärme in ſich auf-
nehmen
, ſich ausdehnen, ſo könnte jemand die Frage aufwerfen,
was
wird denn aus den Maſſen, welchen man immer mehr
und
mehr Wärme zuführt?
Würden ſie ſich unter ſolchen Um-
ſtänden
immer mehr und mehr ausdehnen und welche Geſtalt
würden
ſie hiernach annehmen?
Die Antwort hierauf iſt einfach und bereits durch die Er-
fahrung
gegeben.
Jedermann weiß, daß feſte Maſſen durch Wärme zum
Schmelzen
gebracht werden, das heißt, die Maſſe verliert durch
die
zunehmende Wärme ſo ſehr ihre Anziehung der Atome, daß
ſie
eine Flüſſigkeit wird.
Geſchmolzenes Blei, geſchmolzenes
Zink
, geſchmolzenes Eiſen ſind Dinge, die man alltäglich ſehen
kann
.
Dieſe feſten Maſſen, von denen ſich ſonſt ein Atom ſo
ſchwer
von dem andern trennt, werden durch Wärme flüſſig
wie
Waſſer und laſſen ſich jetzt beliebig gießen, trennen und
teilen
, als ob man Waſſer vor ſich hätte.
Was aber geſchieht, wenn man ſie noch weiter erhitzt?
Sie verlieren bei ſtärkerer Erhitzung auch noch die
31321 Kraft der Anziehung, welche zwiſchen den Atomen einer Flüſſigkeit
herrſcht
und verwandeln ſich in Gas, das ganz und gar ſeine
Atom-Anziehung
verloren hat und in welchem nur noch die
Abſtoßungskraft
der Atome thätig iſt.
Es verdient dieſes genauer gekannt zu werden und darum
wollen
wir uns deutlicher ausſprechen.
Die Erfahrung lehrt es, daß man Eis durch Wärme in
Waſſer
verwandeln und Waſſer durch Wärme zu Dampf werden
laſſen
kann.
So ganz verſchieden nun Eis und Waſſer und
Dampf
in ihrem Anſehen und ihrer Natur ſind, ſo weiß es
doch
ſchon jedes Kind, daß ſie aus ein und demſelben Stoff
beſtehen
, daß die Atome immer dieſelben ſind und ihr ver-
ändertes
Weſen nur den veränderten Eigenſchaften dieſer Atome
zu
verdanken haben.
Hat man durch Wärme Eis in Waſſer verwandelt, ſo
haben
die Atome des Eiſes den bedeutendſten Teil ihrer
Anziehungskraft
verloren, aber dieſe Anziehungskraft iſt doch
nicht
völlig vernichtet.
Es wird ſchon jedermann beobachtet haben, daß zwei
Tröpfchen
Waſſer, die man nahe aneinander bringt, ſich an-
ziehen
und ſich zu einem Tropfen vereinigen.
Man ſieht dies
recht
deutlich, wenn man zwei Finger in Waſſer taucht und die
daran
hängenden Tropfen einander nähert, die Tropfen fließen
mit
einer gewiſſen Haſt aneinander und bleiben als ein einziger,
vereinigter
Tropfen zwiſchen den Fingern hängen, woraus man
wahrnehmen
kann, daß ſie mit einer Anziehungskraft begabt
ſind
, welche die Atome des Waſſers vereinigt.
Ganz anders aber verhält es ſich, wenn man Waſſer in
Dampf
verwandelt.
Auch dieſe Verwandlung geſchieht, wie
wir
wiſſen, nur durch Wärme.
Führen wir dem Waſſer Wärme
zu
, ſo kocht es, das heißt, es nehmen die Atome des Waſſers
Luft-Geſtalt
an und bekommen auch die Eigenſchaft der Luft-
Atome
, nämlich die Eigenſchaft, daß ihre Anziehungskraft
31422 und gar nicht mehr hervortritt und nur die Abſtoßungskraft
thätig
iſt, ſo daß die Atome ſich vollſtändig zu fliehen anfangen
und
nur mit Gewalt aneinander gehalten werden können.
Eine ähnliche Erſcheinung, die das Geſagte deutlicher
machen
wird, ſtellt uns ein elektriſcher Verſuch dar, welchen
uns
Fig.
1 veranſchaulicht. Wir wiſſen ja, daß auch Körper,
die
mit gleicher Elektrizität geladen ſind, ſich gegenſeitig ab-
55[Figure 55]Fig. 1. ſtoßen.
Ladet man nun einen Büſchel
von
Seidenpapier-Streifen oder Hol-
lundermark-Kügelchen
mit einer Sorte
von
Elektrizität, ſo ſuchen die einzelnen
Kügelchen
möglichſt weit von allen
anderen
fortzuſtreben, und ſo nehmen
ſie
denn die eigentümliche Stellung ein,
welche
unſere Figur veranſchaulicht.
Hier ſind nur noch abſtoßende und gar
keine
anziehenden Kräfte mehr thätig,
und
genau ebenſo verhält es ſich mit
den
Atomen in gasförmigen Körpern.
Wie wunderbar dieſe Abſtoßungs-
kraft
thätig iſt, davon geben Verſuche
mit
Luftarten intereſſante Beiſpiele.
Wenn man ein großes Gefäß voll-
kommen
luftleer gemacht hat, was durch
eine
Luftpumpe bewerkſtelligt werden
kann
, ſo ſollte man glauben, daß, wenn man nur ein ganz
klein
wenig Luft in das Gefäß hineinläßt, dieſes bißchen Luft
irgendwo
liegen bleiben und ſich nicht im ganzen Gefäß aus-
breiten
würde.
Aber dies iſt nicht der Fall. Mag das Gefäß
noch
ſo groß, und mag das bißchen Luft noch ſo gering ſein,
ſo
dehnt ſich dies bißchen Luft doch nach allen Seiten des Ge-
fäßes
aus und verteilt ſich gleichmäßig in dem ganzen Raume.
Offenbar rührt dies nur davon her, daß die Atome der
31523 ſich gegenſeitig abſtoßen und deshalb ſo weit auseinanderfliehen,
wie
es nur der Raum geſtattet.
Ganz dasſelbe iſt mit jedem Gas, mit jedem Dampf der
Fall
.
In Gaſen und Dämpfen herrſcht nur die Abſtoßungskraft
der
Atome, während die Anziehungskraft derſelben durch die
aufgenommene
Wärme vollkommen unterdrückt iſt.
Und wenn
wir
nun verſichern, daß Verſuche gezeigt haben, wie Eiſen und
ſonſtige
Metalle durch Hitze nicht nur flüſſig, ſondern auch bei
Fortſetzung
der Erhitzung in Dampf verwandelt werden;
und
wenn
wir hinzufügen, daß dieſer Dampf ebenfalls jene unge-
heure
Ausdehnungskraft beſitzt, die den Luftarten eigen iſt, ſo
wird
ein wenig Nachdenken jeden unſerer Leſer ſchon von ſelber
dahin
führen, eine große Wahrheit der Naturwiſſenſchaft zu
erkennen
, welche wir nunmehr näher ausſprechen wollen.
IX. Wodurch die Dinge feſt, oder flüſſig, oder
gasartig erſcheinen.
Dieſe naturwiſſenſchaftliche Wahrheit, von welcher wir
glauben
, daß der nachdenkende Leſer ſchon von ſelber darauf
gekommen
ſein wird, iſt folgende:
Es giebt in der Welt keine Maſſen, die ihrem innerſten
Weſen
nach feſt oder flüſſig oder gasförmig ſind, ſondern der
jeweilige
Zuſtand, in dem ſie uns erſcheinen, hängt nur ab
von
dem Grad der Wärme, den ſie in ſich aufgenommen haben.
Wenn man ſagt: Eiſen iſt eine feſte Maſſe und Waſſer
iſt
eine flüſſige Maſſe und Luft iſt eine gasförmige Maſſe, ſo
iſt
dies nur richtig, wenn man hinzufügt, ſie ſind es bei der
gewöhnlich
herrſchenden Temperatur
.
Denkt man ſich
alle
Wärme fort, ſo verwandeln ſich ganz ohne Zweifel alle Gaſe
in
Flüſſigkeiten und dann in feſte Maſſen und es gäbe dann
garnichts
in der Welt, das nicht feſt wäre.
Umgekehrt,
31624 man ſich die Wärme geſteigert, ſo verwandelt ſich jede Flüſſig-
keit
in Gas, ſo ſchmilzt jeder feſte Körper und wird erſt eine
Flüſſigkeit
, um ſich bei weiterer Wärme in eine luftartige
Maſſe
zu verwandeln.
So weit es der Naturwiſſenſchaft gelungen iſt, Verſuche
mit
Wärme und Kälte anzuſtellen, hat ſich dies vollkommen
bewahrheitet
.
Die Naturwiſſenſchaft lehrt künſtlich einen außerordentlich
hohen
Grad von Wärme und ebenſo einen ſehr hohen Grad
von
Kälte erzeugen.
Den höchſten Grad von Wärme erzeugt
man
jetzt durch das elektriſche Licht (ca.
3500°). Wir wiſſen
jetzt
, daß ſelbſt der Thon, aus welchem wir bekanntlich unſere
Öfen
machen und von dem man ſonſt glaubte, daß er un-
ſchmelzbar
ſei, wie Wachs zuſammenſchmelzen und eine Flüſſig-
keit
werden kann, wenn die Temperatur genügend hoch ge-
ſteigert
wird.
Wäre es möglich, die Temperatur noch höher
zu
ſteigern, ſo würde auch der Thon zweifellos ſchließlich in
gasförmigen
Zuſtand zu bringen ſein.
Man kann daher mit vollſter Sicherheit annehmen, daß
es
gar keinen Stoff giebt, der abſolut feſt wäre und es auch
in
allen Arten von Hitze bliebe.
Die Hitze macht alle feſten
Maſſen
flüſſig;
wenn alſo irgend eine Maſſe feſt iſt, ſo iſt ſie
nicht
von Natur aus feſt, ſondern nur deshalb, weil es nicht
heiß
genug iſt, ſie zu ſchmelzen und flüſſig zu machen.
Alle
Flüſſigkeiten
können durch Hitze in Gas verwandelt werden.
Wenn wir alſo jetzt eine Flüſſigkeit ſehen, ſo können wir
durchaus
nicht ſagen, es ſei dieſe ihrer Natur nach flüſſig,
ſondern
ihre flüſſige Eigenſchaft hängt nur von dem Umſtand
ab
, daß es nicht warm genug iſt, um ſie in Gas zu verwandeln.
Ganz ebenſo aber, wie die Wärme alle feſten Körper
flüſſig
und alle Flüſſigkeiten gasförmig macht, ebenſo vermag
die
Kälte ganz unzweifelhaft alles in der Welt in feſte Maſſen
zu
verwandeln.
31725
Die größte künſtliche Kälte, die bisher erzeugt worden iſt,
belief
ſich auf circa 250 Grad Celſius.
In dieſer Kälte
wird
Queckſilber ſo hart, daß man es hämmern kann.
Äther,
Alkohol
, und ſonſtige Flüſſigkeiten, die man niemals glaubte
in
feſte Maſſen verwandeln zu können, erſtarren zu zähen
Maſſen
.
Ja ſelbſt unſere Luft wird in dieſer Kälte zu einer
Flüſſigkeit
.
Die Stoffe können alſo alle entweder feſt oder flüſſig oder
gasförmig
ſein, je nach der Wärme, der ſie augenblicklich aus-
geſetzt
ſind.
X. Die Verflüſſigung der Luft.
Erſt ganz kürzlich (1896) iſt es den Bemühungen der Herren
Linde und Dewar durch ein ſinnreiches Verfahren gelungen,
die
Luft in größeren Mengen auf einfache und billige Weiſe
zu
verflüſſigen.
Da dieſe Thatſache in der neueſten Zeit ein
beſonderes
Aufſehen erregt hat, ſei über das Verfahren hier ein
Kapitel
eingeſchaltet.
Wir ſehen in C (Fig. 2) eine Druckvorrichtung, die ge-
ſtattet
, die atmoſphäriſche Luft in p2 unter Zuführung von
Erſatzluft
durch a auf den Druck p1 zuſammenzudrücken.
Dieſe
Luft
bewegt ſich durch den Kühler R, wobei ſie die Temperatur t1
erhält
und betritt alsdann den weſentlichſten Teil des Apparates,
den
Gegenſtromkühler.
Nichts Einfacheres als dieſer: Zwei Röhren von ver-
ſchiedenem
Durchmeſſer in einandergeſteckt, ſpiralig aufgewunden,
das
iſt der Kernpunkt der Lindeſchen Maſchine.
Unſere komprimierte Luft vom Drucke p1 mit der zuge-
hörigen
Temperatur t1 durchfließt das engere Rohr, d.
h. den
inneren
Gang des Gegenſtromkühlers, in dem ſie auf t2 ab-
gekühlt
wird und ſtrömt bei r in das Sammelgefäß ein.
31826 plötzliche Ausdehnung der ſtark zuſammengepreßten Luft beim
Betreten
des Sammelraumes iſt von einer bedeutenden Ab-
kühlung
begleitet, die eine Temperaturerniedrigung des Gas-
gemiſches
auf t3 zur Folge hat.
Jetzt zwingt die Anordnung
des
Apparates die Luft von der Temperatur t3 ihren Rückzug
zur
Druckvorrichtung durch den äußeren Gang des Gegenſtrom-
56[Figure 56]Fig. 2.P1 t1 P2 H R a t3 t2 C r G kühlers zu nehmen;
ſie
wirkt
hierbei, wie leicht
erſichtlich
, abkühlend auf
die
ihr im inneren Rohre
entgegenſtrömende
Luft
ein
.
Die wechſelſeitige Be-
einfluſſung
von der mil-
deren
Temperatur t3 auf
die
höhere t2 während
eines
beſtändigen Kreis-
laufs
hat nun ein Sinken
des
Temperaturzuſtan-
des
im Gefolge, bis die
kritiſche” Temperatur
erreicht
iſt, und die Luft
bei
dem herrſchenden
Drucke
ſich zu verflüſſi-
gen
beginnt.
Die Zeit-
ſpanne
, die bis zur Ver-
flüſſigung
der Luft verſtreicht, hängt natürlich von äußeren Ein-
flüſſen
und von den Größenverhältniſſen des Apparates ab.
Die Entnahme der ſo erhaltenen Flüſſigkeit kann jetzt nach
Wunſch
aus einem am Sammelgefäß paſſend angebrachten
Hahn
von beſonderer Konſtruktion geſchehen.
Profeſſor Linde
füllt
die flüſſige Luft zur Aufbewahrung in zweckgemäße doppel-
wandige
Glasflaſchen ein.
Der Hohlraum zwiſchen den
31927 wänden iſt möglichſt luftleer gemacht und dann mit wenig
Queckſilber
beſchickt;
in der Luftleere verdampft das Metall,
um
ſich auf der kalten Wand des Glasgefäßes in dünner
Schicht
abzulagern.
Der metalliſche Belag hindert die Wärme-
ſtrahlung
, die Leere die Wärmeleitung, ſo daß etwa nur ein
Dreißigſtel
von derjenigen Wärme in das Gefäß eintritt, die
unter
den zeitweilig herrſchenden Bedingungen hineingelangen
würde
.
Da die Verflüſſigung des Stickſtoffs bei einer Tempe-
ratur
eintritt, die um 10° tiefer liegt, als die Verflüſſigungs-
Temperatur
des Sauerſtoffs, ſo ergiebt ſich keineswegs eine
Flüſſigkeit
, die das prozentige Gemiſch von Sauerſtoff und
Stickſtoff
unſerer Atmoſphäre vorſtellt, ſondern ein an Sauerſtoff
reicheres
Gemenge.
Die ſchwach blaue Farbe des flüſſigen Ge-
miſches
einerſeits (flüſſiger Sauerſtoff iſt blau, flüſſiger Stickſtoff
iſt
farblos), das lebhafte Aufflammen eines glimmenden Holz-
ſpahns
beim Eintauchen in das Gemiſch andererſeits zeugen
für
den Sauerſtoffreichtum.
Auf die bedeutende Kälte der
Flüſſigkeit
weiſt die Nebelbildung der umgebenden Luft;
Alkohol
und
Queckſilber gefrieren bei der Einwirkung der Flüſſigkeit;
die lebhafte Verdunſtung an der Atmoſphäre beim Eingießen
desſelben
in eine Emailleſchale veranlaßt die intereſſante Er-
ſcheinung
desLeidenfroſtſchen Phänomens”:
Die Flüſſigkeit
gerät
in ſtürmiſche Bewegung, wie ein kalter Waſſertropfen auf
einer
heißen Platte, die ſich aber allmählich durch die Abkühlung
der
Schale ſchwächt und ſchließlich ganz verliert.
Eine Abänderung des beſchriebenen Apparates geſtattet,
mechaniſch
eine annähernde Trennung des atmoſphäriſchen
Gasgemiſches
in ſeine Beſtandteile, Sauerſtoff und Stickſtoff,
herbeizuführen
.
Das Prinzip zur Erreichung dieſes Reſultates war Linde
durch
die Erkenntnis gegeben, daß beim Verdampfen verflüſſigter
Gasgemiſche
zunächſt der flüchtigere Beſtandteil in den
32028 förmigen Zuſtand zurückkehrt. Die Anordnung der Maſchine
iſt
ſo getroffen, daß die Gaſe möglichſt die zu ihrer Ver-
flüſſigung
aufgewendete Kälte im Apparate hinterlaſſen, ſodaß
ſie
beim Auſtritt aus demſelben annähernd die derzeitig herr-
ſchende
Temperatur beſitzen.
57[Figure 57]Fig. 3.a o n N O O N b S r1 r2
Die zuſammengedrückte Luft betritt
nach
Durchgang durch den Kühler ein
Rohr
, das ſich bei a (Fig.
3) in zwei
Gegenſtromapparate
N und O ver-
zweigt
;
die inneren Rohre treten wieder
zuſammen
und leiten die wiederver-
einigte
Luft durch die Kühlſchlange des
Sammelgefäßes
, in das ſie ſchließlich
bei
r1 unter Ausdehnung einſtrömt.
Das Fließen der zuſammengedrückten
Luft
von der Temperatur t2 durch die
Kühlſchlange
bedingt eine Temperatur-
erhöhung
der im Sammelgefäß bereits
verflüſſigten
Gaſe, der Stickſtoff als
der
flüchtigere Beſtandteil beginnt zu
verdampfen
, ſteigt durch den äußeren
Mantel
von N empor, giebt ſeine Kälte
der
ihm im inneren Mantel von N
entgegenſtrömenden
Luft ab und ver-
läßt
bei n den Apparat.
Die nunmehr ſauerſtoffreiche Flüſ-
ſigkeit
fängt an in dem äußeren Mantel
von
O emporzuſteigen, verdampft, giebt ihre Kälte ebenfalls
an
die ihr entgegenſtrömende Luft des inneren Rohres ab und
tritt
bei o als mehr oder minder reiner Sauerſtoff aus.
Der unſchätzbare Wert des Verfahrens liegt darin, daß
es
der Zukunft eine Handhabe für die billige Gewinnung
techniſch-reinen
Sauerſtoffs bietet.
Zur Belebung nach
32129 zum Eindicken von Ölen, zum Bleichen, in der Glas- und
Metallinduſtrie
erfreut ſich der komprimierte Sauerſtoff eines
von
Jahr zu Jahr zunehmenden Konſums.
Nach den Reſul-
taten
der vorgenommenen Verſuche vermag eine Pferdekraft
5
cbm Luft von Atmoſphärendruck und gewöhnlicher Tempe-
ratur
in dem Zeitraum einer Stunde in Stickſtoff und Sauer-
ſtoff
zu zerlegen.
XI. Der Ginfluß der Wärme auf die Atome.
Um die Wichtigkeit einzuſehen, welche in der Kenntnis
des
Einfluſſes der Wärme auf alle vorhandenen Maſſen liegt,
müſſen
wir den Blick weit hinaus auf die Entſtehung aller
feſten
Maſſen, auf die Entſtehung der ganzen Erde richten.
Es iſt keinem Zweifel unterworfen, daß die Erde einmal
ganz
und gar flüſſig geweſen iſt.
Hieraus aber folgt, daß der Raum, durch welchen die
Erde
ſich bewegt, daß der Weltraum kalt iſt, ſonſt könnte ſich
ja
die Erde nicht darin ſo abgekühlt haben, daß ſie vollkommen
feſt
geworden iſt.
Dieſe Kälte des Weltraumes beträgt aber
nach
den neueſten Forſchungen mindeſtens 150 Grad, viel-
leicht
ſogar mehr als 200 Grad Celſius.
Dennoch waren
ſicher
viele, viele Millionen Jahre nötig, um die feuerflüſſige
Erdkugel
ſo weit abzukühlen, daß ſie feſt wurde.
Geht man nun noch weiter zurück auf die Geſchichte der
Entſtehung
der Erde, ſo gerät man auf die Vermutung, daß
ſie
einſt nur eine ungeheure Gaskugel war, deren Atome in
einer
durch die Wiſſenſchaft noch nicht zu erklärenden Weiſe ſich
angeſammelt
haben.
Erſt nach dieſer Epoche wurde durch die
Abkühlung
im Weltraume dieſe Gaskugel nach und nach eine
flüſſige
, feurige Kugel von bedeutend kleinerem Umfang, aus
welcher
ſich dann wieder unſere heutige feſte Erdkugel bildete.
Es entſteht nun aber hierbei folgende Frage: Alle
32230 herigen Verſuche haben gezeigt, daß, wenn einmal Maſſen
ſoviel
Wärme in ſich aufgenommen haben, daß ſie gasförmig
werden
, die Atome keine Anziehung auf einander äußern, es
herrſcht
vielmehr eine Abſtoßungskraft zwiſchen dieſen Atomen
vor
, und die Atome entfernen ſich von einander, ſo wie es eben
der
Raum geſtattet.
Nimmt man alſo an, daß die Erde einmal
nur
eine ungeheure Gaskugel geweſen iſt, ſo fragt es ſich,
weshalb
haben ſich die Atome derſelben nicht durch den ganzen
Weltraum
zerſtreut?
Weſhalb überwog nicht die Abſtoßungs-
kraft
, die in ſolchem Falle vorherrſcht, derart, daß eine voll-
ſtändige
Auflöſung der Erde erfolgte?
Die Antwort hierauf iſt folgende:
Es giebt außer der Anziehungskraft der Atome, die wir
bisher
kennen gelernt haben, eben noch andere Anziehungskräfte,
welche
dem unendlichen Zerſtreuen gasförmiger Maſſen eine
Grenze
ſetzen, und namentlich giebt es eine Anziehungskraft,
welche
in zwei weſentlichen Punkten von der bisher be-
ſprochenen
Anziehungskraft der Atome verſchieden iſt.
Von der Anziehungskraft, die wir bisher beſprochen haben,
wiſſen
wir, daß ſie nur zwiſchen Atomen wirkt, welche ſehr
nahe
aneinander gerückt ſind.
Wenn ein Stück Eiſen eine
Feſtigkeit
hat und ſeine Atome alſo ſich gegenſeitig anhaften,
ſo
wiſſen wir, daß dies aufhört, ſobald man mit Gewalt das
Stück
zerbrochen oder ein Stück davon in irgend einer anderen
Weiſe
getrennt hat.
Die Atome, einmal auseinander geriſſen,
vereinigen
ſich nicht wieder, wenn man ſie aneinander bringt,
weil
man nicht im ſtande iſt, ſie ſtark genug aneinander zu
preſſen
, um ſie wieder ſo nahe aneinander zu bringen, daß ſie
ſich
anziehen können.
Die Anziehungskraft zwiſchen Atom und
Atom
wirkt nur, wenn ſie ſich außerordentlich nahe ſind, hat man
ſie
aber von einander entfernt, ſo hört dieſe Anziehung auf zu
wirken
.
Wenn zwei Waſſertropfen ſich berühren, ſpringen ſie
in
einander und bilden einen einzigen Tropfen;
aber
32331 die Berührung nicht ſtattfindet, ziehen ſie nicht einander durch
ihre
Atom-Anziehung an.
Ganz anders aber iſt es mit der neuen Anziehungskraft,
die
wir nunmehr kennen lernen werden;
ſie wirkt bis in un-
endliche
Entfernungen und übt ihren Einfluß, wie wir ſehen
werden
, auf unzählige Millionen Meilen aus.
Der zweite Unterſchied liegt darin, daß die Atom-An-
ziehung
, wie wir geſehen haben, abhängig iſt von der Wärme,
während
die Anziehungskraft, die wir jetzt betrachten wollen,
durch
Wärme weder geſteigert noch geſchwächt wird.
XII. Die Anziehungskraft der Maſſen.
Dieſe neue Anziehungskraft iſt die Anziehung, die Maſſen
auf
einander ausüben.
Man bezeichnet ſie wiſſenſchaftlich mit
dem
NamenGravitation” oder in Bezug auf die Anziehung
der
Erdedie Schwere.
Wunderbar iſt es, daß in der Menſchengeſchichte viele
Jahrtauſende
vorübergingen, ohne daß die Denker eine Ahnung
hatten
von dieſem Geſetz der Anziehung, obgleich alles, was
auf
der Erde ſteht und geht, ſich regt und bewegt, einzig und
allein
durch die Anziehung der Erde ſeinen Beſtand hat.
Wenn man bedenkt, daß alles in der Welt dieſer An-
ziehungskraft
ausgeſetzt iſt und dennoch Tauſende und Tauſende
von
Menſchengeſchlechtern auf der Erde gelebt haben ohne
eine
Ahnung dieſer unendlichen Kraft, ſo möchte man die
Menſchheit
vergleichen mit einem Kinde, welches auf einem
Seeſchiff
geboren und erzogen an das ewige Schaukeln ſeines
Wohnorts
ſo gewöhnt iſt, daß es ſich darüber gar nicht
wundert
, dafür aber im höchſten Grade erſtaunt iſt, wenn es
ans
Land gebracht wird und nun durchaus erforſchen will,
weshalb
das Feſtland nicht hin und her ſchaukelt.
32432
Tauſende und Abertauſende von Menſchengeſchlechtern haben
nur
darum keine Ahnung von dieſer Anziehungskraft gehabt,
weil
jeder einzelne Menſch von dem erſten Augenblick der
Geburt
bis zum letzten des Todes ſich und alles ringsumher
dem
Geſetze der Anziehung gehorchen ſah.
Sie ahnten dieſe
allmächtige
Kraft nicht, gerade weil ſie nie Gelegenheit hatten
etwas
zu ſehen, worauf dieſe Kraft nicht wirkt.
Die Ge-
wöhnung
an die Erſcheinung dieſer Kraft ließ ſie, wie es ja
auch
in andern Dingen ſo oft geſchieht, gar nicht vermuten,
daß
eine ſolche Kraft vorhanden iſt.
Darum aber hält es auch jetzt noch ſchwer, einem Menſchen,
der
noch nichts von dieſer Anziehungskraft vernommen, die-
ſelbe
deutlich zu machen, obgleich nichts in der Welt exiſtiert,
das
nicht ein Beweis dieſer Kraft iſt.
Warum fällt ein Stein, den man von der Erde aufhebt
und
losläßt, wieder in gerader Linie zurück zur Erde?
Die
unwiſſenden
Naturphiloſophen des Mittelalters ſagten, daß
das
am Steine liege.
Derſelbe ſei von der Erde genommen
und
habe deshalb das Beſtreben zur Erde zurückzukehren.
Jetzt weiß man es beſſer. Nicht durch die Naturphiloſophen,
denn
dieſe ſpielen teilweiſe noch heutigen Tages mit ähnlichen
thörichten
Gedanken, wie die des Mittelalters, ſondern durch
die
Naturforſcher, die erkannt haben, daß es nicht am Stein
liege
und nicht von der Sehnſucht desſelben nach ſeinem Ur-
ſprunge
abhänge, ſondern daß es die Anziehungskraft der
Erde
iſt, die den Stein und wie den Stein auch jede andere
Maſſe
anzieht, die ſich auf derſelben befindet.
Die Anziehungskraft der Erde iſt es, welche es bewirkt,
daß
die Erdkugel von allen Seiten bewohnt und belebt werden
kann
, daß Menſchen und Tiere ſich auf ihr bewegen können,
obgleich
die Menſchen und Tiere auf der einen Seite der
Kugel
gerade umgekehrt gehen und ſtehen als auf der andern.
Hätte die Erde keine Anziehungskraft, ſo würde jeder
32533 der in die Höhe geworfen wird, ſich in den unendlichen Raum
fort
und fort bewegen und nie zur Erde zurückkehren.
Ja
jedes
Tier, jeder Menſch würde durch den leiſeſten Sprung
ſich
von der Erde fortbewegen und niemals zu ihr wieder
herabkommen
.
Die Anziehungskraft der Erde iſt es, die den
Regen
, Schnee und Hagel, wie den Vogel, der in der Luft
ſchwebt
, abwärts zieht.
Die Anziehungskraft der Erde iſt es,
die
alle Gewäſſer von den Höhen nach der Tiefe zieht und
dort
große Meere über den Tiefen bildet.
Die Anziehungs-
kraft
der Erde iſt es, die es verhindert, daß nicht der leiſeſte
Wind
Häuſer und Berge aus ihren Fundamenten hebt und
fortträgt
.
Die Anziehungskraft der Erde iſt es, die jedes
Sonnenſtäubchen
zu Boden ſinken läßt und die Anziehungskraft
der
Erde iſt es, die den Mond in einer Entfernung von
50
000 Meilen in ſeiner Bahn feſthält und es bewirkt, daß er
ſich
nicht in dem Weltraum verliert.
Wir werden dieſe Anziehungskraft näher kennen zu lernen
ſuchen
, die nicht nur zwiſchen Erde und Mond, ſondern auch
zwiſchen
Erde, Mond und Sonne herrſcht, zwiſchen der Sonne
und
allen ihren Planeten, ja zwiſchen der Sonne und ſämt-
lichen
Sonnen des unendlichen Raumes, ſämtlichen Sternen,
die
am nächtlichen Himmel ihr Licht bis zu unſerm Auge
ſenden
.
Wir werden dieſe Kraft näher kennen lernen, die auch
noch
in den Fernen wirkt, von denen der menſchliche Geiſt ſich
keine
bildliche Vorſtellung mehr machen kann und dann werden
wir
ſehen, daß trotz ihrer großartigen, in die fernſten Fernen
ſich
kund thuenden Wirkungen dieſe Kraft doch wahrſcheinlich
nur
ihren Sitz hat in den unendlich kleinen Atomen der Maſſe,
die
wir bereits kennen gelernt haben.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher III. # 3
32634
XIII. Wie die Anziehung der Erde mit der
Entfernung abnimmt.
Der mächtige Geiſt des großen engliſchen Naturforſchers
Iſaac Newton (ſprich:
Njuten, 1643—1727), der eben die
Anziehungskraft
der Erde und aller Himmelskörper bewieſen hat,
hat
auch zugleich das Maß beſtimmt, nach welchem die An-
ziehung
abnimmt in der Entfernung, und dieſes von Newton
bereits
vor zweihundert Jahren (1682) entdeckte Geſetz hat
ſich
nicht nur bis jetzt beſtätigt gefunden, ſondern es iſt die
Grundquelle
der ganzen aſtronomiſchen Wiſſenſchaft.
Nach dieſem Geſetz iſt die Anziehungskraft deſto größer,
je
größer die Maſſen ſind.
Die Erde beſitzt eine große An-
ziehungskraft
, weil ſie eine große Maſſe iſt.
Würde durch
irgend
welchen Umſtand die Erde einen Teil ihrer Maſſe ver-
lieren
, ſo würde in demſelben Verhältnis ihre Anziehungskraft
ſchwächer
werden.
Würde die Hälfte der Erde irgendwie ver-
loren
gehen, ſo würde der Erde nur die Hälfte der Anziehungs-
kraft
verbleiben.
Ein Planet, der nur den dritten Teil der
Maſſe
beſitzt, die die Erde hat, hat auch nur ein Drittel ihrer
Anziehungskraft
.
Der Mond, der achtzigmal weniger Maſſe
hat
als die Erde, beſitzt auch nur den achtzigſten Teil ihrer
Anziehungskraft
.
Die Maſſe der Sonne, die 355000 mal größer
iſt
als die Erde, giebt ihr auch eine 355000 mal ſtärkere An-
ziehungskraft
, als die Erde beſitzt.
Aber all’ dies gilt nur, wenn es ſich um die Anziehungs-
kraft
eines Gegenſtandes handelt, der von den anziehenden
Maſſen
gleich weit entfernt iſt;
ändert ſich die Entfernung, ſo
ändert
ſich auch die Anziehungskraft;
und zwar nach einem
Geſetz
, das wiſſenſchaftlich mit den wenigen Worten ausgedrückt
wird
:
die Anziehungskraft nimmt ab quadratiſch mit der
Entfernung
.
Es verdient dieſes Geſetz von All’ und Jedem,
32735 im allgemeinen begriffen zu werden und deshalb werden wir
es
deutlicher zu machen ſuchen.
Denken wir uns auf dem Tiſch eine feſte Kugel, welche
eine
gewiſſe Anziehungskraft beſitzt, und legen wir eine zweite
Kugel
einen Fuß weit entfernt von ihr nieder, ſo wird dieſe
zweite
Kugel von der erſten angezogen werden.
Legen wir
nun
eine dritte Kugel auf den Tiſch und zwar zwei Fuß von
der
erſten entfernt, ſo wird auch dieſe dritte Kugel von der
erſten
angezogen werden, aber weit ſchwächer als die zweite.
Die Anziehungskraft hat mit der Entfernung abgenommen.
So
weit wird wohl jedermann die Sache einleuchtend finden;

aber
wenn man fragt:
gut, die entferntere Kugel wird
ſchwächer
angezogen als die nahe;
aber um wieviel wird ſie
ſchwächer
angezogen?
ſo wird höchſt wahrſcheinlich jeder
denken
:
nun, die eine Kugel iſt einen Fuß von der anziehen-
den
Kugel, die andere aber iſt zwei Fuß, alſo zweimal ſo
weit
entfernt von derſelben, folglich wird die Anziehung auf
die
entfernte Kugel auch zweimal ſo ſchwach als auf die erſte
wirken
!
Das aber iſt ein Irrtum. Newton hat bewieſen, daß
die
Anziehung auf die Kugel, die zweimal ſo entfernt iſt,
viermal ſchwächer wirkt.
Würde ſie drei Fuß entfernt liegen,
ſo
würde ſie neunmal ſchwächer angezogen werden als die
Kugel
, die nur einen Fuß von der anziehenden Kugel entfernt iſt.
Läge ſie viermal ſo weit entfernt, ſo würde ſie ſechszehnmal
ſo
ſchwach angezogen werden.
Mit einem Worte: Mit jedem
Fuß
Entfernung würde die Schwäche der Anziehung wachſen
und
zwar ſo wachſen, wie das Maß der Entfernung, mit ſich
ſelbſt
multipliziert, wächſt.
Bei zweimaliger Entfernung wird
die
Anziehung viermal ſchwächer, da zwei mal zwei vier iſt.

Bei
dreimaliger Entfernung wird die Anziehung neunmal
ſchwächer
, da drei mal drei neun iſt.
Bei viermaliger Ent-
fernung
wird die Anziehung ſechszehnmal ſchwächer, da
32836 mal vier ſechszehn iſt. Und ſo weiter bei jedesmaliger Ent-
fernung
wird die Anziehungskraft um ſo viel verlieren, als die
Entfernungszahl
, mit ſich ſelbſt multipliziert, beträgt;
oder wie
man
es wiſſenſchaftlich ausdrückt, ſo viel wie das Quadrat der
Entfernung
beträgt.
Der aufmerkſame Leſer wird ſich erinnern,
daß
dies Geſetz vom Quadrat der Entfernung auch für die
Abnahme
der Intenſität einer Lichtquelle galt (ſiehe Teil 1,
Seite
52).
Und dies Geſetz, das Newton entdeckt hat, beſtätigt ſich
aufs
vollſtändigſte durch das ganze Bereich der Natur.
Dies
Geſetz
hat ſich an allen Bewegungen der Himmelskörper be-
währt
, ſelbſt an ſolchen, von denen man zu Newton’s Zeit
gar
keine Ahnung hatte.
Ja es iſt dies ein Geſetz, das nicht
nur
in Bezug auf die Erde, auf den Mond, auf die Sonne,
auf
die Planeten und Kometen vollkommene Geltung hat,
ſondern
auch in den unendlichen Fernen der Fixſterne hat man
in
dieſem Jahrhundert Doppelſterne entdeckt, wo zwei Sonnen
ſich
umeinander bewegen, indem ſie ſich ſtets gegenſeitig an-
ziehen
.
Auch dieſe Anziehungen, die in ſo entlegenen Strecken
vor
ſich gehen, daß jeder Begriff ſolcher Ferne dem menſchlichen
Geiſt
entſchwindet, auch dieſe Anziehungen folgen dem Geſetz
Newton’s
, das wir hier in den allgemeinſten Zügen deutlich zu
machen
ſuchten.
XIV. Allgemeine Betrachtung über den Fall der
Körper.
Wir wollen die Anziehungskraft der Maſſen noch etwas
näher
kennen lernen und hierzu die Geſetze des Falles
deutlich
zu machen ſuchen, die gewiß für jeden denkenden
Leſer
höchſt intereſſant ſein müſſen.
Wir wiſſen, daß es die Anziehungskraft der Erde
32937 welche es bewirkt, daß alle Dinge, die man in der Höhe frei
ſich
ſelbſt überläßt, zur Erde herabfallen.
Es wird ferner
ſchon
jeder beobachtet haben, daß ein Stein, der aus dem Fenſter
des
erſten Stockwerkes auf die Erde fällt, weit weniger kräftig
aufſchlägt
als ein Stein, der vom Dach fällt, und daß er erſt
langſam
zu fallen anfängt und dann mit immer wachſender
Geſchwindigkeit
zur Erde ſtürzt.
Das alles ſind ganz richtige Wahrnehmungen, und ſie ſind,
wie
wir zeigen werden, durch die Geſetze der Anziehung der
Erde
begründet.
Durch dieſe Geſetze aber iſt das Fallen der
Körper
derart genau beſtimmt, daß man mit vollkommenſter
Gewißheit
angeben kann, wie lange es dauert, bevor der
Stein
, von einer Turmſpitze fallend, die Erde erreicht und wie
ſtark
der Stoß ſein wird, mit dem er anprallt.
Ja dieſe
Beſtimmungen
, die man die Geſetze des Falles nennt, ſind ſo
ſicher
, daß man aus einem fallenden Stein viel Wichtiges
lernen
kann.
Iſt z. B. ein Stein von der Spitze eines Turmes
zur
Erde gefallen und man hat ſich genau die Zeit gemerkt,
die
er dazu gebraucht hat, um von oben herabzukommen, ſo
kann
man hieraus mit der vollſten Genauigkeit berechnen, wie
hoch
der Turm iſt.
Oftmals findet man Steine in der Erde,
aus
deren Lage man merkt, daß ſie aus der Luft herabgefallen
ſein
müſſen, denn ſie ſind ſo ſtark in die Erde eingeſchlagen,
daß
ſie tief unter der Oberfläche liegen.
Wiegt man einen
ſolchen
Stein genau und unterſucht man hierzu die Tiefe des
Loches
, das er in die Erde gemacht und die Beſchaffenheit des
Bodens
, auf welchem dies geſchah, ſo lehren die Geſetze des
Falles
ſehr genau beſtimmen, von wo herab der Stein ge-
kommen
ſein muß, welchen Weg er dabei genommen, mit
welcher
Geſchwindigkeit er anprallte, und welche Zeit er zu
ſeiner
Luftreiſe gebraucht hat.
Ja, man hat aus ſolchen Steinen
jetzt
bewieſen, daß ſie zuweilen gar nicht von der Erde her-
ſtammen
, ſondern kleine Himmelskörper ſind, die man
33038 als Sternſchnuppen leuchtend durch den Himmelsraum laufen
und
zuweilen als Feuerkugeln herabfallen ſieht.
Es ſind
dies
die Meteorſteine, welche der unſterbliche Naturforſcher
Beſſel dazu benutzt hat, um durch Pendelverſuche aufs klarſte
zu
beweiſen, daß die Erde nicht nur irdiſche, von der Erde
herſtammende
Dinge, ſondern auch ihr ganz fremde Körper
anzieht
, und zwar genau mit derſelben Kraft, als ob ſie irdiſche
Dinge
wären.
Indem wir nun zu dem intereſſanten Geſetze des Falles
kommen
, müſſen wir vor allem einen ſehr verbreiteten Irrtum
berichtigen
.
Im gewöhnlichen Leben glaubt man, daß ein leichtes
Ding
langſamer zur Erde fällt als ein ſchweres.
Und wirklich,
wenn
wir ein Stückchen Papier, eine Feder, oder ſonſt etwas
Leichtes
zum Fenſter hinabwerfen, ſehen wir, daß es ſich lange
in
der Luft erhält, daß es ſich wendet und dreht, bevor es
zur
Erde herabkommt, während ein Stein oder ſonſt ein
ſchweres
Ding ſeinen Weg geradezu und ſehr ſchnell zur Erde
herab
nimmt.
Wer hieraus aber ſchließt, daß leichte Dinge
langſamer
von der Erde angezogen werden, als ſchwere, der
irrt
ſich.
Die leichten Diuge ſind nur nicht im ſtande, die
Luft
ſo ſchnell zu verdrängen, die ſie auf ihrem Wege finden.
Die Luft hält ſie daher eine kleine Weile auf und hemmt
ihren
Lauf.
Ja, wenn leichte Dinge ſo gebaut ſind, daß ſie
die
Luft in einer Art Schirm auffangen, ſo ſchweben ſie äußerſt
langſam
zur Erde nieder.
Schon öfter haben wir das ſchöne
Schauſpiel
der Fallſchirme gehabt, die durch Luftballons in
die
Höhe genommen worden ſind, und die dann abgeſchnitten
ſich
ausbreiteten und indem ſie in ihrem weiten, bauchigen
Raum
großen Widerſtand in der Luft fanden, langſam mit
ihrer
Laſt zur Erde herabſchwebten.
Jetzt machen ſich ſchon
die
Kinder auf den Straßen ſolche Fallſchirme aus Seiden-
papier
, die ſie Luftballons nennen und wenn ſie genau
33139 arbeitet, richtig belaſtet und hoch genug geworfen werden lönnen
einen
angenehmen Anblick in ihrem ſanften Herabſchweben zur
Erde
gewähren.
Wie ſolchem Fallſchirme ergeht es jedem leichten Gegen-
ſtande
, der durch die Luft fällt.
Die Luft hält ihn im Fallen
auf
und verzögert fein Herabkommen zur Erde, während
ſchwere
Gegenſtände die Luft leichter durchſchneiden und ſchneller
ihren
Weg herab durchlaufen.
Es iſt alſo nicht wahr, daß die
Erde
leichte Dinge langſamer an ſich zieht.
Die Anziehungs-
kraft
der Erde wirkt auf leichte und ſchwere Dinge ganz gleich
und
Verſuche zeigen, daß im luftleeren Raum eine Feder
und
ein Zentner Eiſen mit ganz gleicher Geſchwindigkeit zur
Erde
herabſtürzen.
Durch folgenden leichten Verſuch kann ſich jeder hiervon
überzeugen
:
Man nehme einen harten Thaler und lege darauf ein
kleines
Stückchen Papier und laſſe beides von einer beliebigen
Höhe
zur Erde fallen und man wird ſehen, daß Papier und
Thaler
gleich geſchwind zur Erde gelangen.
Der Thaler hat
hierbei
nur die Luft verdrängt und dem Stückchen Papier das
Hindernis
ſeines Falles beſeitigt und unter ſolchen Umſtänden
fällt
es eben ſo ſchnell zur Erde wie der Thaler.
XV. Wie groß iſt die Geſchwindigkeit des Falls?
Genaue Verſuche haben gelehrt, daß ein Gegenſtand, den
man
zur Erde fallen läßt, in der erſten Sekunde etwa 5 Meter
herabſällt
.
Das heißt: die Erde zieht ihn in der Sekunde
fünf
Meter zu ſich herab.
Zwar fällt der Gegenſtand in dieſer Sekunde nicht gleich-
mäßig
ſchnell.
Zu Anfang der Sekunde geht er faſt unmerk-
lich
langſam.
In der Mitte der Sekunde hat er ſeine
33240 ſchnittliche Geſchwindigkeit, und am Ende der Sekunde fällt er
am
ſchnellſten.
Jedoch alles in allem zuſammengerechnet, fällt
er
in der ganzen erſten Sekunde fünf Meter herab und zwar,
was
er in der erſten Hälfte der Sekunde zu langſam fiel, holt
er
in der zweiten Hälfte der Sekunde ein.
Da die genaueſten Verſuche dies beſtätigt haben, ſo wiſſen
wir
, daß jeder Gegenſtand oder jeder Körper, wie man ſich
wiſſenſchaftlich
ausdrückt, in der erſten Sekunde ſeines Falls
fünf
Meter durchläuft.
Wie viel aber durchläuft er, wenn er zwei Sekunden fällt?
Das wollen wir gleich ſehen; aber wir müſſen ein klein
wenig
die Sache überlegen, denn die Frage iſt gar nicht ſo
leicht
zu beantworten, wie man meinen ſollte.
Nehmen wir an, es hätte Jemand einen Stein vom Dache
eines
Turmes fallen laſſen und dieſer Stein wäre ſchon eine
Sekunde
gefallen, hätte alſo ſeine fünf Meter abwärts gemacht.
Fragen wir nun, wie viel Raum wird er in der zweiten
Sekunde
durchlaufen, ſo müſſen wir bedenken, daß der Stein
zu
Ende der erſten Sekunde gerade eine noch einmal ſo große
Geſchwindigkeit
hatte als in der Mitte der erſten Sekunde.

Denn
zu Anfang der erſten Sekunde hatte er noch gar keine
Geſchwindigkeit
;
zu Ende der erſten Sekunde hatte er die
größte
Geſchwindigkeit und daraus folgt, daß er in der Mitte
der
erſten Sekunde die durchſchnittliche Geſchwindigkeit hatte.

Er
iſt anfangs langſam und am Ende ſchnell gefallen, ſo daß
er
in der Mitte der Sekunde gerade mit dem durchſchnittlichen
Maß
der Geſchwindigkeit fiel.
Bedenkt man hierbei, daß der
Stein
in der letzten Hälfte der Sekunde gerade einholte, was
er
in der erſten zu langſam gefallen iſt, ſo gelangt man bei
genauem
Nachdenken darauf, daß der Stein zu Ende der erſten
Sekunde
genau die zweimal ſo große Geſchwindigkeit hatte,
als
in der Mitte dieſer Sekunde.
Da er aber in der Mitte
dieſer
Sekunde die richtige Geſchwindigkeit von ungefähr
33341 Meter pro Sekunde beſaß, ſo folgt daraus, daß der Stein am
Ende
der erſten Sekunde mit einer Geſchwindigkeit begabt iſt,
die
ihn zweimal fünf alſo zehn Meter pro Sekunde zur Erde
treibt
(genauer 9,8 Meter).
Würde nun die Erde den Stein während der zweiten
Sekunde
garnicht anziehen, ſo würde er ſchon durch ſeine vom
Ende
der erſten Sekunde herrührende Geſchwindigkeit zweimal
fünf
Meter in dieſer Sekunde fallen.
Aber die Erde zieht ihn
in
der zweiten Sekunde wieder fünf Meter mehr an ſich, und
daraus
folgt, daß er in der zweiten Sekunde dreimal fünf
Meter
durchfallen muß.
Dieſe fünf Meter, die ihn die Erde in der zweiten Sekunde
anzieht
, ſind aber wieder ſo beſchaffen, daß er zu Ende der-
ſelben
eine Geſchwindigkeit hat, die doppelt ſo groß iſt, als
die
mittlere.
Der Stein würde alſo, wenn wir ihn weiter
fallen
laſſen, in der dritten Sekunde ohne Anziehungskraft der
Erde
ſchon eine Geſchwindigkeit haben, erſtens:
aus dem Ende
der
erſten Sekunde von zweimal fünf Meter und zweitens aus
dem
Ende der zweiten Sekunde wieder zweimal 5 Meter.
Er
würde
alſo, wenn die Erde ihn während der dritten Sekunde
garnicht
anziehen würde, mit einer Geſchwindigkeit von vier-
mal
fünf Meter ſich zur Erde bewegen.
Da aber in der dritten
Sekunde
die Erde ihn wieder fünf Meter zu ſich zieht, ſo
bewegt
er ſich in dieſer durchſchnittlich mit einer Geſchwindigkeit
von
fünfmal fünf Meter.
Man nennt die fünf Meter, die ein Gegenſtand immer
in
der erſten Sekunde fällt, einen Fallraum.
Fiel alſo der
Stein
in der erſten Sekunde einen Fallraum, ſo fällt er in der
zweiten
, wie wir geſehen haben, 3 Fallräume, und in der
dritten
5 Fallräume, und es läßt ſich zeigen, daß er in der
vierten
7, in der fünften Sekunde 9 Fallräume fallen würde
u
.
ſ. w.
Sehen wir uns nun die Zahlen an, ſo finden wir,
33442 fie der Reihe nach die ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, 9 ſind,
und
Beobachtung und Berechnung zeigen wirklich, daß dies ſo
fortgeht
und in jeder neuen Sekunde die Fallgeſchwindigkeit
ſich
immer wie die nächſte ungerade Zahl ſteigert.
XVI. Nähere Betrachtung der Fall-Geſchwindigkeit.
Das Geſetz vom Fallen der Körper iſt von ſo großer
Wichtigkeit
in der Naturwiſſenſchaft, daß man ſeine Entdeckung
als
eine der bedeutſamſten in der Geſchichte der Wiſſenſchaft
anzuſehen
hat.
Das beſte hieran aber iſt, das es außer-
ordentlich
leicht wird, dieſe Geſetze zu begreifen und Fragen,
die
ehedem ganz unlösbar erſchienen ſind, zu beantworten.
Wir wollen dies durch ein Beiſpiel zeigen und bitten um
die
Aufmerkſamkeit unſerer Leſer, mit der Verſicherung, daß
die
folgende Berechnung, die für den erſten Augenblick
ſchwierig
ausſieht, im Grunde genommen kinderleicht iſt.
Zu dieſem Zweck werfen wir die Frage auf: wie viel
Meter
durchläuft ein Stein, der in 6 Sekunden von irgend
einer
Höhe auf die Erde herabfällt?
Die Antwort hierauf iſt einfach folgende:
In der erſten Sekunde fällt er einen Raum von fünf
Meter
und dieſen Raum wollen wir immer mit dem Namen
Fallraum” bezeichnen.
Alſo in der erſten Sekunde durchläuft
der
Stein einen Fallraum.
Wie nun im vorhergehenden Abſchnitt gezeigt wurde,
ſteigert
ſich die Geſchwindigkeit des Falles und zwar derart,
daß
er während der zweiten Sekunde drei Fallräume durch-
läuft
, indem die Steigerung der Geſchwindigkeit ſo zunimmt,
wie
der Reihe nach die ungeraden Zahlen.
Stellen wir
daher
einmal die erſten ſechs ungeraden Zahlen neben ein-
ander
! Dieſe Zahlen ſind, wie jedes Kind weiß, die folgenden:
33543 1. 3. 5. 7. 9. 11. In dieſen gewiß ſehr leicht aufzuſtellenden
Zahlen
beſitzt man alſo eine vollſtändige Tabelle für die Fall-
räume
in jeder der ſechs erſten Sekunden.
Aus dieſer Tabelle erſehen wir, daß der Stein während
der
erſten Sekunde einen Fallraum durchläuft, in der zweiten
dritten
durchläuft er 5 Fallräume, in der
58[Figure 58]Fig. 4.a vierten durchläuft er 7 Fallräume, in der
fünften
durchläuft er 9 Fallräume und
während
der ſechsten Sekunde durchläuft
der
Stein 11 Fallräume.
Will man nun
wiſſen
, wie viel Fallräume der Stein in
allen
ſechs Sekunden durchlaufen hat, ſo
braucht
man nur zu berechnen, daß 1 und
3
und 5 und 7 und 9 und 11 gerade 36
betragen
, ſo hat man’s heraus, daß ein
Stein
in ſechs Sekunden 36 Fallräume
durchfällt
, und da jeder Fallraum 5 Meter
beträgt
, ſo iſt es leicht ausrechnen, daß
5
mal 36 ſo viel iſt wie 180 und daraus
erſieht
man, daß ein Stein, der in ſechs
Sekunden
zur Erde herabfällt, 180 Meter
durchlaufen
hat.
Daß dieſes Geſetz richtig iſt, kann
man
an der ſogenannten Atwoodſchen
Fallmaſchine
(Fig.
4) ſehen. An dieſer
Maſchine
ſind 2 Gewichte a von gleicher Schwere befeſtigt, die,
durch
einen über eine Rolle geleiteten Faden mit einander
verbunden
, ſich im Gleichgewicht halten.
Beſchwert man nun das
eine
von beiden durch ein kleines Übergewicht, ſo beginnt es
zu
fallen, allerdings infolge der verhältnismäßig ſehr ſtarken
Reibung
des Fadens an der Rolle viel, viel langſamer, als
beim
freien Fall.
Sobald man nun weiß, wie groß die
33644 iſt, welche das Gewicht unter dieſen Umſtänden in der erſten
Sekunde
zurücklegt, läßt ſich vermittelſt eines an der Maſchine
befeſtigten
Maßſtabes nachweiſen, daß nach 2 Sekunden die
4-fache
Strecke zurückgelegt iſt, nach 3 Sekunden die 9-fache u.
ſ. w.
Nehmen wir nun an, daß irgend ein Turm 180 Meter
hoch
wäre, ſo würde ein Stein 6 Sekunden Zeit brauchen, um
von
der Spitze des Thurmes bis zur Erde zu fallen.
Dieſe Rechnung kann aber noch leichter gemacht werden.
Wenn man wiſſen will, wie viel Fallräume ein Stein in ſechs
Sekunden
fällt, braucht man nicht erſt zuſammenzählen, wieviel
er
in jeder einzelnen Sekunde gefallen iſt, ſondern man kann
das
Reſultat auch auf eine andere Weiſe erhalten, in der ſich
eine
ſehr merkwürdige Regelmäßigkeit, einGeſetz” der Zahlen
offenbart
, eins von den vielen wunderbaren Zahlengeſetzen, mit
deren
Erforſchung ſich die größten Mathematiker beſchäftigen.

Man
braucht nämlich nur einfach zu ſagen:
Der Stein iſt
6
Sekunden gefallen, da aber 6 mal 6 gerade 36 iſt, ſo iſt
der
Stein 36 Fallräume gefallen, und das beträgt 180 Meter.

Wäre
er ſieben Sekunden gefallen, ſo hätte er 7 mal 7 Fall-
räume
durchwandert, das heißt 49 Fallräume (oder anders
berechnet
:
1 3 5 7 9 11 13 = 49) und dies be-
trägt
, jeden Fallraum zu 5 Meter gerechnet, 245 Meter.
In
gleicher
Weiſe verfährt man bei jeder Frage.
Man multipliziert
die
Zahl der Sekunden mit ſich ſelber, und die Zahl, die heraus-
kommt
, iſt die Zahl der Fallräume, die der Stein durchlaufen hat.
Fällt ein Stein zehn Sekunden, ſo durchläuft er während
dieſer
Zeit 10 mal 10, alſo hundert Fallräume.
Fällt er
11
Sekunden, ſo durchläuft er 11 mal 11 Fallräume, in
12
Sekunden fällt er 12 mal 12 Fallräume u.
ſ. w.
Da Mitteilungen über dieſe überraſchenden Eigenſchaften
und
Eigentümlichkeiten der Zahlengeſetze nicht zu unſerm Thema
gehören
, ſo wollen wir uns hierbei nicht weiter aufhalten,
ſondern
nunmehr zeigen, wie das, was wie eine Spielerei
33745 ſieht, das Berechnen des Falles eines Steines, von der aller-
höchſten
Wichtigkeit für die menſchliche Erkenntnis iſt, und die
Grundlage
der Wiſſenſchaft der Aſtronomie bildet, die man
mit
Recht den Stolz der Menſchheit nennt.
XVII. Wichtigkeit der Fallgeſetze.
Um es deutlich zu machen, von welcher Wichtigkeit die
Geſetze
des Falles ſind, brauchen wir nur zu ſagen, daß ganz
in
derſelben Weiſe, wie ein Stein oder ſonſt ein Gegenſtand
von
der Erde angezogen wird, ganz in derſelben Weiſe auch
der
von der Erde 50,000 Meilen entfernte Mond von derſelben
angezogen
und in ſeinem Umlauf um die Erde erhalten wird.
Als der große Naturforſcher und Mathematiker Newton,
der
die Geſetze der Anziehungskraft der Erde entdeckte, eines
Tages
ſinnend in ſeinem Garten verweilte, ſah er einen Apfel
von
einem Baume zur Erde fallen und dies, das Tauſende vor
ihm
gedankenlos geſehen hatten, ohne über die Urſache des Falls
nachzudenken
, dies kleine Ereigniß regte ihn an, dem Geſetze
von
der Anziehung der Erde nachzuſpüren und führte ihn auf
den
Weg, auf welchem die Aſtronomie bis in die tiefſten
Regionen
des Fixſtern-Himmels hinein mit Sicherheit wandert.
Welche Ähnlichkeit aber hat ein fallender Apfel mit dem
hoch
über der Erde ſchwebenden Mond?
Um dies einzuſehen, wollen wir die Gedanken einmal
laut
ſprechen laſſen, die im Geiſte des denkenden Mannes durch
den
Fall eines Apfels zur Erde angeregt werden konnten.
Ein Apfel fällt zur Erde und zwar in ſenkrechter Linie,
wenn
er ſich vom Baum loslöſt.
Er fällt in der erſten Sekunde
5
Meter tief.
Wie aber iſt es, muß der denkende Menſch ſich
33846 wenn man einen Apfel nicht abwärts fallen läßt, ſondern ihn
geradeaus
von ſich wirft?
Die Erfahrung lehrt, daß in
ſolchem
Falle doch der Apfel zur Erde fallen wird;
zwar nicht
an
der Stelle, wo die Hand ihn losläßt, ſondern in einer
weiten
Entfernung.
Denkt man darüber nach, woher das
kommt
, ſo findet man, daß der Apfel zwar dem Wurf der
Hand
folgte und geradeaus geflogen iſt, aber mit dieſer Be-
wegung
hat er auch zugleich der Erde Folge geleiſtet und iſt
nicht
in gerader Linie vorwärts gelaufen, ſondern hat ſich
immer
mehr und mehr zur Erde geſenkt und iſt auch endlich
auf
dieſe hingefallen.
Nun haben aber genaue Unterſuchungen gezeigt, daß wenn
ein
geworfener Apfel zur Erde fällt, er ganz demſelben Geſetze
folgt
, als ob man ihn hätte fallen laſſen.
War der Apfel
beim
Werfen 5 Meter von der Erde entfernt, ſo wird er vom
Beginn
ſeines Laufes an ſich zu ſenken anfangen und wird
fern
von dem Werfer genau in einer Sekunde auf dem Erd-
boden
ankommen.
Man kann ſich hiervon durch Kugeln über-
zeugen
, die man aus Gewehren oder Kanonen in genau wage-
rechter
Richtung abſchießt.
Denken wir uns eine Kanone auf
der
Spitze eines Turmes aufgeſtellt und durch dieſe eine Kugel
geradeaus
abgeſchoſſen, ſo wird wohl Jeder zugeben, daß die
Kugel
endlich zur Erde fallen wird.
Wann aber wird ſie zur
Erde
fallen?
Wie lange wird es dauern bis ſie den Erdboden
berührt
?
Genau ſo lange, wie es dauerte, wenn man ſie
von
der Spitze des Turmes ſenkrecht herabfallen ließe!
Nehmen wir beiſpielsweiſe wieder an, daß der Turm
180
Meter hoch wäre, ſo würde die Kanonenkugel in ſechs
Sekunden
nach dem Schuß zur Erde fallen.
Freilich wird der
Ort
, wo die Kugel zur Erde fällt, nicht immer derſelbe ſein.
Eine ſtarke Kanone würde die Kugel weit hin treiben; eine
ſchwächere
würde die Kugel näher zu Boden fallen laſſen.

Aber
immer und in allen Fällen wird ſie, wenn ſie in
33947 rechter Richtung abgeſchoſſen wurde, nach Ende der ſechs Se-
kunden
auf der Erde liegen und die Entfernung dieſes Ortes
vom
Thurme wird nur davon abhängen, wie weit der Schuß
die
Kugel in ſechs Sekunden vorwärts zu treiben im Stande iſt.
Woher kommt das? Nun, wir haben uns die Sache eben
ſo
zu denken, als ob 2 Kräfte auf die Kugel einwirken, deren
eine
(die Anziehungskraft der Erde) die Kugel ſenkrecht herab-
zieht
, während die andere (die Schleuderkraft des Geſchützes)
ſie
in genau wagerechter Richtung vorwärts treibt.
Nun wiſſen
wir
ja aber, daß die Anziehungskraft von Sekunde zu Sekunde
ſtärker
wirkt, während die Schleuderkraft ſtets dieſelbe bleibt,
wie
zu Beginn des Schuſſes, da-
59[Figure 59]Fig. 5.O A B C A′ M B′ N C′ P her wird die erſtere allmählich
das
Übergewicht erlangen.
Wird
in
Fig.
5 die Kugel von O nach
C
abgeſchoſſen, ſo ſucht die
Schleuderkraft
die Kugel nach
einer
Sekunde nach A zu treiben,
während
die Anziehungskraft der
Erde
ſie nach A′ ziehen möchte.
Die Kugel folgt nun beiden Kräften, indem ſie ſowohl um die
Strecke
OA ſeitwärts, als um die Strecke OA′ abwärts geführt
wird
.
So gelangt ſie zum Punkte M, wodurch ſie gewiſſermaßen
beiden
einander bekämpfenden Kräften ihren Gefallen thut.
Nach
2
Sekunden würde die Schleuderkraft die Kugel nach B führen,
die
Anziehungskraft der Erde nach B′, welches bekanntlich von
O
4 mal ſo weit entfernt iſt, wie A′.
Die Kugel ſchlägt wieder
einen
zwiſchen beiden Kräften vermittelnden Weg ein und fliegt
nach
N, ſo daß ſie biſher insgeſamt um die Strecke OB′ gefallen,
und
um die Strecke OB ſeitwärts getragen iſt.
Nach 3 Se-
kunden
gelangt die Kugel in derſelben Weiſe zum Punkt P u.
ſ. w.
Die
Thatſache, daß ein Körper, wenn er dem Einfluß zweier
gleichzeitig
wirkender Kräfte ausgeſetzt iſt, dengoldenen
34048 weg” einſchlägt, iſt eins der wichtigſten Grundgeſetze
der
Naturkräfte
, das ſogenannteGeſetz vom Parallelo-
gramm
der Kräfte
“.
Wenn nämlich die beiden Kräfte nicht
ſenkrecht
auf einander wirken, wie wir eben annehmen (wagerecht
und
lotrecht), ſondern unter einem ſpitzen Winkel, ſo folgt der
60[Figure 60]H G F E D C m n o @ q B l A b c 5 d 7 e 9 f 11 g Körper ebenfalls beiden Kräften, und
wenn
man die beiden Orte, zu welchen
ihn
in einem beſtimmten Zeitpunkt
jede
einzelne der beiden Kräfte geführt
hätte
, verbindet mit dem Ausgangs-
punkt
und dem Punkt, an welchem er
ſich
wirklich in dem betreffenden Mo-
ment
befindet, ſo erhält man immer
und
unter allen Umſtänden ein ſoge-
nanntes
Parallelogramm.
Denkt man
ſich
z.
B. in Fig. 6 eine Kugel von
A
aus ſchräg aufwärts geſchoſſen, ſo
würde
die Schleuderkraft ſie nach
3
Sekunden bis D getrieben, die An-
ziehungskraft
ſie nach d gezogen
haben
;
in Wirklichkeit muß ſie ſich
jedoch
in n befinden.
Die 4 Punkte
A
, D, d und n bilden aber ein Paral-
lelogramm
.
Nach 6 Sekunden ſind
die
entſprechenden 4 Punkte A, G, g
und
q, welche wieder zuſammen ein
Parallelogramm
bilden u.
ſ. w. u. ſ. w.
Wären beide Kräfte in jeder Sekunde unverändert eben
ſo
groß wie am Anfang, wären die Kräfte, wie man ſagt
conſtant”, ſo würde die Kugel ſich in einer geraden Linie
bewegen
.
Dieſer Fall tritt z. B. ein, wenn eine Billardkugel
2
Stöße gleichzeitig erhält.
Iſt in Fig. 7 A die Billardkugel,
welche
gleichzeitig nach B und nach C zu geſtoßen wird, ſo
34149 ſie ſich in Wirklichkeit über F nach D u. ſ. w. bewegen. Da
aber
die Anziehungskraft von Sekunde zu Sekunde ſtärker wirkt,
ſo
wird, wie man wohl leicht einſieht, die beſchriebene Bahu
eine
Kurve, eine gebogene Linie darſtellen müſſen (ſ.
Fig. 5
und
6).
Dieſe gebogene Linie wird natürlich ſehr verſchieden ſein,
je
nachdem die Kugel mit ſchwacher oder ſtarker Kraft aus der
Kanone
geſchleudert wird.
Iſt die Kraft des Schuſſes ſchwach,
ſo
wird die Linie ſich nicht weit hin dehnen, ſondern ſich bald
abwärts
krümmen;
iſt die Kraft des Schuſſes ſtark, ſo wird
die
Linie ſich weit hin dehnen
61[Figure 61]Fig. 7Y C G D F A X E B und einen weit ausgeſpannten
Bogen
zu bilden ſcheinen.
Iſt dem aber ſo, ſo wird ein
wenig
Nachdenken zu dem rich-
tigen
Gedanken führen:
je ſtärker
ſolch’
eine Kugel geſchleudert
wird
, deſto weiter dehnt ſich der
Weg
bis zum Ort, wo ſie auf
die
Erde fällt, deſto gedehuter
alſo
wird der durchflogene Bogen.
Da aber die Erde eine
Kugel
iſt, deren Oberfläche bogenförmig gekrümmt iſt, ſo
kann
man ſich die Möglichkeit denken, daß eine Kanonenkugel
mit
ſo ungeheurer Kraft geſchleudert würde, daß der Bogen,
den
die Kugel beſchreibt, ſo groß und gedehnt iſt, wie
die
Krümmung der Erdkugel ſelber.
Wäre dies aber der
Fall
, könnte man alſo eine Kugel mit ſolch’ enormer Kraft
abſchießen
, ſo würde ſie, wie man bei einigem Nachdenken er-
kennen
wird, gar nicht zur Erde fallen können, ſondern ſie
müßte
ganz rings um die Erde herumlaufen und wenn ſie
kein
Hindernis fände, unausgeſetzt ſo laufen, ohne auf die Erde
zu
fallen.
So abenteuerlich und ſonderbar ſolch’ ein Gedanke klingen
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher III. # 4
34250
mag, ſo richtig und ſo wichtig iſt er für die Aſtronomie, wie
wir
dies ſogleich ſehen werden.
XVIII. Der Lauf des Mondes verglichen mit
dem Lauf einer Kanonenkugel.
Man kann durch eine ſehr leichte Rechnung zeigen, mit
welcher
Kraft eine Kugel aus einer Kanone geſchoſſen werden
muß
, um ſie rings um die Erde herum zu treiben, ſodaß
die
Kugel, wenn ſie nach Oſten abgeſchoſſen worden iſt, nach
einiger
Zeit von Weſten her wieder an dem Ort, wo die
Kanone
ſteht, ankommt, etwa wie ein Reiſender, der eine Reiſe
um
die Erde gemacht hat.
Dieſe Rechnung, die ſchon für Anfänger in der Mathe-
matik
ſehr leicht iſt, ergiebt, daß eine Kanone, die ſo ſtark
geladen
werden könnte, daß ſie eine Kugel in der erſten Sekunde
8090
Meter weit treibt, ausreichen würde, dieſen Verſuch zu
machen
.
Eine Kugel, mit ſolcher Kraft geſchleudert, würde
zwar
nach einer Sekunde fünf Meter zur Erde herabgeſunken
ſein
;
allein da die Erde ſelber auf eine Strecke von 8090 Meter
eine
Krümmung von fünf Metern hat, ſo würde die Kugel
der
Erde nicht näher gekommen ſein als vorher, und ſie würde
nun
weiter laufend ſtets in derſelben Lage zur Erde bleiben,
ſo
daß ſie endlich von der andern Seite her wieder am Ort
anlangen
könnte, wo ſie abgeſchoſſen wurde.
Denken wir uns z. B. , in Fig. 8 ſei M der Mittelpunkt
der
Erde, von B aus werde eine Kugel in der Richtung
nach
D abgeſchoſſen, ſo würde alſo die Schleuderkraſt nach einer
Sekunde
die Kugel bis D, die Anziehungskraft dagegen ſie nach
E
treiben.
Nach dem Satz vom Parallelogramm der Kräfte
wiſſen
wir, daß ſie in Wirklichkeit nach C gelangt.
C iſt
34351 vom Erdmittelpunkt gerade ſo weit entfernt, wie B; ſcheinbar
iſt
alſo die Kugel gar nicht gefallen.
Daß ſich die Kugel nun
auch
in den folgenden Zeiten nicht nähern wird, zeigt uns
Fig
.
9: Geht die Kugel von A aus und fliegt, ſtatt nach B
oder
C, nach D, welches ebenſoweit von M entfernt iſt wie A,
ſo
werden die beiden Kräfte ſie in der folgenden Sekunde nach E
bezw
.
F treiben wollen, wobei in Wirklichkeit die Kugel nach G
gelangt
, welches M auch nicht näher iſt, als A oder D.
Man ſieht nun leicht, daß
62[Figure 62]Fig. 8.C D C F M B E A dies Spiel ſo weiter fort-
geht
, bis die Kugel endlich
einen
Kreis durchflogen hat
und
wieder nach A zurück-
gelangt
.
Da aber die Kugel auch
hier
nicht auf die Erde fallen
würde
, ſo würde ſie ihren
Lauf
fortſetzen, und ange-
nommen
, daß ſie kein anderes
Hindernis
fände, würde ſie
fortfahren
, die Erde zu um-
kreiſen
und ganz und gar
einen
künſtlichen Mond vor-
ſtellen
, der um die Erde läuft.
Da endlich die Erde im
Umfang
5400 Meilen beträgt, ſo würde, wie eine leichte Rech-
nung
zeigt, die Kugel nicht wie der Mond 29 und einen
halben
Tag brauchen zu ihrem Rundlauf, ſondern ſie würde
ſchon
in einer Zeit von anderthalb Stunden etwa ihre Rund-
reiſe
um die Erde vollendet haben.
Wir brauchen nun freilich dem Leſer nicht erſt zu ſagen,
daß
es eine ſolche Kanonenkugel nicht giebt.
Die ſtärkſte
Kanone
vermag eine Kugel höchſtens 800 Meter weit in der
erſten
Sekunde zu ſchleudern.
Denken wir uns aber
34452 techniſchen Hinderniſſe fort, ſo würde eine mit ſo gewaltiger
Kraft
geſchleuderte Kugel wirklich einen kleinen Mond vor-
ſtellen
, der in anderthalb Stunden um die Erde läuft.
Und nun wird es wohl Jedem klar werden, was es
eigentlich
mit dem Lauf des Mondes um die Erde für eine
Bewandtnis
hat, und wie ſehr nahe verwandt das Fallen eines
Steines
auf die Erde mit dem Lauf des Mondes und anderer
Geſtirne
des Himmels iſt.
Der Mond wird in Wahrheit von der Erde ſo angezogen
wie
ein Stein, wie ein Apfel oder wie ſonſt irgend ein Gegen-
ſtand
, den wir auf der Erde ſehen.
Er wird nur viel ſchwächer
63[Figure 63]Fig. 9.A C B F D E G M als dieſe Gegenſtände ange-
zogen
, denn der Mond iſt
60
mal entfernter vom Mittel-
punkt
der Erde als die Gegen-
ſtände
, die ſich auf der Ober-
fläche
der Erde befinden und
wir
wiſſen ja bereits, daß bei
einer
60 maligen Entfernung
vom
Mittelpunkt der Erde die
Anziehung
im Quadrat, das heißt 60 mal 60, alſo 3600mal
ſchwächer
wird.
Würde eine allmächtige Hand den Mond in
ſeinem
Laufe aufhalten und ihn dann loslaſſen, ſo würde er
ſich
nicht in ſeiner Bahn um die Erde fortbewegen, ſondern er
würde
ſich geradewegs zur Erde zu bewegen anfangen, von
welcher
er angezogen wird.
In der erſten Sekunde würde er
nicht
fünf Meter auf ſeinem Wege zur Erde machen, ſondern
nur
ein paar Millimeter;
allein mit jeder Sekunde würde die
Geſchwindigkeit
zunehmen, wie die Zahl der Sekunden mit ſich
ſelbſt
multipliziert und die Berechnung zeigt, daß der Mond in
8830
Sekunden, alſo in etwa drittehalb Stunden, auf die Erde
ſtürzen
würde, und zwar würde er mit einer ſolchen Ge-
ſchwindigkeit
an die Erde anprallen, daß er in der letzten
34553 kunde mehr als elf Meilen machen würde, und ohne Zweifel
würde
dieſer Stoß genügen, um die Erde in Trümmer zu zer-
ſtoßen
und alles auf ihr Exiſtierende zu vernichten.
Weshalb aber fällt der Mond nicht zur Erde? Weil
der
Mond eine eigene Bewegung hat, die, wenn ſie allein
wirkte
, ſtark genug wäre, ihn in gerader Linien-Richtung an
der
Erde vorüber zu führen;
die Anziehungskraft der Erde
vermag
ihn alſo nur gleich der Kanonenkugel, die wir um die
Erde
laufen ließen, von der geraden Linie abzulenken, und die
Vereinigung
der beiden Kräfte, die eigene Bewegungskraft des
Mondes
im Verein mit der Anziehungskraft der Erde bewirkt
den
Rundlauf des Mondes um die Erde, aus welchem er
niemals
abweichen kann.
Dies ſind ungefähr die Gedanken, die im Kopfe Newtons
ſich
entwickelten, als er den Apfel zur Erde fallen ſah, und
bis
jetzt, nach über zweihundert Jahren, bewährte nicht nur die
Beobachtung
, ſondern auch jede der genaueſten Rechnungen
und
der vorzüglichſten Entdeckungen die Richtigkeit jener Ge-
danken
, die der große Denker an einen ſo geringfügigen Umſtand,
wie
den Fall eines Apfels zur Erde, geknüpft hatte.
XIX. Die Bewegungen und die Anziehungen
der Geſtirne.
Ganz dasſelbe Verhältnis, welches zwiſchen Erde und
Mond
obwaltet, waltet auch zwiſchen der Sonne und der Erde
ob
.
Die Erde wird von der Sonne ebenfalls angezogen und
dieſe
Anziehungskraft im Verein mit der eigenen Bewegung
der
Erde bringt es hervor, daß dieſe die Sonne in 365 Tagen
und
6 Stunden umkreiſt.
Dieſelbe Anziehungskraft der Sonne
iſt
es, die ſämtliche ſich bewegende Planeten zwingt, in Kreiſen
um
die Sonne zu laufen;
und weil wir eben dieſe Kreiſe
34654 die Zeit beobachten können, welche ein Planet braucht, um
den
Kreis zu vollenden, können wir auch mit großer Genauig-
keit
angeben, wie weit ab jeder Planet von der Sonne ſich
befindet
.
Ja, wir wiſſen noch mehr, als man im erſten Augenblick
für
glaublich halten könnte.
Aus dem Lauf eines Planeten
um
die Sonne ſchließt man mit vollſter Sicherheit auf die
Größe
der Anziehungskraft der Sonne und wenn man dieſe
Anziehungskraft
kennt, ſo ergiebt eine leichte Rechnung auch
ganz
genau, wie groß der Fallraum auf der Oberfläche der
Sonne
iſt.
Der Lauf, den die Erde um die Sonne macht, iſt derart,
daß
die Erde ſich in jeder Sekunde vier und eine halbe Meile
fortbewegt
.
Mit dieſer Geſchwindigkeit würde die Erde an
der
Sonne auch vorübereilen und nie zu ihr zurückkehren,
wenn
die Sonne nicht eine Anziehungskraft auf ſie ausübte.
Infolge dieſer Anziehung geht die Erde nicht in ihrem Lauf
geradeaus
, ſondern iſt genötigt im Kreis um die Sonne zu
gehen
, und zwar iſt der Kreis derart, daß die Erde in jeder
Sekunde
etwas von der geraden Richtung ihres Laufes ab-
weicht
und ſo eine Krümmung macht, die im Verlauf von
365
{1/4} Tagen zu einem Kreiſe wird.
Wenn aber die Sonne,
welche
20 Millionen Meilen von der Erde entfernt iſt, dieſe
ſo
anzieht, daß die Erde in einer Sekunde ſich um einen be-
ſtimmten
Wert der Sonne nähert, ſo ergiebt eine leichte
Rechnung
, daß an der Oberfläche der Sonne ein Stein in der
Sekunde
etwa 140 Meter fallen muß.
Das heißt, wenn
jemand
auf der Sonne einen Turm beſteigen würde und von
dieſem
einen Stein fallen ließe, ſo würde der Stein, der hier
auf
der Erde in der erſten Sekunde 5 Meter tief fällt, dort
auf
der Sonne in einer Sekunde 140 Meter tief fallen.
In gleicher Weiſe wiſſen wir auch mit vollſter Beſtimmt-
heit
, um wie viel ein Stein, der hier auf der Erde 1
34755 wiegt, wiegen würde, wenn man ihn auf die Oberfläche der
Sonne
brächte.
Er würde faſt 29mal ſchwerer ſein als hier,
denn
an der Oberfläche der Sonne iſt die Anziehungskraft der
Sonne
etwa 29mal ſtärker als die Anziehungskraft an der
Oberfläche
der Erde.
Unſere Füße würden uns nicht auf
der
Oberfläche der Sonne tragen können, denn ſie ſind gerade
ſo
ſtark, daß ſie die Laſt unſeres Körpers, der ziemlich 1 {1/2}
Zentner
ſchwer iſt, mit Leichtigkeit tragen können;
würde ein
menſchliches
Weſen aber auf die Sonne verſetzt, ſo würde
ſein
Körper 29mal ſchwerer werden, das heißt, er würde
40
Zentner wiegen;
da aber dies keine Laſt iſt, die wir tragen
können
, ſo würden wir unbedingt zu Boden ſtürzen.
Da aber
auch
beim Liegen der unten liegende Teil den oberen zu tragen
hat
, ſo würden wir wahrſcheinlich plattgedrückt werden, als ob
eine
Laſt von 40 Zentnern auf uns läge.
In ganz gleicher Weiſe kennt man die Fallhöhe auf allen
andern
Planeten, deren Anziehungskraft man durch den Umlauf
ihrer
Monde oder durch andere Umſtände zu beobachten Ge-
legenheit
hatte;
ſo wiſſen wir z. B. , daß ein Stein, der auf
dem
Planeten Jupiter von einem Turm fallen gelaſſen wird,
in
der erſten Sekunde nahe an 13 Meter fallen würde.
Ein
Menſch
der Erde, auf den Jupiter verſetzt, würde dort 3 {3/4}
Zentner
ſchwer ſein und ſich mit derſelben Beſchwerde fort-
bewegen
, wie jemand, der außer der Laſt ſeines Körpers noch
zwei
Zentner zu ſchleppen hat.
Dagegen hat man es auf den kleinen Planeten weit
leichter
.
Eine Ballet-Tänzerin, die hier mit Anſtrengung
1
Meter hohe Sprünge macht, würde auf dem kleinen Planeten
Veſta
wahrſcheinlich mit gleicher Anſtrengung ſechsmal ſo hoch
ſpringen
können, und während ſie hier kaum ein drittel Sekunde
in
der Luft ſchwebt, würde ſie ſich dort an zwei Sekunden
ſchwebend
erhalten können;
was, beiläufig geſagt, garnicht ſo
wenig
Zeit ausmacht, als man gewöhnlich glaubt.
34856
Aber auch weiter über das Planetenſyſtem hinaus gilt
das
Geſetz der Anziehung der Himmelskörper aufeinander.
Die Fixſterne, von denen der nächſte von dem Aſtronomen
Beſſel beobachtete an 13 Billionen Meilen von uns entfernt
iſt
, werden gleichfalls durch das Geſetz der Anziehung be-
herrſcht
.
In den Regionen des Himmels, die unſer Auge im
Dunkel
der Nacht durchdringt, exiſtieren Doppelſterne, das
heißt
:
je zwei Sonnen, die ſich um einander bewegen. Sie
ſind
ſo entfernt von uns, daß die beiden Sonnen für das bloße
Auge
wie ein einziger Stern erſcheinen, gleichwohl ſind ſie in
Wirklichkeit
viele Millionen Meilen von einander entfernt und
ſie
beſchreiben Kreiſe um einander, die ganz genau beweiſen,
daß
das Geſetz der Anziehung, wie es hier auf Erden exiſtiert,
auch
in jenen fernſten Welträumen Geltung hat, woher das
Licht
, das ſich in einer Sekunde doch 40,000 Meilen bewegt,
Jahrzehnte
, ja Jahrhunderte und Jahrtauſende braucht, um
bis
zu uns zu gelangen.
XX. Worin liegt die Kraft der Anziehung?
Wir haben bisher verſucht, die Anziehungskraft, welche
den
Himmelskörpern eigen iſt, im allgemeinen kennen zu
lernen
.
Es entſteht nun aber die Frage, worin liegt dieſe
Anziehungskraft
?
Beſitzen die Himmelskörper eine Art von
Magnet
, der in ihrem Innern ſteckt, wie ein Kern in einer
Hülle
und gehört dieſe Kraft nur dieſem an;
oder liegt dieſe
Kraft
in dem Stoffe ſelber, der dieſe Himmelskörper bildet,
ſo
daß die Anziehung ein Ergebnis des Stoffes iſt?
Die Antwort auf dieſe Frage iſt nicht minder beſtimmt
und
ſicher, als die Geſetze der Anziehung es ſind.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Erde und ebenſo
irgend
ein Planet oder Fixſtern ihre Anziehungskraft
34957 einem beſonderen Körper verdanken, der etwa in ihnen ſteckt,
ſondern
daß es nur Stoff ſelber iſt, der die Anziehung ausübt.
Die Anziehungskraft, die wir jetzt betrachten, liegt in den
Maſſen
, in den Summen aller Atome eines Körpers.
Wenn die Erde eine ſtarke Anziehungskraft beſitzt, ſo
beſitzt
ſie dieſe nur deshalb, weil ſie ſelber ein großer Haufen
einzelner
Atome, eine ungeheure Sammlung ſolcher kleinſten
Teile
iſt, aus welchen alle Dinge der Welt beſtehen.
Es ſteckt
alſo
die Anziehungskraft nicht in einer beſonderen Eigenſchaft
einzelner
Atome, ſondern in der Geſamtzahl aller Atome.
Hieraus folgt, daß die Sonne, deren Anziehungskraft viel
größer
iſt als die der Erde, dieſe nur deshalb beſitzt, weil ſie
an
Maſſe größer iſt;
daß der Mond, der weniger Anziehungs-
kraft
hat als die Erde, nur darum ſchwächer anzieht, weil
er
weniger Atome beſitzt als die Erde;
und hieraus läßt ſich
der
Schluß ziehen, daß jede Maſſe eine Anziehungskraft
ausübt
auf eine andere, und zwar je größer die Maſſe, deſto
größer
iſt die Anziehungskraft.
Dieſe Wahrheit erkannte ſchon der große Newton ſelber
und
da er wußte, daß die Maſſe eines Dinges von der Summe
der
Atome herrührt, die dieſe Maſſe bildet, ſo zog er den
ganz
richtigen Schluß, daß man aus der Anziehungskraft jedes
Himmelskörpers
auch ſeine Maſſe berechnen kann.
Neuere Unterſuchungen haben dieſe Wahrheit nicht nur
beſtätigt
, ſondern haben auch den ſchlagendſten Beweis hiervon
geführt
, den man zu Newtons Zeiten noch nicht geben konnte.

Dieſe
Beweiſe beſtehen darin, daß man ein außerordentlich
feines
Inſtrument anwendet, um zu zeigen, daß nicht eben die
Erde
allein eine Anziehungskraft hat, ſondern auch jeder be-
liebige
Gegenſtand, den wir auf der Erde ſehen, und nur weil
jeder
Gegenſtand auf der Erde bloß einen unendlich kleinen
Teil
der Maſſe der Erde bildet, nur darum iſt ſeine An-
ziehungskraft
ſo äußerſt unbemerkbar und erſt durch jenes
35058 empfindliche Inſtrument zu entdecken, das wir eben erwähnt
haben
.
Worin aber beſteht dies Inſtrument?
Sicherlich werden Viele unſerer Leſer es nicht ahnen, daß
dies
wertvollſte und feinſte aller Inſtrumente ſo außerordentlich
einfach
iſt, daß ſchon die Kinder damit ſpielen.
Es iſt ein
Pendel.
Die menſchliche Hand hat Wagſchalen verfertigt, die ſo
empfindlich
ſind, daß die eine Schale ſchon ſinkt, wenn ſich
etwas
mehr Staub auf ſie legt als auf die andere.
Ein noch
empfindlicheres
und bei weitem einfacheres Inſtrument aber
iſt
das Pendel.
Was ein Pendel iſt, weiß gewiß jedermann. Das Perpen-
dikel
einer Uhr iſt z.
B. ein Pendel. Ein Faden, an den man
einen
Stein anbindet und ihn hin- und herſchwingen läßt,
iſt
ein ſchwingendes Pendel;
welch ein feines Inſtrument aber
ein
Pendel iſt, ahnen nur wenige Menſchen.
Wenn man ein aufgehängtes Pendel in Bewegung ſetzt,
das
heißt hin- und herſchwingen läßt, ſo iſt die Dauer einer
Schwingung
ein richtiges Maß für die Anziehung der Erde.
Es folgt auf das Allergenaueſte aus den Geſetzen des Falles,
daß
ein Pendel langſamer ſchwingen muß, wenn die An-
ziehungskraft
der Erde abnimmt, und ſchneller ſchwingen wird,
wenn
die Maſſe der Erde zunehmen würde.
Nun läßt ſich
zwar
beim einmaligen Hin- und Herſchwingen nicht mit Ge-
nauigkeit
ſagen, ob der Schwung ein bißchen ſchneller oder
ein
bißchen langſamer iſt;
aber wenn man ein ſolches Pendel
von
etwa 1 Meter Länge einen Tag lang hin- und herſchwingen
läßt
und die Schwingungen zählt, ſo wird man aus der Zahl
der
Schwingungen ſehr gut erkennen, ob es ſchneller oder lang-
ſamer
ſchwingt.
Hat man die Länge des Pendels z. B. genau ſo
eingerichtet
, daß es in jeder Sekunde einmal ſeine Schwingung
machen
muß, ſo wird es in einem Tage 86400 mal
35159 müſſen; macht es nun eine einzige Schwingung mehr oder
weniger
, ſo weiß man, daß es ſich jede Sekunde um {1/86400}
zu
ſchnell oder zu langſam bewegt hat.
Da kein Inſtrument in der Welt ſo unmerkbare Dinge
anzuzeigen
vermag, ſo hat man das Pendel mit Recht als das
feinſte
Inſtrument in der Welt zu betrachten;
und Verſuche
mit
demſelben haben bisher noch die ſicherſten Reſultate der
Wiſſenſchaft
geliefert, obgleich ſich ſolchen Verſuchen die größten
Schwierigkeiten
in weſentlichen Punkten entgegenſtellen.
Der Pendel-Verſuch iſt es auch, der in neueſter Zeit
den
vollen, unumſtößlichen Beweis geliefert hat, daß alle Maſſen
eine
Anziehungskraft beſitzen, und daß auch alle Maſſen der
Anziehungskraft
gleich unterworfen ſind.
Der Naturforſcher
Reichenbach zeigte durch Verſuche, wie ein Pendel nicht nur
von
der Anziehungskraft der Erde in Schwingung erhalten
wird
, ſondern auch jede an Maſſe hinreichend ſtarke Kugel
dies
Kunſtſtück verrichtet:
und der Aſtronom Beſſel, der
Pendel
aus allen möglichen Stoffen der Welt herſtellte, gab
den
Beweis, daß alle Stoffe der Welt der Anziehung ganz
gleich
unterliegen.
XXI. Die Anziehungskraft und die Entſtehung
der Welt.
Blicken wir nun auf das Reſultat der Verſuche, die wir
im
vorhergehenden Abſchnitt erwähnt haben, ſo geht aus ihnen
Folgendes
mit der vollſten Beſtimmtheit hervor.
Jede Maſſe in der Welt beſitzt eine Anziehungskraft auf
andere
Maſſen.
Je größer die Maſſe iſt, deſto größer iſt die
Anziehungskraft
, denn dieſe Anziehungskraft iſt immer die
Summe
der Anziehungskräfte, die die Atome beſitzen, welche
die
Maſſe bilden.
35260
Eine Bleikugel z. B. beſitzt eine Anziehungskraft und
äußert
auch dieſe merkbar auf eine geeignete Pendel-Vorrichtung.
Eine zweimal ſo ſchwere Bleikugel beſitzt eine zweimal ſo
große
Anziehungskraft, eine halb ſo große Bleikugel hat nur
eine
halb ſo große Anziehungskraft, der zehnte Teil der Blei-
Kugel
hat eine zehnmal ſchwächere Anziehungskraft und die
Natur
dieſer Anziehung iſt der Anziehungskraft der Erde ganz
ähnlich
, ſie iſt ſtark in der Nähe und nimmt quadratiſch mit
der
Entfernung ab:
ſie verhält ſich alſo ganz wie die An-
ziehung
, welche man an den Himmelskörpern entdeckt hat.

Die
Bleikugel ſteht in dieſer Beziehung der Sonne, den Fix-
ſternen
und allen Geſtirnen des Himmels ganz gleich, und
wirkt
nur darum ſchwächer, weil ſie, mit jenen gewaltigen
Kugeln
verglichen, an Maſſe ſo gering iſt.
Über dieſe Thatſache herrſcht nicht der allergeringſte
Zweifel
;
ſie ſteht vielmehr ſo feſt und unumſtößlich da, wie
nur
irgend ein wiſſenſchaftliches Reſultat.
Iſt dem aber ſo, ſo erweckt dies unſer ernſtliches Nach-
denken
und regt äußerſt wichtige Fragen in uns an, die uns
bis
zu den Rätſeln der unſichtbaren Kräfte oder den rätſel-
haften
Eigenſchaften der Atome führen.
Denken wir uns einmal einen ganz leeren Raum im
Weltgebäude
.
Denken wir uns Sonne, Mond, Erde, Planeten,
Kometen
und Fixſterne ganz und gar fort und nehmen wir
an
, daß in dieſem leeren Raume zwei kleine Atome exiſtieren,
die
Millionen Meilen von einander entfernt ſind, ſo wird
zwiſchen
dieſen Atomen eine Anziehungskraft wirkſam ſein.
Dieſe Anziehungskraft wird außerordentlich ſchwach ſein, weil
die
Atome ganz außerordentlich gering an Maſſe ſind.
Durch
die
große Entfernung wird die ſchwache Anziehungskraft nur
noch
um Millionenmal Millionen ſchwächer wirken;
gleichwohl
aber
ſteht es unumſtößlich feſt, daß die beiden Atome ſich
gegenſeitig
anziehen und wenn ſie auch bisher vollſtändig
35361 haben, ſo werden ſie anfangen, ſich einander zu nähern, und
dies
werden ſie ſo lange fortſetzen, bis nach vielen Millionen
Jahren
beide Atome vereinigt und eine einzige Maſſe ge-
worden
ſind.
Exiſtieren mehr als zwei ſolche Atome im Weltraum, ſo
werden
alle zu einander ſich bewegen und ſich an irgend einem
Punkte
treffen und vereinigen, und denken wir uns den Welt-
raum
von Strecke zu Strecke erfüllt mit ſolchen Atomen, ſo
werden
an allen Punkten, wo ſie einander etwas näher ſtehen,
nach
und nach ſich ganze Maſſen bilden, und wenn ihre Zahl
groß
genug iſt, ſo würden aus ihnen große Himmelskörper,
Kugeln
von ungeheurer Maſſe entſtehen, wie wir ſie jetzt in
Sonne
, Fixſternen, Planeten und Monden vor uns ſehen.
Von einer ſolchen Vorſtellung fühlt ſich der menſchliche
Geiſt
hingeleitet in die dunkelſten Zeiten der Entſtehung der
Welt
und findet einen Gedankenfaden, der ihn zurückführt auf
das
unerforſchliche Gebiet, wo das Daſein der Welt begonnen.
Freilich ſcheint es dem menſchlichen Geiſte nicht vergönnt
zu
ſein, tief in jenes Dunkel hineinzublicken.
Gehen wir einmal zurück auf die Frage, wie die Welt oder
richtiger
wie die Himmelskörper, die den Weltraum erfüllen,
entſtanden
ſind, ſo iſt eben nicht viel für unſern Wiſſensdrang
dadurch
gewonnen, wenn wir annehmen, daß ſie vor ihrer
Bildung
als getrennte Atome exiſtierten, welche durch die Ge-
ſetze
der Anziehung ſich zu Himmelskörpern vereinigt haben.
Fragen wir einmal nach der Entſtehung, ſo müſſen wir auch
nach
der Entſtehung der Atome fragen und wollten wir uns
mit
einer Art von Antwort irgendwie begnügen, ſo wird es
ſtets
rätſelhaft bleiben, wie dieſe Atome zu der Eigenſchaft
gekommen
ſind, ſich gegenſeitig anzuziehen?
Wer ſich in
Beantwortung
ſolcher Fragen nicht gern täuſcht, der wird auch
geſtehen
, daß die bisherigen Aufſchlüſſe der Naturwiſſenſchaft
nicht
ausreichen, auf dieſe Fragen eine Antwort zu erteilen.
35462 Es können ſolche Fragen auch nicht mehr in das Gebiet der
ſtrengen
Naturwiſſenſchaft gehören, ſondern liegen über deren
Grenze
hinaus auf einem Gebiete, das man nur mit Vorſicht
betreten
darf, wenn man nicht irre wandeln will.
Dies ſind
diejenigen
Fragen, denen gegenüber Du Bois-Reymond ſein
berühmtes
Ignorabimus” (Wir werden es nie wiſſen) aus-
ſprach
.
Gleichwohl aber iſt es Naturwiſſenſchaft, wenn ſie ſo
weit
als möglich das Entſtehen der Dinge auf naturgemäßem
Wege
erklärt und ſich beſtrebt für die Entwicklung der Welt
keine
übernatürlichen Kräfte anzunehmen;
und wenn es zuge-
geben
werden muß, daß die Wiſſenſchaft imſtande iſt, ſich die
Entſtehung
der Himmelskörper aus zerſtreuten Atomen im
Weltraum
vorzuſtellen, ja daß nach den Geſetzen der Natur-
wiſſenſchaft
dieſe Entſtehung der Welten erfolgen müßte aus
ſolchen
Atomen, ſo iſt dies immer ein Sieg der Wiſſenſchaft.
XXII. Die Verſchiedenheit ähnlicher Naturkräfte.
Kehren wir nunmehr wieder zurück zu unſerem Haupt-
thema
:
der Kraft der Anziehung!
Die Atome eines und desſelben feſten Körpers halten ſich
mit
einer gewiſſen Kraft feſt, und wir ſtellen uns dieſe Kraft
als
eine Anziehung vor.
Gleichwohl hat dieſe Anziehung ihre Grenzen. Dieſe
Anziehung
iſt vollſtändig unterbrochen, wenn man gewalt-
ſam
das feſte Stück auseinander bricht.
Man ſollte glauben,
daß
die Anziehungskraft der Atome ausreichen müßte, ein Stück
Eiſen
, das man zerbrochen hat, wieder zu einem Ganzen
werden
zu laſſen, wenn man die Bruchteile an einander preßt.
Allein dies iſt nicht der Fall, und man erklärt dies dadurch,
daß
dieſe Anziehung zwiſchen Atom und Atom nur
35563 wenn ſie außerordentlich nahe an einander liegen, daß aber
ein
noch ſo ſtarker Druck nicht hinreiche, die von einander ge-
riſſenen
Atome wieder ſo nahe an einander zu bringen, daß
die
Anziehungskraft wirkſam werde.
Allein dieſe Erklärung hat wieder viel Unerklärliches an
ſich
.
Man ſollte zwar glauben, daß dieſelbe Kraft, welche
hingereicht
hat, ein Stück Eiſen auseinander zu reißen, auch im-
ſtande
ſein müſſe, die Bruchteile wieder an einander zu preſſen,
damit
ein Atom des einen Stückes dem des anderen nahe
genug
kommt, um die Anziehung zu bewirken.
Dem iſt jedoch
nicht
ſo.
Auffallend iſt es, daß friſche Schnittflächen in Blei und
noch
beſſer in Gummi-Elaſtikum durch Druck wieder vereinigt
werden
können, und zwar nicht ſo, wie etwa zwei glatte
Flächen
überhaupt an einander haften, ſondern es findet eine
ſo
vollſtändige Vereinigung bei gehörigem Drucke ſtatt, daß
zwei
Stücke zu Einem werden.
Wenn wir hiernach annehmen müſſen, daß in den über-
wiegend
meiſten Stoffen die Atome, wenn ſie einmal einander
losgelaſſen
haben, nicht wieder leicht die Anziehung auf einander
ausüben
, ſo iſt es mit der zweiten Art von Anziehung, mit
der
Anziehung der Maſſen aus der Ferne ganz anders.
Dieſe
Art
von Anziehung nimmt in der Nähe zu und mit der Ent-
fernung
ab;
aber ſie wird nicht im geringſten geſtört durch
abwechſelndes
Nähern oder Entfernen, und bleibt in ihrem
Weſen
ganz gleich, wenn man auch die Anziehung noch ſo oft
durch
Entfernen der angezogenen Körper geſtört hat.
Zwar kann man Verſuche derart nicht leicht anſtellen,
aber
die Natur ſelber wiederholt dieſen Verſuch allmonatlich
mit
der Anziehungskraft der Erde, indem der Mond nicht in
einer
völlig kreisrunden, ſondern in einer Art länglichrunden
Bahn
, einerEllipſe”, um die Erde läuft, bei welcher er der
Erde
regelmäßig bald etwas näher, bald etwas entfernter iſt;
35664 und obwohl dieſe Annäherung und Entfernung ſeit Jahr-
tauſenden
abwechſelnd ſtattfindet, hat es der Anziehungskraft
der
Erde auf den Mond keinen Eintrag gethan und die Natur
dieſer
Kraft ganz unverändert gelaſſen.
Der weſentlichſte Unterſchied zwiſchen den beiden Arten
der
Anziehung liegt ferner darin, daß neben der Anziehung
der
Atome eines und desſelben Stückes eine Abſtoßung ſtatt-
findet
.
Drückt man ein Stück Eiſen, ſo ſchieben ſich die
Atome
an einander, und es wird kleiner:
hebt man aber den
Druck
auf, ſo dehnt ſich das Stück Eiſen wieder in ſeine frühere
Geſtalt
zurück.
Dies können wir uns nicht anders als durch
die
Abſtoßungskraft der Atome erklären, die zugleich neben der
Anziehungskraft
herrſcht und die beide zuſammen ſtets die Lage
der
Atome regulieren, ſo daß bei einer ſich ſelbſt überlaſſenen
Maſſe
die beiden Kräfte im Gleichgewicht ſind.
Dahingegen hat man bei der zweiten Art der Anziehung,
bei
der Anziehung der Maſſen, vergebens irgend welche Er-
ſcheinung
der Abſtoßung geſucht.
Unter den vielen Tauſend
Himmelserſcheinungen
und den Bewegungen der Himmelskörper
ſcheint
außer der Kraft der eigenen Bewegung nur die An-
ziehung
der Maſſen auf einander zu wirken, wenigſtens hat
dieſe
Annahme ausgereicht, nicht nur ſämtliche Erſcheinungen
zu
erklären, ſondern auch aus den Wirkungen dieſer Art, die
bisher
nicht geſehene Himmelskörper ausgeübt hatten, die
Exiſtenz
dieſer Himmelskörper zu beweiſen und ihre Entdeckung
zu
befördern.
Endlich zeigt ſich noch der weſentliche Unterſchied, daß die
Anziehung
der Atome in feſten Stoffen durch die Wärme nicht
nur
verändert wird, ſondern ſogar ſo vollſtändig aufgehoben
werden
kann, daß die Atome ſich in Gas verwandeln und als
ſolche
ſich von einander ſo weit, als es ihnen nur der Raum
geſtattet
, entfernen, daß alſo durch die Wärme die Anziehungs-
kraft
vollſtändig verloren geht und die Abſtoßungskraft
35765 übrig bleibt. Bei der Anziehungskraft der Maſſen auf ein-
ander
iſt jedoch ſolch’ eine Veränderung durch die Wärme
nicht
merkbar.
Man hat nicht nur in der Anziehungskraft
der
Erde auf das Pendel keinen Unterſchied zwiſchen Sommer
und
Winter, Tag und Nacht, zwiſchen hellem Sonnenſchein und
Sonnenfinſterniſſen
gefunden, ſondern auch die Nähe der Erde
zur
Sonne oder deren Entfernung hat einen Unterſchied der
Anziehung
der Erde nicht merkbar gemacht.
Sehen wir ſo dieſe ſcheinbar einheitliche Kraft der An-
ziehung
unter Umſtänden ſo weſentlich verändert, ſo wollen
wir
nunmehr die anderen Arten der Anziehung kennen lernen,
die
in ihrem Weſen nicht minder verſchieden und nicht minder
wunderbar
als die bisherigen ſind.
XXIII. Die Kraft des Magneten.
Durch nichts in der Welt kann man die Erſcheinung der
Anziehung
ſo leicht Allen vorzeigen als durch einen Magneten.
Selbſt Menſchen, die ſonſt Naturkräfte wie Märchen anſehen,
werden
durch dieſe Verſuche, die ſie ſelber an einem Magneten
anſtellen
können, eines Beſſeren belehrt und durch Thatſachen
angeregt
, ihr ernſtlicheres Nachdenken auf die wunderbaren Er-
ſcheinungen
zu richten.
Am beſten eignet ſich dazu einHufeiſen-
magnet”
, den man ſchon für zehn Pfennig käuflich erhalten kann.
Wir wollen eine Reihe ſolcher Verſuche, die Jeder mit
Leichtigkeit
ſelber anſtellen kann, hier aufführen.
Auf ſehr verſchiedene Weiſe iſt man jetzt imſtande, eine
Stahlnadel
magnetiſch zu machen.
Wenn man eine ſtählerne,
gewöhnliche
Stricknadel mit einem Magnetſtein, wie ſolche in
der
Erde gefunden werden, beſtreicht, ſo wird die Stricknadel
in
einen Magneten verwandelt.
Ein gewöhnlicher Magnet, wie
man
ihn in den Eiſenhandlungen kaufen kann, verſteht eben-
35866 falls dieſes Kunſtſtück. Beſtreicht man mit ihm eine Strick- nadel, ſo wird ſie gleichfalls magnetiſch. Mit noch größerem Erfolge kann man ſolche Stricknadel in einen Magneten ver- wandeln, wenn man ſie an einem Elektromagneten, von dem wir ſpäter ſprechen werden, ſtreicht. Endlich erhält auch Eiſen magnetiſche Eigenſchaften durch Feilen.
Legt man eine magnetiſierte Stricknadel auf den Tiſch und
hält
eine Nähnadel in die Nähe, ſo wird man bemerken, daß
hier
eine Anziehung ſtattfindet, Magnet und Eiſen ziehen ſich
gegenſeitig
und ſchon in einer gewiſſen Entfernung an, bis ſie
ſich
berühren.
Hat die Berührung ſtattgefunden, ſo halten
Magnet
und Eiſen feſt zuſammen, ſo daß es eine gewiſſe
Kraft
erfordert, ſie auseinander zu reißen.
Da eine magnetiſierte Stricknadel in Wahrheit ein Magnet
iſt
, ſo wollen wir ihr nunmehr immer dieſen Namen geben
und
in allen Fällen unter Magnet einen geraden magnetiſchen
Stahlſtab
bezeichnen, während wir einen gewöhnlichen gebogenen
Magneten
einen Hufeiſen-Magneten nennen wollen.
Legt man einen Magneten in Eiſenfeile, wie man ſie in
jeder
Schloſſerei oder Schmiede erhalten kann, ſo ſieht man ſo
recht
, wo die Kraft des Magneten am ſtärkſten iſt.
Die kleinen
Stückchen
Eiſenfeile heften ſich an den Magneten an und bilden
einen
ordentlichen Bart an demſelben.
Beobachtet man dieſen
Bart
, ſo nimmt man wahr, daß er in der Mitte der Nadel
ganz
und garnicht vorhanden iſt, dahingegen immer ſtärker
und
ſtärker wird nach den Enden zu, bis endlich an beiden
Enden
des Magneten die kleinen Eiſenſtückchen nicht nur am
Magnete
, ſondern auch fadenweiſe an einander haften und
ordentlich
borſtenartig aus einander gehen.
Da offenbar dort die magnetiſche Kraft am ſtärkſten iſt,
wo
ſich die meiſten Eiſenfeil-Spänchen anſetzen, ſo wird es
Jeder
einſehen, daß die Enden eines Magneten die ſtärkſte
magnetiſche
Kraft beſitzen.
35967
Streifen wir einmal mit den Fingern die Eiſenfeil-Späne
ab
und beſehen uns den Magneten, ſo finden wir, daß durch
das
Auge nicht die Spur zu entdecken iſt, worin dieſe Kraft
des
Magneten beſteht.
Der Magnet verrät an ſich keinem
unſerer
fünf Sinne irgend etwas, daß er eine ſolche Eigenſchaft
beſitzt
.
Er übt auch keine leicht merkbare Anziehung auf irgend
einen
Stoff ſonſt aus;
nur wenn man ihn an Eiſen bringt,
da
tritt mit einem Male dieſe Kraft hervor und überzeugt uns,
daß
die Dinge in der Welt Eigenſchaften haben können, von
denen
wir keine Ahnung haben, ſo lange wir nicht durch
Thatſachen
davon belehrt werden.
An unſerm Magneten kennen wir nun ſolche Eigenſchaften,
die
kein Menſch herauszufinden imſtande iſt, und wenn er
denſelben
noch ſo emſig unterſuchen wollte.
An Gewicht, an
Farbe
und an Anſehen, oder ſonſt durch irgendwelche Merkzeichen
unterſcheidet
ſich die magnetiſierte Stricknadel nicht im ge-
ringſten
von der nicht magnetiſierten;
und doch iſt die magne-
tiſierte
Stricknadel etwas anderes, ja ſie iſt in ihren einzelnen
Teilen
ganz eigentümlich, denn ihre Mitte iſt nicht magnetiſch,
während
ihre Enden magnetiſch ſind.
So wunderbar dies iſt, ſo iſt dies doch noch gar wenig
von
den Wundern der magnetiſchen Erſcheinung, wie man ſich
durch
weitere Verſuche ſofort überzeugen kann.
Man lege ein paar Nähnadeln auf ein Blatt Papier und
berühre
mit dem einen Ende des Magneten die eine, ſo wird
ſie
ſofort am Magnete angeheftet ſein.
Berührt man aber mit
dieſer
Nähnadel die zweite Nähnadel, ſo ſieht man, daß auch
dieſe
angezogen und mit einiger Behutſamkeit ſogar in die
Höhe
gehoben werden kann.
Iſt der Magnet ſtark genug, ſo
kann
man an die zweite Nähnadel noch eine dritte, an dieſe
noch
eine vierte anhängen u.
ſ. w.
Man ſollte nun glauben, daß der Magnet es iſt, der ſie
alle
trägt, der etwa ſo ſtark iſt, daß er die dritte und
36068 Nadel in ſeiner Nähe feſthält. Aber dem iſt nicht ſo. Nimmt
man
nämlich die erſte Nähnadel auch nur ein wenig vom
Magnete
herab, ſo fallen augenblicklich alle übrigen Nähnadeln
auseinander
, obgleich die zweite Nähnadel dem Magnete jetzt
immer
noch näher iſt als vorher die dritte und vierte.
Es geht in der That etwas Eigentümliches mit den Näh-
nadeln
vor, das wir noch kennen lernen werden, vorerſt aber
haben
wir noch einige Verſuche anzuſtellen.
XXIV. Weitere Verſuche mit einem Magneten.
Man lege einen Magnet unter ein großes Blatt Papier
und
ſtreue mit einer gewöhnlichen Streuſandbüchſe Eiſenfeil-
ſpäne
auf das Blatt.
Man wird ſofort eine eigentümliche
Lagerung
der Eiſenteilchen wahrnehmen, die merkwürdig
regelmäßige
Strahlen um die beiden Hälften des Magneten
bilden
.
Klopft man hierauf ein wenig mit dem Finger auf
das
Blatt, ſo findet die Bewegung noch regelmäßiger ſtatt
und
man erhält oft ein überraſchend ſchönes, regelmäßiges
Bild
, das Jedem, der es zum erſtenmal ſieht, gewiß viel Ver-
gnügen
machen wird.
Da es Niemandem, der ſich dafür intereſſiert, ſchwer werden
kann
, dieſen Verſuch zu machen, und da er bei einiger Übung
vollkommen
gelingt, ſo wollen wir uns mit Beſchreibung des-
ſelben
nicht aufhalten und wollen nur Folgendes zur näheren
Belehrung
hinzufügen.
Man ſieht, wie von der Mitte des Magneten aus nach
jedem
Ende hin die Eiſenteilchen ſich eigentümlich lagern.
Man muß aber hierbei nicht vergeſſen, daß wir auf dem Papier
nur
eine Fläche vor uns haben, auf welcher die Eiſenteilchen
liegen
;
wir ſehen alſo die Wirkung des Magneten nur in einer
einzigen
Ebene und hier nimmt ſich das Bild auf jeder
36169 aus wie eine Pfaufeder. Würde man imſtande ſein, den
Magneten
zu beobachten, wenn er ringſum mit ſolchen Eiſen-
feilſpänen
umgeben wird, ſo würde er die Eiſenteilchen ſo um
ſich
lagern, daß ſie wie ein voller Federbuſch erſcheinen.
Wir würden nun gern zur Erklärung auch dieſer Er-
ſcheinung
ſchreiten, wir haben aber noch eine ganze Reihe von
Verſuchen
mit dem Magneten anzuſtellen.
Wir haben geſehen, daß der Magnet, der unter dem
Blatt
Papier lag, eine eigene Art Anziehung auf die Eiſen-
teilchen
äußert, die auf dem Papier liegen.
Man muß nicht
glauben
, daß es nur mit Papier ſo geht, welches nicht dicht
genug
iſt, und vielleicht durch ſeine feinen, unſichtbaren
Löcherchen
, feine Poren, die Wirkung des Magneten durchläßt,
ſondern
man kann ſich durch viele Verſuche mit ſtarken Mag-
neten
überzeugen, daß ſie durch ſehr dichte und ſtarke Maſſen
hindurch
auf Eiſen wirken, ſo daß eine eiſerne Kugel auf der
Tiſchplatte
hin und her läuft, wenn man unter derſelben einen
ſtarken
Magneten hin und her bewegt.
Manche Taſchenſpieler-
Künſte
beruhen auf ſolcher Anwendung eines Magneten, deſſen
Kraft
der Anziehung nicht geſtört wird, wenn er auch durch
viele
kompakte Gegenſtände vom Eiſen getrennt iſt.
Nunmehr aber wollen wir einen neuen Verſuch machen!
Wenn man genau in der Mitte des Magneten einen
Faden
anbindet, ſo daß er wagerecht an demſelben ſchwebt,
dann
hat man ein Schauſpiel ganz eigener Art.
Sobald man den Faden irgendwo anhängt, ſo daß die
Magnetnadel
ſich beliebig wie der Zeiger einer Uhr nach allen
Richtungen
hin drehen kann, dann wird man bald bemerken,
daß
die Magnetnadel anfängt, ſich hin und her zu drehen
und
endlich wird ſie in einer gewiſſen Richtung ſtehen bleiben.
Stößt man die Nadel an, ſo wird ſie hin und her ſchwanken
und
endlich wieder in derſelben Richtung ſtehen bleiben wie
vorher
.
Man mag das ſo oft wiederholen, wie man
36270 man mag die Nadel nach einer beliebigen anderen Richtung
hinſtellen
, ſie wird immer, ſobald man ſie frei läßt, zurück-
kehren
in ihre frühere Stellung und in dieſer ruhig verharren.
Merkt man ſich die Himmelsgegend, nach welcher die zwei
Enden
der Nadel hinzeigen, ſo nimmt man wahr, daß die eine
Seite
der Nadel regelmäßig nach Norden, die andere nach
Süden
zeigt.
Dieſe Stellung der Nadel iſt ſo weit regelmäßig,
daß
man in finſterer Nacht, in einem Walde, auf dem Meere
oder
in einer Wüſte, wo man nicht weiß, wohin man ſich zu
wenden
hat, wenn man nach einer beſtimmten Himmelsgegend
reiſen
will, nur eine ſolche Nadel braucht, um ſofort zu ſehen,
wo
Norden und wo Süden iſt.
Der Kompaß, der in der
Schifffahrt
eine ſo wichtige Rolle ſpielt, iſt nichts anderes, als
eine
ſolche Nadel.
Freilich muß man ſich zu dieſem Zweck die beiden Enden
der
Nadel genau bezeichnen, damit man ſie nicht verwechſele,
und
thut man das, drückt man z.
B. an die eine Seite der
Nadel
ein Stückchen Wachs, ſo wird man wahrnehmen, daß
ein
bedeutender Unterſchied zwiſchen den beiden Enden der
Nadel
ſtattfindet, daß das eine Ende immer nach Norden und
das
andere immer nach Süden zeigt, und wenn man ſie
umkehrt
, ſie ſich beide wieder zurückbewegen, bis ſie in ihrer
früheren
Lage ruhen können.
Nehmen wir an, man hätte ſich das eine Ende, das nach
Norden
zeigt, mit einem angeklebten Stückchen Wachs genau
bezeichnet
, ſo würden wir wiſſen, daß dies ſtets das nördliche
Ende
des Magneten, das andere das ſüdliche Ende iſt.
Man
nennt
die Enden der Nadel die Pole derſelben und bezeichnet
daher
das eine Ende, das nach Norden zeigt, mit dem Namen
Nordpol, das andere Ende, das nach Süden zeigt, mit dem
Namen
Südpol.
Und nun, da wir ſo weit ſind, wollen wir die auffallenden
Erſcheinungen
, die dieſe Pole darbieten, näher kennen lernen.
36371
XXV. Was es mit den zwei Polen der Magnete
für Bewandtnis hat.
Der intereſſanteſte Verſuch, den man nunmehr anſtellen
kann
, iſt folgender:
Man nehme eine zweite ſtählerne Stricknadel, die keine
Spur
von magnetiſcher Kraft beſitzt, faſſe ſie in der Mitte und
ſtreiche
über die eine Hälfte derſelben mit irgend einer Seite
der
Magnetnadel oftmals hin.
Wenn man dieſes Beſtreichen,
wobei man am beſten verfährt, wenn man nur nach einer
Richtung
ſtreicht, etwa ſo wie man Rübchen ſchabt wenn
man
ſolches Beſtreichen lange fortgeſetzt hat, ſo findet es ſich,
daß
die frühere unmagnetiſche Nadel auch magnetiſch geworden
iſt
.
Und wunderbar: nicht nur etwa die Seite, die man be-
ſtrichen
hat, iſt magnetiſch geworden, ſondern auch die andere
Hälfte
, die man nicht beſtrichen hat!
Es gelingt zuweilen, die zweite Stricknadel eben ſo
magnetiſch
zu machen, wie die erſte.
Nun ſollte man glauben,
daß
die erſte etwas von ihrem Magnetismus verloren, indem
ſie
ihn gewiſſermaßen an die zweite abgegeben hat;
aber dem
iſt
nicht ſo.
Oft verſtärkt ſich gerade noch die Kraft der erſten
Nadel
;
jedenfalls jedoch ſchwächt ſie ſich dadurch nicht ab.
Nunmehr beſitzen wir zwei Magnetnadeln, und wenn man
die
zweite Nadel abgeſondert ebenſo aufhängt, wie man es
mit
der erſten gemacht hat, ſo wird man finden, daß auch die
zweite
Nadel das eine Ende ſtets nach Norden, das andere nach
Süden
ſtellt, daß ſie alſo gleichfalls einen Nordpol und einen
Südpol
beſitzt.
Damit man die Pole nicht verwechſele, bezeichne man ſich
auch
den Nordpol dieſer zweiten Nadel in beliebiger Weiſe.
Und nun verſuche man einmal Folgendes:
Man laſſe eine der Nadeln wieder in der Mitte
36472 hängt an einem Faden ſchweben, und warte ab, bis ſie ſich in
Ruhe
befindet.
Nun nähere man dem einen Pol ein Stückchen
Eiſen
, ſo wird er ſofort ſeine Ruhe verlaſſen und nach dem
Eiſen
zu eilen.
Aber vollkommen anders ſtellt ſich die Sache
heraus
, wenn man der aufgehängten Magnetnadel die andere
Magnetnadel
nähert.
So wie man mit dem Nordpol der
einen
Nadel in der Hand ſich dem Nordpol der aufgehängten
Nadel
nähert, ſo zieht ſich dieſer zurück, wendet ſich ab, läuft
davon
, ſo daß man ihn im Kreiſe herumjagen kann.
Der
Nordpol
der einen Nadel flieht den Nordpol der andern Nadel,
oder
richtiger der Nordpol der einen Nadel ſtößt den Nordpol
der
andern Nadel ab.
Wartet man ab, bis die aufgehängte Nadel wieder in
Ruhe
iſt und verſucht es, den Südpol der einen Nadel in der
Hand
dem Nordpol der aufgehängten Nadel zu nähern, ſo
findet
keine Abſtoßung ſtatt, im Gegenteil, der Südpol der
einen
Nadel zieht den Nordpol der andern mit ſtärkerer Kraft
an
als gewöhnliches Eiſen.
Alſo der Nordpol einer Nadel wird vom Südpol einer
andern
Nadel angezogen;
dahingegen wird der Nordpol einer
Nadel
vom Nordpol einer andern Nadel abgeſtoßen.
Verſucht man es mit dem Südpol der aufgehängten Nadel,
ſo
zeigt er eine gleiche Eigentümlichkeit.
Bringt man den
Nordpol
einer zweiten Nadel in ſeine Nähe, ſo wird derſelbe
angezogen
.
Bringt man aber den Südpol einem zweiten Süd-
pol
nahe, ſo wird er abgeſtoßen.
Es verlohnt ſich für Jeden, der dies noch niemals geſehen
hat
, daß er den Verſuch anſtellt, denn er iſt leicht und mit
ſehr
wenig Koſten verknüpft und bringt in ſprechender Weiſe
eine
merkwürdige Erſcheinung vor Augen, die dem weiſeſten
Manne
den Stoff zu den tiefſten Gedanken giebt.
So ſehen wir denn in jedem Magneten eine Art Trennung
des
Magnetismus, eine Teilung in Nord- und Südpol
36573 eine gewiſſe Feindſchaft zwiſchen gleichen Polen, denn ſie ſtoßen
ſich
gegenſeitig ab.
Wie aber ſoll man ſich all dieſe Rätſel erklären?
Wir wollen recht bald zu der Erklärung dieſer geheimen
Naturkraft
zu kommen verſuchen;
vorerſt aber wollen wir noch
einen
Verſuch machen.
Die Stricknadeln haben nur auf der einen Seite einen
Nordpol
und auf der andern einen Südpol.
Wie iſt es denn,
wenn
man eine Stricknadel in der Mitte durchbricht?
Sollte
man
da nicht zwei Magnete erhalten, von denen der eine ein
reiner
Nordpol, der andere ein reiner Südpol iſt?
XXVI. Was mit einem Magneten geſchieht,
der in der Mitte durchgebrochen wird.
Wer den Verſuch gemacht und eine Magnetnadel in der
Mitte
durchgebrochen hat, der wird bei der Unterſuchung
der
zwei Stücke finden, daß jedes derſelben ein Magnet für
ſich
iſt, und zwar ein Magnet mit einem Nordpol und einem
Südpol
zu beiden Enden, und einer Mitte, die ganz un-
magnetiſch
iſt.
Man bedenke nur, was hier vorgegangen iſt. Die ganze
Nadel
war früher ſo beſchaffen, daß ſie an der einen Seite
einen
Nordpol, an der andern Seite einen Südpol hatte,
während
die Mitte unmagnetiſch war.
Man ſollte nun meinen,
daß
nach dem Durchbrechen der Nadel in ihrer unmagnetiſchen
Mitte
jedes der abgebrochenen Stücke nur auf einer Seite
magnetiſch
ſein könne, während das andere Ende, wo der Bruch
geſchah
, unmagnetiſch bleiben müſſe.
Das iſt nicht der Fall.
Das Ende, wo der Bruch iſt, wird plötzlich eben ſo ſtark
magnetiſch
wie das andere Ende.
Man hat durch das Zer-
brechen
des Magneten nicht zwei halbe Magnete, ſondern
36674 neue vollſtändige Magnete, die nur halb ſo groß ſind als der
ganze
war.
Und unterſucht man die Enden der beiden neuen Magnete,
ſo
findet man, daß das Ende, das ehedem Nordpol war, auch
jetzt
noch Nordpol iſt, dafür aber iſt die zerbrochene Mitte,
die
früher ganz unmagnetiſch war, Südpol geworden, während
umgekehrt
das Ende, das früher Südpol war, auch jetzt Südpol
blieb
, das Ende dagegen, wo der Bruch geſchah, plötzlich ein
Nordpol
geworden iſt.
Wie aber ſteht es um die Mitte der beiden neuen Mag-
netnadeln
?
Man verſuche es wieder mit Eiſenfeil-Spänen,
und
man wird finden, daß ihre Mitte ebenſo plötzlich un-
magnetiſch
geworden iſt, obwohl dieſe zwei Stellen an der
unzerbrochenen
Nadel magnetiſch waren.
Man lege einmal
wieder
die beiden Bruchſtücke dicht aneinander, ſo daß die
beiden
Nadeln wie eine ganze Nadel ausſehen, und man wird
finden
, daß ihre magnetiſche Kraft wieder ſo geworden iſt, wie
vor
dem Zerbrechen.
Die Mitte, wo der Bruch iſt, iſt wieder
plötzlich
unmagnetiſch geworden, und die beiden Punkte, die
früher
die Mitte beider Nadeln bildeten, haben wieder ihren
Magnetismus
.
Zieht man wieder beide Nadelſtücke ausein-
ander
, ſo hat ſich wieder im Moment der Magnetismus
verſchoben
und jede Nadel iſt wieder ein vollſtändiger be-
ſonderer
Magnet mit zwei Polen und einer unmagnetiſchen
Mitte
.
Was aber ſoll man ſich von all’ den wunderbaren Er-
ſcheinungen
denken?
Wie ſoll man ſich all die Rätſel erklären?
Wie vermag man dieſer geheimen Naturkraft auf die Spur zu
kommen
?
Wir wollen dieſe Fragen beantworten, ſoweit eben die
Naturwiſſenſchaft
jetzt eine Antwort geben kann und wir hoffen
hierbei
, daß uns die Leſer in der Verſtändigung über dieſe
Rätſel
durch eigenes Nachdenken entgegenkommen werden.
36775
Vor allem aber wollen wir das hervorheben, was die
Thatſachen
ganz unleugbar feſtſtellen
Durch die beſchriebenen Thatſachen belehrt, kann kein
Menſch
verkennen, daß hier eine Kraft wirkſam iſt, eine Kraft,
deren
Wirkung man ſieht, ohne die Kraft ſelber wahrnehmen
zu
können.
Dieſe Kraft iſt eine Kraft der Anziehung und
unter
gewiſſen Fällen eine Kraft der Abſtoßung.
Sie iſt in
der
Magnetnadel verborgen und tritt, ſo lange man ihr kein
Eiſen
nahe bringt, ſcheinbar nicht hervor, giebt ſich aber in
ihrer
Einwirkung auf Eiſen vollſtändig kund.
Unterſucht man die Kraft der Anziehung und die der Ab-
ſtoßung
, ſo findet man, daß auch dieſe Kraft mit der Ent-
fernung
abnimmt und zwar ganz wie die Kraft der Anziehung
der
Maſſen;
ſie nimmt quadratiſch mit der Entfernung ab,
das
heißt beiſpielsweiſe:
ein Stück Eiſen, das zwei Zoll weit
vom
Magneten liegt, wird viermal ſchwächer angezogen als
ein
anderes Stück, das nur einen Zoll weit ſich vom Magneten
befindet
.
Zwei Arten der Anziehungskraft haben wir bereits kennen
gelernt
.
Erſtens die Anziehungskraft der Atome in jedem
Körper
und zweitens die Anziehungskraft der Maſſen auf ent-
fernte
andere Maſſen.
Dieſe zwei Arten der Anziehungskraft
unterſcheiden
ſich, wie wir bereits geſehen haben, in weſent-
lichen
Punkten.
Während die Anziehungskraft der Atome in
einer
höchſt wunderbaren Weiſe mit einer Abſtoßungskraft ge-
paart
iſt, findet bei der Maſſenanziehung keine Abſtoßung ſtatt.
Ferner wirkt die Wärme außerordentlich ſtark auf die An-
ziehungskraft
der Atome ein, während ſie auf die Maſſenan-
ziehung
ohne Einfluß iſt.
Jetzt, wo wir eine dritte Anziehung kennen lernen, die
magnetiſche
Anziehung, ſehen wir in ihr gewiſſermaßen beide
früheren
Kräfte in dieſen Punkten vereinigt.
Wir ſehen hier
Anziehung
aus der Ferne, zugleich nehmen wir wahr, daß
36876 eine Abſtoßungskraft thätig iſt und endlich haben Verſuche ge-
zeigt
, daß eine Erwärmung eines Magneten bis zu einem ge-
wiſſen
Grade die magnetiſche Kraft aufhebt, ſo daß ein Magnet,
wenn
er geglüht wird, alle ſeine Eigenſchaften einbüßt.
Nach dieſen allgemeinen vergleichenden Betrachtungen
wollen
wir der Lehre von dem Geheimnis des Magnetismus
etwas
näher zu kommen ſuchen.
XXVII. Eine Erklärung der magnetiſchen
Erſcheinungen.
Verſuchen wir nunmehr, eine Erklärung der bisherigen
Erſcheinungen
des Magnetismus vorzuführen, ſo weit die
Wiſſenſchaft
dieſe Erklärung zu geben vermochte!
Offenbar ſteckt in einer eiſernen oder in einer Stahlnadel,
die
zu einem Magneten werden kann, und ebenſo in Eiſen und
Stahl
überhaupt etwas Verborgenes, das nicht ſichtbar wird
und
das ſich erſt äußert, wenn das Eiſen mit einem Magneten
in
Berührung gebracht oder gar mit dieſem beſtrichen wird.
Bedenkt man, daß der erſte Magnet nichts von ſeiner Kraft
verliert
, wenn man mit demſelben ein anderes Eiſen zum Mag-
neten
macht, ſo kann man nicht annehmen, daß die magnetiſche
Kraft
ſich dem zweiten Eiſen mitgeteilt hat, ſondern man muß
ſich
vorſtellen, daß die eine vorhandene magnetiſche Kraft eine
andere
im Eiſen verborgene, ſchlummernde geweckt habe.
Das iſt freilich wunderbar, ja es klingt faſt wie eine
Fabel
;
aber wir finden in der Natur ähnliche Wunder in nicht
geringer
Zahl, und hören auf uns zu wundern, wenn wir die
Dinge
nur oft genug vor Augen ſehen.
Ein wenig gährende
Flüſſigkeit
verſetzt eine große Maſſe anderer Flüſſigkeit in
Gährung
, das kleinſte Tröpfchen Pockengift erzeugt im menſch-
lichen
Körper eine Unmaſſe von Pocken, die gleiches Gift in
36977 haben. Wir ſagen: das iſt Anſteckung und glaubten früher
durch
dieſes Wort den Vorgang erklärt;
die Wiſſenſchaft aber
geſtand
gerne ein, daß dies Wort ſelber noch der Erklärung
bedurfte
und ſie iſt ſchließlich durch die Erkenntnis gefunden
worden
, daß das anſteckende Mittel aus winzigen Pflanzen
(Bakterien), die ſich ſchnell ins Ungeheuerliche vermehren, be-
ſteht
.
Will man ſich nun beim Magnetismus mit einem
Wort begnügen, nun ſo mag man, wenn man will, ſagen, es
gehe
im erſten Moment, wo der Magnet das Eiſen berührt,
ein
Prozeß der Anſteckung vor, wodurch das Eiſen gleichfalls
magnetiſch
wird.
Durch Streichen wird die Anſteckung noch
vollſtändiger
.
Eine weitere Beobachtung zeigt uns indeſſen, daß wir
dem
Geheimnis des Magnetismus noch etwas näher auf die
Spur
zu kommen imſtande ſind.
Man verſuche es einmal, von dem Nordpol-Ende einer
Nadel
ein Stückchen abzubrechen, und man wird ſehen, daß
das
Stückchen auch ein vollſtändiger Magnet iſt, der am Bruch
einen
Südpol hat.
Ja, man kann eine Magnetnadel in tauſend
kleine
Stücke zerbrechen und jedes Stückchen wird ein voll-
ſtändiger
Magnet ſein, und zwar:
mit Nordpol, Südpol und
unmagnetiſcher
Mitte.
Man muß ſich alſo denken, daß das Eiſen der Stricknadel
nur
aus einzelnen Atomen beſteht, und muß ſich zur Erklärung
der
magnetiſchen Erſcheinungen vorſtellen, daß in jedem
Atom
für ſich eine Trennung des Magnetismus vor
ſich
geht
, ſo daß aus jedem Atom ein kleiner Magnet mit
Nord-
und mit Südpol entſteht.
So ſonderbar dieſe Vorſtellung auch ſcheinen mag, ſo
außerordentliche
Wichtigkeit erlangt ſie doch, wenn man bedenkt,
daß
ſie ausreicht, alle Rätſel der magnetiſchen Erſcheinungen,
die
wir angeführt haben, zu löſen.
Und daß dies der Fall
iſt
, wollen wir ſogleich zeigen.
37078
XXVIII. Was in einer Nadel vorgeht, die man
magnetiſiert.
Man wird ſich am leichteſten eine richtige Vorſtellung machen
von
dem, was in einem Eiſen vorgeht, welches zum Magneten
u@gewandelt
wird, wenn man ſich folgendes denkt.
Man nehme an, daß wir eine äußerſt feine Nadel von
der
Größe einer Stricknadel vor uns haben;
aber die Nadel
ſei
ſo außerordentlich dünn, daß ſie nur aus einer einzigen
Reihe
aneinanderliegender Atome des Eiſens gebildet wird.
In der Wirklichkeit giebt es eine ſo feine Nadel nicht, aber
wir
wollen ſie uns einmal des leichten Verſtändniſſes halber
ſo
denken.
Wir wollen ferner einmal annehmen, es gäbe zwei Arten
von
magnetiſchen Stoffen, einen Nord-Magnetismus und einen
Süd-Magnetismus
.
Wenn gleich von vornherein betont werden
mag
, daß dieſe Annahme unrichtig iſt, ſo wollen wir ſie doch
ein
Weilchen beibehalten, da ſie die Vorſtellung weſentlich er-
leichtert
.
In einer Nadel liegen alſo der Reihe nach Atom an Atom
einzeln
an einander, jedes Atom iſt unmagnetiſches Eiſen und
alle
zuſammen bringen demnach keine magnetiſche Wirkung
hervor
.
Ein jedes Atom aber für ſich hält in ſich und um
ſich
nehmen wir an beide Arten magnetiſchen Stoffes
verſchloſſen
.
In ſolchem Falle der Vereinigung beider ver-
ſchiedenartiger
magnetiſcher Stoffe iſt der Magnetismus ruhend
und
äußert keine Art von Anziehung auf anderes Eiſen.
Nunmehr aber wollen wir uns denken, daß man ein Ende
dieſer
Nadel mit dem Pol eines Magneten berührt, und uns
hierbei
fragen, was in der Nadel vorgehen wird.
Nehmen wir an, daß der Pol des Magneten der Nordpol
ſei
, ſo wird er bei der Berührung des erſten Atoms der Nadel
in
dieſem Atom beide magnetiſche Stoffe vorfinden.
37179 wiſſen wir ja, daß ein Nordpol den nördlichen Magnetismus
abſtößt
und den ſüdlichen anzieht.
Es wird alſo die natürliche
Folge
der Berührung ſein, daß der Nordpol des Magneten
die
zwei verbundenen magnetiſchen Stoffe des Atoms, das er
berührt
, von einander trennt.
Der ſüdliche Magnetismus des
Atoms
wird vom Magneten angezogen, der nördliche wird
abgeſtoßen
.
Hierdurch wird das Atom zwei Pole erhalten;
der dem Magneten nahe liegende wird ein Südpol, während
der
vom Magneten entfernte ein Nordpol wird.
Der Magnet
hat
alſo das Atom in einen kleinen Magneten verwandelt.
Nun darf man nicht vergeſſen, daß an dieſem erſten Atom
ein
zweites liegt.
Die Stelle des erſten Atoms, welche das
zweite
berührt, iſt, wie wir bereits wiſſen, ein Nordpol;
die
Folge
wird ſein, daß dieſer Nordpol im zweiten Atom den
ſüdlichen
Magnetismus an ſich heranzieht und den nördlichen
abſtößt
.
Hierdurch wird auch das zweite Atom ein kleiner
Magnet
.
Das zweite Atom wirkt nun in gleicher Weiſe auf
das
dritte, und dieſes auf ſeinen Nachbar, und dies geht ſo
fort
, bis die Reihe an das letzte Atom kommt, in welchem
ebenfalls
das eine Ende, das ſeinen Nachbar hat, ein Südpol
wird
, während das letzte Ende der Nadel ein Nordpol bleibt.
Der Magnet zieht alſo nicht das Eiſen, ſondern nur den
Magnetismus
an, der in jedem Eiſen-Atom vorhanden iſt.
Der Pol eines Magneten beſitzt den getrennten Magnetismus
an
ſeiner Fläche.
Dieſer getrennte Magnetismus hat das Be-
ſtreben
, ſich mit dem andern zu vereinigen und zieht deshalb
aus
einem Atom Eiſen, das es berührt, den entgegengeſetzten
Magnetismus
an, während er den gleichen abſtößt.
Er macht
alſo
aus dem Eiſen, das er berührt, einen neuen Magneten.
Daher vermag man mit einer Nähnadel, die an einem
Magneten
hängt, eine zweite Nähnadel aufzuheben;
denn die
Nähnadel
ſelber iſt ein Magnet geworden und verwandelt die
zweite
Nähnadel wieder in einen ſolchen.
37280
Weil nun eine Magnetnadel nichts iſt als eine Reihe
magnetiſcher
Atome, daher kommt es, daß man einen Magneten
zerbrechen
kann und dann in jedem Stück einen kleinen Magneten
beſitzt
.
Ein wenig Nachdenken reicht aus, auch alle übrigen
rätſelhaften
Erſcheinungen auf dieſe Weiſe zu erklären und
deshalb
hat man lange Zeit dieſe Hypotheſe als die richtige
angenommen
.
Jetzt, wo man den Magnetismus nicht mehr als beſonderen
Stoff
betrachtet, iſt man zu einer anderen Anſchauungsweiſe
gekommen
, die wir kurz auseinanderſetzen wollen!
Wenn man ein ſogenanntes Solenoid, einen ſpiralförmig
gewundenen
Kupferdraht, frei an einem Faden aufhängt und
einen
elektriſchen Strom hindurchſchickt, ſo verhält ſich das
Solenoid
ganz wie eine gewöhnliche Magnetnadel:
es ſtellt
ſich
ſtets in die Nord-Südrichtung ein, zeigt die gleiche Dekli-
nation
und Inklination an wie die Magnetnadel und kann ein
zweites
Solenoid, das man ihm in elektriſiertem Zuſtande
nähert
, anziehen oder abſtoßen, je nachdem man die gleich-
namigen
oder ungleichnamigenPole” einander nähert.
Man hat nun Grund zu der Annahme, daß jedes Atom
ſchon
im gewöhnlichen, unmagnetiſchen Eiſen von winzig kleinen
elektriſchen
Strömen umſpielt wird, ſo daß es vollkommen als
ein
Solenoid anzuſehen iſt.
Da nun aber infolgedeſſen zwiſchen
den
einzelnen zahlloſen Atomen ſehr komplizierte Anziehungs-
und
Abſtoßungskräfte thätig ſind, ſo entſteht ein wirres Durch-
einander
der magnetiſchen Kraftrichtungen, deren Reſultat iſt,
daß
die Kräfte ſich gegenſeitig aufheben und der Magnetismus
ſich
nach außen hin nicht bemerkbar macht.
Erſt wenn eine
ſtarke
elektriſche oder magnetiſche Kraft alle Atome zwingt, ſich
in
eine und dieſelbe Richtung, die Richtung der magnetiſchen
Kraft
einzuſtellen, können ſichtbare magnetiſche Kräfte auftreten,
und
zwar, wie eine einfache Überlegung zeigt, wieder nur an
den
Polen des Magneten.
Nun wird aber weiches Eiſen
37381 leicht und ſchnell magnetiſch, während man für die Magneti-
ſierung
von gehärtetem Eiſen eine größere Menge von Zeit
und
Geduld verwenden muß.
Dafür verliert das weiche Eiſen
aber
ſeinen Magnetismus auch wieder, ſobald die Kraft, die
ihn
ihm verlieh, zu wirken aufhört;
Stahl dagegen behält
ſeinen
Magnetismus, wenn er ihn erſt einmal erlangt hat,
dauernd
.
Woher kommt das?
Bei ungefähr gleicher Zuſammenſetzung aus Eiſen mit
etwas
Kohle wird Eiſen, welches geglüht worden iſt, und das
man
langſam hat abkühlen laſſen, weiches Eiſen, während ge-
glühtes
Eiſen, das man plötzlich im Waſſer abkühlt oder ab-
löſcht
, hartes Eiſen wird.
Beim Glühen des Eiſens werden
nämlich
durch die ausdehnende Wirkung der Wärme die Atome
des
Eiſens von einander entfernt.
Wird nun das Eiſen langſam
abgekühlt
, ſo daß man weiches Eiſen erhält, ſo können die
Atome
ſich gemächlich wieder in ihre frühere Lage begeben;
es
ſind
relativ große Zwiſchenräume zwiſchen den Atomen, und
dieſe
können daher bei magnetiſchen Einwirkungen leicht und
bequem
ſich in die Richtung der magnetiſchen Kraft ein-
ſtellen
;
ebenſo leicht können ſie dieſe nachher wieder verlaſſen,
wenn
die magnetiſche Kraft zu wirken aufhört und infolgedeſſen
wieder
nur zwiſchen den Magnetpolen der Atome abſtoßende
und
anziehende Kräfte zu ſpielen beginnen, welche die Atome
wieder
in die frühere, bequemere Lage zurückkehren heißen.
Wird aber das geglühte Eiſen plötzlich abgelöſcht, ſo finden
die
Atome nicht Zeit, ſich in die frühere Lage einzuſtellen,
ſie
müſſen ſich mit derjenigen begnügen, welche ſie gerade
einnehmen
und etwas gedrängter beiſammen ſein.
Infolge-
deſſen
können ſie ſich bei magnetiſchen Einwirkungen nicht ſo
ſ
eicht bewegen;
haben ſie ſich aber erſt einmal alle in die
Richtung
der magnetiſchen Kraft eingeſtellt, ſo hindern ſie ſich
gegenſeitig
an der Bewegung und haben daher keine Möglichkeit,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher III.
37482
wieder in ihre alte Einſtellung zurückzukehren: der Stahl bleibt
magnetiſch
.
XXIX. Wie auf alle Dinge magnetiſch eingewirkt
werden kann.
Bereits ſeit langen Zeiten wußte man, daß nicht Eiſen
allein
von einem Magneten angezogen wird, ſondern daß er
auch
auf andere Metalle, beſonders auf Nickel und Kobalt,
wirkt
, wenn auch in weit geringerem Maße.
Seitdem aber der
Gelehrte
Faraday (1791—1867) Verſuche mit außerordentlich
ſtarken
Magneten anzuſtellen anfing, gewann man eine ganz
neue
Anſchauung von dieſer Sache.
Faraday entdeckte, daß auf alle Metalle, alle Stoffe,
alle
Flüſſigkeiten, ja ſogar Luftarten durch einen Magneten in
irgend
einer Weiſe eingewirkt werden kann.
Wird irgend ein Körper ſo zwiſchen die beiden Pole eines
ſehr
kräftigen Hufeiſenmagneten aufgehängt, daß er jede be-
liebige
Stellung einnehmen kann, ſo wird er von den Polen
entweder
angezogen oder abgeſtoßen.
Im erſteren Falle ſtellt
er
ſich ſo, daß ſeine längſte Seite die beiden Pole mit ein-
ander
verbindet, er nimmt eineaxiale” Stellung ein.
Wird
aber
der Körper vom Magneten abgeſtoßen, ſo ſtellt er ſich in
die
Quere zwiſchen die beiden Pole, er nimmt eineäquato-
riale”
Stellung ein.
Ein Teil der Körper nun, die Faraday unterſuchte, wie
Titan
, Platin, Asbeſt, Flußſpat, Mennige, Zinkvitriol,
Zinnober
, Tuſche, Graphit, Holzkohle, Papier, Schellack,
Siegellack
, Gutta-Percha, und noch andere ſtellen ſich wie das
Eiſen
, Nickel und Kobalt von Pol zu Pol, ſie ſind alſo mag-
netiſch
.
Eine große Reihe anderer Körper wieder, wie Zink,
37583 Natrium, Queckſilber, Silber, Blei, Kupfer, Gold, ferner Jod,
Phosphor
, Schwefel, Weinſäure, Schwefelſäure, Salpeterſäure,
Olivenöl
, Terpentinöl, Gummi-Elaſtikum, Wachs, Stärke, Zucker,
Holz
, Elfenbein u.
ſ. w. werden von den Polen abgeſtoßen,
ſtellen
ſich äquatorial und werden diamagnetiſche Körper ge-
nannt
.
Reines Waſſer gehört auch zu den Körpern, die von
beiden
Polen abgeſtoßen werden und iſt alſo diamagnetiſch.
Bringt man daher zwiſchen die beiden Pole eines ſtarken Huf-
eiſenmagneten
ein wenig Waſſer in einem Uhrglaſe, ſo hört das
Waſſer
auf, eine kreisrunde Fläche im Uhrglaſe zu bilden;
es ſenkt
ſich
vielmehr an den Seiten, wo es den Polen des Magneten
nahe
iſt und erhebt ſich in der Mitte zu einem länglichen,
zwiſchen
den Polen ſtehenden Waſſerberge.
In ſehr ſinnreicher Weiſe gelang es auch Becquerel,
eine
Methode ausfindig zu machen, wie man Luſtarten einer
gleichen
Unterſuchung unterwerfen kann.
Er entdeckte, daß von
den
bekannten Luftarten nur der Sauerſtoff von den Polen
eines
Magneten angezogen wird, während die andern, wie
Waſſerſtoff
, Kohlenſäure, Stickſtoff, Leuchtgas, Queckſilberdampf
und
Waſſerdampf von denſelben abgeſtoßen werden.
Der
Sauerſtoff
gehört ſomit zu den magnetiſchen Körpern, während
die
übrigen Luftarten diamagnetiſch ſind.
Erſt im Jahre 1851 gelang es Faraday, der magne-
tiſchen
Natur des Sauerſtoffs noch näher auf die Spur zu
kommen
und er fand, daß dieſes Gas allein von allen übrigen
Gaſen
ſich wirklich wie Eiſen zum Magneten verhalte, und ſo-
gar
in Nord- und Südpol ſich teile, ſo daß er den kühnen
Ausſpruch
that, den ein Humboldt nicht verſchmähte in ſeinen
Kosmos” aufzunehmen, daß die Erde, die von Sauerſtoff
umgeben
iſt, “gleichſam wie mit einer Hülle von dünnem
Eiſenblech
überzogen iſt, die vom Erdball ihren Magnetismus
erhält
.
Die intereſſante Unterſuchung des Sauerſtoffs und
37684 Magnetismus iſt freilich noch nicht ſo weit gediehen, um
weitere
Schlüſſe daraus ziehen zu können;
eine von Plücker
angeſtellte
Berechnung aber ergiebt, daß der Magnetismus des
Sauerſtoffs
etwa an dreitauſendmal ſchwächer iſt als der des
Eiſens
, das heißt:
um einem Gramm Sauerſtoff eine gewiſſe
magnetiſche
Kraft zu verleihen, iſt ein ſo ſtarker Magnet nötig,
wie
dazu gehört, um ein Stück Eiſen von dreitauſend Gramm,
alſo
3 Kilogramm, zu magnetiſieren.
Wie dem auch ſein mag, ſo ſteht ſoviel feſt, daß der
Magnetismus
nicht im Eiſen allein herrſcht, ſondern die ganze
Natur
durchdringt und in einigen Körpern ſich blos durch
Abſtoßung
, in andern durch Anziehung, in einzelnen durch
Bildung
von Polen, durch Polarität äußert.
Auf ähnliche Gedanken war man bereits früher gekommen,
als
man durch die Beobachtung dahin gelangte, den ganzen
Erdball
als einen Magneten anzuſehen, und darum müſſen
wir
die merkwürdige Erſcheinung des Erdmagnetismus hier
vorzuführen
verſuchen.
Wir haben es bereits erwähnt, daß eine Magnetnadel,
wenn
ſie in der Mitte an einem Faden aufgehängt wird, mit
dem
einen Pol nach Norden, mit dem andern nach Süden
zeigt
;
wir wiſſen es auch, daß der in der Schiffahrt ſo wichtige
Kompaß
hierauf beruht.
Woher aber, fragt es ſich, rührt dieſe eigentümliche Er-
ſcheinung
?
Ein ſehr einfacher, leicht anzuſtellender Verſuch giebt über
dieſe
Frage einen vollen Aufſchluß.
Wenn man eine größere Magnetnadel auf den Tiſch hinlegt
und
eine kleine Magnetnadel, die wie ein Kompaß auf einer
meſſingenen
Nadelſpitze ſich hin und her drehen kann, zur Hand
nimmt
, ſo kann man ſich die Einwirkung des großen Magneten
auf
den kleinen ſehr leicht vor Augen führen.
Man halte den kleinen Magneten, den Kompaß, über
37785 eine Hälfte des großen, ruhenden Magneten und man wird
wahrnehmen
, daß ſich die kleine Nadel, welche Richtung man
ihr
auch geben mag, ſo lange hin und her bewegen wird, bis
ſie
genau in derſelben Richtung ſteht, wie der große, ruhende
Magnet
.
Hält man jetzt die kleine Magnetnadel über die
andere
Hälfte der großen Magnetnadel, ſo wird ein Gleiches
ſtattfinden
, und wie man auch die kleine Magnetnadel drehen
mag
, ſie wird immer in die eine Lage zurückkehren, wo ſie
zum
Pol des großen Magneten hinweiſt.
Unterſucht man nun die Pole des großen und des kleinen
Magneten
, ſo wird man finden, daß auch hier der Südpol
des
großen Magneten den Nordpol des kleinen ſo nahe als
möglich
zu ſich herangezogen, und daß der Nordpol des großen
Magneten
auf den Südpol des kleinen eine gleiche Anziehung
ausgeübt
hat.
Da dieſe Erſcheinung vollkommen erklärlich iſt aus dem
bereits
erwähnten Verhalten der Pole zweier Magnete zu ein-
ander
, ſo werden wenige Verſuche genügen, um es ſich deutlich
zu
machen, weshalb die Erde jeder Magnetnadel eine ſo ent-
ſchiedene
Richtung giebt, und man wird es begreiflich finden,
daß
die unausgeſetzten Verſuche zu dem Gedanken führten, daß
die
Erde ſelbſt ein großer Magnet iſt, oder mindeſtens wie
ein
großer Magnet wirkt.
XXX. Die magnetiſche Kraft der Erde.
In der That, alle Beobachtungen leiten darauf hin, daß
der
Erdball ſelber nicht nur ein Magnet iſt, ſondern daß in
demſelben
der Sitz der magnetiſchen Kraft ſei, welche im
magnetiſierten
Eiſen ſo beſtimmt und unzweifelhaft auftritt,
und
die ſich, wie wir bereits wiſſen, mindeſtens teilweiſe in
allen
Körpern äußert.
37886
Freilich hat man ehedem etwas Derartiges nicht annehmen
mögen
.
Es ſchien Vielen weit einleuchtender, zu glauben, daß
im
Innern der Erde ein großer Magnet, ein wirklicher, eiſerner
Magnet
oder ein mächtiger Magnetſtein liegt, welcher der
Magnetnadel
ihre Richtung giebt.
Seitdem man jedoch ge-
nauere
Beobachtungen angeſtellt und gefunden hat, daß die
Magnetnadel
nicht unveränderlich nach einer und derſelben
Himmelsgegend
zeigt, ſondern fortſchreitenden Schwankungen
unterworfen
iſt, daß es Momente giebt, wo rätſelhafte Licht-
ſtröme
, die man Polarlichter (Nordlichter) nennt, emporleuchten
aus
der Gegend, wohin die Magnetnadel zeigt, und daß in
ſolchem
Augenblicke alle Magnetnadeln auf dem ganzen Erden-
rund
bedeutend abweichen und ins Schwanken geraten:
als man
ferner
wahrgenommen hatte, daß immerwährend ohne Unterlaß
alle
Magnete kleinen Schwankungen unterworfen ſind, die faſt
regelmäßig
mit den Stunden des Tages wechſeln, da mußte
man
zugeben, daß dies nicht von einem feſtliegenden in der
Erde
vergrabenen, großen Magneten herrühren könne;
es
fand
vielmehr der Gedanke Eingang, daß der Magnetismus
eine
Eigenſchaft des Körpers ſelber iſt, und daß dieſe Eigen-
ſchaft
mit zu dem Weſen und dem Leben desſelben ebenſo gut
gehöre
, wie die große Eigenſchaft der Elektrizität, die mit dem
Magnetismus
ſo innig verwandt iſt.
Mit jedem neuen Schritt vorwärts in der Naturwiſſen-
ſchaft
hat ſich dieſe Anſicht immer mehr und mehr beſtätigt,
und
gegenwärtig iſt niemand mehr im Zweifel, daß eine richtige
Anſchauung
von den vielen Geheimniſſen der Natur nicht wird
erforſcht
werden können, ſo lange nicht das Geheimnis des
Erdmagnetismus
enthüllt wird.
Wir dürfen mit Stolz ſagen, daß es der weltweiſe
Alexander von Humboldt (1769—1859) war, der auch
dieſer
Forſchung den Weg zur Wiſſenſchaft geebnet hat, und
daß
es ſein Verdienſt iſt, daß über den ganzen Erdball
37987 Stationen der Beobachtung errichtet ſind, um zuvörderſt die
Geſetze
dieſes Geheimniſſes der Natur abzulauſchen.
Friedrich
Gauß
(1777—1855) war es, deſſen ſcharfſinnige mathematiſche
Forſchungen
die erſten Grundſteine zur Erkenntnis dieſer ge-
heimen
Naturkräfte gelegt haben.
Wir können unmöglich in kurzen Umriſſen das Gebiet
dieſes
Zweiges der Naturwiſſenſchaft hier vorführen.
Wir
wollen
uns mit einem leich-
64[Figure 64]Fig. 10.
Genaue
Richtung der Magnetnadel in
Deutſchland
.
ten Blick auf denſelben be-
gnügen
, der es unſerm Leſer
deutlich
macht, wie das,
was
wir wie eine Spielerei
mit
der magnetiſchen Strick-
nadel
begonnen, tiefe Wur-
zeln
im Weltall hat, und
auf
die ewigen Geſetze hin-
leitet
, welche die Träger des
Univerſums
ſind.
Drei Haupterſcheinun-
gen
des Erdmagnetismus
ſind
es, auf welche die
Naturforſcher
ihr Augen-
merk
gerichtet haben.
Die Magnetnadel zeigt
nach
Norden und nach Süden hin;
aber nicht direkt nach dem
Nordpol
und dem Südpol der Erde, ſondern ſie weicht auf der
nördlichen
Halbkugel der Erde ein wenig nach links, auf der
ſüdlichen
nach rechts ab.
Die magnetiſchen Pole der Erde ſind
alſo
nicht dieſelben, wie die geographiſchen, um welche ſie ſich
bei
ihrer Umdrehung in vierundzwanzig Stunden bewegt.
Dieſe Abweichung der magnetiſchen Pole von den geographiſchen
Polen
der Erde indeſſen bleibt nicht immer gleich groß:
ſie iſt
vielmehr
einer langſamen Wandelung unterworfen, und hat
38088 ſeit der Zeit, daß man die Magnetnadel beobachtet hat, ſchon
weſentlich
verändert.
Da aber nach A. von Humboldts
Mitteilungen
bereits vor dreitauſend Jahren die Magnetnadel
den
Chineſen als Kompaß nach dem Süden diente, ſo geht
hieraus
hervor, daß die Abweichung der Magnetnadel von den
Polen
der Erde nicht mit der Zeit ſo groß wird, daß ſie ganz
65[Figure 65]Fig. 11.
Neigung
der
Magnetnadel
in
unſern
Gegenden.
die Himmelsgegend verläßt.
Dies weiſt
darauf
hin, daß der magnetiſche Pol der
Erde
mit dem Umdrehungspol derſelben in
gewiſſem
Zuſammenhange ſtehe, und die Er-
forſchung
dieſes Zuſammenhanges, wie des
Grundes
der Veränderungen iſt alſo eine
Hauptaufgabe
der Wiſſenſchaft.
Eine Magnetnadel, wenn ſie genau ge-
arbeitet
und gerade in ihrem Schwerpunkt
aufgehängt
iſt, zeigt aber noch eine andere
auffallende
Erſcheinung.
Sie ſtellt ſich nicht
wie
ein Wagebalken in Gleichgewicht, ſondern
das
Nord-Ende wird in unſerer Gegend nach
abwärts
gezogen.
Je weiter man die Nadel
nach
Norden trägt, deſto mehr ſenkt ſich das
Nordende
der Nadel, bis ſie ſich endlich
dort
, wo der magnetiſche Pol der Erde iſt,
ganz
ſenkrecht ſtellt.
Anders iſt es, wenn man ſie nach Süden
hin
trägt.
Je weiter man kommt, deſto mehr hebt ſich das bei
uns
geſenkte Ende, bis ſie ſich endlich in der Nähe des Äquators
ganz
wagerecht ſtellt.
Trägt man die Nadel aber weiter nach
Süden
hin, ſo beginnt der andere Pol ſich zu ſenken und zur
Erde
hinzuneigen.
Je weiter man nach der ſüdlichen Richtung
ſchreitet
, deſto mehr richtet ſich der Südpol der Nadel zur Erde,
bis
er dort am magnetiſchen Pol der Erde wiederum ſo tief
ſinkt
, daß die Nadel eine ſenkrechte Stellung einnimmt.
38189
Man nennt dieſe Erſcheinung die Neigung (Inklination)
der
Magnetnadel, und man ſollte glauben, daß dieſe ſich in
allen
Zeiten gleichbleibe, aber auch dies iſt nicht der Fall;
es
zeigt
ſich auch hier eine Veränderlichkeit, deren Geſetze man
bisher
noch nicht hat erforſchen können.
Ein drittes Rätſel des Erdmagnetismus liegt in der
Veränderlichkeit
der magnetiſchen Kraft der Erde zu ver-
ſchiedenen
Zeiten und an verſchiedenen Orten.
Genaue Be-
obachtungen
ergeben, daß dieſe Kraft ſich nicht gleich bleibt
und
Veränderungen unterworfen iſt, deren Grund den Natur-
forſchern
ebenfalls noch unbekannt iſt.
Ein Fingerzeig für all dieſe Veränderungen hat freilich
Faradays Entdeckung gegeben.
Wenn der Sauerſtoff der Luft
magnetiſche
Eigenſchaften beſitzt, ſo muß dieſe Eigenſchaft
weſentlich
verändert werden durch die Erwärmung der Luft,
da
die Wärme, wie wir bereits wiſſen, die magnetiſche Kraft
weſentlich
ſchwächt.
Humboldt findet es wahrſcheinlich, daß
die
Veränderung der Erwärmung der Erdoberfläche durch die
Sonne
ſolche Veränderungen hervorrufe.
Gelöſt iſt indeſſen
das
Rätſel noch nicht, und ſchwerlich enthüllt die Wiſſenſchaft
dieſe
geheime Naturkraft ohne Hilfe der Entdeckungen auf einem
andern
Gebiete der Naturgeheimniſſe, ohne Hilfe der Erforſchung
der
elektriſchen Kraft, die mit dem Magnetismus im innigſten
Zuſammenhang
ſteht und zu der wir uns nunmehr ebenfalls
wenden
wollen.
XXXI. Die Unendlichkeit und die Elektrizität.
Von allen Entdeckungen, Erfindungen und naturwiſſen-
ſchaftlichen
Beſtrebungen der Menſchheit hat keine zu ſo glän-
zenden
Reſultaten geführt, wie ſie im Gebiet der Elektrizität
errungen
worden ſind.
38290
Es iſt nichts Übertriebenes darin, wenn wir die Behauptung
aufſtellen
, daß dreiviertel aller menſchlichen Erfindungen zu-
ſammengenommen
nicht das aufwiegen, was durch die Elek-
trizität
allein der Menſchheit bisher Nützliches und Wunder-
bares
geleiſtet worden iſt, und zwar im Verlaufe eines einzigen
Jahrhunderts
.
Rechnen wir das hinzu, was vorausſichtlich die
nahe
oder entferntere Zukunft noch durch weitere Erforſchung
dieſes
Zweiges der Wiſſenſchaft der Menſchheit bieten wird,
ſo
darf man denſelben als den reichſten Zweig am Baum der
menſchlichen
Erkenntnis anſehen.
Wenn ehedem die religiöſen Sänger der Vorzeit die All-
macht
Gottes preiſen wollten, ſagten ſie, daß der Wind ſein
Bote
, die Wolken ſein Wagen, der Blitz ſein Diener ſei.

Fortan
reicht dies zum Lobe der Unendlichkeit nicht mehr aus.
Wir haben Boten, die Gedanken und Worte ſchneller von Ort
zu
Ort tragen als der Sturmwind.
An den Küſten ſind elek-
triſche
Telegraphen eingerichtet, welche den Schiffern die Nach-
richten
von allen Seiten her bringen, ob und wo ein Sturm
im
Anzuge iſt.
Dieſe Nachrichten, die ebenſo ſchnell dahin-
fliegen
als das Licht der Sonne, eilen dem Sturm weit vor-
aus
.
Wenn dieſer, der ehemals der Gottesbote hieß, anlangt,
iſt
der Menſchenbote, der Telegraph, längſt vor ihm dageweſen,
hat
ſeine Botſchaft ausgerichtet und die Schiffer auf ſeinen
Empfang
vorbereitet.
Wenn der Wolkenzug ſeiner Schnelligkeit halber der Wagen
Gottes
genannt worden iſt, ſo verdient er fortan dieſen Namen
nicht
mehr, ſeitdem die Wagenzüge auf unſeren Bahnen mit
der
Feuerſäule und Wolkenſäule der Maſchine voran an Schnel-
ligkeit
mit den Seglern der Lüfte wetteifern.
Ein weiterer
ſiegreicherer
Wetteifer ſteht uns noch bevor, wenn man erſt
überall
die elekriſche Kraft benutzen wird, um die Dampfkraft
zu
erſetzen.
Den Blitz, den Diener Gottes von ehedem, hat die
38391 liche Erforſchung im Gebiet der Elektrizität nicht nur nach-
machen
gelehrt, ſondern das elektriſch leitende Metall des Blitz-
ableiters
zwingt dieſen ehemals gefürchteten Diener Gottes
alldort
unſchädlich vorüberzuziehen, wo wir ſeiner nicht be-
dürfen
.
Der Menſchengeiſt hat das Geſetz belauſcht, dem dieſer
Diener
gehorchen muß, und vermag ihm den Weg vorzuſchreiben,
den
er unfehlbar wandeln muß.
Wenn das Licht der Sonne vordem das Auge der Welt
genannt
wurde, ſo iſt es jetzt ſchon ſoweit durch Elektrizität
gelungen
, Licht darzuſtellen, daß vier elektriſche Fammen dem
Sonnenlicht
an Glanz gleichſtehen.
Wenn es in den Sagen
der
alten Zeit eines Götterſohnes bedurfte, um dem Menſchen
das
Feuer, ein Geſchenk des Himmels herabzubringen, ſo reicht
jetzt
ſchon ein ſchlichtes Werkzeug, eine Elektriſiermaſchine hin,
die
ein Kind in Bewegung ſetzen kann, um ein einziges, un-
unterbrochenes
Feuerſprühen aus Glas und Metallen zu erzeugen.
Und bedenkt man, daß alle dieſe Erfindungen und Ent-
deckungen
erſt die Frucht gar weniger Jahrzehnte ſind und
daß
in dieſem Zeitraum immer noch jedes neue Jahrzehnt das
alte
an großartigen Eroberungen auf dem Wege des Wiſſens
überflügelt
hat, ſo darf man ſagen, daß wir am Vorabend
großer
entdeckungsreicher Zeiten ſtehen, mit deren Entwickelung
die
Menſchheit mit immer größerem Erfolge ihrer würdigen
Aufgabe
ſich nähert.
XXXII. Die Elektrizität in ihren einfachſten
Erſcheinungen.
So großartig die Wirkungen der Elektrizität ſind, ſo ein-
fach
ſind die Mittel, um die Erſcheinungen der Elektrizität
zu
zeigen.
Man reibe eine Stange Siegellack leicht hin und her
38492 einem Stück Tuch oder dem Ärmel eines Tuchrockes, ſo wird man
finden
, daß die Siegellackſtange leichte, feine Papierſchnitzelchen,
Haare
, Krümelchen, überhaupt leichte Gegenſtände mit einer
gewiſſen
Energie anzieht und nach einer kurzen Zeit wieder
von
ſich abſtößt.
Wenn die Luft im Zimmer recht trocken iſt, ſo erhält ſich
dieſe
Eigenſchaft der Siegellackſtange ein paar Minuten, dann
aber
verliert ſie ſich nach und nach, bis ſie endlich gar keine
Anziehungskraft
äußert.
Aufs neue an Tuch gerieben, nimmt
die
Siegellackſtange wiederum dieſe Eigenſchaft an;
und ſo
kann
man dieſen Verſuch unendliche Male beliebig wiederholen.
Man mache nunmehr den Verſuch und reibe eine Glas-
ſtange
, z.
B. einen gewöhnlichen Lampencylinder, mit einem
ſeidenen
Taſchentuch und der Cylinder wird ebenfalls dieſe
Eigenſchaft
erhalten.
Ja, wenn man es nur richtig an-
ſtellt
, den Zylinder in der linken Hand, das recht trockene,
ſeidene
Taſchentuch in der rechten, offenen Hand hält, dann
den
Zylinder auf das Tuch legt, die rechte Hand ſchließt und
mit
der linken den Cylinder recht ſchnell herauszieht, ſo braucht
man
dies nur fünf bis ſechsmal zu wiederholen, um das An-
ziehen
und Abſtoßen kleiner Papierſchnitzel vom Cylinder recht
auffallend
ſehen zu können.
Anziehung und Abſtoßung ge-
ſchehen
oft mit ſolcher Energie, daß die feinen Schnitzelchen
einen
wahren Tanz aufzuführen ſcheinen.
Noch auffallender wird der Verſuch, wenn man ihn im
Dunkeln
macht und den Cylinder wiederholt reibt.
Man be-
merkt
dann eine Art Leuchten des Cylinders oder einzelner
Stellen
desſelben, und wenn man dem eben geriebenen Cylinder
den
Knöchel eines Fingers nahe bringt, ſo ſieht man einen
kleinen
, weißblauen Funken mit einem kniſternden Geräuſch aus
demſelben
hervor- und in die Knöchel hineinſpringen.
Man nennt dieſe merkwürdige Eigenſchaft, die ſich an
geriebenen
Körpern zeigt:
Elektrizität, weil man
38593 Zuſtand in alten Zeiten bereits am geriebenen Bernſtein beob-
achtet
hatte, und weil Bernſtein auf griechiſch Elektron heißt.
Weitere Forſchungen haben ergeben, daß nicht bloß Siegel-
lack
und Glas dieſe merkwürdigen Eigenſchaften beſitzen, ſondern
daß
alle Körper in der Welt ohne Ausnahme durch Reiben
elektriſch
werden können;
nur iſt dies bei den meiſten nicht
auffallend
genug, und bei Metallen findet eine beſondere Eigen-
tümlichkeit
ſtatt, die in gewöhnlichen Verhältniſſen ihr Elektriſch-
werden
ganz unmerklich macht.
Wir wollen nunmehr die beſondere Eigentümlichkeit der
Elektrizität
etwas näher kennen lernen;
müſſen aber zu dieſem
Zweck
noch einige Verſuche anſtellen.
Man ſchneide ſich aus Kork oder noch beſſer aus Hollunder-
mark
ein Paar kleine Kügelchen und hänge ſolch ein Kügelchen
irgendwo
an einem trocknen Seidenfaden auf, ſo daß es wie
ein
Pendel frei hin und her ſchwingen kann.
Bringt man
einem
ſolchen Kügelchen eine geriebene Glasſtange nahe, ſo
wird
das Kügelchen heranſpringen, das Glas berühren, dann
aber
davon eilen und das Glas zu fliehen ſuchen.
Dasſelbe
Glas
, das früher das Kügelchen angezogen hatte, wird jetzt
dasſelbe
abſtoßen.
Nunmehr berühre man das Kügelchen mit dem Finger
und
man wird ſehen, daß es nun wieder von dem geriebenen
Cylinder
angezogen wird, ſofort aber, nachdem es denſelben
berührt
hat, ſpringt es davon und ſucht dem Cylinder wieder
zu
entfliehen.
Es wird von dem Cylinder abgeſtoßen. Erſt
dann
, wenn man das Kügelchen wieder berührt hat, hört es
auf
vor dem geriebenen Cylinder die Flucht zu ergreifen;
im
Gegenteil
es fühlt ſich zu ihm hingezogen, um dann, wenn es
einmal
denſelben berührt hat, ihn wieder zu fliehen.
Offenbar geht hier in dem Glas-Cylinder und in dem
Kügelchen
etwas ganz Eigentümliches und Sonderbares vor.
Im Dunkeln und namentlich, wenn die Luft in der
38694 recht trocken iſt, kann man von dem, was vorgeht, ſchon einiger-
maßen
etwas ſehen.
Man beobachtet im Dunkeln, daß im Moment, wo das
Kügelchen
den geriebenen Cylinder berührt, ein feiner Funken
in
dasſelbe hineinſpringt.
Mit dieſem Fünkchen geht eine
Summe
von Elektrizität in das Kügelchen über.
Nun aber
ſollte
man glauben, daß die Elektrizität im Cylinder und die
im
Kügelchen, die doch beide ganz gleicher Natur ſind, ſich erſt
recht
leicht anziehen müßten:
aber das iſt gerade nicht der
Fall
.
Im Gegenteil, die gleichartige Elektrizität in beiden
bewirkt
eine Abſtoßung, wie wir ja auch oben geſehen haben,
daß
gleichartige magnetiſche Pole ſich gegenſeitig abſtoßen.
Berührt man aber das Kügelchen, ſo nimmt man ihm die
Elektrizität
, und nun kann es wieder von dem Cylinder ange-
zogen
werden, um wieder, wenn es von demſelben Elektrizität
empfangen
hat, abgeſtoßen zu werden.
Indem wir im nächſten Abſchnitt zeigen wollen, wie es
ſich
mit dem Kügelchen verhält, wenn es einer geriebenen
Siegellackſtange
nahe gebracht wird, wollen wir uns für jetzt
mit
dem Reſultat begnügen, daß erſtens eine geriebene Glas-
ſtange
das Kügelchen elektriſch macht, und zweitens, daß dieſe
ganz
gleichartige Elektrizität ſich gegenſeitig abſtößt.
XXXIII. Weitere elektriſche Verſuche.
Ganz denſelben Verſuch, den man mit dem Kügelchen und
dem
geriebenen Glas-Cylinder gemacht hat, ganz denſelben
kann
man mit dem Kügelchen und der geriebenen Siegellack-
ſtange
machen;
nur muß man den Siegellack nicht mit Seide,
ſondern
mit wollenem Zeug reiben.
Bringt man dem Kügelchen eine geriebene Siegellackſtange
nahe
, ſo wird es gleichfalls angezogen, und unter
38795 Umſtänden bemerkt man gleichfalls in das Kügelchen einen
kleinen
Funken überſpringen, der andeutet, daß die Siegellack-
ſtange
dem Kügelchen etwas Elektrizität abgegeben hat.
Aber
ſobald
das geſchehen iſt, wird das Kügelchen nicht mehr an-
gezogen
, ſondern es ſucht der genäherten Siegellackſtange aus-
zuweichen
, es wird von derſelben abgeſtoßen.
Da nun die Elektrizität der Siegellackſtange und des
Kügelchens
gleicher Natur ſind, ſo gewinnt man aus dieſen
Verſuchen
die Überzeugung, daß die gleichartige Elektrizität
ſich
nicht anzieht, ſondern abſtößt.
Ganz anders aber iſt es, wenn man den Verſuch folgender-
maßen
anſtellt.
Man bringe einem Kügelchen, das an einem Seidenfaden
hängt
, eine geriebene Glasſtange nahe und es wird zuerſt
angezogen
und ſodann abgeſtoßen werden.
Nun bringe man
dem
vom Glas abgeſtoßenen Kügelchen eine geriebene Siegel-
lackſtange
nahe und man wird zu ſeinem Erſtaunen ſehen, daß
es
von dieſer nicht abgeſtoßen, ſondern im Gegenteil ſehr heftig
angezogen
wird.
Macht man es umgekehrt, das heißt, berührt man das
Kügelchen
zuerſt mit der geriebenen Siegellackſtange, ſo wird
es
angezogen und dann von der Siegellackſtange abgeſtoßen.
Aber wenn man jetzt einen geriebenen Glas-Cylinder in die
Nähe
bringt, ſo wird es von dieſem äußerſt kräftig ange-
zogen
.
Man mache nun den Verſuch, dem Kügelchen gleichzeitig
beide
elektriſierten Körper von zwei verſchiedenen Seiten zu
nähern
, und man wird bemerken, daß das Kügelchen vom
Glas
angezogen und abgeſtoßen, dann vom Siegellack gleich-
falls
angezogen und abgeſtoßen wird, ſodann zieht wieder das
Glas
das Kügelchen an und ſtößt es ab;
nun macht es die
Siegellackſtange
ebenſo, und man hat das Schauſpiel, daß das
Kügelchen
eine Zeit lang wie ein Pendel hin und her
38896 Glas und Siegellack ſpringt, bis ſich die Elektrizität aus beiden
verloren
hat.
Die Elektrizität in dem Glascylinder muß alſo eine andre
ſein
, als diejenige in der Siegellackſtange.
Wir ſind alſo ge-
nötigt
, zwei verſchiedene Arten von Elektrizität anzunehmen.
Da man nun aber das innerſte Weſen, die Natur der
zwei
verſchiedenen Elektrizitäten nicht weiter kennt, ſo hat man
zum
Unterſchiede derſelben die eine die Glas-Elektrizität oder
die poſitive Elektrizität und die andere die Harz-Elektrizität
oder die negative Elektrizität genannt.
Wir wollen fortan dieſe Bezeichnung beibehalten und die
zwei
Arten Elektrizitäten die poſitive und die negative nennen,
wobei
wir immer unter poſitiver Elektrizität die verſtehen, welche
das
mit Seide geriebene Glas annimmt, während wir unter
negativer
Elektrizität diejenige meinen, welche mit Tuch oder
Pelz
geriebener Siegellack zeigt.
Sollte es aber nicht noch eine dritte Art von Elektrizität
geben
?
Man hat alle möglichen Dinge in der Welt verſucht
durch
Reiben oder durch andere Operationen elektriſch zu
machen
, und dies gelingt vollſtändig.
Aber bei all den Ver-
ſuchen
hat man immer nur entweder die eine oder die andere
Elektrizität
hervorzurufen vermocht, niemals fand man irgend
welche
Spur einer dritten Art Elektrizität.
Die zahlreichſten Beobachtungen haben nun von dem Ver-
halten
beider Elektrizitäten Folgendes ergeben:
Wenn zwei Körper mit gleicher Elektrizität erfüllt ſind,
ſo
ſtoßen ſie ſich ab.
Die poſitive ſtößt die poſitive, die
negative
ſtößt die negative Elektrizität ab.
Wenn jedoch ein
Körper
mit poſitiver, der andere mit negativer Elektrizität ver-
ſehen
iſt, ſo ziehen ſie ſich an.
38997
XXXIV. Die Verſchiedenheit der elektriſchen und
magnetiſchen Erſcheinungen.
Ein Jeder, der die Beobachtung macht, wie ein Körper,
auf
welchem poſitive Elektrizität haftet, einen andern mit gleicher
Elektrizität
abſtößt, wie ferner auch die negative Elektrizität
die
negative in gleicher Weiſe abſtößt, wie dagegen ſich poſitive
und
negative Elektrizität gegenſeitig anziehen;
ein Jeder,
der
dies beobachtet, der wird die Ähnlichkeit, die zwiſchen
dieſem
Zuſtand und dem des Magnetismus obwaltet, auffallend
finden
.
Beide ſind zwiefacher Natur; im Magnetismus nennen
wir
ſie Nord- und Süd-Magnetismus, in der Elektrizität be-
zeichnen
wir ſie durch poſitive und negative Elektrizität.
Am
Magneten
ſtößt der Nordpol den Nordpol ab, wie der Südpol
den
Südpol, während der Nordpol des einen Magneten und
der
Südpol des andern Magneten ſich gegenſeitig anziehen;
in der Elektrizität iſt es ebenſo. Gleichnamige Elektrizitäten
ſtoßen
ſich ab, ungleichnamige ziehen ſich an.
Es liegt hier-
nach
ſehr nahe, beide Kräfte der Natur als eine einzige zu be-
trachten
, die nur durch eigene Umſtände anders erſcheinen,
ohne
im Weſen anders zu ſein.
Gleichwohl jedoch ergiebt eine nähere Betrachtung einen
ungeheueren
Unterſchied.
Wenn man mit einem Magneten einen zweiten Stahlſtab
magnetiſch
macht, ſo geht vom erſten Magneten hierbei nichts
verloren
.
Er bleibt magnetiſch wie er geweſen. Er hat von
ſeinem
Magnetismus nichts abgegeben.
Der neue Magnet hat
nicht
einen Teil vom alten in ſich aufgenommen.
Der Magnetis-
mus
haftet feſt in dem Magnet und entfernt ſich nicht daraus
und
vermindert ſich nicht, ſelbſt wenn man unendliche Maſſen
von
Eiſen damit magnetiſch macht.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher III.
39098
Ganz anders aber iſt es mit der Elektrizität. Aus dem
geriebenen
Glasſtab, der geriebenen Siegellackſtange ſieht man
ſchon
etwas überſpringen in den Körper, womit man ihnen naht.
Ein Funke bricht ſich die Bahn durch die Luft, die noch beide
Gegenſtände
trennt und das Hollundermark-Kügelchen, das den
Funken
in ſich aufgenommen, hat Elektrizität empfangen und
eine
gewiſſe Summe aus dem Glasſtab oder der Siegellack-
ſtange
herausgezogen.
In der That iſt die geriebene Glas-
ſtange
, der geriebene Siegellack gerade um den einen Teil der
Elektrizität
, den er abgegeben hatte, ſchwächer geworden.
Ja
man
kann ihnen die ganze Elektrizität nehmen, wenn man auch
nur
einmal mit der feuchten Hand über das Glas oder den
Siegellack
wiſcht.
Die Elektrizität geht hierbei in die Hand
über
und hat ſich von dem Glaſe und dem Siegellack faſt ganz
und
gar fortbegeben.
Dies allein weiſt ſchon auf ein ganz anderes Weſen der
Elektrizität
hin, als das des Magnetismus.
Bemerkt man
aber
gar, wie die Elektrizität mit einer Energie überſpringt
von
dem einen Körper zum andern, wie ein bloßer geriebener
Lampen-Cylinder
einen Teil ſeiner Elektrizität, bevor noch der
Knöchel
eines Fingers ihm nahe kommt, einen kniſternden
Funken
ausſendet, der oft einen Zoll Raum überſpringt, um
in
den Finger zu fahren, ſo entnimmt man ſchon hieraus, daß
die
Elektrizität, wenn ſie an einem Körper erzeugt iſt, nur
darauf
lauert, ſich von ihm zu entfernen und ſich auch ſofort
entfernt
, wenn ſie einen Körper findet, der ſie aufnimmt.
Wir wollen nun einmal dieſe ſonderbare Eigenſchaft der
Elektrizität
etwas näher betrachten, denn aus dieſer entſpringen
höchſt
wunderbare Eigenſchaften und die merkwürdigſten Er-
ſcheinungen
, die überhaupt im Reich der Natur uns entgegen-
treten
.
Gewiß wird ſich jeder die Frage vorlegen: wenn wirklich
die
Elekrizität ſo begierig iſt, ſich von dem Körper, auf
39199 ſie durch Reiben erzeugt worden iſt, zu entfernen, weshalb
entfernt
ſie ſich nicht in die Luft, die den Cylinder umgiebt?
oder weshalb geht ſie nicht direkt in die Hand über, mit
welcher
man den Cylinder hält?
Die Antwort hierauf iſt vollkommen klar, wenn ſie auch
für
den erſten Augenblick etwas ſonderbar erſcheint.
Durch unzählige Verſuche beſtätigt es ſich, daß es gewiſſe
Körper
giebt, welche die Elektrizität, die ſie in ſich aufnehmen,
mit
ungeheurer Geſchwindigkeit weiter fort führen.
Andere
Körper
wieder ſind nicht imſtande dies zu thun, ſondern die
Elektrizität
, die auf ihnen erzeugt wird oder die ſie aufnehmen,
bleibt
an der Stelle ſitzen, wo ſie einmal vorhanden iſt.
Man
nennt
die Körper, welche die Elektrizität ſchnell fortführen,
Leiter” der Elektrizität, denn ſie leiten die Elektrizität,
die
ſie erhalten, ſchnell ab;
diejenigen Körper, welche dieſe
Eigenſchaft
nicht beſitzen, nennt man mit dem wiſſenſchaftlichen
Namen
Iſolatoren“, weil ſie die Elektrizität abſperren,
iſolieren
und nicht weiter wandern laſſen.
Die trockene Luft iſt ein ſchlechter Leiter. Wenn man
daher
einen Glas Cylinder durch Reiben elektriſch macht, ſo
wird
zwar die dünne Luftſchicht, die auf dem Cylinder iſt,
auch
elektriſch, allein dieſe Luftſchicht leitet die Elektrizität
nicht
fort und der Cylinder behält ſeine Elektrizität.
Iſt man
aber
in einem Zimmer, wo die Luft feucht iſt, ſo gelingen alle
bisher
angeführten Verſuche nicht.
Der Cylinder wird zwar
elektriſch
, aber die feuchte Luft nimmt die Elektrizität in ſich
auf
und verteilt ſie nach allen Richtungen, ſo daß von der-
ſelben
keine Spur bleibt.
Zu den beſten Iſolatoren gehört Glas, daher geht die
Elektrizität
von der geriebenen Stelle des Cylinders nicht in
die
Hand über, denn der Teil des Glaſes, den man in der
Hand
hält, läßt die Elektrizität nicht durch zur Hand.
Der
menſchliche
Körper iſt ein guter Leiter, namentlich wenn
392100 Haut ein wenig feucht iſt; der allerbeſte Leiter aber iſt Metall,
und
darum wendet man Metalldrähte zu Telegraphen an, weil
ſie
die Fähigkeit, die Elektrizität fortzuleiten, in einem außer-
ordentlich
hohen Grad beſitzen, wie wir dies ſofort an einigen
Beiſpielen
näher zeigen werden.
XXXV. Über die Leitung der Elektrizität.
Es läßt ſich durch Verſuche nachweiſen, daß man Metall
ebenfalls
elektriſch machen kann, und wir werden dies auch
ſofort
näher angeben;
nur muß man hierbei anders verfahren,
als
bei andern Stoffen, welche die erregte Elektrizität nicht
fortzuleiten
imſtande ſind.
Eine Glasſtange kann man an einem Ende in der Hand
halten
, während man das andere Ende elektriſch macht;
eine
Metallſtange
dagegen würde zwar elektriſch werden, aber in
demſelben
Augenblick würde ſie die ganze elektriſche Kraft ver-
lieren
.
Sie würde die Elektrizität der Hand, mit der ſie ge-
halten
wird, mitteilen, die Hand aber iſt wie der ganze menſch-
liche
Körper ein guter Leiter und ſo würde die Elektrizität bis
an
die Füße dringen, die auf dem Fußboden ſtehen.
Dieſer
würde
die Elektrizität weiter leiten, bis die Erde, die große
Erde
, die Elektrizität aufnimmt, wodurch ſie vollſtändig für
uns
verloren geht.
Wir haben geſehen, daß ein Hollundermark-Kügelchen eine
ganze
Zeit hindurch ſeine Elektrizität behält, aber es behält
ſie
nur, wenn es an einem trocknen Seidenfaden hängt, da
ein
ſolcher die Elektrizität nicht ableitet.
Man mache den
Seidenfaden
aber ein wenig feucht oder nehme ſtatt desſelben
einen
Zwirnsfaden und man wird ſehen, daß das Kügelchen
zwar
Elektrizität in ſich aufnimmt und angezogen, aber nicht
abgeſtoßen
wird.
Denn es vermag die Elektrizität nicht
393101 ſich zu behalten, weil der feuchte Seidenfaden oder der Zwirns-
faden
die Elektrizität fortleitet.
Es ergiebt ſich hieraus von ſelbſt, daß man Metall recht
gut
elektriſch machen kann;
nur darf man es hierbei nicht in
der
Hand halten, ſondern muß es an einem Seidenfaden auf-
hängen
oder beſſer noch an einem Glasſtab befeſtigen oder
mit
Harz oder Gutta-Percha überziehen.
Die Drähte, durch welche telegraphiſche Nachrichten von
Ort
zu Ort mit unendlicher Schnelligkeit verbreitet werden, die
an
Stangen befeſtigt frei in der Luft ſchweben, ſind von Eiſen;
66[Figure 66]Fig. 12.
Ende
eines Telegraphenkabels.
D F a b c d e
ſie werden jedoch nicht direkt an die Stangen befeſtigt, weil
die
Elektrizität dann ſofort in die Stangen übergehen und zur
Erde
geleitet werden würde.
Man bringt vielmehr an den
Stangen
Porzellan-Köpfe an, die die Elektrizität nicht leiten
und
welche man Iſolierköpfe nennt.
Die Leitungen, welche
man
unter der Erde legt, ſind in der Regel aus Kupfer, die
man
aber mit Gutta-Percha überzieht, damit ſie auf dem weiten
Wege
nichts von der Elektrizität, die man ihnen beibringt, ver-
lieren
.
Von dieſem Ueberzug wird die Elektrizität des Drahtes
eingeſchloſſen
, iſoliert, und iſt der Ueberzug gut, ſo kann der
Draht
viele, viele Meilen lang ſein, er wird die an einem
Ende
in ihm erregte Elektrizität augenblicklich auch am
394102 Ende äußern und dort die Zeichen geben, welche man von ihm
als
Nachricht verlangt.
Geſetzt man hätte einen Draht, der gut iſoliert, das heißt,
der
von einem nicht leitenden Ueberzug eingeſchloſſen iſt, von
London
bis Berlin gelegt, ſo brauchte man nur an jedem
Ende
eine kleine Meſſingkugel an den Draht anzulöten und
könnte
verabreden, daß man in London gerade in dem Moment,
wo
dort irgend ein erwartetes wichtiges Ereignis eintritt,
einen
elektriſchen Funken in die Kugel wird einſchlagen laſſen;
und wenn der Funke nur ſtark genug iſt, ſo wird unfehlbar
in
demſelben Augenblick auch die Kugel in Berlin elektriſch
werden
und einen Funken von ſich geben, der bei gehöriger
Vorrichtung
imſtande iſt, Pulver anzuzünden und eine Kanone
abzufeuern
oder ſonſt irgend welche Wirkung hervorzubringen.
Freilich wäre dies ein ganz unbehilflicher Telegraph, denn
er
könnte nur ein verabredetes Zeichen und nicht eine beſtimmte
Nachricht
von Ort zu Ort tragen;
aber ein Hauptprinzip der
jetzigen
Telegraphie würde er immer darſtellen, nämlich die
wunderbare
Leitungskraft der Metalle, die es hervorbringt,
daß
ein an einem Ende elektriſch gemachter Draht ſofort ſeine
Elektrizität
durch die ganze Länge verteilt und in demſelben
Moment
auch ſein anderes Ende elektriſch macht, ſelbſt wenn
dies
Ende viele Tauſende von Meilen entfernt iſt.
Gewiß iſt dies etwas Unglaubliches. Ohne Zweifel würden
die
weiſeſten Menſchen dieſe Thatſache ableugnen, wenn nicht
der
Augenſchein ſie tauſendfältig beſtätigen möchte.
Es iſt
einmal
ſo, und jeder Menſch kann ſich durch die Telegraphie
überzeugen
, daß es ſo iſt, daß nämlich ein elektriſch gemachter
Draht
auf viele, viele Meilen hin in einem Augenblick elektriſch
wird
bis zum andern Ende.
Man ſpricht von einer Fähigkeit
der
Metalle, die Elektrizität zu leiten, obgleich es ſtreng ge-
nommen
nicht gerade eine Leitung, ſondern eine Verteilung der
Elektrizität
durch die ganze Länge iſt.
395103
XXXVI. Der elektriſche Funke und der Blitz.
Die Entdeckung, daß die Metalle eine ſo ſtarke Kraſt be-
ſitzen
, die Elektrizität zu leiten, führte zu der herrlichen und
nützlichen
Erfindung des Blitzableiters.
Franklin (1706—1790),
ein
Bürger Nordamerikas, der ſich als Staatsmann, Philoſoph,
Naturforſcher
und populärer Schriftſteller unſterbliche Verdienſte
erworben
hat, Franklin war es, der auf den großen Gedanken
kam
, daß der Blitz, der aus den Wolken hervorbricht und
zündend
und vernichtend ſeinen Weg zur Erde ſucht, am Ende
nichts
anderes ſein mag wie der elektriſche Funke, der aus
geriebenem
Glaſe hervorſpringt, nur daß dieſer Funke mit
ſchwachem
Licht und leichtem Kniſtern ſich Bahn bricht durch die
Luft
, während der Blitz, dieſer große elektriſche Funke, mit blen-
dendem
Licht und donnernder Stimme ſeine Bahn durchzuckt.
Veranlaſſung zu dieſem herrlichen Gedanken hatten ſchon
viele
Gelehrten und deren Verſuche gegeben.
Statt der einfachen
geriebenen
Glasſtange hatte man ſchon begonnen Maſchinen
zu
bauen, wo große, runde Glasſcheiben an dazu eingerichteten
Kiſſen
gerieben wurden (Otto von Guericke 1663);
weitere
Vervollkommnung
hatte zu den vortrefflichen Vorrichtungen ge-
führt
, die gegenwärtig noch die Hauptbeſtandteile der Elektriſier-
maſchine
ausmachen.
Durch geeignete Inſtrumente lernte man
die
ſchwache Elektrizität anſammeln in einer Metallkugel, aus
der
man bedeutende Funken hervorſpringen laſſen konnte.
Ja
man
verſtand es ſchon Funken hervorzurufen aus der Elektriſier-
maſchine
und den dazu gehörigen Inſtrumenten, die ſtark
genug
waren, Tiere zu töten.
Die Aehnlichkeit ſolcher Funken
mit
dem Blitz lag alſo nahe genug, ſo daß Viele von Franklins
Zeitgenoſſen
die Wolken als große Elektriſiermaſchinen, den Blitz
als
elektriſchen Funken erklärten.
Allein dieſer große Denker
war
es, der ſich nicht mit der Erklärung des Blitzes begnügte,
ſondern
den Mut hatte, zu verſuchen, ob er den Blitz
396104 regieren und zwingen könne, wie man den elektriſchen Funken
regieren
und zwingen kann, einen beſtimmten Weg zu wandeln.
Was urſprünglich für eine Spielerei betrachtet wurde, das
Hervorlocken
eines Funkens aus geriebenem Glaſe, war freilich
67[Figure 67]Fig. 13.
Erfindung
des Blitzableiters.
ſchon zu einem kleinen Bilde einer der erhabenſten und furcht-
barſten
Naturerſcheinungen geworden;
aber der weiſe Franklin,
der
weitere Folgen daran knüpfte, verſchmähte es nicht, wieder
zu
einem Kinderſpiel zu greifen, und machte ſeine erſten
397105 den Blitz abzuleiten mit dem Papierdrachen ſeines Sohnes, den
er
hoch hinauf in die Luft ſteigen ließ, in deſſen Schnur er aber
einen
feinen Metallfaden einwebte mit dem Wunſche, daß dieſer
Metallfaden
einen Blitz vom Himmelherablocken möge (Juni 1752).
Nach wenigen Wiederholungen gelang ſein Verſuch voll-
kommen
und trotz der Gefahr, die er mit ſich führte, und die
ſpäter
einem anderen ausgezeichneten Naturforſcher das Leben
koſtete
, lief alles ſo glücklich ab, daß Franklin die Genugthuung
hatte
, die Blitzableiter als ſichere Schutzmittel gegen Gewitter-
ſchläge
an den vorzüglichſten Gebäuden prangen und ſelbſt an
Kirchen
angebracht zu ſehen, obgleich die frommen Diener
Gottes
von den Kanzeln gegen die Frechheit der Menſchen
donnerten
, welche ſich anmaßten, dem Zorne Gottes und ſeinem
Blitze
in den Arm zu fallen.
Der Blitz iſt, wie die weiteren Forſchungen ergeben haben,
ein
Erzeugnis der Elektrizität, die in der Luft auf eine noch
nicht
genügend erklärte Weiſe entſteht.
Der Blitzableiter iſt der Draht, der bei gewitterſchwerer
Luft
die Elektrizität fortwährend aus der Luft über dem Ge-
bäude
auffängt und ſie in die Erde führt, wohin der Blitz-
ableiter
verläuft.
Ein Blitzableiter iſt daher, wenn er tief
genug
in die Erde hineinleitet
, ein vorzügliches Schutz-
mittel
für hohe Gebäude und Türme, die dem elektriſchen
Schlage
des Blitzes am meiſten ausgeſetzt ſind.
Auch deckt er
ſo
ziemlich die kleineren Gebäude, die in der Nähe liegen.
Nur wenn der Blitzableiter zerbrochen oder verroſtet iſt, ſo daß
er
nicht über die beſchädigte Stelle hinaus den Blitz leiten
kann
, oder wenn er vielleicht gar nicht einmal bis in die Erde
hineingeführt
worden iſt, iſt er nicht nur unnütz, ſondern ſogar
gefährlich
, da alſdann ein in ihn einſchlagender Blitz notwen-
digerweiſe
auf das Gebäude überſpringen muß.
Von der vortrefflichen Leitungsfähigkeit der Metalle hatte
ein
junger Offizier der franzöſiſchen Armee im Anfang
398106 Jahrhunderts die beſte Gelegenheit, ſich zu überzeugen. Derſelbe
eilte
durch die Straßen von Mainz, um einem Gewitter zu
entgehen
und ſteckte ſein ſchweres goldenes Uhrgehänge in die
Hoſentaſche
, um es nicht zu verlieren.
Doch ſeine Flucht war
vergeblich
, ein Blitzſtrahl ſchlug ihn nieder.
Nach Hauſe ge-
tragen
, erwachte er wieder und völlig unbeſchädigt.
Bei genauer
Unterſuchung
zeigte ſich, daß der Blitz durch das Metall ſeiner
Kopfbedeckung
in die Uhrkette, die er um den Hals hatte, ſich
den
Weg gebahnt;
von hier floß der Blitz durch die Uhrge-
hänge
bis in die Hoſentaſche und lief von da an dem Metall-
ſtreifen
ſeiner Hoſe bis an die Stiefel und durch den Sporen
bis
in die Erde.
Der Metallſchmuck war freilich teils zer-
riſſen
, teils zerſchmolzen;
aber der Offizier war gerettet und
mag
wohl fortan den Glauben an die Leitungsfähigkeit der
Metalle
nicht mehr verloren haben, da der Beweis für ihn
wirklich
ſehr ſchlagend geweſen iſt.
XXXVII. Die Leitung, Anſammlung und Ladung
der Elektrizität.
Das Wunderbare, daß man die Elektrizität imſtande
iſt
zu leiten, ſie von einem Körper zum anderen überfließen zu
laſſen
, wird noch durch die Thatſache erhöht, daß man die
Elektrizität
anzuſammeln imſtande iſt, und in ſo ſtarkem Maße
anzuſammeln
, daß ſie eine furchtbare Wirkung hervorbringt,
wenn
man dieſe geſammelte Elektrizität mit einem Male freiläßt.
Mit Recht nennt man dieſe Anſammlung von Elektrizität
eine
Ladung und ſpricht von Entladung derſelben, als ob von
einem
geladenen Geſchütz die Rede wäre, das abgeſchoſſen wird.
Die Elektriſiermaſchinen ſind zu dieſem Zweck eingerichtet,
und
man kann mit denſelben ebenſo intereſſante wie lehrreiche
Verſuche
im großen anſtellen.
399107
So eigentlich iſt ſchon ein gewöhnlicher Lampen-Cylinder,
der
mit einem ſeidenen Taſchentuch gerieben wird, eine Art
kleiner
Elektriſiermaſchine;
die wirklichen Elektriſiermaſchinen ſind
nur
vorteilhafter gebaut und haben einen beſonderen Apparat,
der
der Auſammler der Elektrizität iſt.
68[Figure 68]Fig. 14.A 4 T 1 B 3 t a d g e b f V A S B u v
Die gewöhnliche Elektriſiermaſchine, die Holtzſche In-
fluenzmaſchine”
(Fig.
14), beſteht aus einer runden Glas-
ſcheibe
, die wie ein Schleifſtein durch eine Kurbel gedreht
werden
kann.
An die Scheibe liegen ein paar Kiſſen an, die
einen
mäßigen Druck auf ſie ausüben und an welchen die
Scheibe
ſich reibt, wenn ſie gedreht wird.
Dieſes Reibzeug
400108 vorteilhafter eingerichtet als eines von Seide und wirkt daher
beſſer
, ſo daß man beim dauernden Drehen der Scheibe elek-
triſche
Flammen auf dem Glaſe ſieht.
Beim Reiben entſteht
auf
dem Reibzeug negative Elektrizität und auf der Scheibe
poſitive
Elektrizität.
Da ſich aber dieſe beiden Elektrizitäten
anziehen
und ſich gegenſeitig ausgleichen, ſo würde die Wirkung
der
Maſchine doch nur ſchwach ſein;
man bringt deshalb an
dem
Reibzeug einen Metallſtreifen an, der bis zum Fußboden
reicht
.
Durch dieſen Metallſtreifen wird alle entſtehende negative
Elektrizität
zur Erde abgeleitet, und die poſitive Elektrizität
auf
der Glasſcheibe kann ſich ſtärker häufen.
Um aber die hier
aufgehäufte
Elektrizität noch ſtärker an einem Orte anzuſammeln,
dazu
ſind vor der Scheibe eine oder mehrere mit einander ver-
bundene
Meſſingſtäbchen in Verbindung, welche ziemlich nahe
der
Scheibe anliegen und ihr alle Elektrizität abnehmen, um
ſie
den Kugeln zuzuführen.
Die Kugeln ſelbſt aber ſtehen auf
Glasſtangen
, ſo daß ſie ihre Elektrizität nicht fortleiten können
und
ſo ſammelt ſich denn die Elektrizität in denſelben derart
an
, daß ſchon aus den Kugeln einer gewöhnlichen Maſchine
drei
bis vier Zoll lange leuchtende Funken herausſpringen, wenn
man
ihnen mit dem Knöchel eines Fingers nahe kommt.
Man nennt dieſe Kugeln den Konduktor; wir wollen ſie
die
Sammelkugeln nennen, denn in der That ſammelt ſich in
ihnen
alle Elektrizität an, die auf der Scheibe entwickelt wird.
Solch eine Kugel iſt gewiſſermaßen die Sparbüchſe der Elek-
trizität
, die all die kleinen Summen, welche beim Reiben der
Scheibe
frei werden, in ſich aufnimmt und anhäuft.
Aber es
iſt
eine ſehr unpraktiſche Sparbüchſe, denn wenn man ſie nur
berührt
, giebt ſie in einem Augenblick all ihre Erſparniſſe von
ſich
;
ſie entladet ſich wie mit einem Schuß. Wir werden ſpäter
ſehen
, daß dies bei der galvaniſchen Elektrizität nicht der Fall
iſt
und deshalb iſt auch die Entwickelung und Wirkung dieſer
Art
Elektrizität von der höchſten praktiſchen Bedeutung geworden.
401109
Wer jemals Gelegenheit hat eine Elektriſiermaſchine zu
ſehen
und ihre Thätigkeit zu beobachten, der unterlaſſe es ja
nicht
ſeine Aufmerkſamkeit auch auf alle die kleinen ſogenannten
Spielereien
, die man damit treiben kann, zu richten;
denn das
was
Vielen wie eine Spielerei vorkommt, iſt oft der Schlüſſel
zu
wichtigen Naturereigniſſen und Naturgeheimniſſen und iſt nicht
ſelten
die Pforte zu großartigen und erhabenen Erfindungen
geworden
.
Vor allem aber verſäume man nicht folgenden
intereſſanten
Verſuch anzuſtellen.
Ein Menſch, der während des Drehens der Maſchine die
Sammelkugel
anfaßt, ſpürt nicht die mindeſte Wirkſamkeit der-
ſelben
, denn die Elektrizität wird durch den menſchlichen Körper
hindurchgeleitet
und geht in den Fußboden über, der die Elek-
trizität
zur Erde führt.
Ganz anders aber iſt es, wenn man
einen
Menſchen auf eine große Gutta-Percha-Platte oder ein
Fußbänkchen
ſtellt, welches Glasfüße hat.
Hierdurch kann die
Elektrizität
nicht in den Fußboden abfließen und ſie ſammelt
ſich
in dem Körper des Menſchen ganz ſo an wie in der
Sammelkugel
.
Vor allem empfindet der Menſch ein Grieſeln
der
Haut, das davon herrührt, daß alle feinen Härchen mit
poſitiver
Elektrizität geladen ſind und nun ſich gegenſeitig ab-
ſtoßen
, ſo daß ſie ſich alle wie Borſten aufrichten.
Bald fängt
auch
das Kopfhaar und Barthaar an ſich zu ſträuben und
borſtenarlig
aufzurichten.
Im vollen Sinne des Wortes ſtellt
ſich
hierbei das Haar zu Berge, und je länger dasſelbe iſt,
deſto
ſonderbarer wird der Anblick.
Berührt man den Menſchen
ſo
ſpringt an der Stelle, wo man ihm mit der Hand naht, ein
heller
, kniſternder Funke heraus, ſo daß man ihm Feuer aus
der
Naſe, aus den Fingern, aus jedem Teil des Leibes ziehen
kann
.
Faßt man ihn an, ſo hören alle Erſcheinungen auf,
und
er hat von all dem keine weitere Empfindung.
Hinzufügen
wollen
wir nur, daß der Verſuch ohne ſchädliche Wirkung iſt,
denn
die poſitive Elektrizität, die ſich in ihm aufſammelt,
402110 ſich nur auf der Oberfläche des Körpers an, ſo daß die inneren
Organe
ganz unbeteiligt dabei bleiben.
Deshalb glauben wir
aber
auch nicht an eine heilſame mediziniſche Wirkung dieſes
Verſuches
, obgleich Elektrizitätsnarren dergleichen behaupten.
XXXVIII. Wie man die Elektrizität feſſeln kann.
Wir haben nun geſehen, daß es etwas ganz Eigentümliches
mit
der Elektrizität iſt.
Man kann ſie hervorrufen, wegleiten,
anſammeln
und von Ort zu Ort transportieren, als ob man
es
mit etwas Sichtbarem, Faßbaren zu thun hätte! Und
doch
iſt es nichts Faßbares, ja auch nicht einmal etwas Wägbares!
Eine
Kugel, in welcher man Elektrizität angehäuft hat, iſt
durchaus
nicht ſchwerer, als ſie ohne Elektrizität wäre! Ja,
dieſe
Elektrizität iſt ein ſo eigentümlicher Stoff, daß er, wie
man
zu ſagen pflegt, garnicht alle wird.
Man kann aus einem
Glas-Cylinder
, aus einer Glasſcheibe, aus einer Harzſtange
unendliche
Zeiten immerfort Elektrizität ziehen, ohne daß ſie
irgendwie
mit der Zeit abnimmt.
Es unterliegt wohl gar keinem Zweifel, daß man hier ein
Naturgeheimnis
vor ſich hat, und da die Elektrizität eine un-
überſehbar
große Rolle in der Welt ſpielt, ſo iſt dies Geheim-
nis
eben ein ungeheuer großes.
Gleichwohl iſt man demſelben
durch
Forſchungen ſchon näher gerückt und hat man auch nicht
das
Weſen der Elektrizität aufgeſpürt, ſo hat man doch weſent-
liche
Eigenſchaften derſelben entdeckt.
Um den Aufſchluß, der bereits gewonnen iſt, unſern Leſern
deutlicher
zu machen, müſſen wir noch eines erwähnen, und das
beſteht
darin, daß man die Elektrizität nicht nur anſammeln,
ſondern
durch eigentümliche Vorrichtungen an einer beſtimmten
Stelle
ſo anhäufen kann, daß ſie der heftigſten Wirkungen fähig iſt.
Die Meſſingkugel an einer Elektriſiermaſchine haben wir
die
Sammelkugel genannt und wir wiſſen, daß man aus
403111 große Funken zu ziehen imſtande iſt. Durch folgende, ſehr
einfache
Vorrichtung iſt man in der Lage, die in der Kugel ge-
ſammelte
Elektrizität auf einem kleinen Raum anzuhäufen und
ſie
dort gewiſſermaßen zu binden.
Man nimmt eine gewöhnliche, dünne, viereckige Glasſcheibe
und
klebt auf beide Seiten ein Blatt Stanniol, ſo daß ein etwa
fingerbreiter
Rand der Glastafel frei bleibt.
Hält man nun
die
Glastafel mit dem einen Stanniolblatt an die Sammelkugel
der
Elektriſiermaſchine, ſo wird ſie zwar elektriſch, aber eben
nicht
beſonders ſtark;
ganz anders aber iſt es, wenn man dabei
zugleich
das Stanniolblatt der andern Seite mit dem Finger
berührt
.
Thut man dies, ſo häuft ſich auf beiden Seiten der
Glastafel
und zwar auf dem Stanniol eine große Maſſe
von
Elektrizität an.
Das Wunderbare und Eigentümliche
dieſer
Anhäufung iſt folgendes.
Wir wiſſen, daß man die
Sammelkugel
der Elektriſiermaſchine nur mit der Hand zu be-
rühren
braucht, um ihr alle Elektrizität zu benehmen.
Die
Elektrizität
fließt in ſolchem Falle durch den Körper des
Menſchen
in den Erdboden hinein.
Anders aber iſt es mit
der
gehäuften Elektrizität auf dem Stanniolblatt der Glastafel.
Man kann jede einzelne Seite des Stanniols mit der Hand be-
rühren
, ja man kann einen Draht, der zum Erdboden führt, damit
verbinden
, ohne daß die Elektrizität vom Stanniolblatt weicht,
ſie
iſt wie gefeſſelt auf dem Blatte und man ſagt auch wiſſen-
ſchaftlich
, daß dieſe Elektrizität gebunden iſt.
Trotzdem aber
daß
ſie gebunden iſt und ſich nicht rücken und rühren will,
braucht
man nur gleichzeitig einen Finger an das Stanniol-
blatt
der andern Seite zu legen, um ſofort einen glänzenden
Funken
zu ſehen, einen heftigen Knall zu hören und einen
tüchtigen
Schmerz in den Fingern zu empfinden.
Ganz nach demſelben Prinzip, wie dieſe Tafel eingerichtet
iſt
, ſtellt man die wirkſamere Leidener Flaſche (Fig.
15) her,
die
aus einem Glasgefäß beſteht, das innen und außen
404112 Stanniol belegt iſt, wobei ein breiter Rand frei bleibt, der mit
Lack
überzogen wird.
Aus der innerenBelegung” ragt eine
kleine
Meſſingſtange mit einer kleinen Kugel an der Spitze her-
vor
.
Hält man dieſe Kugel an die Sammelkugel der Elektriſier-
maſchine
, ſo häuft ſich ſowohl auf der äußeren wie auf der
inneren
Belegung des Glaſes ſehr ſtark die Elektrizität an,
und
berührt man mit der einen Hand die äußere Belegung
und
mit der andern die Kugel der Flaſche, ſo erhält man unter
69[Figure 69]Fig. 15. Funken und Knall einen ſo heftigen Stoß, daß
der
Schmerz unerträglich, ſogar die Erſchütte-
rung
gefährlich werden kann.
Ja ein ganzer Kreis von Menſchen, die
einander
die Hände reichen, fühlt den Schlag,
wenn
der erſte aus dem Kreiſe die Flaſche in
die
Hand nimmt und der letzte des Kreiſes die
Kugel
berührt.
Mehrere ſolche Flaſchen, in ge-
eigneter
Weiſe verbunden, ſind imſtande einen
ſolchen
Schlag zu verſetzen, daß man einen
Ochſen
damit augenblicklich töten kann.
Woher nun dieſe ſonderbare Erſcheinung?
Woher dieſe ſonderbare Anhäufung? Woher
dieſes
rätſelhafte Gebundenſein der Elektrizität,
die
nicht entweicht, wenn man nur eine Seite der Tafel oder
der
Flaſche berührt, während ſie ſich aus der Sammelkugel der
Elektriſiermaſchine
ſofort verliert?
Woher die ſo heftige
Wirkung
, wenn man beide Seiten zugleich anfaßt?
Man ſollte glauben, daß dies nur das Rätſelhafte der
Elektrizität
vermehrt;
allein dem iſt nicht ſo. Gerade dieſe
Erſcheinungen
ſind der Hauptſchlüſſel zur Erklärung vieler
anderer
Rätſel, ſo daß man hierdurch imſtande iſt, einen
leichten
Blick hinter den Schleier des Naturgeheimniſſes zu thun.
Wir wollen es nun verſuchen, dieſe Auflöſung des Rätſels
unſern
Leſern deutlich zu machen.
405113
XXXIX. Eine Erklärung über Ladung und
Entladung der Elektrizität.
Die Stanniolblätter auf beiden Seiten der Tafel ſind ſtark
elektriſch
;
aber ſie beſitzen nicht eine und dieſelbe Elektrizität.
Das Stanniolblatt, das man an die Sammelkugel der Elektri-
ſiermaſchine
anlegt, iſt poſitiv elektriſch, während das Stanniol-
blatt
der andern Seite, das man mit dem Finger berührt hat,
mit
negativer Elektrizität angefüllt iſt.
Es fragt ſich nun: woher kommt das? Wodurch iſt das
Stanniolblatt
, das nicht die Elektriſiermaſchine berührt hat,
elektriſch
geworden?
Und weshalb hat es gerade eine andere
Elektrizität
als die Sammelkugel ſelber?
Was hat der Finger,
der
dies Blatt berührt, für eine Rolle geſpielt?
Überhaupt,
was
iſt bei dieſem Verſuch in dem Stanniol vorgegangen?
Die Antwort hierauf iſt folgende.
Wir wiſſen, daß die eine Art Elektrizität die gleiche Elek-
trizität
abſtößt, während ſie die ungleiche Elektrizität anzieht.
Die poſitive Elektrizität ſtößt die poſitive ab, die negative Elek-
trizität
ſtößt aber ebenſo die negative ab;
dafür aber ziehen
poſitive
und negative Elektrizität ſich gegenſeitig an.
Würde
man
zwei Metallkugeln, die auf einem gläſernen Tiſch liegen,
gleichzeitig
beide mit poſitiver oder negativer Elektrizität füllen,
ſo
würden ſie einander fliehen, würde man die eine mit poſitiver,
die
andere mit negativer Elektrizität füllen, ſo würden ſie,
wenn
ſie nicht zu weit von einander entfernt liegen, ſich an-
ziehen
und zu einander rollen.
Betrachtet man die Glastafel mit den Stanniolblättern,
wie
ſie beſchaffen iſt, ehe man mit ihr den Verſuch anſtellt, ſo
findet
ſich, daß beide Stanniolblätter keine elektriſchen Eigen-
ſchaften
zeigen, und das rührt daher, weil in jedem der Stanniol-
blätter
ſowohl poſitive wie negative Elektrizität vorhanden iſt,
die
ſich gegenſeitig ausgleicht.
Legt man nun das eine
A Bernſtein, Naturw. Volksbücher III.
406114
Stanniolblatt an die Sammelkugel der Elektriſiermaſchine, die
mit
poſitiver Elektrizität erfüllt iſt, ſo geht in dieſem Stanniol-
blatt
eine Trennung der verbunden geweſenen Elektrizität vor.
Die negative wird angezogen, die poſitive wird abgeſtoßen,
und
aus der Sammelkugel ſtrömt noch eine Portion poſitiver
Elektrizität
in das Stanniolblatt.
Nun aber wirkt das eine Stanniolblatt, das die Sammel-
kugel
berührt, auf das zweite auf der andern Seite der Glas-
tafel
.
Die Stanniolblätter ſind zwar durch das Glas getrennt;
aber ſie ſind doch nahe genug, um durch das Glas hindurch
auf
einander zu wirken.
Die Glastafel bildet zwar eine
Scheidewand
, die es verhindert, daß die Elektrizität von einem
Blatt
zum andern überfließt, aber ſie verhindert dennoch nicht,
daß
die Elektrizität des einen Stanniolblattes eine Anziehung
auf
die des anderen ausübt.
Füllt ſich nun das eine Stanniol-
blatt
, das die Elektriſiermaſchine berührt, mit poſitiver Elek-
trizität
, ſo wird dadurch im Stanniolblatte der andern Seite
eine
Trennung der Elektrizität hervorgerufen.
Die negative
Elektrizität
wird nach der Glasſeite hingezogen, die poſitive
nach
der freien Seite abgeſtoßen, weil ſie die poſitive Elek-
trizität
des andern Stanniolblattes fliehen muß.
Giebt man ihr nun keine Gelegenheit zu entfliehen, das
heißt
, berührt man ſie nicht mit dem Finger, ſo bleibt der
Zuſtand
, ſo wie er jetzt iſt.
Berührt man aber das Stanniol-
blatt
, ſo fließt die abgeſtoßene poſitive Elektrizität derſelben in
den
Körper des Menſchen und wird in den Erdboden ab-
geleitet
.
Dadurch bleibt in dieſem Stanniolblatt nur negative
Elektrizität
, während im andern nur poſitive iſt.
Da ſie durch die Glastafel getrennt ſind, ſo vermögen ſie
nicht
zu einander zu fließen;
aber beide Elektrizitäten ziehen
ſich
doch derart durch die Glastafel hindurch an, daß ſie ſich
binden und keine von ihnen abfließen kann, ſelbſt wenn man
ſie
allein mit dem Finger berührt.
407115
Ganz anders aber iſt es, wenn man beide Stanniolblätter
zugleich
berührt.
In demſelben Moment, wo die zwiefache
Berührung
ſtattfindet, gewinnen die getrennten Elektrizitäten
einen
Weg, ſich zu vereinigen, und zwar den Weg durch den
Körper
des Menſchen, und dieſe Vereinigung geſchieht ſehr
plötzlich
und mit um ſo heftigerem Effekt, je mehr Elektrizität
auf
den Stanniolblättern angehäuft iſt.
Daher alſo, von der
plötzlichen
ſtarken Vereinigung, rührt der Funke, der Knall und
der
heftige, ſchmerzliche Schlag.
Durch dieſe Erklärung aber gewinnt man, wie wir bald
ſehen
werden, einen Einblick in das unendlich große Gebiet
der
Wirkſamkeit der Elektrizität, die ihre große Rolle in dem
ganzen
Weltall ſpielt.
XL. Welche Rolle die Elektrizität bei einem
Gewitter ſpielt.
Um zu zeigen, wie der Verſuch mit der belegten Glastafel
geeignet
iſt, Auſſchlüſſe über großartige Naturerſcheinungen zu
geben
, wollen wir die Vorgänge bei einem Gewitter einmal
mit
denen auf ſolcher Glastafel vergleichen.
Zuvor aber
müſſen
wir nur noch eine Thatſache anführen.
Wenn man die Stanniolblätter der Glastafel zu ſtark
ladet
, ſo findet es ſich oft, daß die Elektrizitäten von beiden
Seiten
her ſich derartig kräftig anziehen, daß ein Funke die
Glasſcheibe
an irgend einer ſchwachen oder ſchadhaften Stelle
durchbricht
.
In dieſem Falle zerſpringt die Glastafel unter
heftigem
Knall und ſchleudert die Splitter umher.
Bei einem Gewitter findet etwas ähnliches ſtatt.
Durch die ſtürmiſche Bewegung zweier Luftſchichten, oder
durch
Umſtände anderer Art kommt leicht Elektriſierung einer Luft-
ſchicht
zu ſtande, das heißt irgend eine Luftſchicht nimmt poſitive
Elektrizität
an, während ſich in der andern negative anſammelt.
408116
Die Folge davon iſt, daß ſich die Wolken gegenſeitig an-
ziehen
;
und je näher ſie ſich kommen, deſto mehr häuft ſich
die
Elektrizität an den nächſten Stellen an.
Die Luftſchicht,
die
ſie trennt, wird daher immer dünner, bis die Elektrizitäten
ſich
in überſpringenden Funken vereinigen und der leuchtende
Blitz
und das Rollen des Donners entſteht.
In dieſem Falle
ſchlägt
der Blitz nicht in die Erde ein, ſondern die Entladung
findet
zwiſchen zwei Wolken ſtatt, die durch die Anziehung ſich
verdichten
und nun als Regen auf die Erde niederſtrömen.

Während
des niederſtrömenden Regens bildet dieſer eine vor-
treffliche
Leitung zur Erde, und wenn noch getrennte Elektrizität
in
der Luft vorhanden iſt, ſo gleicht ſich dieſe oft durch lang-
ſame
Ableitung in die Erde aus.
Oft aber iſt dieſe Leitung nicht
genügend
vorhanden und es entſteht ein Zuſtand, der mit dem
unſeres
Verſuches an der Glastafel die größte Ähnlichkeit hat.
Nehmen wir an, daß ſich über einem Gebäude eine Wolke
befindet
, die mit poſitiver Elektrizität geladen iſt, ſo wird ſie
die
poſitive Elektrizität im Gebäude abſtoßen und dieſe ſließt
in
die Erde ab;
dagegen wird ſie aus dem Erdboden die
negative
Elektrizität an ſich ziehen, und an der Spitze dieſes
Gebäudes
wird dieſe ſich anhäufen.
Die Folge davon iſt, daß
dieſe
Häufung immer ſtärker wird und ſich endlich durch einen
Blitzſchlag
ausgleicht, der in das Gebäude hineinſchlägt.
Freilich könnte man fragen, weshalb gleicht ſich dieſer Zuſtand
nicht
aus durch einen Blitzſchlag, der von dem Gebäude in die
Wolken
hineinſchlägt?
Die Antwort darauf iſt, daß der Schlag
ſtets
nach der Seite erfolgt, wo die ſtärkſte Ableitung vorhanden
iſt
, und da das Gebäude auf der Erde ſteht, die Wolke aber
nur
von Luft umgeben iſt, ſo iſt es klar, daß der Blitz den
Weg
nach der vortrefflich leitenden Erde ſucht.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
409
Naturwiſſenſchaftliche Volksbücher
von

A. Bernltein.
Fünfte, reich iſſuſtrierfe Aufſage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
Dierter Teil.
70[Figure 70]
Berlin.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
410
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
411
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
I
. # Die Erſcheinungen des Galvanismus . . . . . . . # 1
II
. # Was man unter galvaniſcher Kette verſteht . . . . . # 5
III
. # Wie man eine Voltaſche Säule herſtellt und was man
# an ihr bemerken kann . . . . . . . . . . . # 8
IV
. # Die Wirkung des Galvanismus auf den lebenden Körper # 13
V
. # Der elektriſche Funke . . . . . . . . . . . . # 16
VI
. # Die galvaniſche Hitze . . . . . . . . . . . . # 19
VII
. # Das elektriſche Licht . . . . . . . . . . . . # 22
VIII
. # Die praktiſche Verwendung des elektriſchen Lichtes . . # 24
IX
. # Die chemiſche Wirkung des elektriſchen Lichtes . . . . # 27
X
. # Die Wirkung des elektriſchen Stromes auf Eiſen . . . # 29
XI
. # Die Anwendung der elektromagnetiſchen Kraft . . . . # 33
XII
. # Drehende Bewegung der Elektromagneten . . . . . # 36
XIII
. # Die elektriſchen Telegraphen . . . . . . . . . . # 40
XIV
. # Die Telegraphen von Siemens und Halske . . . . # 44
XV
. # Der Schreibe-Telegraph . . . . . . . . . . . # 52
XVI
. # Berichtigung einer zu weit getriebenen Theorie über die
# elektriſche Ausgleichung . . . . . . . . . . # 59
XVII
. # Die elektromagnetiſchen Uhren . . . . . . . . . . # 62
XVIII
. # Die Induktionselektrizität und das Geheimnis des Tele-
# phons . . . . . . . . . . . . . . . . # 65
XIX
. # Die Erklärung des Telephons . . . . . . . . . # 72
XX
. # Das Mikrophon . . . . . . . . . . . . . # 79
XXI
. # Der Phonograph . . . . . . . . . . . . . # 83
XXII
. # Betrachtungen über den Phonographen . . . . . . # 90
XXIII
. # Die Elektrizität in den Muskeln und Nerven . . . . # 94
412
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4131
I. Die Erſcheinungen des Galvanismus.
Das was man Galvanismus nennt, iſt eigentlich nicht eine
neue
Naturkraft, ſondern wir haben in dem Galvanismus
nur
eine andere Wirkung der Elektrizität.
Freilich iſt dieſe
Wirkung
in neueſter Zeit durch große Entdeckungen und Er-
findungen
ſo nutzbar für die Menſchheit gemacht worden, daß
ſie
an Bedeutung für uns die bisher erwähnten Elektrizitäts-
erſcheinungen
weit übertrifft.
Die nützlichſte Erfindung, die aus der Kenntnis der Elektri-
zität
hervorgegangen iſt, iſt die des Blitzableiters;
der Galva-
nismus
dagegen hat, obgleich ſeine Entdeckung erſt ſpäter erfolgt
iſt
, die elektriſchen Telegraphen, die elektriſchen Maſchinen, die
Galvanoplaſtik
, das elektriſche Licht, das Telephon, die wichtigſten
elektriſch-chemiſchen
Entdeckungen, und ein Heilverfahren, das
namentlich
bei Lähmungen von guter Wirkſamkeit iſt, die
Elektrotherapie
, hervorgerufen.
Ja, der Galvanismus ſcheint
erſt
im Beginne der Rolle zu ſein, die er in der Menſchen-
geſchichte
zu ſpielen berufen iſt, und verdient hier in der That
jene
Bedeutung, die ihm zu teil wird.
Ob aber ſeine Rolle
in
der großen Natur eine wichtigere iſt als die bisher betrachtete
Elektrizität
, iſt freilich fraglich.
Wir wollen nunmehr die Grundzüge des Galvanismus
näher
kennen lernen.
Die Erſcheinungen, welche man mit dem Namen Galvanis-
mus
bezeichnet, ſind an ſich nur Erſcheinungen der Elektrizität;
den Namen Galvanismus gab man ihnen nur, weil ihr
erſter
Entdecker ein italieniſcher Gelehrter Namens Galvani
(1737—1798) war, und weil man in der erſten Zeit glaubte,
4142 daß durch ihn eine neue Naturkraft entdeckt worden ſei, was aber nicht der Fall iſt. Ein zweiter italieniſcher Gelehrter, Namens Volta (1745—1827), hatte durch ſeine Erfindungen das große Verdienſt, der Welt das richtige Verſtändnis für Galvani’s Entdeckungen zu geben und ſie vor den Irrwegen zu bewahren, auf welchen ſie ſich leicht hätte verlieren können. Seit Volta’s Zeiten weiß man, daß der Galvanismus nicht eine beſondere Naturkraft, ſondern nur eine beſondere Er- ſcheinung der Elektrizität iſt. Wir wollen ſie auch in dieſem Sinne betrachten und die galvaniſche Elektrizität zur Unter- ſcheidung von der bisher beſprochenen Elektrizität, die man Reibungs-Elektrizität nennt, die Berührungs-Elektrizität nennen.
Der einfachſte Grundſatz, auf dem der Galvanismus beruht,
iſt
folgender:
Allenthalben, wo zwei verſchiedene Dinge ſich berühren,
entſteht
Elektrizität.
Dieſer Satz läßt ſich zwar nicht an allen Dingen in der
Welt
nachweiſen und tritt hauptſächlich nur an Metallen her-
vor
;
allein es iſt aller Grund vorhanden anzunehmen, daß
das
Daſein der Elektrizität bei Berührung zweier Metalle nur
merkbarer
iſt, als anderswo, daß aber bei jeder Art von
Berührung
zweier Gegenſtände elektriſche Wirkungen entſtehen.
Wenn man auf eine Kupferplatte eine Zinkplatte legt,
beide
in der Größe und Stärke eines Thalers, ſo genügt dies,
um
mit feinen Inſtrumenten nachzuweiſen, daß rein durch die
Berührung
dieſer beiden Metalle Elektrizität erzeugt worden iſt.
Es iſt ſehr wichtig, daß man ſich hierüber keine falſche
Vorſtellung
mache und deshalb wollen wir das, was bei der
Berührung
der beiden Platten vorgeht, recht deutlich darlegen.
Vor der Berührung herrſcht ſowohl in der Kupferplatte
wie
in der Zinkplatte ein gewiſſes elektriſches Gleichgewicht.
In jeder dieſer Platten iſt die Kraft der Poſitiven und
negativen
Elektrizität gleich ſtark;
es überwiegt keine
4153 ihnen und es tritt keine elektriſche Erſcheinung zu Tage. Bei
der
Berührung aber wird dieſes Gleichgewicht durch eine uns
unbekannte
Thatſache geſtört, die Zinkplatte wird poſitiv elektriſch,
die
Kupferplatte negativ elektriſch.
Das Merkwürdige hierbei iſt Folgendes:
Die Trennung geſchieht nicht etwa nur im Augenblick
oder
in der erſten Zeit der Berührung, ſondern ſie findet
immerfort
ſtatt.
Lötet man nämlich einen Draht an jede Platte an und
ſteckt
beide Drähte in die Erde, ſo findet ein fortwährendes
elektriſches
Strömen durch die Drähte ſtatt, ſelbſt wenn man
dieſen
Apparat jahrelang ſtehen läßt.
Mit einem Worte: So
lange
die Berührung zwiſchen der Kupfer- und Zinkplatte dauert,
ſo
lange dauert auch die unausgeſetzte Trennung der Elektri-
zitäten
, wobei die Kupferplatte ſtets negativ, die Zinkplatte
ſtets
poſitiv bleibt.
Man nennt, wie bereits erwähnt, diejenige Elektrizität,
die
durch Berührung zweier Metalle entſteht, Galvanismus;
in
neuerer
Zeit hat man wegen der beſondern Eigenſchaft dieſer
in
ununterbrochenem Strömen begriffenen Elektrizität dieſelbe
die
Bewegungs-Elektrizität, die Kraft derſelben die elektro-
motoriſche
Kraft genannt.
Der große Unterſchied zwiſchen dieſer Elektrizitäts-Quelle
und
der durch Reibung hervorgebrachten Elektrizität beſteht
hauptſächlich
in Folgendem.
Wenn man einen Körper durch Reiben elektriſch macht,
ſo
entſteht die Elektrizität nur ſehr langſam;
ſie ſammelt
ſich
aber, wie wir geſehen haben, in der Sammelkugel der
Elektriſiermaſchine
an, und geſtattet man dieſes Anſammeln
dadurch
, daß man jede Berührung eines Leiters mit der
Kugel
vermeidet, ſo wird die Elektrizität dort ſo gehäuft, daß
ſie
in einem Funken überſpingt, ſobald man ihr einen Leiter,
wie
z.
B. den Knöchel eines Fingers, nahe bringt.
4164 Sammelkugel iſt, wie wir bereits geſagt baben, eine Art Spar-
büchſe
der Elektrizität;
aber eine ſehr verſchwenderiſche Spar-
büchſe
, denn ſie giebt ſofort, wenn man ſie nur berührt, all ihre
Erſparniſſe
von ſich.
Hat man einmal die Sammelkugel be-
rührt
, ſo iſt auch die Elektrizität in einem heftigen, plötzlichen
Stoß
entflohen und es bleibt in derſelben nichts zurück, das
noch
eine Wirkung hervorruft.
Dieſe Elektriſiermaſchine iſt in
ihrer
Wirkung einem Piſtol gleich, das nur einmal abgeſchoſſen
werden
kann und erſt wieder geladen werden muß, um wiederum
wirken
zu können.
Mit der galvaniſchen Elektrizität iſt es anders.
Die Quelle dieſer Elektrizität iſt die Berührung zweier
Metalle
, und ſie entſteht wirklich an der Stelle, wo die Be-
rührung
ſtattfindet.
Läßt man die entſtandene Elektrizität
nicht
abfließen, ſo entwickelt ſie ſich nicht weiter, ſondern bleibt
ſehr
ſchwach.
Läßt man ſie aber abfließen, ſo erſetzt ſich die
Elektrizität
immer wieder durch die fortdauernde Berührung
und
fließt auch demnach immer und immer, ſo daß eine fort-
während
in Bewegung begriffene Elektrizität vorhanden iſt.
Wenn die Elektriſiermaſchine nur ſchußweiſe wie eine Art
Piſtol
wirkt, ſo wirkt die galvaniſche Elektrizität ſtrömend wie
ein
fortwährend fließender Waſſerſtrahl.
Mit dem Piſtol
kann
man eine und zwar ſehr ſtarke Wirkung hervorbringen;
ein fließendes Waſſer bringt freilich keine ſo ſtarke Wirkung
mit
einmal hervor, aber es vermag durch das wiederholte
Strömen
große Mühlen zu treiben und Waſſerwerke in Be-
wegung
zu ſetzen.
Dieſer Unterſchied in der Wirkung iſt ſo
bedeutend
, daß man die Reibungs-Elektrizität nicht für be-
ſtimmte
Zwecke praktiſch anwendet, während man von der
galvaniſchen
Elektrizität die großartigſten Anwendungen hat
machen
können und die gegründetſten Hoffnungen dafür vor-
handen
ſind, daß noch ganz ungeahnte großartige Erfindungen
und
Entdeckungen auf dieſem Gebiete gemacht werden.
4175
Wir werden übrigens alsbald ſehen, daß es nicht darauf
ankommt
, daß die beiden Metalle ſich an vielen Punkten be-
rühren
, und daß zur kräftigen Wirkung des galvaniſchen Stromes
noch
etwas hinzukommen muß, was wir bisher außer Betracht
gelaſſen
haben, aber bald näher angeben werden.
II. Was man unter galvaniſcher Kette verſteht.
Um irrtümliche Auffaſſungen der galvaniſchen Elektrizität
und
ihrer Wirkungen zu vermeiden, müſſen wir noch immer
bei
dem einfachen Apparat von nur einem einzigen Plattenpaar
verweilen
.
Wir haben geſagt, daß zwei Drähte, der eine von der
Kupferplatte
, der andere von der Zinkplatte aus nach der
Erde
hinabgelegt fortwährende Strömungen der Elektrizität
hinabführen
und daß dieſe Ströme immer neu an der Be-
rührungsſtelle
des Kupfers und des Zinks entſtehen.
Wie aber iſt es, wenn man nur einen Draht von einer
Platte
hinab zur Erde leitet und den andern nicht?
Man ſollte glauben, daß dann der eine Draht ſeine
Schuldigkeit
thun und Elektrizität hinableiten werde, ohne ſich
um
den andern Draht zu kümmern.
Das iſt aber nicht der
Fall
.
Wenn der eine Draht den Strom ſeiner Elektrizität
nicht
ableiten kann, ſo kann es auch der andere nicht.
Geht beiſpielsweiſe der Draht von der Kupferplatte zur
Erde
, während der der Zinkplatte nicht zur Erde geleitet iſt,
ſo
hört nicht nur der Strom im Draht der Zinkplatte, alſo
der
poſitive Strom auf, ſondern auch der Strom im Draht
der
Kupferplatte, der negative Strom ſtockt, und dasſelbe iſt
der
Fall, wenn der Draht der Zinkplatte allein zur Erde ge-
leitet
wird, und der der Kupferplatte nicht.
Der Grund dieſer ſouderbaren Erſcheinung iſt folgender.
4186
An der Stelle, wo die Zink- und Kupferplatte ſich berühren,
geht
, wie bereits geſagt, fortwährend die poſitive Elektrizität
zum
Zink, die negative zum Kupfer.
Dieſe Ströme entſtehen
aber
nur neu, wenn die Elektrizitäten abfließen können:
iſt
aber
ein Draht unterbrochen, ſo findet keine weitere Trennung
der
Elektrizität an ſeiner Platte ſtatt und deshalb kann auch
die
andere Platte die andere Elektrizität nicht weiter empfangen,
und
der Strom im andern Draht hört von ſelber auf.
Von welcher Wichtigkeit dieſer Umſtand iſt, wird jeder
aus
folgendem Beiſpiel erſehen.
Geſetzt es befindet ſich in Berlin ein galvaniſcher Apparat,
deſſen
einer Draht hier in die Erde geſteckt, während der
andere
Draht bis nach Paris geleitet iſt, wo er an einer
Metallſtange
befeſtigt wird, deren eines Ende in der Erde
ſteckt
, ſo wird, ſo lange dieſer Pariſer Draht an der Metall-
ſtange
anliegt, auch der Berliner Draht elektriſch ſein;
ſobald
jedoch
ein Menſch in Paris den Draht von der Metallſtange
entfernt
, ſo wird im ſelben Augenblick der Berliner Draht ſeine
Elektrizität
verlieren.
Man ſieht hieraus, wie ein Menſch in
Paris
im Nu einem Menſchen in Berlin ein Zeichen geben
kann
.
Dies wäre zwar eine ſehr unvollſtändige Zeichenſprache
und
wir werden ſehen, daß zur Telegraphie, wie ſie jetzt beſteht,
eine
neue Erfindung noch hinzukommen mußte, um ſie möglich
zu
machen;
aber gleichwohl ſpielt das beliebige Unterbrechen
und
Hervorrufen des Stromes, wie wir es hier angeführt haben,
die
Hauptrolle in der Telegraphie.
Endlich müſſen wir noch Eines hierbei hervorheben.
Wir haben bisher angenommen, daß man die Enden
beider
Drähte in die Erde ſteckt, um den Strom in denſelben
in
Bewegung zu ſetzen, wir haben aber dabei einen wichtigen
Umſtand
nicht erwähnt, ohne deſſen Beachtung ein elektriſcher
Strom
gar nicht zuſtande kommen würde.
Es muß nämlich,
wenn
der Verſuch gelingen ſoll, der Draht, welcher von
4197 Zinkplatte kommt, ein Zinkdraht, und der von der Kupferplatte
ein
Kupferdraht ſein.
Der Zinkdraht führt dann die poſitive,
der
Kupferdraht die negative Elektrizität zur Erde.
Denken
wir
uns dagegen, daß von beiden Platten nach beiden Seiten
hin
ein Kupferdraht zur Erde führte, ſo wäre eine ſolche An-
ordnung
ohne Wirkung, denn nun entſteht auch an der Stelle,
wo
der Kupferdraht die Zinkplatte berührt, Elektrizität, aber
dieſe
ſtrömt in umgekehrter Richtung wie an der Berührungs-
ſtelle
der beiden Platten, und beide Vorgänge heben ſich gegen-
ſeitig
auf.
Nennt man alſo den Draht am Zink den poſitiven, den
Draht
am Kupfer den negativen Pol, ſo braucht man die
Pole
nur in die Erde zu ſenken, um einen ununterbrochenen
Strom
zu beſitzen.
An der Berührungsſtelle der Metalle
findet
eine fortwährende Trennung der Elektrizitäten ſtatt und
in
der Erde eine fortwährende Vereinigung derſelben, und ſo
entſteht
an allen Punkten der Drähte eine Strömung und
Bewegung
der wunderbarſten Art, obgleich dieſelben für das
Auge
vollkommen ruhig erſcheinen.
Man braucht aber die Pole nicht gerade in die Erde
zu
ſenken, um die elektriſche Kette zu ſchließen, ſondern kann
jeden
beliebigen Leiter der Elektrizität dazu wählen.
Nimmt
man
den einen Pol in die eine, den andern in die andere
Hand
, ſo iſt gleichfalls die Kette geſchloſſen und zwar durch
den
Körper des Menſchen, durch den nun die Ströme ihren
Durchgang
nehmen.
Welche wunderbare Wirkung dies auf den
Körper
hervorbringt, werden wir ſpäter ſehen.
Desgleichen iſt die Kette geſchloſſen und der Strom in
voller
Thätigkeit, wenn man beide Pole, ohne daß ſie ſich
berühren
, in eine Schüſſel Waſſer oder ſonſt in eine wäſſerige
Flüſſigkeit
leitet, denn auch das Waſſer leitet die Elektrizität.
Daß dies von mächtiger Einwirkung auf die Flüſſigkeit iſt,
werden
wir weiterhin näher darlegen.
4208
Nunmehr ſind wir ſo weit, um zu den großartigen
Wirkungen
der galvaniſchen Elektrizität überzugehen, und das
wollen
wir im nächſten Abſchnitt in aller Kürze verſuchen.
III. Wie man eine Voltaſche Säule herſtellt
und was man an ihr bemerken kann.
Wir wiſſen, daß bei der Berührung zweier verſchiedener
Metallplatten
, die eine z.
B. von Kupfer, die andere von Zink,
die
negative Elektrizität im Kupfer, die poſitive im Zink zum
Vorſchein
kommt.
Allein ein einziges Plattenpaar dieſer Art
giebt
nur eine ſchwache Wirkung.
Zu einer großen Wirkſamkeit
gehört
, daß man mehrere ſolcher Platten benutzt.
Man ſollte nun glauben, daß dies leicht erreicht wäre,
wenn
man eine Reihe ſolcher Kupfer- und Zinkplatten ab-
wechſelnd
auf einanderlegt;
allein das iſt ein Irrtum. Ein
wenig
Nachdenken wird auch bald davon nähere Überzeugung
verſchaffen
.
Geſetzt, man legt eine Kupferplatte hin und legt eine
Zinkplatte
darauf, ſo wiſſen wir, daß unten in der Kupfer-
platte
negative, oben in der Zinkplatte poſitive Elektrizität
entſtehen
würde.
Wollte man oben auf dieſe Zinkplatte noch
eine
Kupferplatte legen, ſo würde an dieſer obern Seite der
Zinkplatte
wieder dieſelbe Trennung vor ſich gehen.
Die
obere
Kupferplatte würde negativ, die in der Mitte liegende
Zinkplatte
würde von beiden Seiten her poſitive Elektrizität
erhalten
;
allein gerade dadurch würde die Zinkplatte unwirkſam
werden
, denn ihre poſitive Elektrizität würde von beiden Seiten
durch
die negative aufgehoben werden.
Würde man nun auf
die
obere Kupferplatte noch eine Zinkplatte legen, ſo würde
die
Kupferplatte zwiſchen zwei Zinkplatten liegend wiederum
mit
ihrer negativen Elektrizität eingeſchloſſen werden.
4219 ſieht alſo leicht, daß die zwiſchen der oberſten und der unterſten
Platte
liegenden Platten unwirkſam ſein werden, und in der
That
ergiebt der Verſuch auch, daß eine Säule von hundert
ſolchen
Plattenpaaren auf einandergelegt nicht ſtärker wirkt,
als
ein einziges Plattenpaar.
Denn in Wirklichkeit iſt hierbei
nur
ein einziges Paar Platten wirkſam, nämlich die, welche
zu
oberſt, und die, welche zu unterſt liegt.
Will man eine Verſtärkung der Wirkſamkeit durch mehrere
Plattenpaare
, ſo muß man es machen, wie es der italieniſche
Gelehrte
Alexander Volta, der eigent-
71[Figure 71]Fig. 1.
Die
Zuſammenſetzung der
Voltaſchen
Säule.
Z K Z K Z K Z K
liche Entdecker dieſer Art von Berüh-
rungs-
oder Strömungs-Elektrizität
machte
, nach deſſen Namen die Ver-
ſtärkungsſäule
die Voltaſche Säule ge-
nannt
wird.
Die Voltaſche Säule wird in fol-
gender
Weiſe aufgebaut (Fig.
1). Man
legt
ein Plattenpaar hin, das heißt
eine
Kupferplatte K und auf dieſe eine
Zinkplatte
Z.
Auf die Zinkplatte legt
man
eine mit Salzwaſſer angefeuchtete
Papier-
oder Tuchplatte;
auf dieſe
Tuchplatte
kommt wieder ein Plattenpaar von Kupfer und
Zink
, auf dieſe wieder eine angefeuchtete Platte und hierauf
wieder
ein Plattenpaar, und ſo geht es fort, ſo daß die ganze
Säule
aus regelmäßig auf einander geſchichteten Platten be-
ſteht
, welche der Reihe nach immer aus Kupfer, Zink und
Tuchplatte
gebildet werden.
Man kann nun die Säule, zu
welcher
man etwa thalergroße Platten wählt, beliebig hoch auf-
ſchichten
;
ſie muß nur ſo beſchaffen ſein, daß, wenn ſie unten
mit
Kupfer anfängt, ſie oben mit einer Zinkplatte endet, auf
welche
keine weitere feuchte Platte gelegt wird.
Eine ſolche Säule iſt von außerordentlicher, höchſt
42210 barer Wirkſamkeit, die wir ſogleich kennen lernen, nachdem wir
mit
einigen Worten gezeigt haben werden, weshalb dieſe Art
Säule
beſſer wirkt, als eine Säule ohne dazwiſchen liegende
feuchte
Platten.
72[Figure 72]Fig. 2.
Vollſtändige
Voltaſche Säule.
Eine Säule in der Weiſe errichtet,
wie
ſie von Volta angegeben iſt, das
heißt
eine Säule, in welcher auf jedes
Plattenpaar
von Kupfer und Zink
eine
feuchte Tuchplatte gelegt wird,
verſtärkt
ſich mit jedem neuen Platten-
paare
, das heißt, wenn ein einziges
Plattenpaar
eine gewiſſe Portion
Elektrizität
in Strömung verſetzt, ſo
verſtärkt
ein zweites Plattenpaar dieſe
Portion
auf das zweifache, eine dritte
auf
das dreifache, und ſo weiter, ſo
daß
eine Säule mit hundert Platten-
paaren
hundertmal ſtärker wird, als
ein
einziges Plattenpaar allein.
Der Grund hiervon iſt folgender.
Wir wiſſen, daß das erſte Platten-
paar
eine Portion Elektrizität in
Strömung
verſetzt.
Legt man auf
dieſes
, alſo auf die Zinkplatte gleich
eine
Kupferplatte, ſo haben wir bereits
geſehen
, daß die hier entſtehende Elek-
trizität
die vorhandene aufhebt, alſo
die
Zinkplatte unwirkſam macht.
Legt
man
jedoch eine feuchte Tuchplatte auf die Zinkplatte, ſo iſt
es
ganz etwas anderes.
Die feuchte Tuchplatte leitet die
Elektrizität
, ſie nimmt alſo die eine Portion poſitive Elektrizität,
welche
die Zinkplatte ſtets ausſendet, in ſich auf.
Bringt man
nun
eine Kupferplatte auf die Tuchplatte, ſo verhält ſich
42311 Kupferplatte ebenfalls wie ein Leiter, ſie füllt ſich alſo auch
mit
der einen Portion poſitiver Elektrizität, während ſie mit der
jetzt
durch einen Tuchlappen von ihr getrennten, unter ihr
liegenden
Zinkplatte keine Elektrizität erzeugt.
Bedeckt man
aber
jetzt die zweite Kupferplatte mit einer Zinkplatte, ſo
nimmt
die Zinkplatte ſchon als metalliſcher Leiter die Portion
poſitiver
Elektrizität in ſich auf, die von dem erſten Platten-
paar
herſtammt.
Zugleich aber bringt ſie in Berührung mit der
Kupferplatte
eine gleiche Portion Elektrizität in Bewegung und
von
dieſer begiebt ſich gleichfalls die poſitive Elektrizität zum
Zink
;
es hat hiernach die zweite Zinkplatte volle zwei Portionen
poſitiver
Elektrizität.
Legt man nun auf dieſes zweite Platten-
paar
eine feuchte Tuchplatte, und auf dieſes ein drittes Platten-
paar
, ſo werden auf dieſes dritte Plattenpaar erſtlich die zwei
Portionen
poſitiver Elektrizität durch Leitung übergehen, die
in
der Zinkplatte des zweiten Plattenpaares ſtecken und hier-
zu
kommt noch die neue Portion, die das dritte Plattenpaar
ſelbſt
erzeugt, ſo daß die poſitive Elektrizität der dritten
Zinkplatte
eine dreifache iſt.
Da dies ſo fort geht, ſo iſt
der
Satz ganz richtig, daß mit jedem neuen Plattenpaar die
Elektrizität
um eine Portion wächſt.
Man hat ſehr ſinnreiche Inſtrumente erfunden, um die
Stärke
der Elektrizität genau zu meſſen und durch dieſe hat
ſich
das bisher Geſagte auch praktiſch beſtätigt gefunden.
Wir wollen nunmehr zur Hauptſache kommen, zur wunder-
baren
Wirkung ſtärkerer Ströme der Elektrizität.
Nehmen wir an, wir haben eine Säule in der angegebenen
Weiſe
von Hundert Plattenpaaren aufgebaut.
An der unterſten
Kupferplatte
ſei ein Draht angelötet, und ebenſo an der oberſten
Zinkplatte
, ſo wird der Draht, der unten an der Kupferplatte
angelötet
iſt, der negative, und der oben an der Zinkplatte
befeſtigt
iſt, der poſitive Pol genannt.
Berührt man mit feuchten Fingern gleichzeitig beide
42412 ſo erhält man einen heftigen elektriſchen Schlag. Hat man ſich
dieſen
Schlag gefallen laſſen, was viel ſagen will, und hält
die
Drähte feſt, ſo hat man nicht die leiſeſte Empfindung da-
von
, daß hier noch irgend etwas Wunderbares vorgeht, läßt
man
jedoch die Drähte los, ſo erhält man einen zweiten elek-
triſchen
Schlag, der aber nicht ſo ſtark iſt wie der erſte.

Weshalb
dieſe Säule ſo unfreundlich zum Willkomm und
Abſchied
iſt, werden wir noch näher kennen lernen;
für jetzt
wollen
wir die Hauptkunſtſtücke, die dieſe Säule machen kann,
nur
einfach aufzählen.
Bringt man beide Draht-Enden bis auf eine kleine Ent-
fernung
nahe (Fig.
2), ſo ſieht man ſchon einigermaßen, was in
dieſer
Säule ſteckt.
Es entſteht nämlich zwiſchen dieſen Draht-
Enden
ein heller Funke oder richtiger ein leuchtender Funkenſtrom,
der
von Spitze zu Spitze ſo ſchnell geht, daß er wie ein einziger
Funke
ausſieht.
Der Funke verſchwindet nicht wie bei der
Reibungs-Elektrizität
im Moment des Entſtehens, ſondern er iſt
dauernd
und kann unter Umſtänden fortwährend und unaus-
geſetzt
erhalten werden, ſo daß man dieſen Funken oder richtiger
dieſen
Funkenſtrom zur Erzeugung des blendend hellen elek-
triſchen
Lichtes benutzt, was wir weiterhin noch näher be-
ſprechen
werden.
Leitet man einen feinen Metalldraht von einem Pole der
Säule
zum andern, ſo fängt der Draht ſchnell zu glühen an.
Ja, man kann es ſo weit treiben, daß Eiſen- und Stahldraht
unter
lebhaftem Funkenſprühen verbreunen.
Bringt man eine Magnetnadel dem elektriſchen Strome,
der
durch die Drähte geht, nahe, ſo wird ſie von ihrer natür-
lichen
Lage abgelenkt, und je nachdem man ſie über oder unter
den
Draht hält, iſt die Ablenkung der Magnetnadel verſchieden.
Umwickelt man ein Stück weiches Eiſen mit einem Draht
und
läßt den Strom durch dieſen Draht hindurchgehen, ſo wird
urplötzlich
das Eiſen magnetiſch.
Unterbricht man den
42513 ſo verliert das Eiſen ſofort den Magnetis-
73[Figure 73]Fig. 3.
Apparat
zur Zerſetzung
einer
Flüſſigkeit durch den
elektriſchen
Strom.
mus.
Wir werden noch ſehen, wie auf
dieſer
wunderbaren Eigenſchaft die Er-
findung
der elektromagnetiſchen Maſchine
und
die der Telegraphen beruht.
Bringt man beide Pole in Waſſer
oder
gewiſſe andere Flüſſigkeiten, wozu
man
am beſten ein Glasgefäß von der
in
Fig.
3 veranſchaulichten Form nimmt,
ſo
tritt eine Zerſetzung der Flüſſigkeit
ein
, das heißt, es löſt ſich die chemiſche
Verbindung
derſelben auf, und es legen
ſich
an die Pole die chemiſchen Grund-
ſtoffe
an.
Wir werden ſehen, wie wichtig
dieſes
für die Chemie war und iſt, und
wie
hierauf die ſchöne Erfindung der
Galvanoplaſtik
beruht, durch die ſchon
ſo
viel Vorzügliches geleiſtet worden iſt.
IV. Die Wirkung des Galvanismus auf den
lebenden Körper.
Die Wirkung, welche der elektriſche Strom auf Menſchen
und
lebende Weſen macht, wenn ſie die Drähte der Säule
gleichzeitig
berühren, wird die phyſiologiſche Wirkung der
Elektrizität
genannt und ſie beruht darauf, daß die Körper der
lebenden
Weſen Leiter der Elektrizität ſind, das heißt, daß ſie
den
Strömen der Elektrizität kein Hindernis entgegenſtellen.
Hat man alſo den einen Pol der Säule in der Hand und
berührt
den andern, ſo hat man durch den Körper die beiden
Pole
verbunden und ihren elektriſchen Strömen die
42614 gegeben zu einander zu kommen; man hat mit dem Körper,
wie
wir bereits geſagt haben, die Kette geſchloſſen und
hierdurch
die Ströme angewieſen, ihren Weg durch den Leib
des
Menſchen zu nehmen.
Den Schlag, den man beim Schließen der Kette erhält,
erklärt
man dadurch, daß diejenigen Teile des menſchlichen
Körpers
, in denen er entſteht, nämlich die Nerven und Muskeln,
ſelber
elektriſche Apparate ſind.
Sie beſitzen an und für ſich
in
ihren kleinſten Teilchen eine gewiſſe elektriſche Kraft, die
Emil du Bois-Reymond (1818—1896) in Berlin auf die
überraſchendſte
Weiſe nachgewieſen hat.
Man ſtellt ſich daher
vor
, daß, wenn ein elektriſcher Strom die Nerven und Muskeln
trifft
, ihre kleinſten Teilchen durch Einwirkung der elektriſchen
Anziehungskräfte
aus ihrer Ruhelage getrieben werden und
eine
neue Anordnung annehmen, gerade ſo wie ein poſitives
Hollundermarkkügelchen
durch Annäherung einer negativen
Glasſtange
in Bewegung gerät.
Dies erklärt nun den Schlag
beim
Schließen der Kette, denn eine jede Erſchütterung der
kleinſten
Teilchen unſerer Nerven und Muskeln erzeugt eben
Empfindung
und Zuckung.
Iſt aber einmal der Strom ge-
ſchloſſen
, ſo empfindet man nichts weiter, ſolange man auch
den
Verſuch fortſetzen mag.
Erſt wenn man die Kette wieder
öffnet
, entſteht wiederum ein zweiter Schlag.
Die kleinſten
Teilchen
der Nerven und Muskeln nämlich bleiben während
der
Dauer des Stromes ruhig in ihrer neuen Lage liegen,
und
wir haben daher nicht die Empfindung einer Veränderung
in
ihnen.
Sobald man aber die Kette unterbricht, ſchnellen
jene
in ihre alte Lage wieder zurück und es erzeugt den zweiten
Schlag
, den wir beim Öffnen fühlen.
Wir werden die Reſultate der du Bois-Reymondſchen
Unterſuchungen
, die einen tiefen Blick in die Werkſtatt des
menſchlichen
Körpers, in die Thätigkeit des Gehirns und die
Wirkſamkeit
der Nerven gewähren, noch etwas näher mitteilen;
42715 für jetzt wollen wir nur in Bezug auf vorliegende Wirkung des
Stromes
das Eine hervorheben, daß die Zuckung, die infolge
des
Schlages entſteht, hauptſächlich nur durch die Wirkung
auf
die Bewegungsnerven zuſtande kommt, welche durch die
elektriſche
Anregung eine Zuſammenziehung von Muskeln
wider
unſern Willen veranlaſſen, daß aber jenes eigentümliche
Gefühl
auf der Haut, das dem Prickeln beim Einſchlafen der
Glieder
ähnlich iſt, von der Wirkung des Stromes auf die
Empfindungsnerven
herrührt, die ganz in derſelben Weiſe wie
die
Bewegungsnerven von der Elektrizität erregt werden.
Die Thatſachen, die hier noch hervorgehoben zu werden
verdienen
, ſind folgende.
An verwundeten Hautſtellen empfindet
man
ein ſtechendes Brennen während der Bewegung des elek-
triſchen
Stromes, von dem man ſonſt nichts verſpürt.
Wenn
man
die Pole der elektriſchen Kette in gewiſſen Stellungen
an
das Auge bringt, ſo empfindet man während des Stromes
ein
fortdauerndes Blitzen im Auge.
Leitet man den Strom
durch
die Ohren, ſo vernimmt man ein fortdauerndes Sauſen,
ſolange
der Strom in Bewegung, das heißt, ſolange die Kette
nicht
unterbrochen iſt.
Bei weitem mehr als die Wirkung des elektriſchen Stromes
auf
die Empfindungs- oder Sinnesnerven iſt die Wirkung
desſelben
auf die Bewegungsnerven ausgebeutet worden, und
es
beruhen auf dieſer Wirkung die jetzt ſehr in Aufnahme
gekommenen
elektriſchen Kuren, für die ſchon eigene Inſtitute
errichtet
ſind.
Leider haben aber auch dieſe Errungenſchaften
in
der Hand unwiſſenſchaftlicher Charlatane und ſchlauer
Spekulanten
zu einem Wuſt von Mißbräuchen geführt, die
unter
dem Namen galvaniſche Rheumatismus-Ketten, Volta-
Kreuze
und mancherlei anderen ſchönklingenden Namen auf die
Gutgläubigkeit
der Menge und ihren Geldbeutel ſpekulieren.
42816
V. Der elektriſche Funke.
Wir haben geſehen, daß der elektriſche Strom in den
Leitungsdrähten
Wärme erzeugt und zwiſchen den beiden nahe
gebrachten
Polen einer Säule ein elektriſches Funkenſtrömen
entſteht
, das man im Allgemeinen als das elektriſche Licht
bezeichnet
.
Ähnliche Erſcheinungen nimmt man ſchon bei der Reibungs-
Elektrizität
wahr.
Wenn die Elektrizität durch die Elektriſier-
maſchine
erzeugt und vermittelſt einer Batterie Leidener Flaſchen
auf
einem Punkt angehäuft wird, ſo entſteht bei der Entladung
ein
außerordentlich heller Funke von bedeutendem Wärmegrad.
Allein die Zeit, in welcher der Funke exiſtiert, iſt ſo unglaub-
lich
kurz, daß eine gründliche Unterſuchung der Licht- und
Wärme-Erſcheinung
außerordentlich ſchwierig iſt.
Obwohl es uns für einen Augenblick von unſerem Thema
etwas
abführt, wollen wir doch die Gelegenheit nicht vorüber-
laſſen
, unſern Leſern mindeſtens etwas von dieſer unbegreiflich
kurzen
Zeit des elektriſchen Funkens mitzuteilen.
Wenn man einen Unerfahrenen einen ſtarken elektriſchen
Funken
ſehen läßt und ihn fragt, wie lange Zeit wohl der
Funke
geleuchtet habe, ſo wird er mindeſtens einige Sekunden
als
die Zeitdauer des Funkens angeben.
Das iſt eine Täuſchung.
Unſer Auge erhält einen ſo mächtigen Lichteindruck von einem
ſtarken
elektriſchen Funken, daß der Eindruck ſich nicht ſchnell
verliert
und noch fortdauert, wenn auch das Licht ſchon längſt
geſchwunden
iſt.
Es geht dem Unerfahrenen beim elektriſchen
Funken
, wie dem Kinde mit dem glimmenden Span, mit dem
es
Kreiſe beſchreibt und ſich einbildet, einen wirklichen Feuer-
kreis
vor ſich zu haben, während es nur eine Täuſchung des
Auges
iſt, auf deſſen feinem Nervennetz der Lichteindruck nicht
ſo
ſchnell verſchwindet, wie der glimmende Span bewegt wird.
Um wirklich zu wiſſen, wie lange oder richtiger wie
42917 Zeit ein elektriſcher Funke exiſtiert, dazu bedarf es ſinnig ge-
leiteter
Verſuche.
Man läßt zu dieſem Zweck eine große, runde
Scheibe
, die mit bunten, recht auffallenden Farbenſtrichen ver-
ziert
iſt, mit großer Schnelligkeit durch eine Maſchine herum-
drehen
.
Betrachtet man dieſe Scheibe bei Licht, ſo ſieht man
ſtatt
der einzelnen Farben nur eine undeutliche Miſchfarbe;
und das rührt daher, daß der Eindruck der einen Farbe noch
im
Auge exiſtiert, wenn die andere durch die Drehung ſchon an
deren
Stelle gekommen iſt, ſo daß ſie ſich für die Empfindung
alle
vermiſchen.
Verfinſtert man aber das Zimmer und erzeugt
einen
elektriſchen Funken, ſo ſieht man beim Licht dieſes
Funkens
nicht nur alle Farbenſtriche der ſich drehenden Scheibe
vollkommen
deutlich, ſondern man möchte darauf ſchwören,
daß
die Scheibe ſich garnicht gedreht habe.
Woher rührt das? Es rührt daher, daß der Funke nur
eine
ſo unglaublich kurze Zeit geleuchtet hat, daß die Bewegung
des
Rades in dieſer Zeit ſo gut wie nichts war! Der Verſuch
fällt
noch glänzender aus, wenn man feines, geripptes Zeug
über
die Scheibe ſpannt, deſſen Fäden man nicht genau ſehen
kann
, wenn die Scheibe auch nur ein wenig bewegt wird.
Verſetzt man dieſe auch in die ſchnellſte Umdrehung, ſo ſieht
man
beim elektriſchen Funken aufs allergenaueſte jedes Fädchen
des
Zeuges ganz ſo gut, als ob die Scheibe geſtanden hätte.

Die
Dauer des Funkens iſt ſo kurz, daß in dieſer Zeit die
aufs
ſchnellſte gedrehte Scheibe ſo gut wie gar kcine Bewegung
gemacht
hat.
Auch der Blitz dauert nur ſo außerordentlich kurze Zeit,
obgleich
die Dichter gern ihre nächtlichen Unglücksſcenen mit
minutenlangen
Blitzen beleuchten laſſen;
aber in dem einen
Punkte
haben ſie ganz recht daß ſie alle fliehenden und ſich
bewegenden
Gegenſtände während des Blitzes als ֦erſtarrt
ſtille
ſtehend” bezeichnen, denn wirklich in der unglaublich
kurzen
Zeit eines Blitzes iſt die Bewegung ſämtlicher Gegen-
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IV.
43018
ſtände, die wir ſehen, gleich Null. Die Bahnwärter an den
Eiſenbahnen
entſetzen ſich oft, wenn ſie Nachts den dahin
donnernden
Zug beim Licht des Blitzes ſehen.
Sie ſehen den
Zug
nicht gehen, ſondern ſtehen.
Sie erkennen den Zugführer,
ſehen
die Speichen der ſich drehenden Räder ganz deutlich, als
ob
der Zug vor ihren Augen ſtillgeſtanden hätte;
ja ſie ſehen
ihn
noch immer vor ſich, wenn ſie auch am Getöſe der Maſchine
merken
, daß der Zug ſchon fort iſt.
Der Eindruck dieſer
Scene
wird ſo außerordentlich geſchildert, daß ſelbſt hierüber
belehrte
Bahnwärter ſich des Grauſens über das wunderbare
plötzliche
Stillſtehen des Zuges nicht erwehren können.
Die Zeitdauer des Leuchtens des elektriſchen Funkens iſt
in
der That unermeßlich kurz, da die feinſten Verſuche, die
man
angeſtellt hat, ſie zu meſſen und zu welchen man äußerſt
empfindliche
Inſtrumente, nämlich Drehſpiegel, anwandte, bis-
her
vergeblich waren.
So viel geht aus dieſen Verſuchen
hervor
, daß ein ſolcher Funke und ebenſo ein einfacher
Blitz
kaum den tauſendſten Teil einer Sekunde lang exiſtiert.
Bedenkt man aber, daß man beim Leuchten eines elek-
triſchen
Funkens eine ganze Stube voll Menſchen ſieht und
erkennt
, daß man beim Licht des Blitzes eine ganze Gegend
genau
ins Auge faſſen kann, daß man oft, ſo deutlich wie am
Tage
, Häuſer, Felder, Bäume, Menſchen, Waſſer, Schiffe
und
eine ganze Maſſe von Einzelheiten erkennt, ſo kann man
ſich
hierbei eine Vorſtellung machen von der Feinheit des
menſchlichen
Auges und ſeiner Empfänglichkeit für das Licht,
da
eine ſo unendlich kurze Zeit, wie die Dauer des elektriſchen
Funkens
oder Blitzes hinreicht, dem Auge den vollen Eindruck
einer
ganzen großen Scene zu verſchaffen.
Der kurzen Dauer des Funkens der Reibungs-Elektrizität,
über
die wir hier nur gelegentlich und eigentlich mit Ab-
ſchweifung
von unſerem Thema ein Wort geſprochen haben,
ſteht
die Dauerhaftigkeit des elektriſchen Lichtes im
43119 Strome gegenüber, von welcher wir nun, zu unſerem Thema
zurückkehrend
, ein Näheres vorführen wollen.
VI. Die galvaniſche Hitze.
In demſelben Maße wie der Funke der Reibungs-Elek-
trizität
leuchtet, in demſelben Maße vermag er auch Metall-
drähte
zum Glühen zu bringen.
Über dieſe Erſcheinung hat
der
verdienſtvolle Peter Rieß in Berlin, der hauptſächlich
die
Reibungs-Elektrizität zum Gegenſtande ſeiner erſprießlichen
Forſchungen
gemacht hat, die vorzüglichſten Aufſchlüſſe gegeben.
Ebenſo durchforſcht iſt das Glühen der Metalldrähte, durch
welche
man einen galvaniſch-elektriſchen Strom leitet, und es
iſt
durch Theorie und Verſuche feſtgeſtellt worden, daß, je
dünner
der Draht und je ſtärker der Strom iſt, deſto heftiger
das
Glühen eintritt, ſo daß unter Umſtänden der Draht zum
Schmelzen
gebracht wird.
Obwohl man dem Geſetze des Glühens der Drähte, durch
welche
galvaniſche Ströme geleitet werden, nachgeſpürt hat,
und
auch hinter dasſelbe gekommen iſt, ſo iſt die Erklärung
dafür
, woher dieſe Wärme kommt, doch nicht ſo einfach, und
daher
wollen wir nicht näher darauf eingehen.
Gleichwohl
hat
man praktiſch das Glühen der Drähte, durch welche man
den
Strom leitet, zu beſtimmten Zwecken vorteilhaft ange-
wendet
.
Zunächſt einmal beruhen unſere gewöhnlichen Glühlampen,
Fig
.
4, die man vielfach zu Beleuchtungszwecken anwendet, auf
jener
Eigenſchaft des elektriſchen Stromes, dünne Drähte zu
intenſivem
Glühen zu bringen.
Wenn man das den Draht
einſchließende
Glas bunt färbt, ſo kann man auch prachtvolle,
farbige
Beleuchtungen erzielen, wie ſie jeder Städter von
Illuminationen
und ſonſtigen Gelegenheiten her kennen wird.
4322074[Figure 74]Fig. 4.
Die
Glas- ֦Birne” einer
Glühlampe
.
Um große Felſen zu ſprengen, iſt
es
ferner oft von großer Wichtigkeit, die
Sprengung
durch Pulver an vielen
Stellen
des Felſens gleichzeitig vorzu-
nehmen
.
Zu dieſem Zweck bohrte man
ſrüher
Löcher in die Felſen, die man
mit
Pulverpatronen ausfüllte und legte,
um
das Entzünden des Pulvers in allen
Löchern
zu gleicher Zeit zu bewerk-
ſtelligen
, Zündfaden von einem Loche
zum
andern.
Allein nicht ſelten geſchah
trotzdem
die Entzündung der Patronen
nicht
zu gleicher Zeit, auch fehlte es an
Mitteln
, das Pulver ebenſo dort anzu-
bringen
und dort zu entzünden, wo die
Bohrlöcher
, was nicht ſelten der Fall
iſt
, unter Waſſer angebracht werden
mußten
.
Gegenwärtig hilft man all den
Übeln
durch galvaniſches Glühen in
ſehr
leichter Weiſe ab.
In die Bohr-
löcher
der Felſen werden Pulverpatronen geſteckt, in welchen
man
einen Leitungsdraht aus einer galvaniſchen Kette anbringt.
Die Drähte gehen von einem Bohrloch zum andern, und
werden
, wenn ſie unter Waſſer gezogen werden müſſen, mit
einem
Gutta-Percha-Überzug verſehen.
Die letzten Enden der
Drähte
werden mit dem galvaniſchen Apparat im rechten
Moment
in Verbindung gebracht und dadurch entſteht der
Strom
in all den Drähten, der ſie gleichzeitig zum Glühen
und
das Pulver zum Brennen bringt, ſo daß die Sprengung
in
einem und demſelben Augenblick von allen Seiten geſchieht.

Hierdurch
wird nicht nur eine gleichmäßigere Wirkung erzielt,
ſondern
man bewirkt durch viele, gut verteilte, kleinere Bohrlöcher
ein
weit beſſeres Reſultat als ſonſt durch große.
43321
Eine andere Anwendung des Glühens der Drähte durch
galvaniſche
Ströme iſt, wenn auch nicht ſo wichtig, doch in
hohem
Grade intereſſant.
Es kommt oft vor, daß man, um
den
Zahnſchmerz in einem geſunden Zahn zu ſtillen, genötigt
iſt
, den Nerv durch Brennen zu töten und man wandte zeither
dazu
Platin-Drähte an, die man glühend in den Zahn ſteckte
bis
wo der Nerv einen Sitz hat, der den Schmerz verurſacht
oder
richtiger zur Empfindung bringt.
Dieſe Operation, die
in
den meiſten Fällen viel zuſagender iſt als das Ausreißen
des
Zahnes, hat aber das Schwierige, daß man wegen Unſicher-
heit
der Hand und des Zuckens des Leidenden ſehr unſicher
mit
dem geglühten Draht iſt und häufig kommt der Fall
vor
, daß der Draht nicht nur Zunge, Zahnfleiſch, Lippe
und
Backe von ſeiner Hitze unnötigerweiſe zu koſten giebt,
ſondern
auch noch abgekühlt an die richtige Stelle gelangt und
darum
wirkungslos bleibt, wo er wirken ſollte.
Das Glühen
des
Drahtes durch den galvaniſchen Strom hilft all den Übeln
ab
.
Ein zu dieſem Zweck in England erfundenes Inſtrument
iſt
ſinnreich eingerichtet.
Es wird dies Inſtrument, das nicht
viel
größer iſt als eine Schreibfeder, die einen Zahnſtecher
trägt
, mit der Zahnſtecher-Spitze, die aus Platindraht beſteht,
in
den Zahn und an die rechte Stelle kalt gebracht.
Von
dieſem
Inſtrument gehen zwei Drähte aus, die mit dem galva-
niſchen
Apparat in Verbindung ſtehen und es genügt ein
Fingerdruck
des Operateurs, um den elektriſchen Strom durch
den
Platindraht zu leiten, der im Zahn ſteckt, und ihn zum
Glühen
zu bringen, ſo daß die gewünſchte Operation ohne alle
Schwierigkeit
vollzogen wird.
In gleicher Weiſe werden jetzt ſchon eine große Reihe
mediziniſcher
Operationen im Innern des menſchlichen Körpers,
zu
welchen man ſonſt nicht anders als durch gefahrvolle Ein-
ſchnitte
ins Fleiſch gelangen konnte, vermittelſt Drähte voll-
ſtreckt
, die man unter äußerſt geringfügiger Verwundung
43422 den Körper ſteckt. Durch galvaniſches Glühen werden ſo
Operationen
vollführt, bei denen nicht nur der Schmerz unbe-
deutend
, ſondern auch der Blutverluſt faſt ganz vermieden wird,
und
die obenein noch den Vorzug haben, daß die Heilung
außerordentlich
ſchnell erfolgt.
VII. Das elektriſche Licht.
Wir haben bereits erwähnt, daß zwiſchen den ſehr nahe
gebrachten
Polen einer Voltaſchen Säule oder, was dasſelbe
iſt
, zwiſchen den nahe gebrachten Polen einer galvaniſchen Kette
ein
dauerndes Licht entſteht.
Ein Verſuch, der in Frankreich
gemacht
wurde und zu welchem 3520 einfache Plattenpaare
gebraucht
wurden, fiel dahin aus, daß, als man die Pole bis
auf
den fünfzigſten Teil eines Zolles nahe brachte, ein ununter-
brochenes
Funkenſprühen von einem Pol zum anderen ſich zeigte,
das
durch fünf volle Wochen anhielt, ohne an Kraft zu ver-
lieren
.
Selbſt mehrere Monate nach Einrichtung dieſer Batterie
zeigte
ſich keine Schwächung desſelben.
Auch ſchon bei ganz gewöhnlichen, kleinen Apparaten zeigt
ſich
ein Funken im Augenblick des Schließens und Öffnens der
Kette
, und dieſer Funken rührt vom Glühen der äußerſten
Spitzen
der Drähte her, durch welches unter günſtigen Bedin-
gungen
eine Art von Verbrennen des Metalls ſtattfindet.
Damit eine ſolche Verbrennung der Polſpitzen zuſtande
komme
, iſt es notwendig, daß der Sauerſtoff der Luft zugegen
ſei
, da die Verbrennung nur in einer chemiſchen Verbindung
irgend
eines Körpers mit dem Sauerſtoff beſteht.
Im luft-
leeren
Raum kann daher wohl ein Glühen der Polſpitzen, aber
kein
Verbrennen derſelben eintreten.
Aber auch das Glühen
ſelbſt
wird Verſchiedenheiten zeigen nach der Wahl des Stoffes,
aus
dem die Pole beſtehen;
der eine Stoff glüht und
43523 leichter, der andere ſchwerer. Die leichter verbrennenden er-
zeugen
ein helleres Licht, als diejenigen, welche ſich ſchwerer
mit
Sauerſtoff verbinden.
So geben z. B. Kohlenſpitzen ein
beſſeres
Licht, als Eiſen, und
75[Figure 75]Fig. 5.
Die
beiden Kohlenſpitzen einer elek-
triſchen
Lampe in Thätigkeit.
Eiſenſpitzen leuchten heller, als
ſolche
aus Platinmetall.
Das jedoch, was man ge-
meinhin
das elektriſche Licht
nennt
, wird durch eine beſondere
Einrichtung
hervorgebracht, die
von Davy (1778—1829) erfun-
den
worden iſt.
Dieſer um die ge-
ſamte
Naturwiſſenſchaft hochver-
diente
Forſcher brachte an dem
poſitiven
und negativen Pol einer
ſtarken
Säule zwei Kohlenſpitzen
an
.
Die Drähte mit den Kohlen-
ſpitzen
an den Enden führte er
in
einen Glasballon, der luft-
leer
gemacht wurde, und nach-
dem
er die Kohlenſpitzen von
den
entgegengeſetzten Seiten her
durch
Schrauben einander bis
zur
Berührung näherte, ſo daß
der
elektriſche Strom genötigt
war
, durch die Kohlenſpitzen
hindurch
zu gehen, zeigte ſich
eine
Glüherſcheinung an den
Kohlen
in ſo außerordentlichem
Grade
, daß die Spitzen der Kohlen das blendendſte Licht von
ſich
gaben, das man bisher künſtlich erzeugen konnte (Fig.
5).
Auf dieſem Verſuch baſiert, wie wir gleich ſehen werden,
unſere
ganze elektriſche Beleuchtung, die ſich in wenigen
43624 zehnten zu ihrer heutigen Vollkommenheit entwickelte. Die
luftleer
gemachte Glocke iſt dazu nicht notwendig;
allein der
luftleere
Raum hat den Vorteil um erſtens darzuthun, daß das
elektriſche
Licht ohne Gegenwart von Sauerſtoff exiſtieren kann,
und
zweitens verhindert es das Verzehren der Kohle, welche
ſich
in gewöhnlicher Luft mit dem Sauerſtoff verbindet und
Kohlenſäure
bildet.
Weitere Verſuche haben gezeigt, daß das elektriſche Kohlen-
licht
nicht nur im luftleeren Raume, ſondern auch unter
Waſſer
brennen kann und wenn auch mit ſchwächerer, aber
dennoch
außerordentlich blendender Helligkeit im Waſſer leuchtet.
Intereſſant ſind die gelungenen Verſuche, die man angeſtellt
hat
, Tauchern dies Licht nach dem tiefen Abgrund der Ge-
wäſſer
mitzugeben, in welche ſie mit ihren neu erfundenen,
außerordentlich
bequem eingerichteten Taucherglocken hinab-
ſteigen
, um daſelbſt Schätze aus dem Meeresgrund herauf-
zuholen
.
Die Taucherglocke, die durch ein eingerichtetes Pump-
werk
ſtets mit friſcher Luft verſorgt wird, während eine andere
Pumpe
die verbrauchte Luft entfernt, wird von außen mit
elektriſchen
Drähten verſehen, durch welche das elektriſche Licht
tief
unten im Waſſer erzeugt werden kann.
In derſelben Weiſe wird dies Licht bei tiefen Waſſerbauten
und
von Fiſchern zum Anlocken der Fiſche benutzt;
wobei man
dem
Apparat die bequeme Einrichtung einer Laterne giebt, die
beliebig
tief ins Waſſer verſenkt werden kann.
VIII. Die praktiſche Verwendung des elektriſchen
Lichtes.
Ein wundervolles Schauſpiel gewährt es, wenn man die
Kohlenſpitzen
, nachdem einmal das Licht an ihnen erſchienen
iſt
, ein wenig von einander entfernt, indem dann ſtatt
43725 hellen Lichtpunktes ein Lichtbogen entſteht, der freilich viel zu
blendend
iſt, um genauer unterſucht werden zu können, der
aber
ſehr deutlich in einem Bilde erſcheint, welches man nach
Art
der Bildung der Laterna magika auf eine Wand fallen
laſſen
kann.
Fig. 6 kann nur eine
76[Figure 76]Fig. 6.
Der
Davyſche Lichtbogen.
Anſchauung von der ungefähren Form,
nicht
von der Schönheit dieſes Licht-
bogens
geben.
Durch ihn iſt man
imſtande
geweſen, genauer das zu
beobachten
, was bei der Erſcheinung
des
elektriſchen Lichts vor ſich geht
und
hat gefunden, daß auch in dieſen
Kohlenſpitzen
ein eigentümliches Aus-
ſtrömen
von der Kohle des poſitiven
Pols
ſtattfindet, das an den negativen
Pol
ſich hinbewegt.
Mit dieſer Strö-
mung
werden kleine Kohlenteilchen
mit
unermeßlicher Geſchwindigkeit von
dem
poſitiven Pole nach dem nega-
tiven
hingeführt, ſo daß in der That
die
poſitive Kohle ſich vermindert und
die
negative ſich vermehrt.
Dieſe
fliegenden
Kohlenteilchen aber geraten
in
die höchſte Glut und veranlaſſen
den
Lichtbogen, der in den ſchönſten
Farben
von dem poſitiven Pol zum
negativen
hingeführt wird.
Allein es hat das Überſtrömen
der
poſitiven Kohle nach der negativen den Übelſtand, daß
hierdurch
die Entfernung der Kohlen von einander ſtets wechſelt,
ſo
daß man fortwährend daran zu regulieren hat, um es in
gleichmäßiger
Weiſe zu erhalten.
Man hat nun zu dieſem
Zweck
Uhrwerke eingerichtet, die in höchſt ſinnreicher Weiſe
43826 eine bewegliche Kohlenſpitze der anderen feſtſtehenden um eben
ſo
viel nähern, als ſie durch das Glühen und Überführen ihrer
Teilchen
kürzer geworden;
ſo daß man jetzt das elektriſche
Kohlenlicht
lange Zeit hindurch ſtetig in gleichmäßiger Hellig-
keit
leuchten laſſen kann und zu zahlloſen Beleuchtungszwecken,
vor
allem auch als Signal auf Leuchttürmen praktiſch verwertet.
An Stelle der koſtſpieligen Batterien wendet man aber
billigere
magneto-elektriſche Vorrichtungen zur Erzeugung des
elektriſchen
Lichtes an.
Die Vorrichtung beſteht darin, daß
man
ſtarke Magnete an Eiſenkernen vorüberführt, welche mit
Leitungsdraht
umwunden ſind.
Dieſe Eiſenkerne werden da-
durch
ſelbſt magnetiſch und während des Magnetiſierens entſteht
ein
elektriſcher Strom in der Leitung.
Zwar kehrt ſich der
Strom
ſofort um, wenn man den Magneten von dem Eiſen-
kern
entfernt, und ſomit hebt man die Wirkung des erſten
Stromes
eigentlich auf.
Man hat jedoch gegenwärtig ganz
vorzügliche
Maſchinen aufgeſtellt, die ſo eingerichtet ſind, daß
die
Pole der Leitungen in demſelben Moment, wo der Strom
umkehrt
, vertauſcht werden, und hierdurch iſt man imſtande, mit
Hilfe
einer Kraftmaſchine, welche die Magnetiſierung der Eiſen-
kerne
mechaniſch betreibt, ein ſehr ſchönes elektriſches Licht zu
erzeugen
, das beträchtlich billiger iſt, als dasjenige Licht,
welches
man mit Anwendung von elektriſchen Batterien her-
geſtellt
hat.
Die mannigfachen Schwierigkeiten, welche der Anwendung
des
elektriſchen Lichtes für die Wohnungs- und Straßen-
beleuchtung
urſprünglich entgegenſtanden, ſind durch den ganz
außerordentlichen
, raſtloſen Fortſchritt der Elektrotechnik glück-
lich
überwunden worden.
Demgemäß iſt die Verwendung der
Elektrizität
für die genannten Zwecke jetzt auch eine ſehr all-
gemeine
geworden.
43927
IX. Die chemiſche Wirkung des elektriſchen
Lichtes.
Auch in wiſſenſchaftlicher Beziehung iſt die weitere Er-
forſchung
dieſes Zweiges der Elektrizität von größter Wichtig-
keit
:
denn was in einem einzelnen Fall bekannt geworden iſt,
berechtigt
zu der Hoffnung, daß man durch die Erforſchung
der
Eigenſchaften des elektriſchen Lichtes einen Schritt näher
kommen
könnte zur Erforſchung der Natur des Sonnenlichtes
ſelber
.
Die Eigenſchaft, die wir hiermit meinen, iſt die bis-
her
unerklärliche chemiſche Einwirkung des Lichtes auf viele
Stoffe
.
Die ſchöne Kunſt der Photographie beruht hauptſächlich
in
der Einwirkung des Sonnenlichtes auf Jod- und Chlor-
Silber
.
Außer dieſen giebt es noch eine ganze Maſſe chemiſcher
Verbindungen
, die im Sonnenlicht auf unerklärliche Weiſe ver-
ändert
werden, wie denn gewiß Jedem bekannt iſt, daß faſt
alle
Farben im Sonnenlicht nach und nach verbleichen, ver-
ſchießen
, überhaupt ſich verändern.
Alles dies ſind ganz und
gar
chemiſche Wirkungen des Sonnenlichtes.
Zur Erklärung
dieſer
Erſcheinungen nimmt man an, wie ſchon in der Ein-
leitung
geſagt wurde, daß außer den Licht- und Wärme-
ſtrahlen
noch beſondere chemiſche Strahlen von der Sonne
direkt
ausgeſandt werden und daß dieſe beſondern, für unſer
Auge
und Gefühl unmerkbaren chemiſchen Strahlen die
chemiſchen
Veränderungen verurſachen, welche man an Gegen-
ſtänden
wahrnimmt, die von der Sonne beſchienen werden.
Jeder, der ſich mit Verfertigung von Lichtbildern be-
ſchäftigt
, weiß es, daß niemals ein gutes Bild entſteht, wenn
er
die Platte, worauf das Bild hervorgebracht werden ſoll,
genau
an die Stelle bringt, wo das Bild für unſer Auge am
deutlichſten
erſcheint, daß er vielmehr genötigt iſt, durch Ver-
ſuche
zu ermitteln, um wie viel er jedesmal die Platte
44028 ſeinem Apparat von jener Stelle entfernen muß, um ein
ſcharfes
, gutes Bild zu erhalten.
Nun iſt es eine ausgemachte
Sache
, daß das Lichtbild nur durch eine chemiſche Einwirkung
des
Lichtes hervorgerufen wird, und hiernach kann ſich jeder-
mann
davon überzeugen, daß es nicht das für unſer Auge
ſichtbare
Licht iſt, das die chemiſche Wirkung hervorbringt,
ſondern
daß es beſondere Strahlen oder Wellenſchwingungen
ſein
müſſen, die unſichtbar und unfühlbar für uns im Sonnen-
lichte
zu uns gelangen.
In dieſer Beziehung iſt es nun höchſt intereſſant zu be-
merken
, daß das elektriſche Licht die größte Ähnlichkeit mit
dem
Sonnenlichte beſitzt.
Es gelingt vollkommen, im elektriſchen
Licht
Lichtbilder zu erzeugen, ja man kann deutliche Lichtbilder
im
Lichte des elektriſchen Funkens herſtellen, von dem wir
wiſſen
, daß er nur eine unendlich kurze Zeit dauert.
Bei
allen
Verſuchen aber darf man beim elektriſchen Licht, ähnlich
wie
beim Sonnenlichte, die Platte nicht an die Stelle bringen,
wo
für unſer Auge das Bild erſcheint, ſondern man hat auch
hier
den ſogenannten chemiſchen Brennpunkt aufzuſuchen, ſo
daß
es ganz unzweifelhaft wird, daß auch vom elektriſchen
Lichte
chemiſche Strahlen ausſtrömen, die nicht dieſelben ſind,
welche
für unſer Auge ſichtbar werden.
Es giebt ein mediziniſches Mittel, aus Chlor und Kohlen-
ſtoff
beſtehend, das nur hergeſtellt werden kann im hellen
Sonnenſchein
, da die Verbindung dieſer Stoffe durchaus nicht
anders
zu Wege gebracht werden kann, als durch das direkte
Sonnenlicht
, das es beſcheinen muß.
Der Verſuch ergab, daß
auch
das elektriſche Licht dies Kunſtſtück kann, alſo in dieſer
Beziehung
imſtande iſt, die Sonne zu erſetzen, ebenſo wie
bei
der Bildung desBlattgrüns” (Chlorophylls) in den
Pflanzen
.
44129
X. Die Wirkung des elektriſchen Stromes
auf Eiſen.
Die bedeutendſte Anwendung, die man von der Kraft des
elektriſchen
Stromes macht, iſt die Eigenſchaft desſelben, Eiſen
beliebig
oft in einen Magneten zu verwandeln.
Mit einem
Worte
:
die am meiſten praktiſch ins Leben eingreifende Ver-
wendung
des elektriſchen Stromes liegt im Verhältnis der
Elektrizität
zum Magnetismus.
Wieder iſt hier der erſte Beginn der großartigſten Ent-
deckung
faſt wie ein Kinderſpiel.
Zuerſt wurde die Entdeckung
gemacht
, daß der elektriſche Schlag der Reibungs-Elektrizität
einer
Magnetnadel die magnetiſche Eigenſchaft benehmen kann.
Sodann fand man bei weiterer Beobachtung, daß eine Magnet-
nadel
, die, wie wir wiſſen, mit einer Spitze nach Norden und
mit
der andern nach Süden hinweiſt, ſofort dieſe Stellung
verläßt
, wenn man ſie in die Nähe eines Drahtes hält, durch
welchen
ein elektriſcher Strom ſich bewegt.
Zuletzt endlich ent-
deckte
der geiſtreiche däniſche Naturforſcher Oerſted die eigent-
liche
Hauptſache (im Jahre 1820).
Seine Entdeckung iſt einfach ausgedrückt folgende:
Wenn man einen Draht um eine Eiſenſtange windet, wie
es
in der noch nachher zu beſprechenden Fig.
7 mit den beiden
ſeitwärts
ſtehenden Säulen und Fig.
9 geſchehen iſt, und durch
den
Draht einen elektriſchen Strom gehen läßt, ſo wird die Eiſen-
ſtange
plötzlich in einen Magneten verwandelt.
Die gleiche Er-
ſcheinung
zeigt uns das Inſtrument auf der linken Hälfte der
Fig
.
11 (Seite 42), wo nicht die Eiſenſtange ſelbſt umwickelt iſt,
ſondern
eine cylindriſche Holzſpule A, welche die Eiſenſtange
N
S in ſich aufnimmt.
Bedingung dabei iſt, daß die Wicklung
des
Drahtes um die Stange bezw.
Spule nur in einer Rich-
tung
vollzogen iſt.
Unterbricht man den elektriſchen
44230 ſo verliert das Eiſen, namentlich wenn es weiches Eiſen iſt,
ſofort
ſeine magnetiſche Eigenſchaft.
Es verlohnt ſich wohl, daß ſich Jeder ſelbſt frage, ob er,
wenn
man ihm dieſe Entdeckungen alle mitgeteilt hätte, im-
ſtande
geweſen wäre, vorauszuſagen, von welcher unendlichen
Bedeutung
ſie für die Welt zu werden beſtimmt ſind?
Gewiß
würden
viele Tauſende von Menſchen die Entdeckungen des
77[Figure 77]Fig. 7.D N S a p o Verhältniſſes der Elektrizität zum Magnetismus ſamt allen
Verſuchen
, die man in der erſten Zeit damit machte, für
nichts
weiter als intereſſanten Gelehrtenkram gehalten haben;
jetzt jedoch, wo durch die Ausbeute dieſer Entdeckungen, und
namentlich
der letzteren, von Oerſted, die elektriſchen Tele-
graphen
hervorgerufen worden ſind, jetzt ſieht jeder die Welt-
bedeutung
dieſer anfangs kleinlich erſchienenen Verſuche ein
und
man ahnt, daß die Menſchen- und Völkergeſchicke
44331 werden neu gezählt werden von der Zeit an, wo die Sprache
nach
der Ferne erfunden worden iſt, die ſchneller um die Erde
wandert
, als der Lauf der Sonne, und für welche die Erde
in
vollem Sinne des Wortes zu winzig und zu geringfügig iſt.
Aber einen tiefern Blick noch in das Geheimnis des
Weltalls
verſpricht die Erſcheinung des Elektromagnetismus
einem
künftigen Geſchlechte zu gewähren, dem es gelingen wird
zu
erforſchen, ob und wie der elektriſche Stoff, der mit der
Luft
um die Erde kreiſt, den Magnetismus erzeugt, und ob
umgekehrt
der magnetiſche Zuſtand der Erde das Kreiſen des
elektriſchen
Stoffes auf derſelben hervorruft.
Für jetzt ſind
Fragen
derart noch zu vorzeitig und führen leicht auf den
Abweg
, durch willkürliche Annahmen die Lücken der wirklichen
Forſchung
auszufüllen, oder durch Vermutungen das zu er-
ſetzen
, was unſerm Erkennen noch verſchloſſen iſt.
Wir wollen uns daher zu einer ſchlichten Betrachtung der
Thatſachen
wenden und von den herrlichen Reſultaten, die
man
bereits durch die elektromagnetiſche Kraft gewonnen, das
Hauptſächlichſte
vorführen.
Die Hauptſache liegt darin, daß man imſtande iſt,
durch
den Elektromagnetismus eine bewegende Kraft herzu-
ſtellen
, das heißt eine Kraft, durch die man Maſſen in Be-
wegung
verſetzen kann, die Kraft, auf welcher eigentlich das
ganze
Maſchinenweſen beruht.
Um dies recht klar einzuſehen, wollen wir uns einmal die
einfachſte
Maſchine denken, die wir alltäglich vielfach auf der
Straße
ſehen, wir meinen einen gewöhnlichen Brunnen, der
durch
den eiſernen Schwengel, den man hin- und herſchleudert,
in
Thätigkeit geſetzt wird.
Wollte man einen ſolchen Brunnen
oder
richtiger ſolche Pumpe nicht von Menſchenhänden, ſondern
von
einer Maſchine in Bewegung ſetzen laſſen, ſo müßte man
irgend
welche Kraft, z.
B. Dampfkraft anwenden, welche die
Kraft
des pumpenden Menſchen erſetzt.
Wenn wir nun
44432 werden, daß man das Pumpwerk auch durch Elektromagneten
in
Thätigkeit halten kann, ſo wird es gewiß jeder verſtehen,
was
wir damit meinen, es ſei dieſe Kraft eine bewegende,
denn
ſie bewegt wirklich Maſſen von der Stelle.
Es iſt nun ein Leichtes, ſolch ein Pumpwerk durch Elektro-
magneten
in Thätigkeit zu ſetzen.
Man brauchte nur vor und
hinter
dem eiſernen Schwengel ein Stück Eiſen anzubringen.
Dieſe Eiſenſtücke werden jedes für ſich mit Kupferdraht um-
wickelt
und der Kupferdraht wird mit den Polen einer
galvaniſchen
Säule in Verbindung gebracht.
So oft dies am
vorderen
Stück Eiſen geſchieht, wird ein elektriſcher Strom
durch
die Drähte gehen, mit denen das Eiſen umwickelt iſt.

Sofort
wird hierdurch das vordere Stück Eiſen magnetiſch
werden
und wird, da der Schwengel aus Eiſen iſt, dieſen
zu
ſich heranziehen.
Denkt man ſich die Einrichtung ſo ge-
troffen
, daß im Augenblick, wo der Schwengel das Stück
Eiſen
, alſo den Elektromagneten berührt, ein Draht aus der
galvaniſchen
Säule ſich aushebt, ſo wird im Moment der
Berührung
das Stück Eiſen ſeinen Magnetismus verlieren.

Nun
aber ſtelle man ſich vor, daß im gleichen Augenblick der
Draht
des hinteren Stückes Eiſen mit der galvaniſchen Säule
in
Verbindung gebracht wird, ſo wird nun das hintere Eiſen
ein
Magnet werden und den Schwengel zu ſich heranziehen.
In ſolcher Weiſe brauchte man nur die Vorrichtung zu
treffen
, durch welche ein Paar Drähte, die an den Polen der
Säule
befeſtigt ſind, den elektriſchen Strom bald dem Draht
des
einen, bald dem des andern Eiſenſtückes zuführen, um
abwechſelnd
bald das vordere, bald das hintere Stück Eiſen
magnetiſch
zu machen, und infolgedeſſen den Schwengel bald
nach
vorn, bald nach hinten bewegt zu ſehen.
Dies freilich iſt nur ein ganz roher Verſuch, um die
Wirkung
des Elektromagnetismus als bewegende Kraft deutlich
zu
machen;
aber er wird uns den Weg zu den feinern
44533 großartigeren elektromagnetiſchen Erfindungen bahnen, die wir
unſeren
Leſern in einzelnen Zügen deutlich machen wollen.
XI. Die Anwendung der elektromagnetiſchen Kraft.
Die Kraft der elektriſchen Magnete, mit welcher ein Pumpen-
ſchwengel
hin- und herbewegt wird, bringt zwar nur eine ſehr
einförmige
und wenig künſtliche Bewegung hervor, es iſt nur
ein
Hin- und Herſtoßen in grader Linie und ſcheint für den
erſten
Blick wenig geeignet, bedeutende Reſultate hervorzu-
bringen
;
allein ein wenig Nachdenken wird Jeden leicht belehren,
daß
die vorzüglichſten Maſchinen, die wir beſitzen, die Dampf-
maſchinen
, eigentlich auch von einer Kraft getrieben werden,
die
bloß mit einem Hin- und Herſtoßen wirkt, und dennoch
durch
die Zuſammenſtellung der mechaniſchen Beſtandteile der
Maſchine
iſt die Kraft des Dampfes imſtande, die komplizierteſten
und
bedeutendſten Werke zu verrichten, die menſchliche Geſchick-
lichkeit
hervorzubringen vermag.
Wer einen bloßen Dampfkeſſel anſieht, durch den eigent-
lich
nichts weiter getrieben werden kann, als ein Kolben in
einem
Cylinder, der wird wiſſen, daß die Dampfkraft urſprüng-
lich
auch nur in einem Hin- und Herſtoßen in grader Linie
thätig
iſt und wird es einſehen, daß der Elektromagnetismus
vollkommen
imſtande iſt, den Dampf in einzelnen Fällen zu
erſetzen
.
Aber die elektromagnetiſche Kraft hat ihrer Natur nach
einen
Vorzug vor der Dampfkraft, der darin liegt, daß man
durch
ſie eine direkte drehende Bewegung erzeugen kann, während
bei
der Dampfkraft jede Drehung erſt indirekt erzeugt werden
muß
durch mechaniſche Vorrichtungen, welche einen Teil der
Kraft
abnutzen.
All unſere Maſchinen ſind urſprünglich darauf gegründet,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IV.
44634
daß irgend ein Triebrad durch Dampf in Drehung verſetzt
wird
;
der Dampf ſelber aber kann direkt nur einen Kolben
hin-
und herſtoßen.
Soll dieſer Kolben ein Rad umdrehen,
ſo
iſt man genötigt, an demſelben eine bewegliche Stange an-
zubringen
, die ſich zugleich beim Hin- und Hergehen auch auf-
und
abbewegen kann, und hierdurch kann zwar, bei geeigneter
Vorrichtung
, die Drehung eines Rades erzielt werden, aber
immer
nur auf Koſten eines Teiles der Dampfkraft.
Anders iſt es bei der elektromagnetiſchen Kraft. Man
vermag
durch ſie direkte Drehungen vielfacher Art hervorzu-
bringen
und ſie iſt in dieſem Sinne eine wirkliche Maſchinen-
kraft
.
Um unſern Leſern eine flüchtige Vorſtellung von dieſer
Kraft
zu machen und ihrer drehenden Wirkung zu verſchaffen,
wollen
wir die einfachſte Vorrichtung derart hier darzuſtellen
ſuchen
, um zu zeigen, wie z.
B. die Räder eines Wagens durch
elektriſche
Magneten in Drehung und ſomit der Wagen in Be-
wegung
geſetzt werden könnte.
Wir brauchen es nicht zu ſagen,
daß
diejenige Art, die wir anführen, eben nur ganz obenhin
von
uns entworfen werden wird, und die wirkliche Ausführung
bei
weitem feiner und ſinnreicher ſein muß, um gute Reſultate
zu
liefern.
Vor allem müſſen wir daran erinnern, daß die Hauptſache
darin
beſteht, daß man durch umwickelte Drähte imſtande iſt,
ein
Stück Eiſen in einen Magneten zu verwandeln, ſobald man
die
Enden der Drähte mit dem Pole einer galvaniſchen Batterie
in
Verbindung bringt und ſo einen elektriſchen Strom durch
die
Drähte gehen läßt.
Nun aber müſſen wir nicht vergeſſen,
daß
ein jeder Magnet einen Nordpol und einen Südpol hat,
und
das iſt auch bei dem Eiſen der Fall, das man durch den
elektriſchen
Strom magnetiſch macht.
Wir wiſſen aber auch be-
reits
, daß die Nordpole zweier Magnete ſich abſtoßen und
ebenſo
die Südpole zweier Magnete eine abſtoßende Kraft
44735 einander ausüben, daß hingegen Nordpol und Südpol zweier
Magnete
ſich gegenſeitig anziehen.
78[Figure 78]Fig. 8.
Hufeiſenmagnet
oyue
Umwicklung
.
Zu dieſen bereits den Leſern bekannten
Thatſachen
haben wir aber noch eine neue
von
höchſt wunderbarer Art vorzuführen.
Wir
haben
geſagt, daß ein elektriſcher Strom, der
durch
die Drähte geht, mit welchen man einen
Eiſenſtab
umwickelt hat, dieſen Stab in einen
Magneten
verwandelt, und das iſt auch richtig;
allein es kommt ſehr darauf an, welches von
den
beiden Enden des Drahtes an den poſi-
tiven
und welches an den negativen Pol ge-
bracht
wird.
Wird in der einen Weiſe das
obere
Ende des Eiſens zum Nordpol und
das
untere zum Südpol, ſo wird umgekehrt
bei
der Verſetzung der Draht-Enden an die
entgegengeſetzten
Pole das obere Ende des Eiſens zum Südpol
und
das untere zum Nordpol.
Man kann alſo durch ein leichtes
Verfahren
, indem man nämlich die beiden Enden des Drahtes,
79[Figure 79]Fig. 9.
Hufeiſenmagnet
, durch einen elektriſchen Strom in Thätigkeit verſetzt.
s s b a k a c b
44836 mit dem das Eiſen umwickelt iſt, wechſelweiſe an die Pole legt,
ganz
beliebig die magnetiſchen Pole des Eiſens umkehren.
Bisher haben wir immer angenommen, daß man ein
Stück
Eiſen von beliebiger Form, alſo etwa eine Eiſenſtange,
ſo
umwickelt hätte, um ſie zu einem Magneten zu machen:
für
unſern
Zweck aber iſt es nötig, die Magnete in Hufeiſenform
(Fig.
8) darzuſtellen, und zwar in einer Form, in welcher
ſicherlich
viele unſerer Leſer bereits Magnete geſehen haben
und
die ſo geſtaltet ſind, daß ſie eigentlich eine krummgebogene
Eiſenſtange
bilden (Fig.
9), wo alſo im magnetiſchen Zuſtand
die
Pole (a und b in der Figur) nahe neben einander liegen.
Nach dieſen Vorbereitungen, von welchen wir bitten, daß
die
Leſer ſich eine möglichſt deutliche Vorſtellung machen mögen,
werden
wir im nächſten Abſchnitt leicht zeigen können, wie man
ein
Rad in drehende Bewegung verſetzen kann.
XII. Drehende Bewegung der Elektromagneten.
Denken wir uns die eine Fläche eines Rades mit acht oder
zehn
Hufeiſen aus weicher Eiſenmaſſe beſetzt und zwar ſo, daß
die
zwei Enden jedes Hufeiſens an die Kante zu liegen kommen,
während
die Krümmung des Eiſens nach der Achſe des Rades
zu
liegt.
Der Einfachheit wegen wollen wir einmal annehmen,
daß
dieſes Rad auf einer eiſernen Schiene ſtehe, wie das Rad
eines
Eiſenbahnwagens.
Bedenkt man, daß es ein leichtes iſt,
die
Hufeiſen beliebig magnetiſch zu machen, ſo daß ſie die
Schiene
anziehen, ſo wird es wohl ſchon jedem klar werden,
daß
man nur immer ein Hufeiſen, das von der Schiene noch
entfernt
iſt, zu einem Magneten zu machen braucht, um zwiſchen
der
Schiene und dem Magneten eine Anziehung zu veranlaſſen,
und
dieſe Anziehung wird genügen, um das Rad in
44937 zu verſetzen, bis die Pole des Magneten die Schiene wirklich
berühren
.
Würde man in dieſem Augenblick dieſem Hufeiſen ſeine
magnetiſche
Kraft benehmen, ſo würde es ſich wieder von der
Schiene
entfernen können, und machte man gleichzeitig das
nächſte
Hufeiſen magnetiſch, ſo würde dieſes wieder angezogen
werden
, die Drehung würde ſich fortſetzen bis auch die Pole
dieſes
Huſeiſens auf der Schiene liegen.
Fährt man in dieſer
Weiſe
fort, das heißt, macht man immer ein von der Schiene
entferntes
Hufeiſen magnetiſch und nimmt man ihm immer den
Magnetismus
, wenn es ſich an der Schiene befindet, ſo muß
das
Rad in fortwährender Drehung bleiben.
Es wird dem-
nach
auf der Schiene zu laufen anfangen und vorausgeſetzt,
daß
man vier ſolcher Räder an einem Wagen anbrächte und ſie
auf
die Eiſenbahuſchienen ſtellte, ſo würde der Wagen in einem
unausgeſetzten
Lauf verharren.
Allein auch dieſe Art iſt immer noch eine ſehr rohe und
unvorteilhafte
;
denn man kann die Sache noch beſſer machen.
Man kann z. B. alle Hufeiſen, welche auf der Vorderſeite des
Rades
liegen, immer magnetiſch machen und ihnen den Magne-
tismus
nehmen, wenn das Rad ſich gedreht, ſo daß nicht
ein
Magnet, ſondern mehrere Magnete zugleich den Lauf be-
fördern
.
Aber auch hier ließe ſich noch eine Verbeſſerung anbringen.
Man könnte nämlich über dem Rade auch noch ein Stück Eiſen
anbringen
, welches das Rad nicht berührt, aber anziehend wirkt
auf
ein immer in ſeine Nähe kommendes Hufeiſen, das man
zu
dieſem Zweck magnetiſch machte, ſo würde die Kraft ſich
wiederum
ſteigern.
In Wahrheit aber iſt all das nur höchſt unvollkommen
gegen
die Einrichtungen, die man zu treffen imſtande iſt durch
das
beliebige Umkehren der Pole der Magneten, wovon wir
bereits
im vorigen Abſchnitt geſprochen haben.
45038
Man denke ſich ſolch ein Rad mit einzelnen Hufeiſen, und
rings
um das Rad eine nicht drehbare Kreisſcheibe, auf welcher
ebenfalls
ſolche Hufeiſen befeſtigt ſind, aber ſo, daß die Pole
dieſer
Hufeiſen den Hufeiſenpolen des Rades gegenüberſtehen.
Stellen wir uns nun vor, alle dieſe Hufeiſen, ſowohl die am
Rade
, wie die an der das Rad umgebenden Scheibe wären
mit
Metalldrähten umwickelt.
Man wäre alſo imſtande, jede
einzelne
von ihnen beliebig magnetiſch zu machen.
Nun aber
wiſſen
wir auch, daß man dieſes Magnetiſchmachen ſo be-
treiben
kann, daß irgend ein Pol, der jetzt ein Nordpol iſt,
durch
Umkehren des elektriſchen Stromes zum Südpol ge-
macht
wird.
Da dies bei jedem dieſer Hufeiſen der Fall iſt, ſo brauchen
wir
daran nicht zu erinnern, daß immer der Nordpol und
Südpol
zweier Magnete ſich anziehen, während Nordpol und
Nordpol
und ebenſo Südpol und Südpol ſich immer abſtoßen.
Denken wir uns nun etwa am Rade zehn ſolche Hufeiſen;
alſo zwanzig Pole und an der Kreisſcheibe um das Rad ebenſo
viele
Hufeiſen mit zwanzig Polen, ſo iſt es leicht einzuſehen,
wie
man durch eine geſchickte Leitung weniger Drähte es dahin
bringen
kann, daß allenthalben jeder Nordpol des Rades vor
ſich
, das heißt nach der Richtung hin, wo es ſich drehen ſoll,
einen
Südpol an der Kreisſcheibe trifft.
Da dieſe ſich anziehen,
ſo
wird das Rad ſich drehen.
In dem Moment aber, wo der
Nordpol
des Rades gerade genau bis über den Südpol der
Kreisſcheibe
gekommen iſt, kehrt man den elektriſchen Strom
derart
um, daß aus dem Südpol ein Nordpol wird, und nun
ſtößt
dasſelbe Stück Eiſen, das früher das Rad zu ſich gedreht
hat
, wieder nach der andern Seite ab, das heißt, es zwingt
das
Rad durch Abſtoßung zu einer weiteren Drehung.
Es
iſt
klar, das ſolch eine Vorrichtung, wo vierzig Pole in Thätig-
keit
geſetzt ſind, eine vierzigfache Kraft der Drehung hat, alſo
wirkſamer
ſein wird, als alle bisher geſchilderten Verſuche.
4513980[Figure 80]Fig. 10. Die Elektrizität als Beförderungsmittel.
45240 Die Kraft iſt eine ſo große, daß man imſtande iſt, mit der
Kraft
der Magnete große Wagen mit vielen Perſonen darin
ſich
fortbewegen zu laſſen, wie es die in vielen größeren Städten
als
Beförderungsmittel gebräuchlichenelekriſchen Bahnen”
(Fig.
10) beweiſen.
XIII. Die elektriſchen Telegraphen.
Als man ſich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
von
der Geſchwindigkeit überzeugt hatte, in welcher ein Draht,
an
der Elektriſiermaſchine befeſtigt, durch ſeine ganze Länge
elektriſch
wird, ſelbſt wenn der Draht viele Meilen lang iſt,
ſo
dachte man ſogleich daran, ihn zum Zeichengeben nach der
Ferne
zu benutzen.
Wie ſich’s von ſelbſt verſteht, mußte ſolch
ein
Draht mit nicht leitenden Stoffen umſponnen werden, z.
B.
mit Seide, oder wie man es jetzt macht, mit Gutta-Percha,
das
man jedoch damals noch nicht kannte.
Inzwiſchen war
gerade
dieſes Umſpinnen, dieſes Einſchließen des Drahtes oder
was
man Iſolieren nennt, damals die größte Schwierigkeit;

jetzt
verſteht man dies ſchon ſo gut, daß man umſponnene
Drähte
käuflich erhält und es bei Beſchreibung ſolcher Vor-
richtung
gar nicht für nötig hält, zu erwähnen, daß man immer,
wenn
von Drähten die Rede iſt, nur umſponnene, iſolierte
Drähte
meint.
Eine zweite Schwierigkeit lag darin, daß die Elektriſier-
maſchine
ein ſehr unzuverläſſiges Inſtrument iſt, da ſie im
vollen
Maße nur wirkt, wenn die Luft trocken iſt, bei feuchter
Luft
dagegen, welche Elektrizität zu ſtark ableitet, nur ſchwach
wirkſam
iſt, oder gar völlig verſagt.
Endlich haben wir es
bereits
einmal erwähnt, daß man durch das bloße Elektriſieren
eines
Drahtes höchſtens ein verabredetes Zeichen für eine bereits
früher
erwartete Thatſache geben kann, nicht aber
45341 Zeichen zu geben vermag, die die Stellen von Worten ver-
treten
könnten.
Als Volta die galvaniſche Säule erfunden hatte und man
ihre
Wirkung und hauptſächlich ihre größere Beſtändigkeit
kennen
lernte, ging man wieder daran ſie zum Zeichengeben
nach
der Ferne zu benutzen, aber die Vorſchläge blieben un-
ausführbar
und traten, weil ſie dürftig und unpraktiſch waren,
nicht
ins Leben.
Erſt die große Entdeckung der Einwirkung
des
elektriſchen Stromes auf Magnete führte zu einigen ins
Leben
eingreifenden Reſultaten.
Wir haben bereits erwähnt,
daß
eine Magnetnadel, die ſonſt immer mit der einen Spitze
nach
Norden, mit der andern nach Süden hinzeigt, von dieſer
Richtung
abgelenkt wird, ſobald ſie in die Nähe eines Drahtes
gebracht
wird, durch welchen ein elektriſcher Strom geht.
Dieſe
Ablenkung
geſchieht, je nachdem der Strom vom negativen
oder
poſitiven Pol der Batterie ausgeht, bald nach der einen,
bald
nach der andern Seite hin.
Eine weitere Entdeckung
zeigte
ferner, daß man den Kaſten, der eine Magnetnadel ein-
ſchließt
, etwa wie die Käſtchen, in welchen man einen Kompaß
hat
, mit Draht vielfach umwickelt, daß dann auch ſehr ſchwache
elektriſche
Ströme, die man durch den Draht leitet, eine Ab-
lenkung
der Magnetnadel bewirken.
In dem Apparat (Fig. 11)
iſt
die Magnetnadel in einem Glasgehäuſe M aufgehängt.
Der
Magnet
N S paßt in die Höhlung der mit Draht umwickelten
Spule
A;
das Hineinſtecken und Herausnehmen des Magneten
erzeugt
einen Strom in der Drahtleitung, deren Enden a und b
mit
dem Kompaßgehäuſe verbunden ſind.
Dieſes Inſtrument, das
man
zum Meſſen ſehr ſchwacher Ströme der Elektrizität benutzt,
weil
es gut eingerichtet ſehr empfindlich iſt, wurde nun
von
zwei Göttinger Gelehrten, von Gauß (1777—1855) und
Weber (1804—1891) zwei Männer, auf die Deutſchland
ſtolz
zu ſein Urſache hat, benutzt, um damit zu telegraphieren.
Die Zuckungen der Magnetnadel, die ſofort nach rechts
45442 links erfolgen, ſo oft man von der Ferne her durch die Drähte
elektriſche
Ströme von den verſchiedenen Polen aus fließen
läßt
, wurden als Alphabetzeichen benutzt, und man war nun
81[Figure 81]Fig. 11.N S a b M A imſtande, wirklich zu telegraphieren, wie die Verſuche im
Kleinen
auch erwieſen haben.
Aber wie es uns Deutſchen in vielen Dingen geht, ſo ging’s
auch
hier.
Wir erfinden und erſinnen viel; aber es
45543 nicht ins Volk und wird nicht praktiſch; höchſtens intereſſiert
ſich
eine wiſſenſchaftliche Akademie für dieſe Dinge.
Erſt wenn
die
Dinge von England und Amerika praktiſch und in Volk und
Leben
eingreifend gemacht werden, erſt dann öffnet bei uns
auch
die Welt die Augen, und wir nehmen dann das aus
zweiter
Hand auf, was wir aus erſter Hand verſchmäht hatten.
Gauß und Weber hatten bereits im Jahre 1833 ihre
ſchöne
Erfindung bekannt gemacht, und Steinheil (1801—1870)
in
München, ein Mann von unſterblichen Verdienſten für die
Naturwiſſenſchaft
, machte wenige Jahre darauf die Entdeckung,
daß
man die Erde ſelber als Leiter für den galvaniſchen Strom
benutzen
kann, ſo daß man nicht zwei Drähte von einem Ort zum
andern
zu führen braucht, um zwiſchen ihnen telegraphieren zu
können
, ſondern genug hat, wenn man an beiden Stationen die
beiden
Draht-Enden an Metalltafeln anbringt und dieſe in die
Erde
, am beſten in einen Brunnen ſteckt.
Das alles ſind Ent-
deckungen
deutſcher Gelehrten:
aber zur praktiſchen Wirkſamkeit
wurde
die Telegraphie erſt in England und Amerika gebracht.
Der Engländer Cooke (1806—1879) und der berühmte
Naturforſcher
Wheatſtone (1802—1875) griffen die Idee von
Gauß
und Weber auf und errichteten die in England lange
gebräuchlichen
Nadeltelegraphen, durch welche ſie imſtande
waren
, Zeichen für ſämtliche Buchſtaben wiederzugeben.
Freilich waren dieſe Zeichen ſehr beſchränkt, denn es giebt für
ſolche
Zeichenſprache nur zwei Bewegungen, eine nach rechts
und
die andere nach links, je nachdem man den Strom vom
negativen
oder poſitiven Pol ausgehen läßt;
aber durch Wieder-
holungen
dieſer Zeichen vermochte man doch jeden Buchſtaben
des
Alphabets zu bezeichnen.
Von neueren Erfindungen iſt die erſte wieder eine deutſche,
und
zwar gebührt die Ehre Berlin, deren Mitbürger Siemens
(1816—1892) und Halske (1814—1890) die vortrefflichen
Buchſtaben-Telegraphen
erfunden haben.
45644
XIV. Die Telegraphen von Siemens und Halske.
Die Telegraphen, wie ſie Siemens und Halske erfunden
und
ausgeführt haben, beſitzen den Vorzug vor den engliſchen
Telegraphen
, daß ſie wirkliche Buchſtaben bezeichnen, ganze
Worte
und Sätze telegraphieren, und dadurch ſo vollſtändig
ſind
, wie man es nur wünſchen kann.
Ein zweiter Vorzug
beſteht
darin, daß an dem Telegraphen ein Wecker angebracht
iſt
, der ſo lange klingelt, bis der Telegraphiſt, der etwa ein-
geſchlafen
iſt oder ſich aus dem Zimmer entfernt hat, es hört
und
den Apparat in den Stand ſetzt, ſeine Botſchaft zu be-
ginnen
.
Endlich haben die genannten Forſcher auch noch einen
Druckapparat
erfunden, der ſo beſchaffen iſt, daß eine Nachricht,
die
an einem Orte aufgegeben wird, am anderen Ort buch-
ſtabenweiſe
ſich ſelber druckt.
Um unſeren Leſern eine Beſchreibung von all’ dem zu
geben
, müßten wir überhaupt ſehr viel Raum in Anſpruch
nehmen
.
Wir können, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, nur die
Hauptſachen
dieſer ſinnreichen Einrichtung hier vorführen, und
müſſen
zufrieden ſein, wenn dies hinreicht, die Leſer zu über-
zeugen
, daß all’ die Wunder der Telegraphie nicht Zauber,
ſondern
ſinnreiche Benutzung der Naturkräfte ſind.
Der Buchſtaben-Telegraph von Siemens und Halske iſt
gegründet
auf die Eigenſchaft des elektriſchen Stromes, Eiſen
in
einen Magneten zu verwandeln, ſobald der Strom durch
einen
um das Eiſen gewickelten Metalldraht geht.
Nehmen wir des Beiſpiels halber an, daß zwiſchen Berlin
und
Paris eine ſolche Telegraphie eingerichtet iſt, ſo wird man
ſich
die einfachſte Vorſtellung davon machen können, wenn man
ſich
Folgendes denkt.
In Berlin iſt eine galvaniſche Batterie (Fig. 12) aufgeſtellt.
Der Draht des einen Pols geht in die Erde zu einer Metalltafel,
die
in einen Brunnen hineingeſteckt wird.
Der Draht
45745 zweiten Pols geht über der Erde auf Stangen gezogen bis
nach
Paris.
In Paris iſt nun im Telegraphenzimmer ein
Hufeiſen
auf dem Tiſch angebracht, das mit umſponnenem
Draht
umwunden iſt.
Das eine Ende des Drahtes wird nun
an
dem Berliner Leitungsdrahte befeſtigt, das andere Ende
desſelben
iſt gleichfalls in die Erde eingeſenkt wie in Berlin.
Wir wiſſen nun bereits, daß unter dieſen Umſtänden die
galvaniſche
Kette geſchloſſen iſt, und daß das Hufeiſen in Paris
82[Figure 82]Fig. 12.Eine galvaniſche Batterie.+ - K m Z Z d a durch den elektriſchen Strom, der den Draht durchläuft, ein
Magnet
wird.
Denken wir uns nun, daß in ſeiner Nähe ein
Stück
Eiſen angebracht iſt, ſo wird dieſes Stück Eiſen von dem
Magneten
angezogen.
Nun iſt es aber für den Telegraphiſten in Berlin ein
Leichtes
, die Kette zu öffnen.
Er braucht nur ſeinen Draht
ein
wenig von dem Apparat zu entfernen, und ſofort iſt der
Strom
unterbrochen, der Magnet in Paris verliert im ſelben
Augenblick
ſeine Kraft und läßt das Eiſen fallen.
Legt
45846 hierauf wieder den Draht an den Apparat, ſo erhält der Magnet
in
Paris wieder ſeine Kraft und zieht wiederum das Eiſen an.
Der Telegraphiſt in Berlin kann das ſo ſchnell wiederholen,
wie
er nur vermag:
das Eiſen in Paris, das in der Nähe des
Hufeiſens
angebracht iſt, wird jedesmal bei der Schließung
der
Kette angezogen und bei der Öffnung abfallen, ſo daß bei
recht
ſchnellem, wiederholten Schließen und Öffnen in Berlin
83[Figure 83]Fig. 13.DerWagnerſche” Hammer.c p n o o b M e d a {1/2} ein Stück Eiſen in Paris in einer fortwährenden Hin- und
Herbewegung
erhalten werden kann.
Auf dieſes bereits früher bekannte Grundprinzip gründeten
die
Mechaniker Siemens und Halske folgende ſinnreiche Ein-
richtung
(Fig.
13). Das Stück Eiſen (n in der Figur), welches
in
der Nähe des Hufeiſen-Magneten (M) in Paris aufgeſtellt
iſt
und welches Eiſen wir fortan immer Anker nennen wollen,
iſt
von einer ſchwachen Feder vom Magneten zurückgehalten.
45947 Wenn der Magnet ſeine Kraft durch den elektriſchen Strom be-
kommt
, ſo iſt er imſtande trotz der Feder den Anker anzu-
ziehen
.
Aber im Moment, wo er dies thut, löſt der Anker
durch
ſeine Bewegung zum Magneten die galvaniſche Kette an
der
Berührungsſtelle (c).
Der Magnet alſo verliert wieder im
Augenblick
ſeine Kraft und die Feder zieht den Anker zurück
in
ſeine vorherige Lage.
Gerade jedoch dieſes Zurückſpringen
des
Ankers ſchließt wieder die galvaniſche Kette.
Der Magnet
bekommt
dadurch wieder ſeine Kraft, und der Anker wird an-
gezogen
.
Dies jedoch bewirkt wiederum das Öffnen der Kette,
wodurch
der Magnet die Kraft verliert und wieder die Feder
den
Anker zurückzieht.
Dies bewirkt wieder das Schließen
der
Kette, wodurch der Anker wieder zum Magneten hinfliegt.
Und nun geht dies ſo fort, daß der Anker außerordentlich
ſchnell
immerfort hin- und herfliegt und in einer Art zitternder
Bewegung
begriffen iſt, zwiſchen dem Magneten und der Stelle,
wo
ihn die Feder zurückhält.
Man muß ſich nicht die Vorſtellung machen, als ob der
Raum
, den der Anker hin- und herläuft, groß wäre.
Es iſt
der
Raum, auf dem der Anker ſeine unruhige Hin- und Rück-
fahrt
macht, kaum breiter als ein Meſſerrücken.
Dieſes Hin-
und
Herfliegen geſchieht mit ſolcher Schnelligkeit, daß der
Anker
ein Schnurren verurſacht, wie man es beim Aufziehen
einer
Uhr hört, und ſeine Fahrt ſo geſchwind vollführt, daß
man
ihm kaum mit den Augen folgen kann.
Gerade aber dieſer Anker und ſein Hin- und Herfliegen
auf
dem kleinen Raum iſt die Hauptſache, denn dieſes Hin-
und
Herſpringen ſetzt ein kleines Räderwerk in Bewegung,
und
auf dem Zapfen eines Rades iſt ein Zeiger angebracht,
der
, ſo lange der Anker hin- und herfliegt, ſich ſchnell in der
Runde
bewegt wie der Zeiger einer außerordentlich ſchnell
laufenden
Uhr.
Wir ſehen alſo, daß der Telegraphiſt in Berlin
46048 Zeiger in Paris in Umlauf verſetzen und durchn Uterbrechen
der
Kette zum Stillſtand bringen kann!
84[Figure 84]Fig. 14.
Der
Buchſtabentelegraph von Siemens und Halske.
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V X Y Z
A
B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V X Y Z
46149
Indem aber der Berliner Telegraphiſt imſtande iſt, den
Zeiger
eines Räderwerkes in Paris in Bewegung zu ſetzen,
vermag
er auch alle beliebigen Worte nach Paris zu tele-
graphieren
.
Der Zeiger nämlich iſt ſo angebracht, daß er bei ſeinem
Rundlauf
mit der Spitze einen Kreis berührt, auf welchem der
Reihe
nach das ganze A B C und ſämtliche Zahlen von 1 bis
9
und einige übliche Schreibezeichen angebracht ſind (Fig.
14).
Bevor das Telegraphieren anfängt, ſtellt der Pariſer Tele-
graphiſt
dieſen Zeiger immer auf den Punkt, wo das Alphabet
anfängt
.
Im Augenblick, wo der Berliner Telegraphiſt die
Kette
ſchließt, weiß er alſo, daß der Zeiger in Paris zu laufen
anfangen
wird;
da er ihn aber durch das Öffnen der Kette
ſofort
zum Stillſtehen bringen kann, ſo läßt er ihn laufen,
bis
der Zeiger an dem Buchſtaben ankommt, den er tele-
graphieren
will, und unterbricht nun die Kette in Berlin,
und
ſofort macht der Zeiger in Paris an dem betreffenden
Buchſtaben
ein wenig Halt! Der Pariſer Telegraphiſt weiß
nun
, daß dies der erſte Buchſtabe der Depeſche iſt;
er notiert
alſo
denſelben auf einen Zettel.
Während dem aber ſchließt
der
Berliner Telegraphiſt wieder die Kette, der Zeiger läuft
weiter
und bleibt nun bei dem zweiten Buchſtaben der Depeſche
ſtehen
;
und ſo geht es fort, bis die ganze Depeſche fertig iſt.
Freilich wird hier der Leſer fragen: Wie kann der Berliner
Telegraphiſt
es ſo genau berechnen, ob der Zeiger in Paris
auch
auf dem gewünſchten Buchſtaben ſtehe?
Sollte er ſich
nicht
irren und ihn einmal zu viel oder einmal zu wenig
laufen
laſſen?
Gewiß könnte dies der Fall ſein. Aber dafür
iſt
ganz vortrefflich geſorgt.
Wir haben der Einfachheit wegen angenommen, daß der
galvaniſche
Apparat in Berlin und der Magnet mit dem
Anker
und dem durch ſeine Bewegung getriebenen telegraphiſchen
Apparat
in Paris ſteht.
In Wahrheit aber iſt es anders.
46250Es befindet ſich in Berlin ebenſogut ein Magnet ſamt Anker
und
telegraphiſchem Apparat, wie in Paris, und in Paris iſt
ebenfalls
ein galvaniſcher Apparat, wie in Berlin, angebracht.
All’ dies ſteht ſo in Verbindung und iſt ſo geſchickt und akkurat durch mechaniſche Vorrichtungen eingerichtet, daß beide telegraphiſche Apparate, der in Berlin wie der in Paris, ganz genau gleichen Gang haben und die Zeiger, wenn ſie nur richtig vor dem Telegraphieren auf den Punkt vor dem A geſtellt worden ſind, genau immer auf demſelben Buchſtaben ſtehen. Der Berliner Telegraphiſt ſieht alſo ſeinen Apparat und deſſen Zeiger und weiß in jedem Augenblicke ganz genau, wo der Pariſer Zeiger ſteht. Ja, die Einrichtung iſt noch viel ſchöner und intereſſanter, denn an dem Berliner Apparat iſt an jedem Buchſtaben ein kleiner Drücker angebracht, der, wenn er nieder- gedrückt wird, den Zeiger bei dem Buchſtaben anhält und ſomit zugleich den Strom der Kette unterbricht; dadurch aber bleibt der Pariſer Zeiger auch an dem Buchſtaben und verharrt ſo lange bei ihm, bis der Berliner Telegraphiſt den Drücker losläßt und ſeinen und den Pariſer Zeiger weiter laufen läßt zum zweiten Buchſtaben.
Das Intereſſanteſte bei dieſem Apparat iſt, daß das
eigentliche
Telegraphieren mit demſelben ein reines Kinderſpiel
iſt
.
Der Telegraphiſt legt ſeinen Draht an den galvaniſchen
Apparat
an, ſomit iſt die galvaniſche Kette geſchloſſen und
ſofort
fängt der Zeiger an, mit ſchnarrendem Geräuſch zu
laufen
.
Man kann ihn ſo eine ganze Weile laufen laſſen, er
geht
an allen Buchſtaben vorüber und ſtellt ſich bei keinem
hin
.
Will man nun die Depeſche anfangen und zum Beiſpiel
das
Wort Berlin telegraphieren, ſo braucht man nur mit dem
Finger
den Drücker bei B.
niederzudrücken, und der Zeiger
muß
bei dieſem Buchſtaben ſowohl in Berlin wie in Paris
Halt
machen.
Läßt man dann den Drücker los, ſo läuft der
Zeiger
weiter, und man kann ihn auch jetzt wieder, ſo oft
46351 will, in der Runde laufen laſſen, bis man das E aufgefunden
und
den Drücker dieſes Buchſtaben niedergedrückt hat;
der
Zeiger
wird anhalten, ſobald er hier ankommt.
Und ſo geht
es
fort von Buchſtabe zu Buchſtabe, ſodaß ſelbſt der Unge-
übteſte
, ja jedes gewöhnliche Kind, das es einmal mit anſieht,
den
Telegraphen handhaben kann.
Der geübteſte Telegraphiſt
wird
alles nur geſchwinder, aber keineswegs richtiger machen,
wie
jeder Knabe, der richtig ſchreiben kann.
Und das iſt
ein
außerordentlicher Vorzug dieſer Telegraphen-Einrichtung.
Wie ſich’s von ſelbſt verſteht, können wir nicht alle Fein-
heiten
des Apparats hier vorführen;
aber eine Einrichtung,
die
wir bereits erwähnt haben, die Einrichtung des Weckers,
iſt
zu intereſſant, als das wir ſie mit Stillſchweigen übergehen
könnten
.
Wir haben es bereits geſagt, daß, bevor die telegraphiſche
Depeſche
anfängt, immer erſt ein Glöckchen im Apparat ſo
lange
klingelt, bis der Telegraphiſt, an den die Depeſche ge-
richtet
iſt, anzeigt, daß er bereit ſei zu hören, was ihm der
Telegraph
erzählen will.
Dieſe Wecker-Einrichtung iſt durch
folgende
höchſt einfache und intereſſante Vorrichtung zuſtande
gebracht
.
Wir wiſſen ſchon, daß eigentlich zwei Batterien, die eine
auf
der einen und die andere auf der anderen Station ange-
bracht
, beim Telegraphieren in Thätigkeit ſind.
Beide Batterien
ſind
, wie ſich’s von ſelbſt verſteht, doppelt ſo ſtark, wie eine
von
ihnen.
Nun iſt die Vorrichtung ſo getroffen, daß, um
den
Zeiger in Umlauf zu ſetzen, durchaus beide Batterien
thätig
ſein müſſen, dahingegen genügt ſchon die Kraft einer
Batterie
, um eine kleine Glocke klingeln zu laſſen.
Will nun
der
Berliner Telegraphiſt ſprechen, ſo ſetzt er ſeine Batterie in
Thätigkeit
;
aber dieſe kann nur die Glocke in Thätigkeit ſetzen.
Dieſe klingelt in Berlin und in Paris ohne Aufhören, bis der
Pariſer
Telegraphiſt auch ſeine Batterie einſchaltet;
jetzt
46452 der Zeiger an zu laufen und der Berliner Telegraphiſt merkt
daran
, daß man ihm von Paris zuruft:
Der Herr Berliner
hat
das Wort!, und ſomit ſagt er ſein Stückchen her.
XV. Der Schreibe-Telegraph.
Wir bedauern recht ſehr, den allervorzüglichſten Teil der
Telegraphen-Einrichtung
unſerer verdienſtvollen Mitbürger
Siemens
und Halske hier nicht genau beſchreiben zu können,
weil
dieſer Teil in der That ſehr kunſtvoll gearbeitet iſt und
ohne
Modell oder Zeichnung nicht gut verſtanden werden kann.
Dieſer vorzügliche Teil des Telegraphen iſt im vollen Sinne
des
Wortes eine kleine Druckerei, deren Einrichtung ſo getroffen
iſt
, daß durch die magnetiſch-elektriſche Kraft kleine Stempel,
auf
welchen die Buchſtaben ausgeſchnitten ſind, in die Höhe
gepreßt
, mit Druckerſchwärze gefärbt und gegen einen in Fort-
bewegung
begriffenen Streifen Papier gedrückt werden, ſo daß
ſich
damit eine telegraphiſche Depeſche Buchſtabe um Buchſtabe
ſelber
abdruckt.
Es klingt dies faſt unglaublich; aber in Wahrheit, es iſt
ſo
, und man kann ſich jetzt durch den Augenſchein überzeugen,
daß
man durch einen Fingerdruck in Berlin jeden beliebigen
Buchſtaben
in Paris gegen einen Papierſtreifen preſſen kann
und
dort eine Depeſche derart zu drucken vermag, daß der
Pariſer
Telegraphiſt ſie fertig vorfindet und nur abzuleſen
braucht
.
Mit Recht wird in dem Bericht der Akademie der
Wiſſenſchaften
in Paris dieſe Erfindung eine der ſinnreichſten
und
herrlichſten unſeres Jahrhunderts genannt.
An den großen Linien der Staats-Telegraphen ſind teil-
weiſe
noch heut die Schreibe-Telegraphen des Nordamerikaners
Morſe (1791—1872) in Anwendung gebracht worden (Fig.
15).
Die Einrichtung dieſes Telegraphen iſt weſentlich verſchieden
46553 der oben angeführten. Er iſt weder ſo ſinnreich noch ſo leicht
zu
handhaben.
Man bedarf zu ſeiner Benutzung beſonders
unterrichteter
Telegraphiſten, welche die eigentümliche Art zu
ſchreiben
und das Geſchriebene zu leſen verſtehen;
aber er hat
Vorzüge
, die hoch angeſchlagen werden müſſen, und dieſe be-
ſtehen
darin, daß das Werk ſehr einfach iſt und jede Depeſche
ſich
ſelbſt auf einem Papierſtreifen produziert, den der Tele-
graphiſt
nur zu leſen braucht, ohne während der Thätigkeit des
Telegraphen
irgend welche Aufmerkſamkeit darauf zu richten.
Der Siemens- und Halske’ſche Apparat iſt gerade durch ſeine
ſinnreiche
Zuſammenſtellung mehreren Reparaturen ausgeſetzt,
ferner
hat er den Nachteil, daß jede auch nur kleine Ab-
weichung
, welche die gleichen Apparate auf jeder Station
haben
, ſtörend wirkt.
In dieſem Sinne iſt der amerikaniſche
Telegraph
wirklich amerikaniſch, daß heißt ſehr praktiſch ein-
gerichtet
.
Wenn man wieder annimmt, daß es ſich um das Tele-
graphieren
zwiſchen Berlin und Paris handelt, ſo kann man
ſich
durch Folgendes eine leichte Vorſtellung der Einrichtung
des
Morſe’ſchen Telegraphen machen.
In Berlin iſt eine galvaniſche Batterie aufgeſtellt, deren
einer
Pol in die Erde hineingeſteckt wird;
der andere wird
mit
einem gut iſolierten Draht bis nach Paris geleitet.
Dort befindet ſich ein Stück Eiſen, das mit Draht umwickelt
iſt
, deſſen eines Ende an den Leitungsdraht befeſtigt wird und
deſſen
anderes Ende wieder in die Erde geſteckt iſt.
Wir
wiſſen
nun ſchon, daß durch den elektriſchen Strom, der in
Berlin
erregt wird, ſofort das Eiſen in Paris magnetiſch wird,
und
daß es dieſen Magnetismus verliert, ſobald die Kette in
Berlin
unterbrochen wird.
Nun iſt in Paris folgende Ein-
richtung
getroffen.
Über dem aufrecht ſtehenden Magneten
ſchwebt
auf einem kleinen Wagebalken ein eiſerner Stab (cc in
der
Figur), den wir wieder Anker nennen wollen;
an
46654 einen Stelle des Wagebalkens aber iſt eine ſchwache Feder (f)
angebracht
, die es bewirkt, daß der Anker immer ein kleines
Stückchen
von dem Magneten entfernt wird, wenn der Strom
unterbrochen
wird.
Es läßt ſich denken, daß jedesmal, wenn der Magnet ſeine
85[Figure 85]Fig. 15.
Morſes
Schreibſtifttelegraph.
c r d d c g d b f b b g n a a
Kraft bekommt, der Anker auf der einen Seite des Wage-
balkens
niedertaucht, um den Magneten zu berühren;
dadurch
hebt
ſich aber ganz natürlich die andere Seite des Wagebalkens.
Nun iſt auf dieſer andern Seite ein kleiner Stift (d) angebracht,
von
der Dicke einer Stricknadel.
Der Stift ſteht aufrecht und
verſetzt
einer über ihm angebrachten Rolle r immer einen Stoß,
ſo
oft der Anker von dem Magneten angezogen wird.
46755 dieſem Stift aber und der Rolle, auf welche er aufſchlägt, ſo-
bald
der elektriſche Strom im Gang iſt, wird durch ein ganz
gewöhnliches
Uhrwerk, das von einem Gewicht in Gang ge-
halten
wird, ein Streifen Papier durchgezogen, wie es unſere
Figur
darſtellt, ſo daß bei dem jedesmaligen kleinen Stoß,
den
der Stift auf die Rolle thut, der Streifen einen Punkt
bekommt
, der ſehr deutlich ſichtbar iſt.
Sobald aber der
Magnet
längere Zeit magnetiſch erhalten wird, alſo der Stift
längere
Zeit an die Rolle drückt, erhält der zwiſchen Rolle und
Stift
ſich fortſchiebende Streifen Papier, wie ſich’s von ſelbſt
verſteht
, einen Strich.
Man kann alſo von Berlin aus auf den Pariſer Apparat
ſo
einwirken, daß man auf einen dort exiſtierenden Papier-
ſtreifen
Punkte und Striche machen kann, und wir werden nun
zeigen
, wie dieſes einfache Mittel ausreicht, vollſtändige tele-
graphiſche
Depeſchen zu überſenden.
Wir haben der Einfachheit wegen zwar geſagt, daß der
eine
Draht der galvaniſchen Batterie ohne weiteres in die Erde
geleitet
iſt.
Dies iſt aber nicht ganz der Fall. Es iſt vielmehr
ſo
eingerichtet, daß der Draht erſt nach einer kleinen Holzplatte
geht
, die auf dem Tiſche liegt und woſelbſt der Draht endet.
Über dem Ende des Drahtes aber iſt ein kleiner, metallener
Drücker
angebracht, der mit dem Finger niedergedrückt werden
kann
, und erſt von dieſem aus geht ein Draht bis in die Erde.

Alles
dies iſt nun ſo eingerichtet, daß, wenn man mit dem
Finger
auf den Knopf drückt, dieſer den Draht berührt, ſofort
die
Leitung nach der Erde herſtellt und ſomit die Kette ſchließt.

Die
Kette bleibt geſchloſſen, ſo lange man den Knopf nieder-
drückt
;
ſobald man jedoch den Fingerdruck nachläßt, wird der
Knopf
durch eine Feder in die Höhe gerichtet, und die Kette
iſt
wieder unterbrochen.
Und nun kann das Telegraphieren losgehen, wobei
wir
nur noch das Eine ſagen wollen, was ſich
46856 von ſelbſt verſteht, daß in Berlin auch ſolch ein Apparat da
iſt
, wie in Paris und in Paris eben ſolch eine Batterie wie
in
Berlin.
Der Berliner Telegraphiſt tippt mehreremale mit dem
Finger
auf den Knopf des Drückers, den manSchlüſſel”
nennt
, ſofort wird der Magnet in Paris im ſelben Augenblick
den
Anker mehreremale anziehen und los laſſen und der Stift
wird
zu gleicher Zeit mehreremale an die Rolle tippen.
Dies
verurſacht
in Paris ein leichtes Klappern, das der Pariſer
Telegraphiſt
verſteht, denn es heißt ſo viel wie:
Ich bitte
um’s
Wort!
Nun ſetzt der Pariſer Telegraphiſt erſt ſeinen Papierſtreifen
zwiſchen
Stift und Rolle in Lauf und tippt ebenfalls ein paar-
mal
auf den Knopf.
Dies verurſacht in Berlin einen gleichen
Lärm
, und der Berliner Telegraphiſt verſteht dadurch, daß ſein
Herr
Kollege ihm das Wort giebt.
Das Wort? das iſt freilich leicht geſagt; aber wie
ſoll
da ein Wort zuſtande gebracht werden?
Jedesmal,
wenn
der Berliner Telegraphiſt auf den Knopf tippt, entſteht
freilich
in Paris auf dem Papierſtreifen ein Punkt;
läßt der
Berliner
Telegraphiſt den Finger länger auf dem Knopf ver-
weilen
, ſo drückt der Stift in Paris länger gegen die Rolle,
und
der ſich zwiſchendurchziehende Papierſtreifen erhält einen
Strich
.
Was aber ſoll man mit Punkten und geraden Strichen
anfangen
?
Wir werden ſehen, daß man recht viel damit anfangen
kann
.
Der praktiſche Amerikaner Morſe, der im Jahre 1832
über
ſeinen Apparat zu ſinnen anfing, hat bereits im Jahre
1837
die ganze Geſchichte fertig gemacht und dabei gezeigt,
daß
es ein Leichtes iſt, das ganze A B C durch höchſtens fünf
Zeichen
aus Strichen und Punkten darzuſtellen.
Nach Morſes
Schreibart
, die jahrzehntelang faſt allgemein üblich war, be-
ſteht
ein a aus einem Punkt und einem Strich, ein b
46957 einem Strich und drei Punkten u. ſ. w. , ſo daß ſtatt der
folgenden
Buchſtaben der Telegraph die beiſtehenden Zeichen
macht
:
11
a
[ . ] b [ . . . ] c [ .] d [ . . ] e [ . ]
f
[ . . . ] g [ .] h [ . . . . ] A.
In dieſer Weiſe macht nun der Telegraphiſt durch ein-
maliges
Auftippen auf den Knopf einen Punkt;
durch Ver-
weilen
des Fingers auf dem Knopf einen Strich, und ſo ver-
mag
er Buchſtaben zuſammenzuſetzen und ganze Worte daraus
zu
bilden.
86[Figure 86]Fig. 16.
Ein
fertig beſchriebener Streifen vom Morſeſchen Telegraph.
Freilich iſt dies nicht einfach, wie das Telegraphieren
beim
Siemens- und Halske’ſchen Apparat;
aber durch gute
Übung
lernt man doch vortrefflich ſowohl in dieſer Weiſe
ſchreiben
, wie das Geſchriebene leſen.
Es verſteht ſich von
ſelbſt
, daß zwiſchen einem Buchſtaben und einem andern ein
kleiner
leerer Raum und zwiſchen einem Wort und dem andern
ein
größerer Raum gelaſſen wird, ſo daß ſich Buchſtabe von
Buchſtabe
und Wort von Wort ziemlich getrennt hält.
Wie
weit
man es in der Übung gebracht, davon kann man ſchöne
Proben
vorlegen.
Das Telegraphieren geht ſo ſchnell, daß
dem
Ungeübten dabei Hören und Sehen vergeht, und das Leſen
der
Depeſchen geſchieht mit ſolcher Geſchwindigkeit, als ob man
gedruckte
Papierſtreifen vor ſich hätte.
Was den Morſe’ſchen Apparat beſonders beliebt macht,
iſt
, daß er eine vortreffliche Kontrole des Dienſtes geſtattet.
47058 Beim Buchſtaben-Telegraphen von Siemens und Halske kommt
der
Fall oft vor, daß ſich Irrtümer einſchleichen.
Der Tele-
graphiſt
, der die Depeſche abſendet, ſchiebt den Irrtum auf
den
Empfänger, daß dieſer falſch geleſen.
Dieſer ſchiebt den
Fehler
auf den Abſender, und zuweilen haben beide nicht
Schuld
, ſondern es liegt an einer kleinen Abweichung in der
Beſchaffenheit
beider Apparate.
All’ das, was den Dienſt un-
ſicher
macht und oft die ſchwerſten Übel aus irrtümlichen
Nachrichten
nach ſich ziehen kann, iſt durch den Morſe’ſchen
Apparat
vermieden, da dieſer im Papierſtreifen ein Aktenſtück
hinterläßt
, was aufbewahrt wird, und woraus ein Irrtum ſich
ſofort
aufklären läßt.
Ein Amerikaner Hughes (ſpr. Jus) (geb. 1831) erſann
endlich
den heut zumeiſt gebräuchlichen Telegraphen, der die
Buchſtaben
gleich von ſelbſt druckt.
Der hierzu gehörige
Apparat
iſt freilich ſo kompliciert, daß wir es uns verſagen
müſſen
, ihn näher zu beſchreiben.
Man hat in der Telegraphie noch eine andere höchſt geiſt-
volle
Erfindung gemacht und mehrfach auch praktiſch eingeführt,
welche
darin beſteht, daß man das Telegraphieren nicht bloß
auf
Zeichen zu beſchränken braucht, wie beim Morſe’ſchen
Apparat
, ſondern daß man gewöhnlich geſchriebene Briefe,
Zeichnungen
, Noten, Signaturen, mit einem Worte alles, was
man
mit der Feder zu ſchreiben und zu zeichnen imſtande iſt,
durch
eine telegraphiſche Vorrichtung ſo in die Ferne über-
tragen
kann, daß auf der Empfangsſtation ein Blatt Papier
genau
die Schrift und die Zeichnung des Originals wieder-
giebt
und dem Empfänger des Telegramms eine Zuſchrift
übergeben
wird, die eine treue Kopie deſſen iſt, was ſein
Korreſpondent
eigenhändig für ihn geſchrieben oder gezeich-
net
hat.
Der Erfinder dieſer Art des Telegraphierens war Caſelli
(1815—1891).
Doch da dieſe Erfindung nur in
47159 Fällen von wirklich praktiſcher Bedeutung iſt, hat ſie ſich nicht
eingebürgert
;
auch wir wollen es uns daher verſagen darauf
einzugehen
.
XVI. Berichtigung einer zu weit getriebenen
Theorie über die elektriſche Ausgleichung.
Wir haben noch einige der intereſſanteſten Anwendungen
der
elektromagnetiſchen Kraft unſern Leſern vorzuführen.
Bevor
wir
dies jedoch thun, haben wir die Pflicht, von einem be-
ſonderen
Umſtand zu ſprechen, der ſelbſt gut unterrichtete@Köpfe
zu
ſonderbaren, weitgetriebenen Vorſtellungen verleitet.
Wir haben nämlich bereits erwähnt, wie der deutſche Natur-
forſcher
Steinheil in München die folgenreiche Entdeckung
gemacht
hat, daß man beim Telegraphieren nicht zwei Drähte
von
einem Ort zum andern zu leiten braucht, ſondern daß es
ausreicht
, wenn man auf jeder Station das eine Ende des
Drahtes
in die Erde ſteckt und ſo die Erde ſelber als Leitungs-
draht
benutzt.
Wir haben auch angeführt, daß man das eine
Ende
des Drahtes am beſten in einen Brunnen ſteckt, weil
eben
alle Gewäſſer der Erde in Zuſammenhang ſtehen und ſo
eine
ununterbrochene Leitung der Elektrizität bilden.
Dieſer Umſtand aber hat zu den ſonderbarſten Irrtümern
Veranlaſſung
gegeben und eine wahrhaft komiſche Vorſtellung
gangbar
gemacht von dem, was im Innern der Erde hierbei
vorgeht
und vorgehen ſoll.
Nicht nur in gebildeten Unter-
haltungen
, ſondern auch in wahrhaft vortrefflichen Büchern
ſieht
man die Behauptung aufgeſtellt, daß der elektriſche Strom
von
einem Ort zum andern durch den Draht geht und daß er
durch die Erde wieder zum erſten Ort zurückkehrt.

Dieſe Vorſtellung, die ſo wunderbar klingt, daß der
47260 weihte Mund und Augen vor Staunen aufreißt, iſt ſchon ſo
allgemein
geworden, daß früher ſogar in dem ſonſt ſo vor-
trefflichen
Lehrbuch der Phyſik von Pouillet-Müller eine Ab-
bildung
des Stromes gegeben iſt, wie derſelbe in der Rich-
tung
abgeſchoſſener Pfeile von Köln nach Aachen durch den
Draht geht und im Innern der Erde, durch rücklaufende
Pfeile
angedeutet, wieder direkt von Aachen nach Köln zurück-
kehrt
.
Wir halten es für unſere Pflicht, irrtümlichen Auffaſſungen
dieſer
Art entgegenzutreten.
Wir meinen, daß es genug des
Unerklärlichen
, Rätſelhaften und Geheimnisvollen in den
Kräften
der Elektrizität giebt und daß man nicht zu Liebe der
wunderſüchtigen
Welt noch irreführende Darſtellungen mit ins
Spiel
bringen ſollte.
Geſetzt, man telegraphiert durch einen Draht von Berlin
nach
Paris, ſo hört man mit Staunen behaupten, daß der
Strom
wieder von dem einen Brunnen in Paris, wo das eine
Pol-Ende
ſteckt, durch die Erde direkt durchläuft nach Berlin
und
zwar dahin, wo im Berliner Brunnen das andere Pol-
Ende
ſteckt.
Fragt man: woher weiß denn der Strom ſo genau
den
Weg nach Berlin, da die Erde ja allenthalben hin-
führt
, ſo antwortet man durch Achſelzucken der Verwunderung.
Gäbe es nun in der Welt weiter kein Pol-Ende, das in einem
Brunnen
ſteckt, als das Berliner, ſo ließe ſich die Sache noch
durch
eine freilich fabelhafte Anziehung dieſes Pol-Endes
erklären
;
aber es giebt jetzt unendlich viele ſolcher Pole in
der
Welt, ja in Berlin ſelber ſtecken eine ganze Maſſe ſolcher
Pole
in Brunnen, und nun erkläre es einer, warum der Strom
von
Paris, wenn er richtig weiß, daß er eigentlich ein geborener
Berliner
iſt und zurück muß, ſich nicht einmal irrt und nun
ſtatt
nach dem Poſtgebäude nach dem Polizeipräſidium oder
irgend
einem Eiſenbahnhof läuft, wo ſolche Pole ebenſo empfangs-
bereit
im Brunnen liegen.
47361
Hierdurch allein ſollte man ſchon auf den Gedanken kommen,
daß
hier eine irrtümliche Vorſtellung obwaltet, und in Wahr-
heit
iſt es auch ſo.
Wir wollen deshalb dies hier näher
beleuchten
und dieſe Vorſtellung auf ihr wahres Maß zurück-
führen
.
Es iſt eine ganz richtige Beobachtung, daß der elektriſche
Strom
ſtockt, ſobald die negative Elektrizität vom Kupfer-Ende
nicht
zu der poſitiven des Zink-Endes gelangen kann, das
heißt
, wenn ſich die Elektrizitäten nicht ausgleichen und ein-
ander
zu vernichten imſtande ſind.
Der Grund iſt folgender.
Von der elektriſchen Batterie ſtrömt aus dem Zink poſitive
und
aus dem Kupfer negative Elektrizität aus.
Befeſtigt man
Drähte
an die Metalle, ſo nehmen auch dieſe die entſprechende
Elektrizität
an;
aber da die Elektrizitäten nicht abfließen können,
bewirkt
dies ſofort ein Stocken an den Enden der Drähte, das
rückwirkt
auf die Batterie und zur Folge hat, daß ſich keine
neue
Elektrizität entwickelt.
Bringt man aber mittelſt der
Drähte
die Pole der Batterie in Berührung, ſo vereinigen ſich
vermöge
ihrer gegenſeitigen Anziehungskraft die getrennten
Elektrizitäten
, die poſitive und die negative Elektrizität ver-
binden
ſich und heben ſich gegenſeitig auf.
Es wird alſo ge-
wiſſermaßen
Platz für neue Ströme, darum kann ſich immer-
fort
Elektrizität entwickeln, und die Batterie iſt in fortwährender
Thätigkeit
.
Dies iſt nun der Fall, wenn die Drähte der Pole ſich
direkt
berühren.
Steckt man ſie aber in die Erde, ſo tritt noch
etwas
anderes dazu.
Die Erde iſt ſo ungeheuer groß, daß
ſie
eine ungeheure Portion ebenſo von negativer Elektrizität
wie
von poſitiver in ſich aufnehmen kann, bevor ſie rückwirkt
auf
die Batterie und ſie ins Stocken bringt.
Die Abſtoßung,
welche
die negative Elektrizität auf ſich ſelber ausübt, wird erſt
dann
auf den Apparat wirken können, wenn die ganze große
Oberfläche
der Erde ähnlich wie eine Sammelkugel der
47462 triſiermaſchine mit negativer Elektrizität geladen iſt, und das
will
viel ſagen! Ganz dasſelbe iſt mit der poſitiven der
Fall
, wenn man ihr ſolch einen ungeheueren Raum bietet zum
Abfließen
, wie die Erde.
Nun iſt es ſchon ganz richtig,
daß
in der Erde die Elektrizitäten ſich ausgleichen, und darum
wird
auch die Erde nicht von irgend einer Elektrizität geladen
werden
;
aber dieſe Ausgleichung geſchieht nicht, wie im Draht,
durch
unmittelbares Übergehen der einen Elektrizität zur andern,
ſondern
die Ausgleichung erfolgt auf und in der geſamten
Erdkugel
, und deshalb, weil ſie ebenſo ungeheuer groß iſt und
ſehr
viel von Elektrizität verſchlucken kann, bringt ſie die Batterie
nicht
ins Stocken, ſelbſt wenn der elektriſche Strom von Paris
nicht
ſofort und direkt den Weg nach dem Berliner Telegraphen-
gebäude
findet.
XVII. Die elektromagnetiſchen Uhren.
Noch eine intereſſante Anwendung hat man von dem elek-
triſchen
Strom gemacht, die zwar im bürgerlichen Leben nur
eine
Annehmlichkeit bietet, aber in wiſſenſchaftlicher Beziehung
von
der größten Wichtigkeit iſt.
Wir meinen die Herſtellung
elektriſcher
Uhren durch Elektromagnetismus.
Es giebt gewiß Tauſende von Menſchen, die es zwar
wiſſen
, daß ihre Uhren nicht ganz genau gehen, die aber nicht
ahnen
, wie ſie in ſolchem Falle zu richtig gehenden Uhren
kommen
, oder auf welche Weiſe ihre Uhr geſtellt oder repariert
werden
kann.
Zwar iſt es jedem bekannt, daß man die Uhr nur zum
Uhrmacher
zu bringen braucht, um das Werk reinigen oder
ausbeſſern
zu laſſen;
woher kommt aber der Uhrmacher zu
einer
richtig gehenden Uhr, um nach dieſer die gereinigte und
reparierte
Uhr zu ſtellen?
47563
Dieſe Frage wird vielleicht wieder vielen ſehr ſonderbar vor-
kommen
, da ſie wohl vorausſetzen, daß jeder ordentliche Uhr-
macher
eine Uhr haben müſſe, auf welche er ſich verlaſſen
könne
, daß ſie in einem Tage um keine Sekunde falſch geht.

Aber
geſetzt, es beſäße jeder Uhrmacher ſolch ein Werk, woher
weiß
er, daß es nicht eines ſchönen Tages doch einmal einen
kleinen
Fehler bekommt, ſei es durch Hitze, ſei es durch Kälte,
ſei
es beim Aufziehen oder auch nur durch die Abnutzung oder
Reibung
während des Ganges?
Die Antwort auf all dieſe Fragen iſt einfach die, daß in
Wahrheit
kein Uhrmacher in der Welt ſich wirklich auf ſeine
Uhr
verläßt, ſondern ſich an der nächſten Sternwarte von dem
beobachtenden
Aſtronomen ſtets ſagen läßt, was die Glocke
geſchlagen
hat.
Es giebt nur Eine wirklich richtig gehende Uhr, die keiner
zu
reparieren braucht und die auch niemand aufzieht, und
dieſe
einzig richtig gehende Uhr iſt die Erde.
Die Erde dreht ſich in einer Zeit, die wir vier und
zwanzig
Stunden nennen, um ihre Axe, und nach dieſer Zeit,
nach
der Zeit dieſer Uhr theilen wir unſere Zeit, unſere Lebens-
zeit
ein.
Nach dieſer Natur-Uhr ſtellen wir unſere künſtlichen
Uhren
.
Würde dieſe Uhr ſtill ſtehen, ſo würde unſere Zeit mit
all
den Meßwerken der Zeit, mit all den künſtlichen Uhren,
ſamt
allen, die nach ihrem Gange ihr Leben abmeſſen, dahin
ſein
.
Zum Glück für uns geht aber dieſe einzige Hauptuhr
ſehr
genau und ſehr richtig und zwar ſo richtig, daß ſie nach-
weisbar
in den letzten zweitauſend Jahren nicht den zehnten
Teil
einer Sekunde falſch gegangen iſt.
Mit einem Worte: alle unſere Uhren werden nach der
Umdrehung
der Erde reguliert, und dieſe Umdrehung der Erde
wird
alltäglich auf den Sternwarten aufs allerſorgſamſte und
genaueſte
durch das ſogenannte Mittags-Fernrohr beobachtet,
und
erſt nach dieſer Beobachtung wird die künſtliche
47664 der Sternwarte gerichtet, welche ſodann die ſicherſten Zeit-
angaben
macht, um nach ihr die ſogena nnten bürgerlichen Uhren
ſamt
und ſonders zu ſtellen.
Die am richtigſten gehende aſtronomiſche Uhr in Berlin
iſt
die Uhr auf der Berliner Sternwarte.
So war es bisher, und ſo iſt es noch; aber ſeitdem
man
die magneto-elektriſche Kraft in all ihren Anwendungen
für
das Leben hat kennen lernen, hat man bereits an
mehreren
Orten angefangen, dieſes erhabene Zeichen unſerer
Zeit
auch zum Bezeichnen unſerer Zeit zu benutzen, oder
einfacher
geſagt:
man hat auch elektro-magnetiſche Uhren her-
geſtellt
.
Die Einrichtung iſt ſo getroffen, daß nur eine einzige
Hauptuhr
, deren Gang äußerſt ſorgfältig reguliert wird, ein
wirkliches
Uhrwerk beſitzt, während unendlich vieleNormal-
Uhren”
durch die ganze Stadt oder durch das ganze Land
verteilt
, nur eigentlich Zifferblätter ſind, die ein Hufeiſen
verbergen
, das mit Draht umwunden iſt, und durch welches
vermittelſt
Leitungsdrähten ein elektriſcher Strom erzeugt wird,
der
das Eiſen zum Magneten macht.
So oft dies geſchieht,
wird
an jeder dieſer Uhren ein kleiner Anker in der Nähe
angezogen
und dadurch ein Rad um einen Zahn weiter gedreht.
Da nun auf der Achſe dieſes Rades ein Zeiger angebracht iſt,
ſo
wird der Zeiger eine kleine Wanderung auf dem Zifferblatt
machen
.
An der Hauptuhr iſt aber die Einrichtung getroffen,
daß
das Pendel in jeder Sekunde beim Schwingen die elek-
triſche
Kette ſchließt, alſo einen elektriſchen Strom nach allen
Seiten
ausſendet, deren Zeiger dann genau eine Sekunde
weiterrücken
, wodurch ſämtliche Uhren den allergenaueſten Gang
innehalten
.
47765
XVIII. Die Induktionselektrizität und das
Geheimnis des Telephons.
Wickelt man um einen Stab aus weichem Eiſen einen mit
Seide
gut umſponnenen Metalldraht in recht vielen Lagen, ſo
braucht
man, wie wir wiſſen, nur einen elektriſchen Strom
durch
den Umwickelungsdraht hindurchgehen zu laſſen, und der
Eiſenſtab
nimmt ſofort die Eigenſchaft eines Magneten an.
Unterbricht man aber den elektriſchen Strom, ſo hört die Wirkung
auf
, und die weiche Eiſenſtange verliert ſofort den Magnetismus.
Auf dieſer wichtigen Erfindung beruht, wie wir eben ge-
zeigt
haben, unſere ganze Kunſt des Telegraphierens.
Die innige Verwandtſchaft zwiſchen Elektrizität und
Magnetismus
wurde durch dieſe Entdeckungen in hohem Grade
crwieſen
.
Gleichwohl ſtand der Welt durch eine neue Ent-
deckung
noch ein viel intereſſanterer Beweis der Verwandtſchaft
bevor
.
Wenn Oerſtedts Entdeckung uns lehrte, wie man
durch
den elektriſchen Strom einem einfachen Eiſenſtab die
Eigenſchaft
eines Magneten beliebig geben oder nehmen kann,
ſo
lehrte der geniale Engländer Faraday (1791—1867) der
ſtaunenden
Welt die Kunſt, wie man durch einen Magneten
imſtande
iſt, einen elektriſchen Strom in einer Leitung zu er-
zeugen
.
Wenn man einen Cylinder aus Papier recht ſtark mit gut
umſponnenem
Draht umwickelt und die beiden Draht-Enden
wie
eine Leitung gebraucht, ſo kann man beliebig Ströme in
dieſer
Leitung erregen, wenn man in die Höhlung des Cylinders
einen
Magneten hineinführt und wieder von ihr entfernt.
Man
braucht
den Cylinder garnicht mit dem Magneten zu berühren,
ſondern
jede Annäherung des Magneten mit einem ſeiner Pole
an
die Höhlung des Cylinders erzeugt ſofort einen Strom.
Läßt man den Magneten in der Nähe ruhen, ſo hört freilich
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IV.
47866
der Strom auf. Entfernt man aber nunmehr wieder den
Magneten
, ſo entſteht nochmals ein Strom, und zwar ein Strom
von
entgegengeſetzter Richtung.
Man kann alſo in einer
Leitung
einen Strom erzeugen ebenſo, wenn man dem Cylinder
einen
Magneten nähert, wie wenn man den Magneten von
ihm
entfernt.
Da ein Magnet zwei Pole hat, ſo iſt es höchſt intereſſant,
zu
beobachten, wie entgegengeſetzt deren Wirkung hierin iſt.
Führt man dem Cylinder den Nordpol des Magneten nahe,
ſo
entſteht ein Strom in einer beſtimmten Richtung, welchen
man
durch die Ablenkung einer Magnetnadel ſehr wohl merken
kann
.
Wir wollen dieſen einmal als poſitiven Strom an-
nehmen
.
Entfernt man den Pol vom Cylinder, ſo entſteht
ſofort
ein entgegenſetzter, alſo ein negativer Strom.
Macht
man
es aber umgekehrt, bringt man den Südpol dem Cylinder
nahe
, ſo entſteht ſofort ein negativer Strom, und entfernt
man
dieſen Pol von dem Cylinder, ſo kehrt ſich der Strom
um
und wird ein poſitiver.
Da man mit dem Magneten nicht durch Reibung und
nicht
durch Berührung eine Elektrizität erzeugt, ſondern durch
Annähern
und Entfernen, ſo hat man für dieſe Art von
Elektrizitäts-Erregung
einen beſonderen Namen gewählt.
Man
nennt
ſie Induktions-Elektrizität, gewiſſermaßen An-
ſteckungs-Elektrizität
, da hierbei ſchon die Nähe und die Ent-
fernung
einer Kraft wirkt, welche anſteckend einen eigentümlichen
Zuſtand
in der Leitung erzeugt.
Dieſe Art der Elektrizität iſt
nun
in neuerer Zeit von gewaltiger Bedeutung geworden, und
darum
haben wir nunmehr ganz beſonders unſer Augenmerk
auf
dieſelbe zu richten.
Als man die innige Beziehung zwiſchen Magnetismus
und
Elektrizität kennen gelernt hatte, bemühte man ſich, dieſe
Schweſterkräfte
für den Dienſt des Menſchen, dieſes Herrn in
der
Natur, verwendbar zu machen, und verſuchte zuerſt
47967 beſonders Anziehung und Abſtoßung als Bewegungskraft zu
verwenden
, um damit Maſchinen zu treiben.
Zu Anfang meinte man, daß dies gelingen werde, wenn
man
ſtarke elektriſche Batterien anwende, um in großen Eiſen-
kernen
, die man mit Draht umwickelte, abwechſelnd bald Nord-,
bald
Süd-Magnetismus zu erzeugen und ſomit ſtarke Stahl-
magneten
bald anzuziehen, bald abzuſtoßen.
Aber die Erfahrung
hat
gelehrt, daß dieſes ein verfehltes Experiment iſt, weil der
Magnetismus
in ſtarken Eiſenkernen nicht ſo ſchnell wechſelt
wie
in kleinen und ſchwachen Eiſenſtangen und ſomit die Be-
wegungen
des Stahlmagneten viel zu ſchwach und langſam
werden
, um ſie mit Nutzen als bewegende Kraft anwenden zu
können
.
Außerdem waren die elektriſchen Batterien, welche
man
zur Erzeugung des Magnetismus verwendete, viel zu
koſtſpielig
, um praktiſche Erfolge damit zu erzielen.
Der Löſung der Aufgabe kam man unter Anwendung der
Induktions-Elektrizität
ſchon um etwas näher.
Da man
elektriſche
Strömung durch bloße Annäherung und Entfernung
eines
Magneten in einer Draht-Spirale erzeugen konnte, ſo
verringerten
ſich die Koſten zur Herſtellung von elektriſchen
Strömen
ſehr beträchtlich.
Aber hierbei trat noch ein anderer
Mißſtand
in den Weg, den man erſt nach und nach zu bewäl-
tigen
imſtande war.
Der Strom, den man durch einen
Magneten
in einer Draht-Spirale erzeugt, iſt von äußerſt
kurzer
Dauer.
Er beginnt bei der Annäherung des Magneten
an
die Spirale und ſteigert ſich mit der Nähe desſelben;
aber
ſowie
der Magnet ruht, hört der Strom ſofort auf.
Entfernt
man
nun den Magneten von der Spirale, ſo entſteht zwar
wieder
ein Strom, aber in der entgegengeſetzten Richtung,
ſo
daß er dem Effekte des erſten Stromes entgegenwirkt.
Die
Ströme
ſind alſo Wechſelſtröme, die ſich gegenſeitig in ihrer
Einwirkung
teils aufheben und teils ſtören.
Zwar vermochte
man
auch ſolche ſchnell aufeinander folgende Wechſelſtröme
48068 einzelnen Fällen, z. B. zu mediziniſchen Zwecken, wohl zu
verwenden
, aber als arbeitende Kraft waren dieſe Ströme doch
unbrauchbar
und ſelbſt unter glücklichen und wohl ausge-
ſonnenen
Vorrichtungen jedenfalls viel zu unpraktiſch, um
mit
einigem Vorteil verwendet zu werden.
Erſt in allerneueſter Zeit, alſo faſt ein halbes Jahrhundert
nach
der Entdeckung des Induktionsſtromes durch Faraday,
iſt
man über dieſe Hauptſchwierigkeit durch eine Reihe ſehr
glücklicher
Erfindungen hinweggekommen.
Man baut jetzt
Maſchinen
, durch welche man nicht wechſelnde, ſondern gleich-
gerichtete
Ströme, und zwar ſehr mächtige Ströme erzeugen
kann
, die ſowohl für Kraftwirkungen wie auch beſonders zur
Erzeugung
von elektriſchem Licht eine höchſt wertvolle Ver-
wendung
finden.
Wir wollen uns auf die mannigfache Verwertung dieſer
Erfindung
jetzt nicht weiter einlaſſen, ſondern wollen uns
damit
begnügen, nur eine der ſchönſten Erfindungen der neueſten
Zeit
hier anzuführen, für welche ganz beſonders der Wechſel-
ſtrom
der Induktion höchſt glücklich verwendet wird und eine
faſt
zauberhafte Wirkung von außerordentlich praktiſchem Wert
hervorbringt
.
Wir meinen das Telephon, deſſen erſte brauch-
bare
Anfänge ſich auf den Deutſchen Philipp Reis (1834 bis
1874
) zurückführen laſſen, während es ſeine praktiſche Geſtalt
wieder
einem Amerikaner verdankt, dem Taubſtummenlehrer
Graham Bell in Boſton.
Um zunächſt die Wirkung des Telephons richtig aufzu-
faſſen
, müſſen wir noch ſagen, daß man auch mit der Au-
näherung
und Entfernung eines Stückes weichen Eiſens im-
ſtande
iſt, einen elektriſchen Strom zu erzeugen.
Denken wir
uns
einen Magnetſtab, um deſſen einen Pol eine Drahtſpule
angebracht
iſt, ſo wird in dieſem Draht kein Strom exiſtieren,
weil
der ruhende Magnetismus keinen Induktionsſtrom erzeugt.
Sobald man jedoch irgend ein beliebiges Stück Eiſen in
48169 Nähe des Pols führt, ſo verſtärkt ſich der Magnetismus, und
in
dieſem Moment der Verſtärkung entſteht auch ſofort ein
Strom
in dem Draht.
Läßt man nun das Eiſen in der Nähe
des
Pols in Ruhe, ſo kehrt ſich der Strom wieder um;
ent-
fernt
man das Eiſen, ſo entſteht nochmals ein Rückſtrom im
Draht
, und wenn die Entfernung zwiſchen Pol und Eiſen eine
beſtimmte
Grenze erreicht hat, gerät der Strom nach einem
kurzen
Moment wieder zur völligen Ruhe.
Hiernach alſo vermag man durch ein ſehr ſchnelles Nähern
eines
Stückes Eiſen an einen Magnet-Pol, der mit einer Draht-
87[Figure 87]Fig. 17.Der Induktionsapparat im Telephon.C A A H C B ſpule umgeben iſt, und ebenſolches Entfernen von demſelben
einen
@ehr ſchnell aufeinanderfolgenden Wechſelſtrom im Draht
hervorzurufen
.
Zum Zweck des Telephonierens iſt es nun durchaus nicht
nötig
, ſtarke Ströme zu erzeugen.
Der Magnet (ſ. Fig. 17),
der
zum Telephonieren benutzt wird, braucht nicht länger zu
ſein
als eine Spanne, und nicht ſo dick zu ſein wie der kleine
Finger
einer mäßigen Hand.
Am Pole A dieſes Magneten
es iſt gleichgiltig, welchen Pol man dazu nimmt, macht
man
den Stab etwas dünner, ſo daß er ungefähr ſo dick iſt
wie
ein gewöhnlicher Federhalter.
Auf dieſes dünne Ende
ſchiebt
man nun eine kleine Spule B von feinem, gut über-
ſponnenen
Kupferdraht.
Die Spule braucht nicht dicker
48270 größer zu ſein wie eine ſehr flache Zwirnſpule, welche unſere
Damen
im Nähzeug gebrauchen.
Das weiche Eiſen (E in Fig. 18), mit welchem man durch
88[Figure 88]Fig. 18.Der vollſtänbige Telephouapparat im Turch-
ſchnitt
.
G G E E F C A C D D H
Nähern an den Pol und
Entfernen
von demſelben
den
Magnetismus ver-
ſtärkt
und ſchwächt und
dadurch
Induktionsſtröme
erzeugt
, braucht ebenfalls
nur
ſehr ſchwach zu ſein.
Man benutzt hierzu ganz
dünnes
Eiſenblech, das
nicht
dicker iſt wie mäßig
ſtarkes
Briefpapier.
Man
ſchneidet
davon ein rundes
Stück
ab, ſo groß unge-
fähr
wie ein ſilbernes
Fünfmarkſtück
;
und hier-
mit
hat man ſo eigentlich
ſchon
alle phyſikaliſchen
Mittel
in Händen, die
zum
Telephon gebraucht
werden
.
Selbſtverſtändlich muß
man
zur Handhabung des
Telephons
einen bequemen
Halter
für den Magneten
haben
.
Es wird zu dieſem
Zweck
äußerſt einfach aus gewöhnlichem Holz ein Cylinder C
angefertigt
, in welchen man den Magneten A der Länge nach
hineinſteckt
, ſo daß nur das obere Ende, wo die Spule ſitzt,
frei
bleibt.
Nunmehr verſchafft man ſich noch ein zweites
Exemplar
mit ebenſo eingerichtetem Magneten nebſt
48371 ſpule und eben ſolche dünne Eiſenblechplatte. Sodann ver-
bindet
man die Drahtenden D der beiden Spulen durch ge-
wöhnliche
Drähte ſo miteinander, daß ſie eine Doppelleitung
bilden
, welche man beliebig lang von Haus zu Haus, ja bis
auf
viele Meilen einrichten kann.
Um nun die dünne Eiſenblechplatte in richtiger Weiſe
anzubringen
, macht man an dem Holzcylinder, worin der
Magnet
ſteckt, eine Art Doſe G mit einem dazu paſſenden
Deckel
.
Auf den Rand dieſer Doſe legt man die Blechplatte
ſo
auf, daß ſie mit ihrem Mittelpunkt ungefähr vom Magnet-
Pol
nur ſo weit entfernt bleibt, wie die Dicke eines Pfennigs
beträgt
.
Der Magnet zieht in dieſer Lage die Platte an, ſo
daß
ſie ruhig liegen bleibt, wenn man auch den Apparat
umkehrt
.
Nunmehr aber befeſtigt man die Lage der Platte
durch
einen Deckel, der auf die Doſe paßt und ſomit den Rand
der
Platte gut umfaßt, ſo daß die Platte ihre Lage bei etwaiger
Bewegung
des Apparates nicht verändern kann.
Ob man
dieſen
Deckel mit Holzſchrauben an der Doſe befeſtigt oder wie
man
ſonſt den Rand der Blechplatte zwiſchen Doſe und Deckel
einſpannt
, iſt an ſich gleichgiltig.
Nun aber kommt die Hauptſache, die aber glücklicher-
weiſe
auch äußerſt einfach iſt.
Der Deckel, den man auf Doſe
und
Cylinder aufſetzt, welche Magnet, Spule und Blechplatte
in
ſich bergen, iſt nicht glatt wie bei einer gewöhnlichen Schachtel,
ſondern
hat eine leichte Vertiefung, und in der Mitte dieſer
Vertiefung
befindet ſich ein Loch, das nicht ganz ſo groß iſt
wie
ein goldenes Fünfmarkſtück.
Wenn man in dieſes Loch
hineinblickt
(Fig.
19), ſo ſieht man die Blechplatte und kann
ſie
auch mit dem kleinen Finger ſehr gut berühren, beliebig
ein
bischen niederdrücken und dadurch dem Magneten etwas
näher
bringen.
Gut iſt es freilich, dies nicht zu oft oder gar
zu
ſtark zu thun, da es nötig iſt, daß die Platte nicht in
48472 Mitte verbogen wird, ſondern hübſch glatt und platt über dem
Magneten
ſchwebt.
All das iſt ſo einfach und ſo wenig künſtlich zuſammen-
geſetzt
, daß man jetzt ſchon ein paar einfache, aber auch ſehr
89[Figure 89]Fig. 19.Mundſtück des Telephons von
oben
betrachtet.
E E
gute Telephone nebſt recht langer
Leitung
für etwa 12 Mark kaufen
kann
.
Was aber noch intereſſanter
iſt
, das iſt der Umſtand, daß man
die
Apparate ohne Gefahr zer-
legen
, die Teile hübſch beſehen
und
bei einiger Achtſamkeit mit
Hilfe
eines einfachen Schrauben-
ziehers
wieder zuſammen und in
Wirkung
ſetzen kann.
Dieſe Wirkung iſt ſo einfach,
aber
ſo wunderbar überraſchend,
daß
ſie, als der Profeſſor Bell
zuerſt
damit auftrat, das höchſte
Erſtaunen
in der gelehrten und
ungelehrten
Welt hervorrief.
Telephon heißt Fernſprecher, und in der That kann man
ſich
mit Hilfe desſelben mit jemandem beſprechen, der meilen-
weit
von uns entfernt iſt, und zwar ſo gut unterhalten, als
ob
er neben uns ſtände.
Wie das gemacht wird und was
da
vom wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt aus äußerſt Merkwürdiges
vorgeht
, das wollen wir nunmehr kennen lernen.
XIX. Die Erklärung des Telephons.
Die beſte Methode, ſich über das Telephon zu belehren,
beſteht
zunächſt darin, ſich vor allem erſt einmal von der
wunderbaren
Wirkung desſelben durch das eigene Ohr
48573 überzeugen. Was man dabei wahrnimmt, iſt ſo erſtaunlich,
daß
ſelbſt die gelehrteſten Naturforſcher in der erſten Bekannt-
ſchaft
mit dieſem Inſtrument ganz außer ſich vor Verwunderung
waren
, wenngleich man heut in den großen Städten ſich ſchon
wieder
vielfach dermaßen an das bequeme Inſtrument gewöhnt
hat
, daß man achtlos an dieſem Wunder vorübergeht, obgleich
oder
auch grade weil man es täglich benutzt.
Wenn jemand auf der einen Station das Telephon vor
den
Mund nimmt und mit gewöhnlicher Stimme in das Loch
hineinſpricht
, ſo hört ein anderer auf der zweiten Station, der
das
Telephon mit der Öffnung an das Ohr hält, Wort für
Wort
das Geſprochene, ſelbſt wenn die beiden Stationen
meilenweit
von einander entfernt ſind.
Ja, man verſteht nicht
bloß
jedes Wort, ſondern erkennt auch die Stimme eines Be-
kannten
ſo deutlich, als ob er in nächſter Nähe wäre.
Wie geht das zu?
In dem Telephon ſteckt doch ein Magnetſtab, und zwar
mit
dem einen Pol ganz in der Nähe der dünnen Eiſenplatte,
welche
wir ſehr gut durch die Öffnung ſehen können.
Nun
wiſſen
wir ja bereits durch das leichte Experiment mit den
Eiſenfeilſpänchen
, wie rings um den Pol eines Magneten eine
kugelartige
Sphäre von Anziehungskraft herrſcht, die in der
Nähe
des Pols am ſtärkſten und dichteſten iſt.
Da iſt es ja
ſelbſtverſtändlich
, daß die dünne Eiſenplatte dieſer Anziehungs-
kraft
ſtark ausgeſetzt und dadurch auch ſelber magnetiſch ange-
ſteckt
wird.
Die Platte iſt nun an ihrem Rande durch den
Deckel
feſtgehalten, während ſie in der Mitte ganz nahe dem
Pol
des Magneten einer anziehenden Spannung ausgeſetzt iſt,
die
ſie zwingt, ſich um ein Weniges zum Pol hin zu krümmen.
So unmerklich dies auch für das Auge iſt, ſo ſehr ſpielt doch
dieſe
Spannung und Krümmung eine bedeutende Rolle im
Gebrauch
des Telephons.
Rings um den Pol des Magneten befindet ſich nun
48674 feine Draht-Spirale, deren Enden mit der Leitung verbunden
ſind
, welche zu der entfernten Station führt.
Auf dieſer
zweiten
Station befindet ſich gleichfalls ein Telephon von ganz
gleicher
Beſchaffenheit, und die Leitungsdrähte ſind mit den
Enden
der dortigen freien Spirale ebenfalls verbunden, ſo daß
von
Station zu Station ein geſchloſſener Kreis von leitendem
Draht
exiſtiert, in welchem beide Spiralen liegen.
Nun aber wiſſen wir, daß der ruhende Magnetismus
keinen
Strom in der Leitung hervorruft, daß jedoch jede
Verſtärkung
oder Schwächung des Magnetismus ſofort einen
momentanen
Strom in einem in ſeiner Nähe befindlichen Lei-
tungskreis
hervorruft.
Dies iſt denn auch hier bei den Tele-
phonen
der Fall und bringt die ſo außerordentlich merkwürdige
Wirkung
hervor.
Um dies begreiflich zu machen, müſſen wir auf die Zu-
ſtände
hinweiſen, welche ſowohl beim Sprechen wie beim Hören
eintreten
.
Mit jedem Laut, den wir ausſprechen, erſchüttern
wir
die Luft, und dieſe Erſchütterung pflanzt ſich wellenartig
in
der Luft mit einer Geſchwindigkeit von dreihundert und
dreißig
Metern in der Sekunde fort.
Gelangt dieſe Erſchütterung
der
Luft an einen Gegenſtand, der ſich nicht ſo leicht erſchüttern
läßt
, wie z.
B. an eine Wand, ſo prallt die Luftbewegung
zurück
.
Gelangt jedoch die wellenartige Erſchütterung an einen
Gegenſtand
, der leicht beweglich iſt, wie z.
B. das in unſerm
Ohr
befindliche Trommelfell, ſo gerät dies in dieſelbe Schwin-
gung
und ſetzt im Ohr die Gehörwerkzeuge in Bewegung, die
bis
zum Gehirn leiten und uns den Laut zum Bewußtſein
bringen
.
Beim Sprechen verſetzen wir die Luft in ganz erſtaunlich
viele
Schwingungen, und beim Hören nimmt unſer Trommel-
fell
all’ die Schwingungen in ſich auf und ſchwingt mit.
Unſer
Ohr
iſt zu dieſem Zweck auch ſo fein eingerichtet, daß es die
leiſeſten
Schwingungen der Luft, die wir nicht ſehen und
48775 fühlen können, mit Deutlichkeit durch das Gehör wahrnimmt
und
alle Verſchiedenheiten der Laute vortrefflich unterſcheidet.
Von dieſer feinen Empfindlichkeit des Ohrs und ſeiner Fähig-
keit
, die Verſchiedenheit der Schwingungen zu unterſcheiden,
hängt
auch die Möglichkeit ab, das Geſprochene zu verſtehen,
das
ja auch nur aus verſchiedenen Lauten beſteht.
Wenn man nun in das Telephon hineinſpricht, ſo verſetzt
man
mit jedem Laut die dünne Eiſenplatte in äußerſt feine
Schwingungen
, bei welchen ſie ſich dem Magnetpol nähert
und
ſchnell wieder von ihm entfernt.
Dieſe Annäherung und
das
Entfernen geht ſo ſchnell vor ſich, daß man es mit keinem
unſerer
Sinne außer dem Ohr bemerken kann.
Gleichwohl
genügt
dieſer Vorgang, um die Ruhe des Magnetismus zu
ſtören
und Induktionsſtröme in der Leitung hervorzurufen, die
ſich
bis zur zweiten Station fortpflanzen.
Dort angekommen,
kreiſt
der Strom durch die feine Spirale des Telephons, und
zwar
ruft dies, wie jeder Induktionsſtrom, einen Wechſel in
der
Stromrichtung hervor.
Das Eiſenblech in dem Telephon
wird
alſo beim ſchnellen Wechſel des Stromes und des Magne-
tismus
ebenſo ſchnell angezogen und abgeſtoßen.
Es ſchwingt
demnach
die Platte im zweiten Telephon genau ſo, wie dies
im
erſten Telephon der Fall iſt.
Hierdurch wird die Luft im
zweiten
Telephon in die gleiche Schwingung verſetzt, und wenn
man
es an das Ohr hält, ſo erſchüttert es auch das Trommel-
fell
des Ohres in ganz gleicher Weiſe, und man hört alle die
Worte
ganz ſo, als ob ſie in nächſter Nähe wären geſprochen
worden
.
Das Überraſchende dieſer Erfindung beſtand nun darin,
daß
man bis dahin keine Ahnung davon hatte, daß eine ſo
leiſe
Schwingung eines kleinen Eiſenblechs in der Nähe eines
Magnetpols
eine merkliche Änderung im Magnetismus erregen
könnte
.
Ferner war es bis dahin nicht möglich, ſo außer-
ordentlich
ſchnell wechſelnde und ſchwache Ströme in
48876 Leitung durch irgend welche Inſtrumente zu entdecken. Auch
war
es im höchſten Grade überraſchend, daß der Magnet an
der
zweiten Station von dem ſo äußerſt feinen Stromwechſel
90[Figure 90]Fig. 20.Telephoniſcher Wandapparat. in Erregung verſetzt
und
bald im Magnetis-
mus
verſtärkt, bald
geſchwächt
wird.
Schließlich war auch
die
Wirkung auf die
Eiſenplatte
und deren
Schwingung
in genau
demſelben
Tempo, wie
der
Sprecher es inne-
hält
, eine merkwürdige
Neuigkeit
, die ſelbſt den
erfahrenſten
Fachmann
höchlichſt
überraſchte.
Die Wichtigkeit die-
ſer
Erfindung iſt ſofort
anerkannt
worden.
In
1
{1/2} Jahrzehnten hat
das
Telephon in allen
großen
Städten eine
Bedeutung
von unge-
ahnter
Größe erlangt:
am 24. Januar 1881
wurde
zu Mülhauſen
im
Elſaß das erſte
Telephon
in Deutſch-
land
praktiſch einge-
führt
, am 1.
April 1881 erſchien das erſte in Berlin, und Ende
1896
waren in Berlin ſchon über 32 000 Telephone in Ge-
brauch
, und alljährlich erhöht ſich die Zahl noch bedeutend.
48977 Die Zeit iſt nahe, in welcher man die Telephoneinrichtung in
jedem
Hauſe für ebenſo unbedingt notwendig halten wird, wie
es
jetzt ſchon mit der Gas- und Waſſerleitung der Fall iſt,
obwohl
unſere Eltern keine Ahnung davon hatten, daß der-
gleichen
ein weſentliches Bedürfnis ſei.
Für jetzt wollen wir
nur
noch darauf hinweiſen, wie erſt dieſe herrliche Erfindung
91[Figure 91]Fig. 21.Telephonapparat auf dem Schreibtiſch. uns die außerordentliche Feinheit des Gehörs enthüllt und uns
die
ſtaunenswerte Empfindlichkeit kennen gelehrt hat, welche das
Ohr
in Wahrnehmung von Schwingungen beſitzt, die uns ſonſt
kein
anderer Sinn verrät.
Bisher nahm man in der Phyſiologie an, daß das Auge
das
feinſte aller Inſtrumente im menſchlichen Körper ſei.
Nun-
mehr
wird man wohl nur zugeben, daß es das wichtigſte ſein
mag
;
aber an Feinheit der Wahrnehmung ſcheint es
4907892[Figure 92]Fig. 22.
Vo@ſtändiger
Telepbonapparat mit Batterie zum Läuteapparat.
ALWIN HEMPEL
Electro
technische Fabrik
DRESDEN
.
49179 nicht vor allen anderen Sinnen bevorzugt zu ſein. Schon der
Geruchsſinn
iſt ſo fein, daß er Subſtanzen verrät, die kein
Auge
und kein Mikroſkop entdecken kann.
Auch das Gefühl
zeigt
Feinheiten, die oft ſehr überraſchen.
Unſere Zungenſpitze
fühlt
ein Härchen im Munde, das man oft mit dem Auge
nicht
ſehen kann.
Nicht minder verrät der Geſchmack ver-
borgene
Stoffe, die man vergeblich verſuchen würde, durch
die
anderen Sinne zu ermitteln.
Das Gehör aber iſt durch
die
telephoniſche Einrichtung als mit ganz beſonderer Feinheit
begabt
anerkannt worden, woraus ſich denn auch bald eine
neue
Erfindung entwickelt hat, welche wir noch weiterhin unſern
Leſern
vorführen werden.
XX. Das Mikrophon.
Man kann nicht bloß Induktionsſtröme durch das
Schwingen
der Eiſenplatte in einem Telephon hervorrufen,
ſondern
auch in ganz gleicher Weiſe durch Subſtanzen, welche
während
ihrer Schwingung den Strom einer Batterie bald
ſchwächen
, bald voll wirken laſſen.
In dieſer Beziehung iſt
die
Kohle ein außerordentlich geeignetes Material, dieſe wichtige
Rolle
zu ſpielen.
Wenn man einen elektriſchen Strom durch eine Leitung
gehen
läßt, in welcher an irgend einem Punkte zwei Stückchen
Kohle
einander berühren, ſo bleibt der Strom ſich ganz gleich,
wenn
in der Lage der Kohlenſtückchen keine Veränderung vor-
geht
.
Wird jedoch die Lage der Kohlen erſchüttert, und wäre
dies
auch noch ſo leiſe und ſanft, ſo entſteht eine Unter-
brechung
und Schließung des Stromes, die man deutlich wahr-
nimmt
, wenn man den Strom durch ein Telephon gehen läßt.
Die Platte des Telephons gerät genau in dieſelben Schwingungen,
in
welche die Stückchen Kohle zu einander geraten, und
49280 hört dieſe ſchwingenden Unterbrechungen des Stromes ſo
außerordentlich
deutlich, daß man imſtande iſt, die denkbar
leiſeſten
Erſchütterungen in der Lage der Kohlenſtückchen voll-
ſtändig
wahrzunehmen.
Der Apparat, der hierauf gegründet iſt, wird auch deshalb
Mikrophon genannt, weil er kleine, ſonſt ganz unmerkliche Er-
ſchütterungen
hörbar macht und iſt ebenfalls von dem ſchon oft
von
uns genannten Hughes im Jahre 1881 erfunden worden.
93[Figure 93]Fig. 23.Hughes’ Mikrophon.C X A y D So kann man in der That bei paſſender Einrichtung Dinge in
der
Ferne per Telephon hören, die ohne Telephon in nächſter
Nähe
völlig unhörbar ſind.
An ein Reſonanzkäſtchen D iſt
ein
vertikal geſtelltes Holzbrettchen befeſtigt, in welchem die
Kohlenſtückchen
C und C1 (Fig.
23) angebracht ſind. (K und
K
1 in Fig.
24.) In die Höhlung derſelben iſt das Stäbchen
A
(K), welches aus Hartkohle beſteht, eingefügt.
Die Drähte
x
und y, welche mit C und C1 (K und K1) in leitende Ver-
bindung
gebracht ſind, führen zur Batterie B, in deren
49381 kreis das Telephon T eingeſchaltet iſt. Spricht oder ſingt man
nun
gegen das loſe eingeſtellte Kohlenſtäbchen A (K), ſo giebt
das
Telephon die Laute deutlich wieder, aber auch ſchon die
leiſeſte
Berührung des Reſonanzbodens, z.
B. das Auffallen
eines
Mohnkörnchens, das Auſſtreichen mit einem feinen Pinſel
u
.
ſ. w. bringt das Mikrophon zum Tönen. Ja, es iſt durch-
aus
nicht übertrieben, wenn man ſagt, daß man die Tritte
einer
Fliege vernimmt, welche über das Mikrophon ſchreitet.
Wenn nur das Brettchen leicht beweglich iſt oder ſonſt in ein
ſolches
Gleichgewicht verſetzt wird, daß es durch jede leiſe
Einwirkung
in der
94[Figure 94]Fig. 24.Schema des Hughesſchen Mikrophon.T K H K B K1 Lage erſchüttert wird,
ſo
iſt dies auch mit
den
ſich berührenden
Kohlenteilchender
Fall,
und
die Unterbrechung
des
Stromes, welche
dadurch
entſteht, wird
natürlich
im Telephon
hörbar
.
So außerordent-
lich
intereſſant auch das Mikrophon iſt, ſo wenig hat man
demſelben
bisher eine Seite abgewinnen können, um es praktiſch
mit
Erfolg zu verwenden.
Es macht uns zwar Dinge
hörbar
, von welchen wir bis jetzt keine Ahnung hatten, daß
ſie
dem menſchlichen Ohr vernehmbar werden könnten;
aber
es
bietet uns doch nicht das, was uns eigentlich in hohem
Grade
intereſſieren könnte.
Das Mikrophon giebt uns nur
Kunde
von Stromſchwankungen, welche in der Leitung, im
Magneten
und in der Eiſenplatte des Telephons entſtehen,
wenn
irgend eine Erſchütterung die beiden Kohlenſtückchen in
ihrer
gegenſeitigen Lage zu einander verändert.
Die Erſchütte-
rung
mag ſtark oder ſchwach ſein, ſie rühre her von dem
49482 Schlage eines Hammers oder von dem Fußtritt einer Fliege, ſo wird der Effekt ſich immer gleich bleiben. Die Unterbrechung und Schwankung des Stromes und der Einfluß auf den Mag- neten iſt durchaus nicht anders, mag die Urſache der Unter- brechung und Schwankung eine ſehr ſtarke oder eine ſehr ſchwache ſein. Ob ein Mikrophon durch einen ſtarken Donner in Schwin- gung verſetzt wird oder durch einen Stuhl, den man im Zimmer herumrutſchen läßt, das hört ſich für den Hörer ganz gleich an, da nicht die Stärke des Schalles, ſondern nur die Erſchütterung des Mikrophons wahrgenommen wird, gleichviel ob ſie von den leiſeſten oder ſtärkſten Urſachen herrührt.
Indeſſen darf man die Hoffnung nicht aufgeben, daß
dennoch
dieſe höchſt intereſſante Erfindung in weiterer Ent-
wickelung
eine praktiſche Bedeutſamkeit gewinnen wird.
Man
hat
im Bereich der Naturwiſſenſchaften unendlich viel Beiſpiele,
daß
einzelne urſprünglich wie bloße Spielereien auftretende
Experimente
ſehr bald von gewaltiger Bedeutung für die
Wiſſenſchaft
und die Praxis geworden ſind.
In der Phyſik
wie
in der Chemie hat die neuere Zeit Fälle dieſer Art in
glänzender
Weiſe an das Tageslicht gefördert.
Iſt doch die
ganze
Telegraphie auch urſprünglich nur ein intereſſantes
Stuben-Experiment
geweſen, und dennoch umwinden jetzt Lei-
tungen
und Kabel das Erdenrund.
Die Spektral-Analyſe und
ganz
beſonders die organiſche Chemie haben ſich gleichfalls in
Wiſſenſchaft
, Kunſt, Gewerbsweſen und Handel zu den wichtigſten
Errungenſchaften
unſeres Zeitalters emporgehoben, wenngleich
ſie
in ihren urſprünglichen Elementen ſehr lange Zeit bloß als
Experimental-Gegenſtände
der Kabinete und Laboratorien er-
ſchienen
ſind.
In einigen Fällen iſt denn auch für das Mikrophon manch
wichtige
Verwendung angegeben worden.
So ſcheint das
Mikrophon
zur Ankündigung ſchwacher Erdbeben ſehr brauchbar
verwendet
werden zu können.
Man wird ganz zuverläſſig
49583 viele Meilen weit per Telephon hören können, ob im tiefen
Innern
eines Gebirges Erſchütterungen ſtattfinden.
In neuerer
Zeit
hat man von ärztlicher Seite das Mikrophon angewendet,
um
den Herzſchlag von Patienten, welche man nicht ohne
Schmerzen
ſo aufrichten kann, daß der Arzt das Ohr an den
95[Figure 95]Fig. 25.Mikrophon
MIX
& GENEST
Berlin
.
Bruſtkaſten anzulegen vermag, per Telephon vernehmbar zu
machen
.
Ob dies beſondere Vorteile darbietet, das wird
wohl
von der praktiſchen Einrichtung gar ſehr abhängen.
Jedenfalls iſt es von Wichtigkeit, daß man von vielen Seiten
her
auf die praktiſche Verwendung dieſer ſchönen Erfindung
ausgeht
.
Es wird der Lohn dafür gewiß nicht ausbleiben.
XXI. Der Phonograph.
Als eine Fortſetzung des Telephons iſt der ſchon ſehr
bekannt
gewordene Phonograph zu betrachten, dem wir uns
jetzt
zuwenden.
49684
Der Amerikaner Ediſon (geb. 1847) hat zunächſt durch
eine
höchſt geiſtreiche Erfindung den Beweis geliefert, daß, wenn
man
imſtande iſt, eine kleine Platte etwa von der Größe eines
Thalers
in ſehr ſchnelle und geordnete Schwingungen zu ver-
ſetzen
, ſie ebenſo laut und deutlich Worte hören läßt wie unſere
menſchlichen
Sprachwerkzeuge.
Er hat die wundervollſte Sprech-
maſchine
erfunden, nach der man ſeit Jahrhunderten geforſcht,
und
er hat ſie auch in äußerſt einfacher Weiſe hergeſtellt.
Der Phonograph iſt nicht bloß eine der ſchönſten, ſondern
auch
eine der einfachſten Erfindungen Ediſons.
Die Wirkung
dieſes
Inſtruments iſt ſo ungeheuer überraſchend, daß man in
der
Geſamtſitzung der Akademie der Wiſſenſchaften zu Paris,
welcher
die begabteſten Naturforſcher unſerer Zeit beiwohnten,
im
erſten Moment glaubte, eine Charlatanerie vor ſich zu
haben
, als man die Sprechkunſt des Phonographen hörte.
Die Kunſt, eine Sprechmaſchine herzuſtellen, hat ſeit hundert
Jahren
die begabteſten Mechaniker der Welt beſchäftigt;
aber
ſie
gingen alle von dem Grundgedanken aus, daß dieſe
Maſchine
ſo eingerichtet ſein müſſe wie die Sprechwerkzeuge
des
Menſchen.
Da man bei jedem Laut, den man ſpricht,
etwas
Luft aus der Lunge ausſtrömen laſſen muß, ſo ſtellte
man
vor allem einen Luftkaſten her, welcher durch einen
Mechanismus
einen Luftſtrom erzeugte.
Sodann beobachtete
man
die Stimmritze im Kehlkopfe, durch welche die Luft ſtreift,
und
brachte an einem Rohr, das der Luftröhre ähnlich war,
eine
elaſtiſche Platte mit einem Schlitz an, durch welche die
Luft
ſtreifend einen Ton hören läßt.
Nunmehr beobachtete
man
, wie es die Zunge mit dem Gaumen macht, wenn man
K
, G, Ch und Jot ſpricht, und ahmte auch dies mechaniſch
durch
künſtliche Gaumen und Zunge in einer künſtlichen
Mundhöhle
nach.
Dieſe mechaniſche Zunge mußte auch noch
zu
vielen anderen Kunſtſtücken in ihrer Beweglichkeit eingerichtet
werden
, um auf Kommando das ſchlanke L, das zitternde
49785 nachzuahmen. Auch die Hemmungskunſt, wie ſie ſolche beim
T
, D, Z und S in Verbindung mit dem Zahnfleiſch ausübt,
mußte
ihr abgeguckt und mechaniſch nachgeahmt werden.
Nun
kam
das Kunſtſtück der Lippen dazu, die ſich bei den Vokalen
A
und E und I und D und U von breiter Öffnung bis zum
engen
Schnabel verändern und endlich gar auf Kommando
einen
Verſchluß bilden müſſen, um mit plötzlicher Öffnung ein
P
, mit milderer ein B, mit Halböffnung ein F und mit Mild-
heit
ein W hören zu laſſen.
All dies nachzumachen, war wirklich keine Kleinigkeit.
Das ſehr zuſammengeſetzte Kunſtwerk auch noch durch eine
Klaviatur
in erforderliche Thätigkeit zu verſetzen und die Buch-
ſtaben
oder richtiger Laute beliebig aufeinander folgen zu laſſen,
wie
man es beim Sprechen ohne alles Kunſtbewußſein thut,
war
ein bewunderungswürdiges Unternehmen.
Und was
bringt
der Menſchenverſtand nicht alles zuſammen, wenn er
ſich’s
einmal ernſtlich vorgeſetzt hat?
es gelang einzelnen
großen
Mechanikern, wirklich Maſchinen zuſammenzubaſteln,
die
nach einem geſchickt gehandhabten Taſtwerk wirklich ſo
ſprachen
, daß Hörer mit einiger Phantaſie ſich einbilden
konnten
, das Vaterunſer zu vernehmen.
Was aber machte Ediſon?
Sein geſunder Menſchenverſtand, der ſich bei ihm in be-
wunderungswürdiger
Weiſe mit einer genialen Kühnheit paart,
ſagte
ihm ſofort, als er das Wunder des Telephons wahrnahm:
Ei, das iſt ja eine vollkommene Sprechmaſchine! Dies kleine
Eiſenblech
im Telephon ſchwingt ja genau nach dem Tempo
wie
die Laute des Mundes im entfernten Telephon und macht
auf
mein Trommelfell genau denſelben Eindruck, wie die ge-
ſprochenen
Worte ihn machen würden, wenn ſie in meiner
Nähe
ertönten.
Freilich iſt dies eine ſehr, ſehr leiſe Sprache;
man
muß ja das Telephon ans Ohr halten und das Geſprochene
erlauſchen
, aber dies rührt ja nur daher, weil dies
49886 Eiſenblech gar zu kleine Schwingungen macht und die Luft
zwiſchen
ihm und meinem Trommelfell nur äußerſt ſchwach zu
gleichen
Schwingungen anregt.
Da iſt es ja wohl klar, daß,
wenn
ich ſolch eine kleine Blechſcheibe nur in ſtarke Schwin-
gungen
verſetzen könnte, ſo würde ſie auf mein Trommelfell
genau
ſo wirken wie geſprochene Worte, und die Sprechmaſchine
wäre
fix und fertig!
Gewiß fällt es jedem unſerer Leſer im erſten Momente
ein
, daß ſich dieſe Verſtärkung gar leicht machen ließe.
Man
braucht
ja nur recht ſtarke Magnete zu nehmen, welche ſtarke
Ströme
veranlaſſen und deshalb auch ſtarke Schwingungen
verurſachen
, und da hätte man ja, was wir wünſchen!
Aber das iſt ein Rechenfehler.
Im Telephon wirkt ja nicht die Stärke eines dauernden
Stromes
, ſondern die Schnelligkeit des Wechſels von poſitiven
und
negativen Strömen.
Nun läßt ſich ein ſtarker Strom in
ſeiner
Wirkung auf einen Magneten durchaus nicht ſchnell
unterbrechen
.
Je ſtärker ein Eiſenkern iſt, deſto ſchwerer ver-
liert
er ſeinen Magnetismus, und deſto langſamer tritt der
Wechſel
im Magnetismus ein.
Hierzu kommt noch der wichtige
Umſtand
, daß beim Hineinſprechen in das Telephon die
Schwingungen
der Platte außerordentlich ſchwach ſind.
Macht
man
auch den Magneten ſchwach, ſo wirkt die Schwingung
ſchon
merklich auf ihn ein;
macht man aber den Magneten
ſtark
, ſo geht die ſchwache Schwingung ſpurlos an ihm vor-
über
.
Es geht hierin mit dem Magnetismus wie mit der
Empfindlichkeit
einer Wageſchale.
Bei einer Wage, welche
nach
Zentnern wiegt, wirken ein paar Lot mehr oder weniger
in
der Schale garnicht;
dagegen wirkt bei einer ſchwachen
Wage
, auf welcher man Milligramme abwiegt, eine Mücke
ſchon
gewaltig ein, wenn ſie ſich auf eine der Schalen ſetzt.
Auf ſchwache Magnete wirken ſchwache Schwingungen alſo
ebenfalls
viel ſtärker ein als auf ſtarke.
49987
Dem Scharfſinn Ediſon’s konnte dies natürlich nicht ent-
gehen
.
Er ſagte ſich auch ſofort: Zu einer Sprechmaſchine
brauche
ich gar keinen Magneten.
Und in der That iſt ſein In-
ſtrument
, der Phonograph, viel einfacher noch als das Telephon.
Der Phonograph beſteht aus einem ſehr einfachen Trichter,
deſſen
engeres Ende mit einer feinen Platte von der Größe
96[Figure 96]Fig. 26. Der Ediſoniche Phonograph.R T G W eines Thalers verſchloſſen iſt.
Wenn man in dieſen Trichter
hineinſpricht
, ſo gerät die Platte in Schwingungen, ebenſo
wie
es mit dem Trommelfell in unſerem Ohr der Fall iſt.
Mit dem bloßen Auge kann man dieſe Schwingungen nicht be-
merken
;
aber man kann ſich eine Vorrichtung dazu herſtellen,
durch
welche ſich die Schwingungen markieren laſſen.
Man bringt
zu
dieſem Zweck außen an der Platte einen kleinen Stift in
50088 Mitte an. Sodann führt man in irgend einer mechaniſchen
Weiſe
eine weiche, wachsähnliche Maſſe ganz dicht an dem Stift
vorüber
, ſo daß er eine ſehr feine, leichte Linie auf der Maſſe
zeichnet
.
Spricht man dabei in den Trichter hinein, ſo ſchwingt
die
Platte, und der Stift fährt bei jedem Buchſtaben abwechſelnd
tiefer
in die weiche Maſſe hinein und macht in der Linie bei
jeder
Schwingung einen kleinen oder größeren Punkt, je nach
dem
Laut, der in den Trichter hineingeſprochen wurde.
Nun wollen wir uns einmal vorſtellen, man hätte die
weiche
Maſſe, eine Art Teig oder Kitt, in einer ſehr langen
Rinne
an dem Stift vorübergeführt, und während deſſen hätte
jemand
in den Trichter das ganze Vaterunſer hineingeſprochen;
da würde man in der weichen Maſſe eine ungeheure Anzahl
von
verſchiedenartigen Punkten vor ſich haben, die bald tiefer
bald
flacher, bald etwas länger, bald etwas kürzer von dem
Stift
eingeprägt worden wären.
Das wäre ſo eigentlich eine
Naturſchrift
, die jeder anzufertigen vermag, wenn er auch ſonſt
nicht
ſchreiben kann.
Denken wir uns, daß dieſe weiche
Maſſe
nicht zerſließt, ſondern erhärtet, und daß die Punkte
unverzerrt
ſo bleiben, wie ſie der Stift gemacht hat, ſo würden
wir
das ganze Vaterunſer hübſch fixiert vor uns haben.
Was
aber
kann uns das helfen?
Wie ſollen wir aus dieſen un-
zähligen
kleinen, feinen Punkten herausbekommen, was ſie be-
deuten
?
Wer will denn ſolch eine Art von Naturſchrift, in
der
kaum unſer Auge einzelne Buchſtaben herausfinden, leſen?

Auf
dieſe Frage antwortete ſich Edinſon:
Der Stift und die
Platte
, die das geſchrieben haben, werden uns auch das Ge-
ſchriebene
vorleſen und zwar recht hübſch laut vorleſen.
Zu dieſem Zweck ſetzt er den Trichter ſamt der Platte und
dem
Stift nochmals an dieſelbe Stelle, wo die Punkte anfangen
und
läßt die ganze Reihe von Punkten nochmals, aber etwas
dichter
als früher, vorüberwandern.
Was wird da geſchehen?
Der Stift wird bei jedem Punkt hinein- und wieder
50189 ſpringen und die Platte dadurch in Schwingungen verſetzen, wie
es
der Fall war, als man in den Trichter hineingeſprochen
hatte
.
Jetzt aber wird die Platte die Luft im Trichter in
Schwingungen
verſetzen und dieſe Luftſchwingungen werden unſer
Trommelfell
treffen und uns das ganze Vaterunſer, das in
den
Trichter hineingeſprochen wurde, noch einmal hören laſſen.
Und ſo hätten wir denn die Sprechmaſchine fix und fertig!
Aber ſolch ein Streifen, worauf das ganze Vaterunſer ab-
punktiert
ſteht, iſt eine Chimäre.
Er müßte über ein Kilometer
lang
ſein.
Ediſon machte das Ding viel praktiſcher. Er nahm
eine
Walze, ſchnitt in dieſe einen Schraubengang ein und legte
darüber
eine Wachsrolle.
Die Walze war ſo eingerichtet, daß
ſie
ſich entſprechend dem Schraubengang in die Länge fortſchob,
wenn
ſie gedreht wurde.
Trichter, Platte und Stift ſind ſo
dicht
an der Walze angebracht, daß die Schwingungen des
Stiftes
ſich ganz hübſch in dem weichen Wachs einprägen und
die
Punkte auch gut erhalten bleiben.
Will man nun das Ge-
ſprochene
von dem Phonographen nachſprechen laſſen, ſo hebt
man
den Trichter ein wenig ab und dreht die Walze rückwärts,
ſo
daß ſie wiederum ſo ſteht wie beim Beginn des Experimentes.
Nun bringt man den Trichter wieder ſo dicht an die Walze,
daß
der Stift ein wenig die Wachsrolle drückt.
Dreht man
nun
nochmals die Walze vorwärts, ſo ſtößt der Stift in alle
Punkte
ein und verſetzt die Platte in die Schwingungen, die
dann
recht genau dieſelben Worte wiedergeben, die man früher
in
den Trichter hineingeſprochen hat.
Der Ediſonſche Apparat iſt ſchon vielfach kopiert und
erregt
, wenn er gut gearbeitet iſt, eine ungemeine Überraſchung.
Er iſt noch vieler Verbeſſerungen fähig; aber er iſt auch in
ſeiner
jetzigen Form außerordentlich lehrreich, ſo daß wir noch
einige
Betrachtungen daran zu knüpfen haben.
50290
XXII. Betrachtungen über den Phonographen.
Der Phonograph macht mit Recht auf jeden, der ihn hört,
einen
gewaltigen Eindruck.
Es iſt ja eine eigentümliche Er-
findung
, daß ein ſo einfaches mechaniſches Juſtrument ſo exakt
ſprechen
kann wie die äußerſt künſtliche Einrichtung unſerer
Sprechwerkzeuge
mit all ihren Millionen Nervenfaſern und der
Direktion
ſo vieler Muskeln, wie die der Bruſthöhle, der Stimm-
ritze
, der Zunge, der Mundhöhle, der Lippen! Wir ſind ja an
die
Vorſtellung gewöhnt, daß der liebe Gott alles am ge-
ſcheiteſten
oder, wie man es wiſſenſchaftlicher auszudrücken
meint
, die Natur alles aufs einfachſte eingerichtet habe.
Da
iſt
es denn in der That halb und halb zum Erſchrecken, wenn
man
ſich ſagen muß:
Schau her, der Ediſon hat es am Ende
doch
noch beſſer und jedenfalls einfacher gemacht! Ein ſimples
ſchwingendes
Stückchen Eiſenblech oder eine thalergroße Glim-
merplatte
wie ſie Ediſon gegenwärtig anwendet macht
dasſelbe
Kunſtſtück und kann alles nachſprechen, was an uns
erſt
die allerkünſtlichſten Sprechwerkzeuge zuſtande bringen.
Da möchte man doch ſchier ſagen, wenn der Ediſon bei der
Schöpfung
zu Rate gezogen worden wäre, ſo hätte er wohl zum
lieben
Gott geſagt:
Laß all die künſtlichen Einrichtungen! Mach
den
Menſchenkindern nur eine einfache Membran, welche ſie in
beliebig
ſchnelle Schwingung verſetzen köunen, und ſie werden
ſprechen
, ja, am Ende gar noch mehr ſprechen, als Dir lieb iſt!
Es liegt aber wohl nahe, daran zu denken, daß das
Sprechen
ja für die Sprechwerkzeuge des Menſchen nur eine
Nebenbeſchäftigung
iſt, da Lunge und Zunge, Mundhöhle,
Zähne
und Lippen noch gar andere wichtige Dinge zu ver-
richten
haben und auch in der Tierwelt, die nicht ſpricht, ver-
richten
;
als Nebengeſchäft aber iſt die Verwendung dieſer
Organe
doch immerhin bewunderungswürdig.
Wenn aber der Phonograph ſo außerordentlich
50391 ſo geſchieht es nur, weil wir Menſchenkinder über alles Neue in
Staunen
geraten und gar oft überſehen, wie der Kernpunkt der
neuen
Erſcheinung zuweilen ſchon ſehr alt iſt.
Und das iſt mit
dem
bewundertſten Stück des Phonographen auch wirklich der Fall.
Bereits vor vielen, vielen tauſend Jahren kannten die
Menſchen
das Echo.
Sie ſtaunten es ſo an, daß ſie Stätten,
wo
es zwei-, drei- oder gar vierſilbige Worte wiedergab, mit
Ehrfurcht
betraten und geheimnisvolle Orakelſtimmen darin
erlauſchen
zu können vermeinten.
Erſt ſehr ſpät kam die
Menſchheit
dahinter, daß das laut geſprochene Wort eine Luft-
erſchütterung
hervorruft, daß die Lufterſchütterung ſich mit einer
Geſchwindigkeit
von etwa dreihundert Meter in der Sekunde
fortpflanzt
, und zwar in Wellenform fortpflanzt, ohne daß die
Luftmaſſe
ſelber den Raum durchſtrömt.
Sobald aber dieſe
Wellen
an Körpern anlangen, in welchen ſie ſich nicht fort-
pflanzen
können, dann prallen ſie in regelmäßiger Weiſe, wie
ſie
angekommen, wieder zurück und treffen unſer Ohr ebenſo,
als
ob ſie in unſerer Nähe nochmals wiederholt worden wären.
Hören heißt: Erſchütterungen unſeres Trommelfells im
Ohr
durch anprallende Luftwellen wahrnehmen.
Ob dieſe Er-
ſchütterungen
von der Nähe herrühren oder ob ſie zurückprallende
Wellen
von der Ferne her ſind, das bleibt ſich im Prozeß des
Hörens
gleich.
Und ebenſo gleich iſt es, wenn eine äußerſt
ſchnell
ſchwingende Platte die ſie umgebende Luft in Schwin-
gungen
verſetzt.
Iſt die Einrichtung nur ſo getroffen, daß die
Schwingungen
ſo ſchnell auf einander folgen und ſo geordnet
ſind
, wie ſie im Sprechen entſtehen, ſo bildet die Platte einen
richtigen
Sprechapparat, und unſer Ohr kann es ſchwer ent-
ſcheiden
, von woher die Schwingungen kommen und welches
Werkzeug
ſie verurſacht hat.
Daß man eine ſchwingende Platte Worte wiederholen hört,
iſt
an ſich nicht wunderbarer als das, was als Echo ſchon ſeit
undenkbaren
Zeiten den Menſchen bekannt war.
Das
50492 in der Erfindung des Phonographen beſteht nur darin, daß
die
Schwingungen fixiert werden und die Platte ſie nach Be-
lieben
wiederholen muß.
Wie geſchickt es Ediſon angefangen hat, um die Platte
des
Phonographen in die richtigen Schwingnngen zu verſetzen,
das
wiſſen wir bereits.
Er hat die Platte durch geſprochene
Worte
gezwungen, einen Stift einzudrücken in eine weiche
Maſſe
, worin ſie Punkte einprägt, und wenn er nochmals den
Stift
zwingt, an denſelben Stellen in die Punkte hinein- und
wieder
herauszuſpringen, ſo muß die Platte die richtigen
Schwingungen
nochmals machen und Worte nachſprechen.
Das
iſt
ja jetzt ganz klar.
Aber es fragt ſich: Müſſen wir dieſe
Punkte
erſt durch Sprechen hervorrufen?
Können wir nicht
auf
einer Tafel die Punkte ſo eingravieren, daß eine Platte,
welche
mit ihrem Stift darunter hingeführt wird, richtig ſchwingt
und
uns Worte hören läßt?
Dieſe Frage iſt nicht unerörtert und dies Experiment
nicht
unverſucht geblieben.
Man hat auf einen Wachsſtreifen Punkte eingraviert, welche
die
WorteSonntag”, “Montag” in Naturſchrift darſtellen
ſollten
.
Man hat ſich natürlich hierbei auch als Vorſchrift der
Punkte
bedient, welche man im Wachsſtreifen des Phonographen
beim
Sprechen erhält.
Ja, man hat es noch ſchlauer ange-
fangen
.
Man hat nicht bloß die Schwingungen, welche die
Platte
macht, in Punkten des Stiftes fixiert, die ſehr ver-
ſchieden
in Tiefe und Länge ſind, ſondern auch durch eine ſinn-
reiche
Vorrichtung die Schwingungen ſelber in Geſtalt von
Kurven
abgezeichnet erhalten.
Hierbei ſieht man ſo recht,
welche
verſchiedenartigen Sprünge und Biegungen ſolch eine
ſchwingende
Platte macht, gegen die man ſpricht.
Man weiß
jetzt
, daß es durchaus nicht unmöglich iſt, auf rein mechaniſchem
Wege
die betreffenden Punkte ſo akkurat in einen Wachsſtreifen
einzugravieren
, daß eine Platte, deren Stift in die
50593 hinein- und herausſpringt, das eingravierte Wort laut aus-
ſprechen
muß.
Aber dieſe Punkte ſo genau in ihrer gegen-
ſeitigen
Entfernung, in ihrer Tiefe und in ihrer Länge aus
freier
Hand zu gravieren, bietet ungeheure Schwierigkeiten.
Auch nur die kleinſte Verſchiebung hierin macht das ganze
Wort
unverſtändlich.
Gegenüber der ſogenannten Naturſchrift,
wie
ſie der Stift im Ediſon’ſchen Apparat auf dem Wachs-
ſtreifen
einprägt, iſt jeder Verſuch einer freihändigen Ein-
gravierung
eine Stümperei geblieben.
Es tritt aber im Phonographen noch ganz was Apartes
auf
, das wir nicht unerwähnt laſſen dürfen.
Schon bei dem Telephon hat man reiche Gelegenheit, zu
bewundern
, wie die ſchwingende Platte, welche man aus Ohr
hält
, nicht bloß die geſprochenen Worte, ſondern auch den
Ton
, den Klang der Stimme wiedergiebt.
Ein gutes Telephon-
Paar
giebt alles ſo getreulich wieder, daß man die ſprechende
Perſon
ſofort an der Art und Weiſe des Klanges ihrer
Stimme
erkennt.
Im Phonographen tritt nun der Klang
der
Stimme noch merkbarer auf.
Eine etwas ſingende Stimme,
wie
ſie z.
B. der Sachſe hat, macht ſich in ſehr treffender
Weiſe
kenntlich und unterſcheidet ſich vom Klang der Stimme
des
richtigen Berliners, des Königsbergers, des Braun-
ſchweigers
, des Hannoveraners und gar des Süddeutſchen in
höchſt
charakteriſtiſcher Manier.
Ganz ſo, wie unſer Ohr bei
einer
Melodie ſehr wohl unterſcheidet, ob ſie von einer Flöte
oder
einer Violine oder einer Trompete oder Klarinette oder
einer
Menſchenſtimme herrührt, ganz ſo verſchieden giebt auch
ein
vorzüglicher phonographiſcher Apparat Melodien und die
Klangfarben
der Inſtrumente erkennbar wieder.
Unſer
Auge
iſt ſelbſt mit Hilfe der beſten Mikroſkope viel zu ſchwach,
dies
den Punkten auf dem Wachsſtreifen abzumerken;
aber
unſer
Ohr iſt ſo künſtlich ausgeſtattet, daß es die allerfeinſten
Verſchiedenheiten
der Schwingungen merkt und neben
50694 Worten und Melodien auch noch den Klang derſelben unter-
ſcheidet
.
XXIII. Die Elektrizität in den Muskeln und
Nerven.
Die Zuckungen, welche ſowohl beim Schließen, wie beim
Öffnen
der galvaniſchen Kette erfolgen, waren ſchon durch frühere
Unterſuchungen
auf ein beſtimmtes Naturgeſetz zurückgeführt.
Dieſe Zuckungen zeigen ſich am deutlichſten an Froſch-
Schenkeln
, die beide nur noch mit den Nerven am Rückenmarke
verbunden
ſind.
Man hängt dieſe Schenkel ſo auf, daß jedes
Bein
des Froſches in ein beſonderes Glas Salzwaſſer ein-
taucht
;
bringt man nun die zwei Pole einer galvaniſchen Kette
in
die zwei Gläſer, ſo zucken die Schenkel ſowohl bei dem
Herausnehmen
wie bei dem Einlegen eines der Pole, das
heißt
beim Öffnen und Schließen der Kette.
Wir können uns auf die Einzelheiten dieſer geiſtvollen Ver-
ſuche
du Bois-Reymond’s nicht weiter einlaſſen, ſondern
wollen
gleich das wichtigſte Reſultat ſeiner Unterſuchungen
mitteilen
:
Du Bois hat Muskeln und Nerven beſonders unterſucht
und
in Bezug auf die Muskeln gefunden, daß jeder Muskel
eines
lebenden Weſens während des Lebens und auch kurze
Zeit
nach dem Tode der Sitz einer galvaniſchen Strömung iſt.
Ein Muskel iſt eigentlich das, was man gewöhnlich Fleiſch
nennt
.
Wenn wir Fleiſch eſſen, eſſen wir Teile von Muskeln
größerer
oder ganze Muskelpartien kleinerer Tiere.
Unterſucht
man
jedoch die Beſchaffenheit und das Weſen eines ganzen
Muskels
, ſo findet man immer, daß er eine Art Band aus
Fleiſch
iſt, das mit ſeinem einen meiſt ſchmalen Ende an einen
Knochen
angewachſen iſt, während ſein zweites ſchmales Ende
an
dem nächſten Knochen anſitzt.
Er bildet alſo eine
50795 liche Fleiſchbrücke von einem Knochen zum andern. Die Be-
ſtimmung
des Muskels iſt, das Glied, das der zweite Knochen
bildet
, zu bewegen, und dieſe Bewegung bringt der Muskel
dadurch
hervor, daß er ſich im geſunden Zuſtand nach dem
Willen
des Tieres zuſammenziehen kann, das heißt, er wird
kürzer
und dicker, namentlich in ſeiner Mitte, wodurch er na-
türlich
den Knochen, an dem er mit ſeinem untern Ende an-
gewachſen
iſt, mit ſich zieht und ihn ſo zur Bewegung veranlaßt.
All’ unſere Bewegungen, unſer Gehen, Laufen, Springen,
Schwimmen
, Strecken, Beugen, Setzen, Aufſtehen, die Be-
wegungen
unſeres Geſichtes beim Sprechen, Lachen, Weinen,
Denken
und Empfinden, mit einem Worte ſämtliche Bewegungen
eines
lebenden Weſens rühren einzig und allein von dem Zu-
ſammenwirken
jener Muskel-Zuſammenziehungen her.
Sobald
in
den Muskeln dieſe Zuſammenziehungskraft verloren geht
oder
geſtört wird, iſt der Körper ſtarr und unbeweglich.
Wer hiervon noch keine rechte Anſchauung hat, der beob-
achte
z.
B. ſeinen Oberarm dort, wo das dicke Fleiſch ſich be-
findet
.
Streckt man den Arm aus, ſo liegt der dicke Muskel
geſtreckt
;
er fühlt ſich weich an und man bemerkt an ihm, daß
er
nicht thätig iſt;
biegt man aber den Ellbogen ein, ſo daß
die
Hand der Schulter ſich nähert, ſo ſieht man, wie der Muskel
ſich
zuſammenzieht, zuſammenballt, kürzer und dicker wird, und
in
dieſem Zuſtand fühlt er ſich hart an, zum Zeichen, daß er zu-
ſammengezogen
, alſo thätig iſt.
Gemeinhin nun glauben
Viele
, daß der Muskel dieſen Zuſtand annehme, weil man den
Arm
gebogen habe;
das aber iſt falſch. Nicht der gebogene
Arm
macht den Muskel ballig und zuſammengezogen, ſondern
umgekehrt
.
Das Zuſammenziehen des Muskels am Oberarm,
der
mit ſeinem zweiten Ende am Knochen des Unterarms ange-
wachſen
iſt, hat es bewirkt, daß der Arm ſich einbiegen mußte.
Daher kommt es, daß, wenn man ſich dieſen Muskel am Oberarm
ſtark
verletzt hat, man den Oberarm ſelber noch ganz gut
50896 Geleuk bewegen kann, während man den Unterarm nicht ein-
zubiegen
und die Hand nicht zur Schulter zu biegen vermag.
Fragt man ſich nun, woher kommt es, daß der Muskel ſich
nach
unſerm Willen zuſammenziehen kann?
ſo giebt hierauf die
Wiſſenſchaft
die Antwort, daß der Wille in unſerm Gehirn
ſeinen
Sitz hat.
Von dem Gehirn aus oder von deſſen Ver-
@ängerung
, dem Rückenmark, gehen Nerven nach jedem einzelnen
Muskel
, worin ſie ſich in die feinſten Äſte verteilen und dieſe
Nerven
, die wie Schnüre ausſehen, bringen zum Muskel die
Botſchaft
des Gehirns und geben ihm die Anregung, die Zu-
ſammenziehung
zu vollbringen.
Durchſchneidet man ſolchen
Nervenfaden
, ſo verliert der Muskel, ohne ſonſt irgendwie ver-
letzt
zu ſein, das Vermögen, ſich nach unſerem Willen zu be-
wegen
und er hängt ſchlaff und unthätig im Körper.
Das Intereſſante an dieſem wunderbaren Vorgang iſt,
daß
die Nervenſchnüre nicht etwa ſelber ſich bewegen, nicht
etwa
gezogen werden, wie an einem Klingelzug, und dadurch
auch
die Muskeln in Bewegung ſetzen, ſondern daß die Nerven
ſtill
liegen an ihrem Orte und nur die Anregung zur Bewegung
fortleiten
.
Im vollen Sinne gleichen die Nerven hierin den
Leitungsdrähten
eines elektriſchen Telegraphen.
Wie dieſe Drähte
ruhig
daliegen in der Erde oder über der Erde und weiter keine
Rolle
ſpielen, als daß ſie die Elektrizität leiten, ſo thun es auch
die
Nerven mit der Anregung, die ſie vom Gehirn aus empfangen.
Sie ſind nur die Leiter der Anregung. Und ganz ſo wie die
Drähte
zu einem entfernten Eiſen einen elektriſchen Strom
bringen
, der ihn zum Magneten macht, der ihm Anziehungs-
kraft
verleiht, welche Bewegungen der telegraphiſchen Apparate
hervorbringt
, ganz ſo bringt ein Nerv nur einen Strom zum
Muskel
und dieſer Strom verleiht ihm die Kraft der Zuſammen-
ziehungen
, welche Bewegungen der Glieder veranlaßt.
Und welches iſt dieſe beſtimmte Kraft? Sie iſt eine
elektriſche
Kraft.
50997
Du Bois-Reymond’s Unterſuchungen haben den Beweis
geführt
, daß, wenn man einen Muskel quer durchſchneidet und
einen
Punkt dieſes Querſchnittes in leitende Verbindung bringt
mit
irgend einem Punkt am Muskel auf ſeiner ganzen Länge,
dann
ein elektriſcher Strom entſteht, und zwar derart, daß
aus
der Stelle des Querſchnittes ein Strom negativer Elektrizität
nach
der mit ihm leitend verbundenen Stelle der Länge ſich
bewegt
.
Nachdem dieſe Entdeckung einmal feſtgeſtellt iſt, hat man
um
ſo mehr Urſache zu vermuten, daß dieſer elektriſche Strom
im
Muskel, den man nach Du Bois den Muskelſtrom nennt,
die
eigentliche Kraft iſt, die im lebenden Muskel fortwährend
vorhanden
iſt und die es bewirkt, daß in Folge einer Nerven-
Anregung
der Muskel ſich zuſammenzieht, daß alſo die Quelle
der
Muskelbewegungen in der tieriſchen Elektrizität liegt, von
welcher
der Muskel einen beſtimmten Teil enthält.
Außer den elektriſchen Strömen in den Muskeln hat
Du Bois-Reymond auch elektriſche Ströme in den Nerven
feſtgeſtellt
.
Ebenſo wie in den Muskeln vom Querſchnitt zu
jedem
Punkt der Länge ein negativer Strom ſich zeigt, ebenſo
iſt
es mit den Nerven der Fall.
Da nun die Nerven in die Muskeln hineingehen und ſich
in
denſelben verzweigen, ſo liegt der Gedanke nahe, daß der
eigentliche
elektriſche Apparat im Muskel der in ihm ſehr fein
verzweigte
Nerv ſein mag;
allein Du Bois hat den Beweis
geführt
, daß dies ein Irrtum iſt, denn der elektriſche Strom
der
Muskel iſt bei weitem ſtärker als er ſein könnte, wenn
ſeine
Elektrizität nur von den fein verzweigten Nervenfäſerchen
herrührte
.
Der galvaniſche Strom zirkuliert aber nicht nur in den
Nervenfäden
, welche zu den Muskeln gehen, und deren Reizung
den
Muskel zur Zuſammenziehung veranlaßt.
Es zeigt jeder
Nervenfaden
des Körpers dieſe elektriſche Eigenſchaft.
Der Nervenſtrom iſt wie der Muskelſtrom der Ausdruck
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher IV.
51098
des Lebens der Nerven. Ein abgeſtorbener, toter Nerv zeigt
keinen
Strom.
Da nun mit dem Leben des Tieres bei den
Kaltblütern
nicht gleichzeitig auch das Leben der einzelnen
Teile
, der Muskeln und Nerven, ſofort aufhört, ſo bleibt auch
der
Nervenſtrom getöteter Fröſche beſtehen, und zwar ſolange,
als
der Nerv lebendig, das heißt, erregbar iſt.
Wir haben ſomit in dem Nervenſtrom einen Maßſtab für
die
Erregbarkeit des Nerven.
Hat der Nervenſtrom aufgehört, ſo
iſt
der Nerv tot;
er kann, wird er gereizt, weder eine Zuſammen-
ziehung
, noch eine Empfindung veranlaſſen.
Freilich dürfen wir nicht etwa erwarten, daß es jemals
gelingen
werde, am lebenden Menſchen die Erregbarkeit ſeiner
Nerven
zu meſſen.
Denn ſelbſt wenn die Meßinſtrumente noch
ſo
fein hergerichtet werden, und ſeit den erſten Verſuchen von
Du Bois hat die Technik in dieſer Beziehung bereits bedeutende
Fortſchritte
gemacht, wir werden niemals die Empfindlichkeit
eines
Menſchen meſſen können, weil die Nerven zu ſchwer zu-
gänglich
, zu tief zwiſchen den andern Körperteilen eingebettet
liegen
, um ihre ſchwachen Ströme zeigen zu können.
Auf
dieſem
Wege wird eine Verwertung der Du Bois’ſchen Ent-
deckungen
nicht erfolgen.
In einem ganz anderen Lichte erſcheinen uns aber dieſe
Arbeiten
, wenn wir ihren Wert für die Erkenntnis des Nerven-
lebens
betrachten.
Denn die von Du Bois gefundenen That-
ſachen
machten erſt eine weitere Kenntnis des Nervenlebens
möglich
und haben erſt die Wege angebahnt, auf welchen man
den
im lebenden Nerven thätigen Kräften nachzuſpüren vermag.
Wenn nun aber die elektriſchen Ströme im menſchlichen
Körper
eine ſo große Rolle ſpielen, wie wir eben gezeigt haben,
ſo
ſollte man meinen, daß die elektriſchen Kuren von höchſter
Bedeutung
ſein müſſen.
Darauf iſt folgendes zu erwidern.
Die Annahme, daß es im allgemeinen heilend auf
51199 Körper einwirken müſſe, wenn man ihn den elektriſchen Strömen
ausſetzt
, iſt gewiß nur in ſehr beſchränktem Maße zutreffend.
Hätte man ein Mittel, die elektriſche Thätigkeit der Nerven
oder
der Muskeln ſelber anzuregen, ſo ließe ſich die Sache ſchon
eher
hören;
hierfür aber iſt kein Mittel vorhanden, ſondern
man
verſucht jetzt dadurch ein Heilverfahren herzuſtellen, daß
man
durch zwei Metalle einen elektriſchen Strom erzeugt und
dieſen
Strom durch den menſchlichen Körper, oder durch ein
erkranktes
Glied einfach oder mit häufigen Unterbrechungen
hindurchſtrömen
läßt.
Man erzeugt alſo nicht im menſchlichen
Körper
eine Elektrizität, ſondern man benutzt ihn nur als Leiter
eines
außerhalb des Körpers erzeugten elektriſchen Stromes.
Ob hierdurch irgendwie die eigene körperliche elektriſche Thätigkeit
geweckt
oder geſtärkt wird, iſt an ſich ſchon ſehr zu bezweifeln.
So ohne weiteres alſo metalliſch erregte Elektrizität durch
den
menſchlichen Körper leiten und ſich einbilden, daß man
dadurch
die tieriſche Elektrizität des Körpers ſtärke, iſt gewiß
eine
ſehr oberflächliche Anſicht.
Man darf es für jetzt als ausgemacht annehmen, daß das
vorgebliche
Heilen aller Arten von Krankheiten durch das Hin-
leiten
elektriſcher Ströme durch den menſchlichen Körper eine
Charlatanerie
iſt, die auf Täuſchung oder Selbſttäuſchung hin-
ausläuft
, denn weder die Theorie noch die Praxis ſpricht für
irgend
welche ſicheren Erfolge.
Geſunde Nahrung, Bewegung in freier Luft, Leibesübung,
Turnen
, Erheiterung des Gemüts und friſche, geiſtige Regung
ſind
ſichere Erzeuger kräftiger Leibesthätigkeit und alſo auch
gute
Mittel zur Erweckung der tieriſchen Elektrizität, die eine
ſo
große Rolle im Körper ſpielt;
und wer nur einigermaßen
noch
zu dieſen Mitteln Zuflucht nehmen kann, der verſäume
ſie
nicht und bilde ſich nicht ein, daß ſich eine organiſierend im
Körper
wirkende Kraft erſetzen laſſe durch eine aus toten
Metallen
angeregte elektriſche Strömung, wenn ſie auch
512100 der Strömung im menſchlichen Körper die größte Ähnlich-
keit
hat.
Allerdings iſt es möglich, die zuweilen metalliſch erregte
Elektrizität
als ein heilſames Reizmittel anzuwenden, um die
gelähmte
Thätigkeit der Haut und der Muskeln zu erhöhen.
Für ein ſolches Heilverfahren in beſtimmten einzelnen Fällen
ſpricht
ſowohl die Theorie wie der praktiſche Erfolg.
Ebenſo wie man die Thätigkeit der Haut durch Bäder, kalte
Begießungen
, kalte Einhüllungen, Senfpflaſter u.
ſ. w reizen
und
erhöhen, den Blutumlauf, die Ernährung und Ausſcheidung
befördern
kann, ebenſo kann man dies durch elektriſchen Reiz.
Man
hat
hierzu verſchiedene ſinnreiche Vorrichtungen erfunden.
Man
ſetzt
einen Menſchen in ein lauwarmes Bad, in welches der Pol
einer
Batterie mündet, an den zweiten Pol der Batterie befeſtigt
man
eine metallene Rute und ſchlägt mit derſelben ganz leiſe
den
Körper des Kranken.
Hierdurch entſteht eine fortwährende
Entladung
der Elektrizität auf die Haut des Kranken, die dieſe
etwas
empfindlich prickelt und rötet und ſomit die Thätigkeit
der
Haut anregt, was in angemeſſenen Fällen heilſam wirken
muß
und auch wirkt.
Aber die Elektrizität wirkt nicht als
ſolche
, ſondern nur der Reiz, den ſie auf der Haut verurſacht,
und
als ſolcher iſt ſie mediziniſch gewiß anwendbar.
Wir beantworten daher die Frage wegen der elektriſchen
Kuren
dahin:
daß die metalliſch erregte Elektrizität keineswegs
die
tieriſche irgendwie direkt erſetzen, wahrſcheinlich auch nicht
heilbringend
verſtärken kann;
daß aber der Reiz der Elektrizität
auf
Haut und Muskeln in einzelnen Fällen wohl heilſam ein-
zuwirken
vermag;
und wir ſchließen dieſe Reihe der Beob-
achtungen
mit der Behauptung, daß es Charlatanerie iſt, wenn
man
den Galvanismus als einzige Medizin anpreiſen hört,
daß
es aber abſprechender Dünkel wäre, wenn man die gal-
vaniſche
Behandlung ganz und gar aus dem Reiche der Heil-
methode
verbannen wollte.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
513
Naturwiſſenſchnftliche Volkshücher
von

A. Bernftein.
Fünfte
, reich iſſuſtrierfe Aufſage.
Durchgeſehen und verbeſſert
von

H. Potonié und R. Hennig.
fünfter
Teil.
97[Figure 97]
Berlin.
Ferd
. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
514
Das Recht der Überſetzung in fremde Sprachen iſt vorbehalten.
515
Inhaltsverzeichnis.
11
# # Seite
I
. # Von den chemiſchen Kräften . . . . . . . . . . # 1
II
. # Die Verſchiedenheit der Anziehungs-Kräfte . . . . . # 4
III
. # Die beſonderen Eigentümlichkeiten der chemiſchen Kraft . # 7
IV
. # Die Haupt-Erſcheinungen der chemiſchen Kraft . . . . # 10
V
. # Die chemiſche Verwandtſchaft oder Neigung . . . . . # 13
VI
. # Wie ſonderbar oft die Neſultate chemiſcher Verbindungen
# ſind . . . . . . . . . . . . . . . . . # 16
VII
. # Die Umſtände, unter welchen chemiſche Anziehungen ſtatt-
# finden . . . . . . . . . . . . . . . . # 19
VIII
. # Eine Reihenfolge der chemiſchen Neigungen . . . . . # 24
IX
. # Wie die größte chemiſche Neigung gerade zwiſchen ſich
# unähnlichen Stoffen beſteht . . . . . . . . . # 27
X
. # Von der Natur der chemiſchen Verbindungen . . . . # 30
XI
. # Die Gewichts-Verhältniſſe der chemiſchen Verbindungen . # 33
XII
. # Wie die chemiſchen Stoffe ſtets nur in beſtimmten Ge-
# wichtsteilen ihre Verbindungen eingehen . . . . . # 36
XIII
. # Was chemiſche Anziehung und was chemiſche Energie iſt # 38
XIV
. # Die Verbindung eines chemiſchen Stoffes mit doppelten
# und mehrfachen Portionen . . . . . . . . . # 41
XV
. # Was man in der Chemie von den Atomen erfahren kann # 44
XVI
. # Verſchiedener Zuſtand der Atome in verſchiedenen Dingen # 47
XVII
. # Die Anzahl der Atome bei chemiſchen Verbindungen und
# das Gewicht jedes Stoffes . . . . . . . . . # 50
XVIII
. # Die mehrfachen Verbindungen der Atome . . . . . # 53
XIX
. # Die Atome und die Wärme . . . . . . . . . . # 56
XX
. # Was man ſpezifiſche Wärme der Stoffe nennt und wie
# die Atome erwärmt werden . . . . . . . . . # 59
XXI
. # Was man unter Diffuſion verſteht . . . . . . . #
11516IV XXII. # Von der Diffuſion flüſſiger Körper . . . . . . . # 66
XXIII
. # Wie Chemie und Elektrizität mit einander verwandt ſind # 71
XXIV
. # Die chemiſchen Wirkungen elektriſcher Ströme . . . . # 74
XXV
. # Von der elektro-chemiſchen Kraft . . . . . . . . # 76
XXVI
. # Die Erklärung der chemiſchen Erſcheinungen durch elek-
# triſche Kräfte . . . . . . . . . . . . . . # 79
XXVII
. # Erklärung der chemiſchen Verbindungen und Trennungen
# nach der elektro-chemiſchen Lehre . . . . . . . # 82
XXVIII
. # Die Galvano-Plaſtik . . . . . . . . . . . . # 85
XXIX
. # Von der galvaniſchen Verſilberung . . . . . . . # 88
XXX
. # Von der Bereitung der Verſilberungs-Flüſſigkeit . . . # 91
XXXI
. # Einrichtung des Apparats zum Verſilbern . . . . . # 93
XXXII
. # Etwas von der galvaniſchen Vergoldung . . . . . # 96
XXXIII
. # Merkwürdige weitere Verſuche . . . . . . . . . # 99
XXXIV
. # Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . # 101
517
I. Von den chemiſchen Kräften.
Nachdem wir eine Reihe von Naturkräften unſern Leſern
vorgeführt
haben, wollen wir noch eine neue Kraft behandeln,
die
in ihrer Erſcheinung ſich weſentlich von den bisherigen
Kräften
unterſcheidet.
Wir meinen die chemiſche Kraft.
Die große Verwandtſchaft der chemiſchen Kraft mit der
elektriſchen
Kraft werden wir ſpäter näher ins Auge faſſen,
wenn
wir zum Schluß unſeres Themas eine Betrachtung über
die
vorgeführten Kräfte der Natur anſtellen werden;
für jetzt
jedoch
wollen wir die Erſcheinung der chemiſchen Kraft ſelber
ins
Auge faſſen, denn ſie iſt wunderbar und geheimnisvoll.
Ein jeder weiß es, daß Eiſen, wenn man es in feuchter
Luft
liegen läßt, nach einiger Zeit zu roſten anfängt.
Statt
des
blanken, metalliſchen Eiſens bildet ſich ein rotes, zuſammen-
backendes
, aber doch leicht krümliches Pulver, während das
Eiſen
verſchwindet.
Läßt man das Eiſen immer weiter unter
dem
Einfluß der feuchten Luft, ſo verwandelt es ſich ganz und
gar
in Roſt und zeigt endlich vom Eiſen keine Spur mehr.
Es fragt ſich: was iſt hier vorgegangen?
Die Naturwiſſenſchaft giebt hierauf die Antwort: Hier iſt
eine
chemiſche Kraft thätig geweſen, welche das Eiſen chemiſch
verwandelt
hat.
Die genaueſte Unterſuchung zeigt, daß wenn man das
Eiſen
früher genau gewogen hat und nun den Roſt nochmals
auf
die Wage bringt, der Roſt ſchwerer iſt, als das Eiſen war,
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher V.
5182
daß alſo offenbar zum Eiſen jetzt etwas hinzugekommen ſein
muß
, was die Verwandlung hervorgebracht hat.
Was aber iſt es, das hier dazu gekommen iſt?
Hierauf antwortet die Wiſſenſchaft nach den gewiſſen-
hafteſten
und allerſicherſten Prüfungen Folgendes:
Zu dem
Eiſen
iſt der Sauerſtoff der Luft hinzugekommen, und be-
günſtigt
von der Feuchtigkeit der Luft hat ſich das Eiſen
mit
dem Sauerſtoff verbunden, ſo daß das Eiſen völlig um-
gewandelt
und zu dem roten Pulver wurde, das wir Roſt
nennen
.
Hätte man das Eiſen mit ein wenig Talg ein-
geſchmiert
, ſo daß die Luft nicht direkt zukommen konnte, ſo
würde
es nicht in Roſt verwandelt worden ſein.
Kann man aber den Roſt nicht wieder in Eiſen ver-
wandeln
?
Kann man nicht in irgend einer Weiſe den Sauer-
ſtoff
wieder aus dem Roſt vertreiben, ſo daß das Eiſen wieder
rein
zum Vorſchein kommt?
Hierauf antwortet ſowohl die Wiſſenſchaft wie die ge-
wöhnliche
Praxis, daß man das ganz gut kann und es in
der
That in jedem Eiſenbergwerk, wo Hoch-Öfen ſind, auch
macht
.
Denn das Eiſen wird urſprünglich nicht als reines
Eiſen
gefunden, ſondern man gewinnt es in den Bergwerken
als
eine Art ſteinernen Roſt.
Dieſe Art Roſt wird mit Kohle
gemiſcht
in einen Ofen gebracht;
man brennt die Kohle an
und
läßt ſie verbrennen (Fig.
1). Bei dieſem Verbrennen geht
der
Sauerſtoff aus dem Roſt und verbindet ſich mit der Kohle,
indem
er mit derſelben Kohlenſäure bildet;
das Eiſen ſchmilzt
und
kommt aus einer Öffnung des Ofens als Gußeiſen heraus.
Man hat alſo aus Eiſen, welches ſich mit Sauerſtoff ver-
bunden
hatte, den Sauerſtoff hinausgebracht, indem man ihn
mit
der Kohle in Verbindung brachte.
Man nennt die Anziehungskraft der Kohle zum Sauerſtoff,
die
hierbei thätig iſt, die chemiſche Verwandtſchaft;
allein das
Wort
Verwandtſchaft” iſt im vollen Sinne des Wortes
5193 paſſend, denn wir werden ſpäter ſehen, daß es gerade um-
gekehrt
mit dieſer Anziehungskraft iſt, daß nämlich wirklich
98[Figure 98]Fig. 1. Hochofen.
E
= Heerd, t = Gebläſe, b = ausfließendes Eiſen, bei G wird Erz und
Feuerungsmaterial
eingeſchüttet.
verwandte Stoffe ſich faſt garnicht gegenſeitig chemiſch anziehen,
während
gerade die ſich unähnlichſten Stoffe, die garnichts
Verwandtes
an ſich haben, ſich am eifrigſten chemiſch anziehen.
5204
Wir wollen daher das WortVerwandtſchaft”, das in
der
Chemie ſo häufig gebraucht wird, hier lieber immer mit
den
Wortenchemiſche Neigung” bezeichnen;
im Grunde ge-
nommen
aber kommt es auf die Bezeichnung nicht an, wenn
man
ſich nur das Richtige dabei denkt, und das Richtige iſt,
daß
eine Anziehungskraft zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff vor-
handen
iſt, die es bewirkt, daß aus Eiſen Roſt wird, und daß
noch
eine ſtärkere Anziehungskraft zwiſchen Kohle und Sauer-
ſtoff
ſtattfindet, die es macht, daß unter begünſtigenden Um-
ſtänden
der Sauerſtoff das Eiſen verläßt und ſich mit der
Kohle
verbindet.
II. Die Verſchiedenheit der Anziehungs-Kräfte.
Wenn wir gewiſſenhaft verfahren wollen, dürfen wir bei
der
Betrachtung der neuen, der chemiſchen Anziehungskraft, es
nicht
ſcheuen, nochmals einen Blick auf die bisher vorgeführten
Anziehungskräfte
zu werfen, um das Beſondere dieſer neuen
Kraft
deutlicher einſehen zu können.
In allen feſten Maſſen herrſcht eine Anziehungskraft,
welche
je ein Atom an das andere feſſelt, und die es verhindert,
daß
die Atome auseinanderfallen.
Ein Stück Eiſen, ein Stück
Blei
oder ſonſt ein Stück eines feſten Körpers iſt nur darum
weniger
oder mehr unzerbrechlich und unzertrennbar, weil alle
kleinen
Eiſenteilchen oder Bleiteilchen oder ſonſt die Teilchen
eines
Körpers ſich gegenſeitig mit einer gewiſſen Kraft feſt-
halten
.
Trotzdem aber wiſſen wir, daß dieſe einzelnen Teilchen
nicht
unverrückbar dicht aneinander liegen, denn man kann
Eiſen
, Blei oder andere feſte Körper durch Druck noch mehr
aneinander
preſſen.
Demnach muß man annehmen, daß ſich
die
Teilchen in einer gewiſſen Entfernung feſthalten, alſo
gegenſeitig
eine Anziehung auf einander ausüben.
5215
Neben dieſer Anziehung jedoch exiſtiert, wie wir ſchon
gezeigt
haben, in denſelben Körpern auch zugleich eine Ab-
ſtoßungskraft
.
Denn hat man Eiſen zuſammengepreßt und
es
gewaltſam kleiner gemacht, ſo dehnt es ſich ſofort wieder
aus
, wenn man den Druck aufhören läßt.
Man muß alſo
hieraus
ſchließen, daß die Anziehungskraft zwiſchen einem
Atom
und dem andern nur bis zu einer gewiſſen Grenze geht
und
wenn man zwei Atome gewaltſam mehr einander nähert,
wieder
eine Abſtoßung zwiſchen den Atomen thätig iſt, die ſich
beſtrebt
, die Atome von einander in gewiſſer Weite entfernt
zu
halten.
Wir haben ſodann eine zweite Anziehungskraft kennen
gelernt
, die auf weite Entfernungen wirkt, wie z.
B. die An-
ziehungskraft
der Himmelskörper, der Sterne, der Planeten, der
Erde
, und haben auch geſehen, daß alle Maſſen in gleicher
Weiſe
dieſelbe Kraft der Anziehung beſitzen, die zwar mit der
Entfernung
abnimmt, aber immer noch wirkſam iſt.
Von
dieſer
Anziehungskraft kennen wir kein Beiſpiel, daß ſie auch
mit
einer Abſtoßungskraft gepaart ſein ſollte.
Es bildet alſo
dieſe
Anziehungskraft eine ganz andere Art von Naturkraft.
Wir haben ferner geſehen, daß Magnete eine Anziehungs-
kraft
beſitzen, die bis auf einen gewiſſen Punkt mit der Maſſen-
anziehung
viel Ähnliches beſitzt;
allein die magnetiſche Kraft
iſt
wiederum anders.
Sie beſitzt eine Polarität, das heißt eine
Eigenſchaft
, wodurch in dem magnetiſchen Körper eine gewiſſe
Trennung
ſeiner Kraft nach zwei Seiten hin ſtattfindet.
Eine
Magnetnadel
hat, wie jeder magnetiſche Körper, zwei Pole, und
es
ſtoßen ſich die gleichen Pole von zwei Magnetnadeln ſtets
ab
, während ſich die ungleichen gegenſeitig anziehen.
Viel Ähnlichkeit mit dieſer magnetiſchen Kraft hat freilich
die
elektriſche Kraft, denn auch dieſe teilt ſich in Anziehung
und
Abſtoßung;
allein es findet wieder der große Unterſchied
zwiſchen
Magnetismus und Elektrizität ſtatt, daß der
5226 tismus garnicht aus ſeiner Trennung in Pole herauszubringen,
daß
man z.
B. mit aller Kunſt es nicht dahin bringen kann,
eine
Magnetnadel herzuſtellen, die in ihrer ganzen Länge nur
nordmagnetiſch
oder nur ſüdmagnetiſch iſt, während man die
Elektrizität
mit größter Leichtigkeit trennen, und z.
B. jeden
beliebigen
Körper ſowohl poſitiv, wie auch negativ elektriſch
machen
kann, wenn man will.
Es findet ferner auch noch der
eigentümliche
Unterſchied ſtatt, daß der Magnetismus gewiſſer-
maßen
feſt ſitzt an einem Körper, der ihn beſitzt, und nicht
von
dem einen fortgenommen und in einen andern gebracht
werden
kann, während man mit der Elektrizität dies in der
größten
Leichtigkeit zu Wege bringt, und ſo zu ſagen die
Elektrizität
in einem Körper beliebig anſammeln, entladen, auf
einen
andern Körper übergehen laſſen kann, ja daß man imſtande
iſt
, ſie zu leiten auf Tauſende von Meilen und ſie zu hand-
haben
, als hätte man einen Stoff vor ſich, den man von
einem
Gefäß ins andere gießen und durch beliebig lange
Röhren
hinfließen laſſen kann, wohin man nur Luſt hat.
Von all dieſen Eigentümlichkeiten, welche die bisher
vorgeführten
Naturkräfte von einander unterſcheiden, beſitzt die
chemiſche
Kraft ſo gut wie garnichts.
Sie beruht auch auf einer Anziehungskraft; aber dieſe iſt
ſo
eigentümlich und hat ſo beſtimmte eigene Geſetze, daß ſie für
den
erſten Augenblick als eine ganz neue, mit den vorigen
Kräften
garnicht in Verbindung ſtehende Kraft erſcheint.
Dieſe
Eigentümlichkeiten
und Verſchiedenheiten wollen wir nun vorerſt
genauer
kennen lernen und ſodann zu den Geſetzen kommen,
welche
die Naturwiſſenſchaft imſtande geweſen iſt, der Kraft
der
chemiſchen Anziehung abzulauſchen.
Wir werden ſehen, daß
dieſe
Geſetze wiederum einen Weg bahnen, die Erkenntnis der
Naturgeheimniſſe
dem menſchlichen Forſchergeiſt aufzuſchließen.
5237
III. Die beſonderen Eigentümlichkeiten der
chemiſchen Kraft.
Vor allem zeigt ſich die chemiſche Anziehungskraft ſchon
inſofern
auffallend verſchieden von den bisherigen Kräften, als
ſie
dieſen Kräften gewiſſermaßen entgegenarbeitet.
Wir haben geſehen, daß Eiſen ſich mit Sauerſtoff ver-
bindet
, daß alſo zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff eine Art An-
ziehungskraft
obwaltet, welche es macht, daß die feſten Atome
des
Eiſens ſich loslaſſen und jedes Eiſen-Atom für ſich eine
Portion
Sauerſtoff wählt, mit welcher es jetzt einen Körper
bildet
.
Ein Stück Eiſen, das wir mit aller Kraft nicht aus-
einander
zu reißen vermögen und von dem wir annehmen
müſſen
, daß ſeine Atome ſich mit großer Gewalt an einander feſt-
halten
, zerfällt ohne alle Kraftanſtrengung in Roſt, das heißt
aber
, es dringt, ſobald die Umſtände es geſtatten, Sauerſtoff
hinein
und trennt die Atome von einander.
Hieraus ſollte man den Schluß ziehen, daß Eiſen eine ſo
ſtarke
chemiſche Anziehung auf Sauerſtoff ausübt, daß die An-
ziehungskraft
ſeiner eigenen Atome ſich dagegen verliert;
aber
dieſe
ſo große chemiſche Anziehung äußert ſich auch nicht im
mindeſten
, ſobald man nur das Eiſen mit der feinſten Schicht
von
Talg z.
B. oder von ſonſt irgend einem trennenden Stoffe
überzieht
, der keinen Sauerſtoff zuläßt.
Hierdurch nimmt
man
wahr, daß die chemiſche Anziehung nicht nur anderer
Natur
iſt als die Anziehung der Atome feſter Körper, ſondern
ſie
muß auch eine ganz andere als die Maſſenanziehung ſein,
von
der wir wiſſen, daß ſie auf Entfernungen wirkſam iſt.
Wir haben des leichtern Verſtändniſſes halber das Roſten
des
Eiſens als Beiſpiel für chemiſche Anziehung gewählt, weil
wohl
jedermann ſchon das Roſten beobachtet hat.
Es giebt
aber
noch viele andere Stoffe, an welchen wir dieſe
5248 hätten zeigen können; namentlich exiſtiert ein Metall, das den
Namen
Kalium führt und ſilberähnlich ausſieht;
dieſes Metall
hat
eine ſo gewaltige Neigung ſich mit Sauerſtoff zu verbinden,
daß
man gar kein anderes Mittel beſitzt, es davor zu ſchützen,
als
daß man es in Steinöl (Petroleum) aufbewahrt, welches
keinen
Sauerſtoff enthält.
Trotzdem aber, daß die Anziehung
zwiſchen
Kalium und Sauerſtoff ungeheuer groß iſt, würde
man
doch vergebliche Verſuche anſtellen, um nachzuweiſen, daß
ſie
ſich gegenſeitig einander nähern, wenn man ſie um ein
Haar
weit von einander entfernt hat.
Füllte man z. B. eine
Glaskugel
mit Kalium und eine zweite mit Sauerſtoff und legte
ſie
im luftleeren Raume nebeneinander, ſo würden ſich die
Kugeln
trotz der Anziehungskraft ihrer Stoffe durchaus nicht
zu
einander bewegen, denn die chemiſche Anziehung iſt ſelbſt
für
die kleinſte Entfernung unwirkſam.
Wir ſehen demnach, daß die chemiſche Anziehung durchaus
von
anderer Beſchaffenheit ſein muß als die Anziehung der
Maſſen
.
Noch weniger gleicht die chemiſche Anziehung irgendwie
der
magnetiſchen Anziehung.
Von der magnetiſchen Anziehung
wiſſen
wir vor allem, daß ſie wie die Maſſenanziehung auf
Entfernungen
wirkſam iſt, was bei der chemiſchen Anziehung
nicht
ſtattfindet.
Ferner zeigt die chemiſche Anziehung nichts
von
Polarität, das heißt:
ſie teilt den Körper nicht in zwei
Pole
, wie es der Magnet thut.
Endlich findet ſich in der
chemiſchen
Anziehungskraft keine Erſcheinung, welche ſich in
einem
Stoffe gewiſſermaßen verteilt, während dies im Mag-
neten
vollkommen der Fall iſt.
Eine Eiſenſtange, die man an
einem
Punkt magnetiſch macht, wird durch die ganze Länge
magnetiſch
;
während das eine Ende einer Eiſenſtange ganz
und
gar einer chemiſchen Verbindung ausgeſetzt werden kann,
ohne
daß das andere Ende irgendwie davon betroffen wird.
In noch größerem Maße verſchieden iſt die chemiſche
5259 ziehungskraft von der, welche ſich an der Elektrizität zeigt.
Während die Elektrizität fortgeleitet werden kann von Ort zu
Ort
, iſt die chemiſche Thätigkeit nur an den Ort gebannt, wo
ſie
vorgeht.
Man vermag ſie durch nichts überzuleiten von
einem
Orte, wo ſie ſtattfindet, auf einen andern.
Man würde
vergeblich
ohne Dazwiſchenkommen einer andern Kraft von
einem
Gefäß, wo eine chemiſche Verbindung vor ſich geht,
z
.
B. Drähte nach einem zweiten Gefäß leiten, um auch hier
eine
gleiche oder ähnliche Wirkung hervorzurufen.
Freilich findet ein ſehr inniges Verwandtſchaftsverhältnis
zwiſchen
allen dieſen Kräften ſtatt, wie wir das noch ſpäter
ſehen
werden;
für jetzt jedoch iſt es zur Kenntnis der That-
ſachen
notwendig, daß wir die beſondere Art von Naturkraft,
die
in der Chemie zum Vorſchein kommt, in ihrer beſonderen
Eigentümlichkeit
kennen lernen, wir werden ſofort zu den
Hauptgeſetzen
der Chemie kommen, wollen jedoch erſt noch fol-
gende
Bemerkungen vorausſchicken.
Faſt bei allen Naturkräften, die wir hier vorgeführt haben,
exiſtiert
neben einer Anziehungskraft auch eine Kraft der Ab-
ſtoßung
, bei der chemiſchen Kraft jedoch iſt dies nicht der
Fall
.
Die Kraft, mit welcher ein Stoff einen andern,
mit
dem er ſich verbinden will, anzieht, muß ſehr groß ſein.
Wir kennen dieſe Größe der Kraft zwar nicht direkt, aber ſie
zeigt
ſich ganz unverkennbar darin, daß die chemiſche Kraft
Metalle
aus ihrem feſteſten Zuſammenhange zu reißen und ſie
in
Atome aufzulöſen im ſtande iſt, um ſie zu einer chemiſchen
Verbindung
zu bringen.
Die Vernichtung des feſten Zuſam-
menhanges
im Eiſen, welche beim Roſten desſelben ſtattfindet,
dieſe
Vernichtung geht nur langſam vor ſich;
aber man lege
nur
etwas Eiſen, zum Beiſpiel eine Handvoll kleiner Nägel in
ein
Glas Waſſer, worin man eine Portion Schwefelſäure hinein-
gegoſſen
hat, und man wird eine chemiſche Auflöſung des Eiſens
wahrnehmen
, die ſehr ſchnell vor ſich geht.
Auch hier
52610 dieſe Auflöſung auf einer chemiſchen Anziehung, und dieſe
Kraft
der Anziehung muß ſehr bedeutend ſein, da ſie die
Nägel
, die wir mit den Fingern kaum zerbrechen können, mit
Leichtigkeit
und Schnelligkeit auflöſt.
Gleichwohl jedoch iſt
neben
dieſer ſo ſtarken Anziehungskraft noch nirgend eine
chemiſche
Abſtoßungskraft herausgefunden worden.
Während ſich
allenthalben
in der Natur Kraft und Gegenkraft findet, ſcheint
dies
in der Chemie nicht der Fall zu ſein, wenigſtens ſind alle
ihre
Erſcheinungen aus der einen Anziehungskraft zu erklären,
ohne
daß ſie irgendwie eine Gegenkraft verraten.
IV. Die Haupt-Erſcheinungen der chemiſchen Kraft.
Wenn man ſich das Eigentümliche der chemiſchen An-
ziehung
recht deutlich machen will, ſo hat man hauptſächlich
Folgendes
zu beachten.
Erſtens: die chemiſche Anziehung iſt eine Kraft, die allen
Stoffen
eigen iſt.
Zweitens: Jeder einzelne Stoff hat zwar eine Neigung
ſich
mit andern Stoffen zu verbinden;
aber dieſe Neigung
bleibt
ſich nicht gleich, ſondern iſt je nach den Stoffen ver-
ſchieden
.
Drittens: Man findet bei einer nähern Unterſuchung ganz
beſtimmte
Verbindungsverhältniſſe heraus.
Wir wollen es verſuchen, die hier angegebenen Eigen-
tümlichkeiten
ſo deutlich wie möglich zu machen.
Wir haben geſagt, daß die chemiſche Anziehung eine Kraft
iſt
, die allen Stoffen in der Welt eigen ſei.
Wir verſtehen
hierunter
Folgendes:
Alle Dinge, die wir in der Welt ſehen, Holz, Stein, Erze,
Kalk
, Sand, Erde, Salze, Waſſer, Luft, Pflanzen, Tiere, mit
einem
Worte faſt alles, was uns nur irgendwie vor
52711 kommt, iſt chemiſch unterſucht worden und man hat heraus-
gefunden
, daß all die tauſend und abertauſend Dinge ſamt und
ſonders
nur aus einigen ſiebzig einfachen Stoffen zuſammen-
geſetzt
ſind, die man chemiſche Urſtoffe oder chemiſche Elemente
nennt
.
Die ganze Natur iſt aus dieſen ſiebzig Urſtoffen
aufgebaut
.
Dieſe Urſtoffe ſind gewiſſermaßen die Bauſteine
der
ganzen Schöpfung, und die geheime chemiſche Kraft iſt ſo
zu
ſagen der Baumeiſter, der aus dieſen Bauſteinen die Welt
zuſammenſtellt
.
Dieſe ſiebzig einfachen Urſtoffe, die man in jedem
chemiſchen
Werke verzeichnet findet, ſind es, deren gegenſeitige
chemiſche
Anziehungskraft man unterſucht hat.
Die gewöhn-
lichſten
der ſiebzig Stoffe ſind Sauerſtoff, Stickſtoff, Waſſer-
ſtoff
, Kohlenſtoff, Schwefel, Phosphor, Silicium und die ganze
Reihe
von Metallen, die wir im gewöhnlichen Leben alltäglich
ſehen
, wie Zinn, Eiſen, Zink, Nickel, Blei, Kupfer, Aluminium,
Silber
, Gold 2c.
Wenn wir nun ſagen, es exiſtiert eine chemiſche An-
ziehungskraft
zwiſchen dieſen Stoffen, ſo heißt dies ſoviel wie
Folgendes
.
Jeder dieſer Stoffe, z. B. Sauerſtoff, verbindet
ſich
unter Umſtänden mit jedem der andern Stoffe.
Alſo
Sauerſtoff
verbindet ſich mit Stickſtoff und bildet ſo Salpeter-
ſäure
.
Er verbindet ſich auch mit Waſſerſtoff und bildet
Waſſer
.
Er verbindet ſich mit Kohlenſtoff und bildet ſodann
Kohlenſäure
.
Er verbindet ſich mit Schwefel und bildet
Schwefelſäure
, und ſo geht es fort, das heißt, er kann ſich
unter
Umſtänden mit all den andern genannten Stoffen ver-
binden
und bildet dann immer ganz etwas anderes.
Offenbar liegt dieſe Verbindungskraft des Sauerſtoffes
nicht
in ihm allein, ſondern ſie liegt auch in jedem der andern
Stoffe
, die ſich mit ihm chemiſch verbinden.
Wir können alſo
in
Wahrheit nicht ſagen, daß die Kraft der Anziehung, durch
welche
die chemiſche Verbindung hergeſtellt wird, nur in
52812 Sauerſtoff allein oder in dem andern Stoff allein vorhanden
ſei
, ſondern die Anziehungskraft iſt nur das Verhältnis, das
zwiſchen
dem Sauerſtoff und jedem andern Stoffe obwaltet.
Die Kraft liegt in beiden, oder noch richtiger in dem Ver-
halten
der beiden Stoffe zu einander.
Da dies nun bei allen rund ſiebzig Urſtoffen der Fall
iſt
, ſo kann man mit Recht ſagen, daß in jedem der Stoffe eine
Kraft
thätig iſt, welche die chemiſche Anziehungskraft bewirkt,
ſobald
man ihm einen zweiten Stoff in gehöriger Weiſe dar-
bietet
.
Da aber alle Dinge der Welt aus dieſen rund ſiebzig
Urſtoffen
zuſammengeſetzt ſind, ſo folgt daraus, daß die eigentliche
chemiſche
Kraft in allen Dingen der Welt liegt und in allen
zur
Erſcheinung kommen kann und auch wirklich kommt.
Dieſe chemiſche Kraft baut alles in der Welt auf und legt
alles
wieder auseinander.
Alles, was man im gewöhnlichen
Leben
verwittern, roſten, zerfreſſen, verbrennen, zerfallen, faulen,
morſch
werden, abſterben, verweſen, auflöſen nennt, iſt nur
eine
Folge eines chemiſchen Vorganges, oder richtiger:
eine
Folge
der chemiſchen Anziehung, die ſich geltend macht und
geſtaltete
Dinge umgeſtaltet.
Aber nicht minder iſt alles, was
man
im gewöhnlichen Leben entſtehen, ſich bilden, keimen,
wachſen
u.
ſ. w. nennt, auch nur eine Folge der chemiſchen Kraft,
die
immerfort und immerfort in allen Dingen der Welt in
ununterbrochener
Thätigkeit iſt.
Man wird hiernach einſehen, daß die chemiſche Kraft eine
Hauptrolle
in der Welt ſpielt, ja daß ſie die Weltgeſtaltung
in
ſich trägt, und daß ſie wohl verdient, daß man einiges
Nachdenken
auf ſie und ihre Geſetze verwendet.
Für jetzt alſo haben wir es deutlich gemacht, daß die chemiſche
Anziehung
eine Kraft iſt, die in allen Stoffen und eigentlich
in
allen Dingen der Welt vorhanden iſt;
wir wollen es nunmehr
deutlich
machen, wie ſonderbar und eigentümlich verſchieden
dieſe
Kraft in ihrer Neigung bei verſchiedenen Stoffen iſt.
52913
V. Die chemiſche Verwandtſchaft oder Neigung.
Zwiſchen je zwei chemiſchen Urſtoffen findet immer eine
chemiſche
Anziehungskraft ſtatt;
aber die Stärke dieſer An-
ziehungskraft
iſt außerordentlich verſchieden.
Wir haben es ſchon erwähnt, daß Eiſen eine große Nei-
gung
beſitzt, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden und Roſt zu
bilden
.
Es waltet alſo zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff eine
Art
Liebe” ob, die ſie zwingt, eine eigentümliche Ehe zu
ſchließen
und etwas ganz anderes zu werden, als ſie urſprünglich
waren
.
Allein es giebt Stoffe, deren Neigung noch größer
iſt
als die des Eiſens, oder um uns wieder bildlich auszu-
drücken
, die noch begieriger ſind eine Ehe mit dem Sauerſtoff
einzugehen
, und dieſe Begierde iſt oft ſo groß, daß gewiſſe
Stoffe
unter gewiſſen Umſtänden den Sauerſtoff aus dem Roſt
herausholen
, um ſich mit ihm zu verbinden und das Eiſen
gewiſſermaßen
aus der Ehe zu treiben.
Wir haben es ſchon erwähnt, daß dies in einem H o ch-
ofen
geſchieht.
Wenn in einem ſolchen Ofen, der in Eiſenberg-
werken
gebräuchlich iſt, die mit dem Roſt vermengte Kohle zu
glühen
anfängt, ſo entſteht eine ſo ungemeine Liebſchaft zwiſchen
dem
Sauerſtoff im Roſt und der brennenden Kohle, daß der
Roſt
zerlegt wird.
Der Sauerſtoff verläßt den bisherigen
Gatten
, das Eiſen, und geht eine neue Ehe ein mit der Kohle,
um
Kohlenſäure zu bilden, und das Eiſen des Roſtes kommt
rein
und ohne Sauerſtoff aus dem Ofen herausgefloſſen.
Hieraus ſieht man, daß die chemiſche Anziehungskraft
zwiſchen
Kohle und Sauerſtoff unter Umſtänden z.
B. beim
Glühen
größer iſt als zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff.
In der
That
kann man Eiſen vor dem Roſten ſchützen, wenn man es
in
trockener, fein gepulverter Kohle verwahrt.
Eine noch
ſtärkere
Liebſchaft beſteht zwiſchen Sauerſtoff und dem Metall
Kalium
, das wir bereits erwähnt haben.
Ja, dieſe
53014 iſt ſo groß, daß man ein Stückchen Kalium gar nicht an die
Luft
bringen darf, denn ehe man ſich’s verſieht, iſt dies blanke
ſilberhelle
Metall durch Verbindung mit dem Sauerſtoff der
Luft
in eine weiße, krümlige Maſſe, die man Kali nennt, ver-
wandelt
, und läßt man dieſes noch länger in der Luft, ſo
wird
ſogar das Kali feucht und zerfließt endlich wie naß-
gewordener
Zucker.
Wenn man ſich alſo eine richtige Vorſtellung von der
Anziehungskraft
, die zwiſchen zwei chemiſchen Stoffen waltet,
machen
will, muß man ſagen:
die Anziehungskraft iſt immer
vorhanden
zwiſchen je zwei chemiſchen Urſtoffen.
Wenn
die
Umſtände dieſe Anziehungskraft begünſtigen, entſteht aus
dieſen
beiden Urſtoffen ein ganz anderes Ding, das nicht die
mindeſte
Ähnlichkeit mit den Urſtoffen hat.
Aber dieſe An-
ziehungskraft
iſt nicht immer gleich bei allen Urſtoffen, ſondern
es
waltet zwiſchen je zwei Urſtoffen bald eine größere, bald
eine
ſchwächere Anziehung ob.
Indem wir ſpäter dem Grunde dieſer Erſcheinung nach-
ſpüren
wollen, um uns dieſe Eigentümlichkeit der Stoffe einiger-
maßen
zu erklären, wollen wir für jetzt einmal in Betracht
ziehen
, wie ſo eigentümliche Dinge aus den Verbindungen
zweier
Stoffe hervorgehen.
Aus einer chemiſchen Verbindung von Sauerſtoff und
Stickſtoff
entſteht die Salpeterſäure;
aus einer Verbindung
von
Sauerſtoff und Waſſerſtoff geht Waſſer hervor.
Was Waſſer iſt, weiß jeder Menſch. Alles Waſſer der
Welt
, unſer Trink-, Brunnen-, Fluß- und Regenwaſſer iſt
nichts
anderes als eine chemiſche Verbindung von zwei Luft-
arten
, von Sauerſtoff und Waſſerſtoff.
Viele werden auch wohl
wiſſen
, was die Salpeterſäure für eine eigene Flüſſigkeit iſt.
Sie
iſt
eine äußerſt beizende Flüſſigkeit von höchſt ſaurem Geſchmack,
ſo
daß ein paar Tropfen hinreichen, ein Glas Waſſer ſauer
ſchmeckend
zu machen.
Sie iſt ſo ätzend, daß man faſt
53115 Metalle in derſelben auflöſen kann. Taucht man ein wenig
Baumwolle
in ganz reine Salpeterſäure und läßt ſie auch nur
eine
Sekunde darin, ſo wird ſie die bekannte Schießbaumwolle.
Man kann ſie dann ſtundenlang auswäſſern und mit Waſſer
waſchen
, die Baumwolle wird, wenn ſie trocken iſt, noch heftiger
als
Schießpulver abbrennen, ſobald man nur ein Fünkchen
daran
bringt.
Man ſieht alſo, die Salpeterſäure iſt ein ganz
anderes
Ding als Waſſer.
Nun aber wiſſen wir, daß in beiden, ſowohl im Waſſer
wie
in der Salpeterſäure Ein Stoff ganz derſelbe iſt, nämlich
der
Sauerſtoff.
Sie unterſcheiden ſich nur darin, daß in dem
einen
, im Waſſer, Waſſerſtoff, während in der Salpeterſäure
Stickſtoff
vorhanden iſt.
Wenn man nun ſieht, wie das Waſſer
ſo
milde und die Salpeterſäure ſo brennend und ätzend iſt, ſo
könnte
man auf den Gedanken kommen, daß dieſe Eigentümlich-
keiten
nur von den Eigenſchaften des Waſſerſtoffs und des
Stickſtoffs
herrühren müſſen.
Man ſollte meinen, der Waſſer-
ſtoff
mache das Waſſer ſo milde, ſo unſchuldig, während der
Stickſtoff
Schuld ſein muß, daß die Salpeterſäure ſo gefährlich
und
heftig wirkend iſt.
Das aber iſt ein großer Irrtum!
Wer ſich hiervon überzeugen will, der denke ſich nur ein-
mal
, was wohl entſtehen würde aus einer Verbindung von
Waſſerſtoff
und Stickſtoff.
Gewiß glaubt der Unkundige, daß
hieraus
ſo eine Art wäſſrige Salpeterſäure oder dergleichen
halb
unſchuldiges Ding entſteht;
aber er kaufe ſich nur zum
Spaß
für 5 Pf.
Ammoniak und rieche daran, und er wird
merken
, daß aus den zwei Stoffen, die er ſchon die Ehre hatte,
im
Waſſer und in der Salpeterſäure kennen zu lernen, etwas
ganz
anderes als dieſe Dinge geworden iſt.
Eine weitere Betrachtung wird uns aus dieſem leicht
faßlichen
Beiſpiel manchen intereſſanten Blick in die Geheim-
niſſe
der Stoffe und ihrer Verbindungen thun laſſen.
53216
VI. Wie ſonderbar oft die Reſultate chemiſcher
Verbindungen ſind.
Wenn man ſieht, wie man aus den drei genannten
chemiſchen
Urſtoffen, aus Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff
ſo
ganz beſondere drei Flüſſigkeiten machen kann, die mit ein-
ander
nicht die mindeſte Aehnlichkeit haben, dann kann man
ſo
recht bemerken, was es mit der chemiſchen Kraft für eine
ganz
eigene Bewandtnis hat, und daß hier ein Geheimnis
ganz
eigentümlicher Art dahinter ſtecken muß.
Sauerſtoff und Waſſerſtoff in chemiſcher Verbindung geben
Waſſer
.
Aber weder der Sauerſtoff allein, noch der Waſſer-
ſtoff
allein hat die mindeſte Ähnlichkeit mit dem Waſſer.
Beides
ſind
Luftarten, von denen die eine, der Sauerſtoff, von uns
mit
jedem Atemzuge eingeatmet wird;
die andere, der Waſſer-
ſtoff
, iſt eine Luftart, die, wenn ſie angezündet wird, mit
großer
Hitze brennt.
Hat man in einer Schweinsblaſe Sauer-
ſtoff
, in einer zweiten Waſſerſtoff und läßt man beide Gaſe
durch
feine Röhrchen ausſtrömen, ſo daß der Waſſerſtoff durch
den
Strom von Sauerſtoff ſtrömt, und zündet nun den Waſſer-
ſtoff
mit einem Streichhölzchen an, ſo erhält man eine Flamme
von
ganz enormer Hitze.
Man nennt dieſe Gasmiſchung Knall-
gas
und in der ſchwachen, wenig leuchtenden Flamme des
Knallgaſes
ſchmilzt nicht nur Glas, als ob es Wachs wäre,
ſondern
der härteſte Stahl brennt darin ſo lebhaft, daß die
Funken
nach allen Seiten herumſprühen.
Und doch iſt die
chemiſche
Verbindung dieſer beiden Luftarten nichts als Waſſer,
ganz
gewöhnliches Waſſer, das nicht brennt und die Ver-
brennung
nicht befördert, ſondern gerade gebraucht wird, um
Feuer
zu löſchen.
Sauerſtoff und Stickſtoff ſind beides Luftarten. Ja dieſe
Luftarten
ſind die Beſtandteile unſerer gewöhnlichen Luft,
53317 welcher wir leben und atmen. Alle Luft, welche die Erde
umgiebt
und alles erfüllt, was wir in und an uns haben,
beſteht
aus vier Teilen Stickſtoff und einem Teile Sauerſtoff.
Bekäme die Luft der Erde einmal irgend welchen Zuſtand,
der
eine chemiſche Verbindung der beiden Luftarten, aus denen
ſie
beſteht, zu Wege bringt, ſo würde ein Meer von Salpeter-
ſäure
die Erde überſchwemmen und alles Leben und Daſein
auf
derſelben vernichten.
Hier kann man ſo recht ſehen, welch
ein
Unterſchied es iſt, ob zwei Urſtoffe nur mit einander ver-
miſcht
ſind, wie es mit dem Sauerſtoff und Stickſtoff in der
Luft
der Fall iſt, oder ob ſie chemiſch verbunden ſind, wie es
in
der Salpeterſäure ſtattfindet.
Ohne Zweifel iſt es eine
eigene
, wunderbare Kraft, welche zwei ſo unſchädliche, ja für
das
Leben ſo wichtige Stoffe derart in der Salpeterſäure
verbindet
, daß ſie eine Flüſſigkeit bilden, die an ſich gar keine
Ähnlichkeit
mehr mit den Urſtoffen hat.
Nimmt man aber den einen Beſtandteil des Waſſers, den
Waſſerſtoff
, und den einen Beſtandteil der Salpeterſaure, den
Stickſtoff
, und bringt eine chemiſche Verbindung zwiſchen ihnen
zu
Wege, ſo bilden ſie Ammoniak, das eigentlich auch ein Gas
von
ſo durchdringendem, ſtechendem Geruch iſt, daß es voll-
kommen
unerträglich iſt und ſelbſt dort, wo es ſchon mit
Waſſer
bedeutend geſchwächt iſt, wie in dem Ammoniak, das
man
in der Apotheke kaufen kann, ſo die Geruchsnerven reizt,
daß
einem die Thränen eine ganze Weile aus den Augen fließen.
Wenn wir dem noch die Verſicherung hinzufügen, daß die
Eigenſchaften
des Ammoniaks gerade die entſchieden entgegen-
geſetzten
der Salpeterſäure ſind, ſo läßt ſich ſchon hieraus
erkennen
, daß es ganz was Eigenes iſt mit der chemiſchen Kraft.
Sie ſchafft in der Verbindung der Urſtoffe Dinge, die garnichts
mehr
mit den Urſtoffen gemein haben.
Will man nun einen Blick hinter das Geheimnis thun, ſo
muß
man nicht nur auf das achten, was wir bereits angeführt
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher V.
53418
haben, nämlich auf die größere und ſchwächere Neigung, die
zwiſchen
zwei Stoffen beſteht, um ſich zu einem neuen Ding
zu
verbinden, ſondern man hat auch auf die Umſtände Rückſicht
zu
nehmen, unter welchen die Verbindung möglich wird, denn
von
dieſen Umſtänden hängt oft hauptſächlich der Vorgang der
Verbindung
ab.
Indem wir nun im nächſten Abſchnitt von dieſer Neigung
zur
Verbindung ſprechen und einige der Umſtände anführen
werden
, die nötig ſind, um die chemiſche Anziehungskraft wirk-
ſam
zu machen, wollen wir hier nur noch einige auffallende
Thatſachen
anführen, um zu zeigen, wie die chemiſche Kraft
merkwürdige
Veränderungen der Stoffe hervorbringt.
Vom Stickſtoff wiſſen wir ſchon, daß er ein ganz un-
ſchädlicher
Stoff iſt;
vom Kohlenſtoff wiſſen wir ein Gleiches,
denn
Kohlenſtoff iſt eigentlich nichts als reine Kohle, und doch
giebt
eine Verbindung von Kohlenſtoff und Stickſtoff ein Gas,
das
den Namen Cyan hat und ſehr giftig wirkt.
Kommt aber
zu
dieſem noch Waſſerſtoff hinzu, das ſonſt ſo unſchädlich iſt, ſo
entſteht
daraus die Blauſäure, die das furchtbarſte Gift iſt, das
man
kennt, da es faſt augenblicklich tödlich wirkt.
Gelingt es
aber
, einem ſo Vergifteten ſchnell Ammoniak beizubringen, ſo
iſt
die Rettung noch möglich, obgleich Ammoniak auch nichts
als
Stickſtoff und Waſſerſtoff iſt, die ja Beſtandteile der Blau-
ſäure
ſind!
Die zerſtörende Kraft des Chlors beim Bleichen der Zeuge
mit
demſelben iſt wohl jedem bekannt.
Chlorgas eingeatmet,
wirkt
erſtickend.
Ferner iſt Natrium ein Metall, das giftig
wirkt
, wenn man ein Stückchen davon verſchluckt.
Und dieſe
beiden
gefährlichen Dinge, Chlor und Natrium, verbinden ſich
chemiſch
und bilden das Kochſalz, von dem wir täglich garnicht
wenig
verſchlucken und das für die Ernährung im höchſten
Grade
wohlthätig iſt! Die chemiſche Verbindung macht alſo
auch
ſchädliche Stoffe unſchädlich.
53519
VII. Die Umſtände, unter welchen chemiſche
Anziehungen ſtattfinden.
Da wir nun wiſſen, daß die Kraft der chemiſchen An-
ziehung
zwar in allen Stoffen vorhanden iſt, daß ſie aber nicht
in
jeden beliebigen zwei Stoffen gleich ſtark waltet, daß z.
B.
zwiſchen Kalium und Sauerſtoff eine ungeheuer ſtarke chemiſche
Anziehungskraft
thätig, daß ſie zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff
ſchon
ſchwächer iſt, daß ſie zwiſchen Silber und Sauerſtoff
noch
weniger vorwaltet, ſo läßt es ſich denken, daß man
eine
ganze Reihe aufführen kann, um zu zeigen, wie ſtark oder
wie
ſchwach die Anziehung iſt, die zwiſchen dem Sauerſtoff
und
allen übrigen Urſtoffen obwaltet.
Eine ſolche Reihe könnte man ſo aufführen, daß man mit
demjenigen
Urſtoffe anfinge, der am wenigſten Luſt hat, ſich
mit
Sauerſtoff zu verbinden, ſodann der Reihe nach diejenigen
Stoffe
folgen ließe, die immer mehr und mehr dieſe Luſt be-
zeigen
, bis man zu denjenigen Stoffen gelangte, deren Neigung
zum
Sauerſtoff ſehr groß iſt und zum Schluß endlich zum
Kalium
käme, das wie geſagt die allerſtärkſte Neigung zum
Sauerſtoff
hat.
Geſetzt, man wäre imſtande, eine ſolche Reihe mit Ge-
nauigkeit
aufzuſtellen, ſo beſäße man eine Tabelle für die
Stärke
der chemiſchen Verbindungen, welche der Sauerſtoff mit
allen
übrigen Stoffen eingeht, und es wird jeder einſehen, daß
ſolch
eine Tabelle ſehr intereſſant und lehrreich ſein müßte.
Allein es hat leider ſeine große Schwierigkeit, eine ſolche
Tabelle
genau herzuſtellen;
denn es hängt die chemiſche Ver-
bindung
eines Stoffes mit Sauerſtoff nicht nur von der in
beiden
wohnenden Anziehungskraft ab, ſondern auch noch von
den
Umſtänden, unter welchen die beiden Stoffe zu einander
gebracht
werden.
Ein Beiſpiel, das wir erwähnt haben,
wird
das, was wir meinen, deutlich machen.
53620
Wir haben ſchon die altbekannte Thatſache erwähnt, daß
Eiſen
leicht roſtet, das heißt, daß es ſich ſo ſehr leicht mit dem
Sauerſtoff
der Luft verbindet.
Nun aber wird ſchon jedermann
ſelber
die Erfahrung gemacht haben, daß das Roſten ſehr ſchnell
vor
ſich geht in feuchter Luft, z.
B. im Keller, während man
im
trockenen Zimmer wochenlang ein Meſſer liegen laſſen
kann
, ohne daß es roſtet.
Schon hieraus ſieht man, daß der
Umſtand
der Feuchtigkeit der Luft weſentlich dazu beiträgt, die
Anziehungskraft
zwiſchen Eiſen und Sauerſtoff zu befördern.
Nun wiſſen wir aber auch ſchon, daß man im Hochofen
durch
Glühen des Roſtes mit Kohle das reine Eiſen aus dem
Roſt
gewinnen kann, indem der Sauerſtoff des Roſtes das
Eiſen
verläßt und ſich zur Kohle begiebt, um mit ihr Kohlen-
ſäure
zu bilden.
Hieraus ſollte man nun ſchließen, daß der
Sauerſtoff
mehr Luſt hat, ſich mit der Kohle zu verbinden, als
mit
dem Eiſen;
das aber iſt durchaus nicht der Fall, denn es
kommt
eben auf die Umſtände an.
Ein Stück Kohle kann jahrelang in der Luft liegen, ohne
daß
es ſich mit dem Sauerſtoff der Luft verbindet, während
ein
Stück Eiſen die Verbindung ſchnell genug im Roſten ein-
geht
;
bringt man aber die Kohle an ein brennendes Licht, ſo
daß
ſie zu glühen beginnt, ſo fängt augenblicklich die Ver-
bindung
der Kohle mit dem Sauerſtoff der Luft an, und ſie
verwandelt
ſich in Kohlenſäure mit der größten Leichtigkeit von
der
Welt.
Die Kohle alſo hat Luſt ſich mit Sauerſtoff zu verbinden;
allein hierzu muß ſie einer großen Hitze ausgeſetzt ſein, ſie
muß
angebrannt werden;
es ſind alſo Umſtände nötig, um
die
Liebſchaft zwiſchen Kohle und Sauerſtoff zum Ausbruch zu
bringen
, was beim Eiſen nicht der Fall iſt.
Vielleicht könnte man hieraus ſchließen wollen, daß die
chemiſche
Anziehungskraft eine Art Liebſchaft ſei, die gerade
durch
die Hitze immer zunimmt;
das wäre aber wieder
53721 geſchoſſen, deun wir ſehen es ja, daß die Hitze im Hochofen
gerade
die Liebſchaft zwiſchen dem Eiſen und dem Sauerſtoff
aufhebt
, alſo ſchwächt und nicht verſtärkt!
Um zu ſehen, wie ſehr die chemiſche Anziehungskraft von
Umſtänden
herrührt, brauchen wir nur daran zu erinnern, daß
in
Pulverfabriken, wo man feingemahlenes Kohlenpulver lange
gehäuft
übereinander liegen ließ, dieſes Kohlenpulver ſich oft
ſchon
von ſelber in Brand geſetzt hat, und zwar rein durch
die
Anziehung des Sauerſtoffs, den jedes Kohlenſtäubchen in
ſich
aufſaugt, verdichtet und feſthält.
Bei dieſer Selbſtentzündung,
die
oft die größten Gefahren herbeigeführt hat, gerät der ganze
Haufen
Kohlenſtaub in Brand und verwandelt ſich ſamt dem
Sauerſtoff
der Luft in Kohlenſäure.
Schon dieſe eine Vergleichung zwiſchen Eiſen und Kohle
in
ihrem Verhältnis zum Sauerſtoff wird es beweiſen, daß
es
ſeine Schwierigkeit haben muß, zu ſagen, ob der eine oder
der
andere Stoff größere Neigung zum Sauerſtoff hat;
denn
außer
dieſer Neigung ſpielen die Umſtände, unter welchen
chemiſche
Verbindungen vor ſich gehen, die größte Rolle, und
dieſe
Umſtände ſind oft ſo verſchieden, daß man ſie garnicht
mit
einander vergleichen kann.
Gleichwohl hat ſich die Wiſſenſchaft nicht abſchrecken laſſen
von
der Schwierigkeit, welche die Umſtände bieten und hat
eine
ſolche Tabelle der Neigungen herausſtudiert und heraus-
probiert
;
denn dieſe Tabelle iſt, wie wir zeigen werden, von
der
allergrößten Wichtigkeit, wenn man hinter die Geheimniſſe
der
Natur kommen will.
Wenn man die einzelnen Umſtände, unter welchen chemiſche
Verbindungen
vor ſich gehen, genauer erwägt, ſo ergiebt ſich
aus
ihnen eine Art Überſicht über den Zuſtand, in welchem
zwei
chemiſche Stoffe ſich befinden müſſen, um die in ihnen
ſchlummernde
Neigung zu äußern, und deshalb wollen wir
einige
Fälle des Beiſpiels halber hier aufführen;
denn
53822 werden ſpäter ſehen, daß dieſe Fälle die Möglichkeit gewähren,
einen
Blick in die Geheimniſſe der Natur zu werfen.
Wir wiſſen ſchon, daß Eiſen in feuchter Luft ſchneller
roſtet
als in trockener, das heißt:
die Verbindung zwiſchen dem
Sauerſtoff
der Luft und dem Eiſen wird durch die Feuchtigkeit
der
Luft befördert.
Es wirkt alſo nicht die Anziehung der
Stoffe
allein, ſondern auch der Zuſtand, in welchem die Stoffe
ſich
befinden, auf die Verbindung derſelben.
Wir wiſſen ferner, daß Kohle zwar Luftarten in ſich ein-
ſaugt
, ohne immer eine chemiſche Verbindung mit der Luftart
einzugehen
;
dahingegen braucht man Kohle nur anzuzünden,
das
heißt zu erhitzen, und ſofort geht ſie eine ſchnelle Ver-
bindung
mit dem Sauerſtoff der Luft ein und verwandelt ſich
mit
dieſer in Kohlenſäure.
Alſo hier ſehen wir, daß die
Feuchtigkeit
der Luft keine Rolle ſpielt, ſondern umgekehrt die
Hitze
iſt die Kupplerin, welche die ſchnelle Ehe zwiſchen Kohle
und
Sauerſtoff zu Wege bringt.
In vielen Fällen muß man, um eine chemiſche Verbindung
zuſtande
zu bringen, mindeſtens einen der Stoffe als Flüſſigkeit
anwenden
.
In manchen Fällen iſt es nötig, die Wärme zu
ſteigern
, um eine chemiſche Verbindung herbeizuführen;
in
manchen
Fällen dagegen trennen ſich zwei Stoffe aus ihrer
chemiſchen
Verbindung, wenn man ſie erwärmt.
Sehr wunderbar iſt die Einwirkung des Sonnenlichtes
auf
einzelne chemiſche Verbindungen, namentlich auf ſolche, in
welchen
Chlor oder Jod eine Rolle ſpielt.
Das Chlor hat
die
Eigenſchaft, alle Farben zu zerſtören, weshalb man es zum
Bleichen
der Zeuge anwendet, wozu man ſich ſonſt des Sonnen-
lichtes
bediente.
Schon dieſer Umſtand deutete darauf hin,
daß
das Sonnenlicht die Stoffe chemiſch verändert, indem
es
ähnlich wie ein chemiſcher Stoff, das Chlor, wirkt.
Wenn
man
nun durch die Forſchungen der neueren Zeit ziemlich ſicher
weiß
, daß das Sonnenlicht nicht eine Art Stoff, der von
53923 Sonne durch den ganzen Weltraum ausſtrömt, ſondern nur
eine
Erſcheinung iſt, von der die Sonne die Urſache iſt, ſo
kann
man ſich die Einwirkung des Sonnenlichtes auf chemiſche
Stoffe
nur dadurch erklären, daß man annimmt, es verſetze
das
Sonnenlicht die Stoffe in einen eigentümlichen Zuſtand,
welcher
auf die chemiſche Verbindung von Einfluß iſt.
Vor
verhältnißmäßig
kurzer Zeit noch wußte man von dieſer Ein-
wirkung
des Lichtes auf den chemiſchen Zuſtand gewiſſer Stoffe
ſehr
wenig;
nur das Bleichen der Wäſche im Sonnenlicht, die
Raſenbleiche
, war eine bekannte Thatſache;
gegenwärtig jedoch,
wo
man allenthalben, faſt in jeder Hütte ſchon Photographien
findet
, jetzt hat man Gelegenheit zu ſehen, welche wunderbare
Wirkungen
das Sonnenlicht auf chemiſche Stoffe hervorzubringen
vermag
, denn die ganze Kunſt, Lichtbilder anzufertigen, iſt
eine
rein chemiſche Operation.
Am intereſſanteſten iſt noch ein Umſtand, der uns gleich-
falls
lehrt, wie eigentümlich oft der Zuſtand der Stoffe ſein
muß
, wenn man ſie zu einer chemiſchen Verbindung bringen
will
.
Es giebt Stoffe, die man nur dann zu einer chemiſchen
Verbindung
bewegen kann, wenn man ſich gewiſſermaßen auf
die
Lauer legt und den Augenblick abwartet, wo ſie eben erſt
aus
einer chemiſchen Verbindung frei gelaſſen worden ſind.
Bietet man ihnen in dieſem Augenblick Gelegenheit eine neue
Verbindung
einzugehen, ſo geſchieht es ſchnell und leicht;
läßt
man
ihnen aber Zeit, ſo hört die Luſt, eine chemiſche Ver-
bindung
einzugehen, auf.
Einige Beiſpiele derart bietet ſowohl die Entſtehung der
Salpeterſäure
, wie die des Ammoniak und auch in vielen
Fällen
die Entſtehung des Waſſers.
Wie wir wiſſen, beſteht die Salpeterſäure aus Sauerſtoff
und
Stickſtoff.
Der Sauerſtoff iſt ſeiner Natur nach ſehr ver-
bindungsluſtig
;
allein der Stickſtoff iſt außerordentlich
54024 in dieſer Beziehung, und das iſt ein Glück, ſonſt würde ſich
oft
in der Luft, die ja aus Sauerſtoff und Stickſtoff beſteht,
Salpeterſäure
bilden.
Braucht man aber Salpeterſäure, und
das
iſt eben ſehr vielfach in jetziger Zeit der Fall, ſo muß
man
den Moment abwarten, wo in irgend einem chemiſchen
Vorgang
gerade der Stickſtoff aus einer früheren chemiſchen
Verbindung
verdrängt wird, und führt man ihm in dieſem
Augenblick
den Sauerſtoff zu, ſo geſchieht die chemiſche Ver-
bindung
des Sauerſtoffs und Stickſtoffs ohne alle Schwierigkeit.
Dieſes Ablauern des Stoffes, um ihn ſofort wieder ein-
fangen
zu können, geſchieht bei der Bereitung des Ammoniak
in
noch höherem Grade.
Das Ammoniak, das aus Waſſerſtoff
und
Stickſtoff beſteht, bildet ſich nur dann, wenn man einerſeits
Waſſerſtoff
und andererſeits Stickſtoff aus ihren alten Ver-
bindungen
treibt und die eben erſt freiwerdenden Stoffe ohne
Zeitverluſt
zu einander führt.
Man muß hier beiden Stoffen
auflauern
, um den Moment nicht zu verpaſſen.
Auch Waſſer, daß aus Waſſerſtoff und Sauerſtoff beſteht,
bildet
ſich nicht, wenn man beide Gaſe zu einander bringt;
dahingegen entſteht es bei unzähligen chemiſchen Operationen,
wenn
beide Gaſe im Entſtehungsmoment, wo ſie eben ander-
weitige
Verbindungen verlaſſen haben, aneinander geraten.
VIII. Eine Reihenfolge der chemiſchen Neigungen.
Nachdem wir einige Umſtände kennen gelernt haben, die
einen
großen Einfluß auf die chemiſche Verbindung ausüben.
wird es jedem klar werden, daß es eine große Schwierigkeit
hat
, genau zu beſtimmen, ob der eine oder der andere Stoff
@ich
leichter mit einem dritten verbindet, und welche zwei dieſer
Stoffe
alſo eine größere Anziehungskraft auf einander ausüben.
Nehmen wir wieder einmal den Sauerſtoff als den
54125 Stoff an, weil er mit allen anderen Stoffen am leichteſten
Verbindungen
eingeht und weil er in der Natur eine ſo große
chemiſche
Rolle ſpielt, ſo weiß man es jetzt, daß er nur ſehr
geringe
Neigung hat, ſich mit Chlor zu verbinden.
Eine ſtärkere
Neigung
beſitzt der Sauerſtoff ſchon zu Schwefel, mit dem er
die
bekannte Schwefelſäure bildet.
Noch leichter verbindet er
ſich
mit Phosphor zu Phosphorſäure und wiederum unter
Umſtänden
noch leichter mit Stickſtoff zu Salpeterſäure.
Noch
leichter
iſt ſeine Verbindung mit Kohlenſtoff, um Kohlenſäure
zu
bilden.
Die Neigung des Sauerſtoffs zum Waſſerſtoff iſt
wiederum
ſtärker als die der bisher genannten Stoffe.
Die
Neigung
wächſt nun immer mehr, je mehr wir uns den Metallen
nähern
.
Zum Kupfer hat er noch ſtärkere Neigung als zum
Waſſerſtoff
, zum Zink iſt die Neigung wiederum bedeutender,
zum
Eiſen iſt ſie ſchon ſehr ſtark, zum Natrium iſt ſie außer-
ordentlich
ſtark, und am allerſtärkſten iſt die Neigung zwiſchen
Sauerſtoff
und Kalium.
Wir ſind demnach ſchon imſtande, eine Reihe aufzuführen,
in
welcher jeder folgende Stoff eine immer bedeutendere Neigung
hat
, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden, und dieſe Reihe von den
genannten
Stoffen würde demnach folgendermaßen lauten:
Chlor, Schwefel, Phosphor, Stickſtoff, Kohlenſtoff, Waſſer-
ſtoff
, Kupfer, Zink, Eiſen, Natrium, Kalium.
Wir haben freilich nur einige der bekannteſten chemiſchen
Urſtoffe
hier aufgeführt, während wir viele weniger bekannte
mit
Stillſchweigen übergangen haben;
allein auch bei dieſen
bekannten
Stoffen dürfen wir nicht vergeſſen, daß die Umſtände,
unter
welchen ſie Verbindungen mit dem Sauerſtoff eingehen,
ſehr
verſchieden ſind, und daß demnach die Sicherheit der ge-
nannten
Reihe noch nicht ganz feſtſteht.
Aber in dieſer Reihe von Stoffen, die wir hier aufgeführt
haben
, zeigt ſich etwas höchſt Merkwürdiges, das einen Ein-
blick
in das Weſen der Naturgeheimniſſe der Chemie geſtattet.
54226
Die Reihe ſollte ja eigentlich nur für Verbindungen jedes
dieſer
Stoffe mit Sauerſtoff gelten, ſie gilt aber auch für faſt
jeden
andern dieſer Stoffe.
Nehmen wir beiſpielsweiſe den
erſten
dieſer genannten Stoffe, das Chlor, ſo finden wir, daß
auch
dies ſich am liebſten mit Kalium verbindet, welches der
letzte
Stoff der Reihe iſt.
Zunächſt leicht verbindet ſich Chlor
mit
Natrium, in welcher Verbindung es unſer gewöhnliches
Kochſalz
bildet.
Gehen wir in dieſer Reihe weiter rückwärts,
ſo
kommen wir erſt auf Eiſen, dann auf Kupfer, Waſſerſtoff
und
Kohlenſtoff.
Mit all dieſen Stoffen verbindet ſich Chlor;
aber wenn ihm die Wahl gelaſſen wird, verbindet es ſich
immer
lieber mit einem Stoff, der in der genannten Reihe
weiter
von ihm abſteht als mit einem, der ihm nahe ſteht.

Alſo
Chlor verbindet ſich lieber mit Eiſen als mit Zink, lieber
mit
Zink als mit Kupfer, lieber mit Kupfer als mit Waſſer-
ſtoff
a.
, ſo daß es ſich mit Kohlenſtoff ſchon ſehr ſchwer ver-
bindet
und zu dieſer Verbindung ſchon das Einwirken des
Sonnenlichtes
zu Hilfe gerufen werden muß, weil ſie ohne
deſſen
Einwirkung nicht zuſtande kommt.
Mit dem neben
dem
Chlor ſtehenden Schwefel, Phosphor und Stickſtoff kann
man
nur ſehr ſchwer eine Verbindung des Chlors zu Wege
bringen
, ſo daß wir hier ſehen, wie dieſe Reihe nicht nur für
den
Sauerſtoff, für welchen ſie ja urſprünglich aufgeſtellt
worden
iſt, Bedeutung hat, ſondern auch für Chlor.
Das Merkwürdige aber geht noch weiter. Auch der
zweite
Stoff in der genannten Reihe, der Schwefel ver-
bindet
ſich äußerſt ſchwierig mit dem ihm nebenſtehenden
Phosphor
, ebenſo mit dem darauf folgenden Stickſtoff und
Kohlenſtoff
;
leichter aber mit dem Waſſerſtoff, wo er das be-
kannte
übelriechende Schwefelwaſſerſtoffgas bildet, das man
in
faulen Eiern riecht.
Mit den folgenden Stoffen aber, die
noch
entfernter in der Reihe von ihm abſtehen, verbindet er
ſich
nun immer leichter und inniger, je weiter man in
54327 Reihe kommt, ſo daß die Neigung zur Verbindung der Reihe
nach
zunimmt, bis endlich wieder Schwefel-Kalium die beſtän-
digſte
Verbindung iſt, die man mit Schwefel hervorrufen kann.
Ähnlich verhält es ſich mit dem dritten Stoff der ange-
führten
Reihe, dem Phosphor.
Er verbindet ſich nur äußerſt
ſchwer
mit Stoffen, die in der Reihe neben ihm ſtehen, wohl
aber
ſtärker und immer ſtärker mit Stoffen, die ihm der Reihe
nach
entfernt und entfernter aufgeführt ſind.
Da die Reihe von uns nur ſehr lückenhaft aufgeführt
worden
iſt, ſo können wir auch hier die weiteren Merkwürdig-
keiten
derſelben nicht näher ausführen.
Wir hoffen aber, daß
unſere
Leſer uns Glauben ſchenken, wenn wir verſichern, daß
eine
weiter ausgeführte Reihe noch viel mehr Merkwürdigkeiten
derart
zeigt, und eine Bedeutung für die Verbindungen aller
Stoffe
mit einander hat, obgleich wir ja wiſſen, daß wir die
Reihe
nur anfangs anlegten, um zu ſehen, wie es um die
Verbindung
der einzelnen Stoffe mit dem Sauerſtoff ſteht.
Dieſe merkwürdige Eigentümlichkeit kann unmöglich zu-
fällig
ſein, und ſie iſt es auch nicht, ſondern man hat Grund
zu
vermuten, daß ein allgemeines Naturgeſetz hier geheim
waltet
, das mit dem Geheimnis der chemiſchen Verbindungs-
kraft
in genauem Zuſammenhang ſteht.
Wir werden ſehen, daß man dieſem Geheimnis ſchon mit
Glück
nachgeſpürt hat!
IX. Wie die grötzte chemiſche Neigung gerade
zwiſchen ſich unähnlichen Stoffen beſteht.
Wenn wir uns die Reihe der chemiſchen Urſtoffe ver-
gegenwärtigen
, die wir im vorigen Kapitel angeführt haben,
ſo
ergiebt ſchon der flüchtige Blick, daß immer die neben-
einander
ſtehenden Stoffe eine gewiſſe Ähnlichkeit mit
54428 haben, während die am weiteſten auseinander ſtehenden ſich
am
unähnlichſten ſind.
Teilen wir uns nun die Reihe etwa ſo, daß wir den Waſſer-
ſtoff
als die Mitte derſelben betrachten, ſo ſehen wir auf der
einen
Seite lauter Metalle, auf der andern Seite faſt lauter
Stoffe
, die am wenigſten Ähnlichkeit mit Metallen haben, wie
z
.
B. Sauerſtoff, Chlor, Schwefel, Phosphor u. ſ. w. Da
aber
gerade die Stoffe der einen Seite am leichteſten und
ſchnellſten
chemiſche Verbindungen eingehen mit Stoffen der
andern
Seite, ſo ergiebt ſchon der flüchtige Blick, daß die
chemiſche
Verbindung etwas ganz Eigentümliches hat;
denn
es
geht daraus hervor, daß nicht etwa die ähnlichen Stoffe
auf
einander eine Anziehung ausüben, um ſich chemiſch zu ver-
binden
, ſondern im Gegenteil, es verbinden ſich diejenigen
Stoffe
am leichteſten, die ſich am unähnlichſten ſind.
Eine der ſtärkſten und heftigſten chemiſchen Verbindungen
findet
zwiſchen Sauerſtoff und Kalium ſtatt.
Dieſe beiden
Stoffe
haben weder in ihrer äußeren Erſcheinung, noch in ihren
übrigen
Eigenſchaften die mindeſte Ähnlichkeit.
Sauerſtoff iſt
eine
Luftart, und das reine Kalium iſt ein dem Silber ähn-
liches
Metall, und gerade, weil ſie ſich ſo unähnlich ſind, ver-
binden
ſie ſich ſo leicht und ſchnell mit einander, daß man das
Kalium
nicht eine Minute an der Luft liegen laſſen darf, ohne
daß
es mit großer Begierde den Sauerſtoff aus der Luft an-
zieht
und ſich in eine Verbindung mit dieſem verwandelt.
Zink hat nicht die mindeſte Ähnlichkeit mit Sauerſtoff, und
doch
weiß jeder, daß es ſich in der Luft ſehr ſchnell mit einer
weißgrauen
Schicht überzieht, die eben nichts iſt als eine Art
Roſt
, welcher aus einer Verbindung des Zinks mit dem Sauer-
ſtoff
der Luft entſteht;
wie dasſelbe langſamer bei dem Eiſen
der
Fall iſt, iſt gleichfalls bekannt, während z.
B. Schwefel
oder
Kohle nicht ohne weiteres aus der Luft den Sauerſtoff
anziehen
.
54529
Hieraus ſchon wird man auf den Schluß geführt, daß in
der
Chemie wohl eine eigentümliche Kraft thätig iſt, welche
gerade
den am wenigſten ſich ähnlichen Stoffen eine Anziehungs-
kraft
und Verbindungsluſt verleiht, um ſich mit einander zu
begatten
und einen neuen, verbundenen Stoff zu bilden.
Und
wirklich
iſt dieſer Schluß ganz richtig, denn eine genauere und
tiefer
eindringende Forſchung beſtätigt dieſen Schluß voll-
kommen
und es ſteht als eine Grundregel der chemiſchen An-
ziehung
feſt, daß ſie gerade zwiſchen ſolchen Stoffen am
leichteſten
vor ſich geht, die ihrer Natur nach ganz entgegen-
geſetzt
ſind.
Wer ſich auch nur ein wenig Einblick in die Chemie ver-
ſchaffen
kann, der erſtaunt über die Erſcheinung, daß die Natur
gerade
in das Unähnlichſte die ſtärkſte Neigung gelegt hat,
ſich
zu verbinden.
Ähnlich wie der Nordpol des einen Magneten
gerade
den Südpol des andern Magneten, alſo den ungleich-
artigen
Magnetismus aufſucht und anzieht, ſo zieht in der
Chemie
jeder Stoff den ungleichartigſten anderen Stoff an,
während
er den gleichartigen Stoff unbeachtet läßt.
Ganz ſo
wie
in der Elektrizität die poſitive und die negative Elektrizität
ſich
anziehen, eben weil ſie ganz entgegengeſetzter Natur ſind,
ebenſo
geſchieht es in der Chemie, wo die ihrer Natur nach
entgegengeſetzten
Stoffe die ſtärkſte Neigung zur Verbindung
beſitzen
.
Schon dies führt auf den Gedanken, daß wohl ein und
dieſelbe
Urſache all dieſen Kräften der Natur zu Grunde liegen
müſſe
.
Unmöglich kann es zufällig ſein, daß allenthalben, wo
eine
Kraft in der Natur wirkſam iſt, eine Gegenkraft zugleich
in
Thätigkeit tritt, die mit ihr zuſammen den Grund der Er-
ſcheinung
ausmacht.
In den feſten Körpern herrſcht eine An-
ziehungskraft
zwiſchen einem Atom und dem andern, die ſie
zuſammenpreßt
und zugleich iſt eine Abſtoßungskraft thätig,
die
ſie doch wiederum von einander fernhält.
In dem
54630 Weltraum beſitzen ſämtliche Himmelskörper eine Fliehkraft, die
ſie
in die Unendlichkeit der Fernen treiben würde, und dieſer
Fliehkraft
entgegen wirkt eine Anziehungskraft, die, wenn ſie
allein
herrſchte, alle Himmelskörper in einem einzigen Punkt
vereinigen
müßte.
Und gerade dieſe zwei Kräfte, die ent-
gegengeſetzte
Reſultate in ihren Wirkungen haben würden,
bringen
den Lauf der Himmelskörper hervor.
Im Magnetismus und in der Elektrizität iſt die Trennung
der
Kräfte in zwei verſchiedene Arten noch deutlicher aus-
geſprochen
.
Nordpol und Südpol, poſitive und negative Elek-
trizität
treten hier auf, und es zeigt ſich die auffallende Erſchei-
nung
, daß die entgegengeſetzten Arten, die ſcheinbar einander
feindlich
ſein ſollten, ſich gegenſeitig ſuchen, ſich einander an-
ziehen
.
Finden wir nun in der Chemie ein ähnliches Verhältnis,
zeigt
ſich auch hier, daß die entgegengeſetzten Dinge die größere
Neigung
zu einander haben, ſo drängt ſich unwillkürlich der
Schluß
auf, daß all die Kräfte, die in ſo verſchiedener Weiſe
zur
Erſcheinung kommen, von einer uns noch unbekannten,
großen
, gemeinſamen Naturkraft, die das All durchdringt, her-
ſtammen
müſſen, und daß ſie alle wohl nur verſchiedene Er-
ſcheinungen
der gemeinſamen, einen Kraft ſein mögen.
X. Von der Natur der chemiſchen Verbindungen.
Wir haben es ſchon oft erwähnt, daß man bisher einige
ſiebzig
Urſtoffe kennt, und daß ſich je zwei und zwei dieſer
Stoffe
chemiſch verbinden können.
Wenn dies der Fall iſt, ſo
nennt
man die Verbindung eine einfache.
Natrium und Chlor
ſind
zwei chemiſche Urſtoffe;
wenn ſie ſich verbinden, bilden
ſie
Kochſalz, und weil das Kochſalz eben nur aus zwei Stoffen
beſteht
, nennt man es eine einfache Verbindung.
Es läßt ſich
denken
, daß es außerordentlich viele einfache
54731 geben kann. Es verbindet ſich auch Chlor mit den übrigen
Stoffen
, und ebenſo Jod, Brom, Schwefel, Phosphor a.
mit
den
übrigen Urſtoffen, ſo daß deren Zahl außerordentlich groß iſt.
Nennen wir nun Verbindungen dieſer Art, wo nur zwei
Urſtoffe
zu einander getreten ſind, Verbindungen erſter Ordnung,
ſo
zeigt es ſich, daß auch aus dieſen Verbindungen hervor-
gegangene
Dinge meiſthin eine beſondere Neigung haben, ſich
wieder
mit einander zu verbinden.
Wir haben ſchon erwähnt, daß das Eiſen ſich mit Sauer-
ſtoff
verbindet, alſo ebenfalls eine Verbindung erſter Ordnung
bildet
.
Bringt man nun zu dieſem etwas Schwefelſäure, ſo
verbinden
ſich dieſe beiden Dinge zu einem neuen Dinge, das
aus
Schwefelſäure und Eiſen-Sauerſtoff beſteht, und wie grünes
Salz
ausſieht, das gewiß vielen unter dem Namen Eiſenvitriol
bekannt
iſt.
Solch eine Verbindung iſt eine Verbindung zweiter
Ordnung
.
Alle dieſe Verbindungen aber ſtehen unter ganz genauen
Geſetzen
.
Man bringe nur einem Chemiker irgend einen chemiſchen
Körper
, ſei es Körper erſter oder zweiter Ordnung, und
es
wird ihm gelingen, nicht nur zu ſagen, was für einfache
Urſtoffe
darin ſtecken, ſondern er wird mit der ſchärfſten Ge-
nauigkeit
zugleich angeben können, wie viele Gewichtsteile von
jedem
einzelnen Urſtoff darin enthalten ſind.
Denn nichts in
der
Welt iſt ſo pünktlich wie die Natur, und hat man auch
nur
einmal ihre Geſetze belauſcht, ſo hat man für alle Zeiten
den
ewig ſichern Faden, um ihr Verfahren zu erkennen.
Dies
aber
iſt in der Chemie bereits geſchehen und die Geſetze, nach
welchen
die Natur ihre chemiſchen Kunſtſtücke betreibt, ſind
jedem
Chemiker geläufig und bekannt.
Das erſte dieſer Geſetze lautet folgendermaßen:
Wenn ſich zwei Urſtoffe mit einander chemiſch verbinden,
ſo
geſchieht dies nur nach genauen Gewichten!
54832
Wir wiſſen es ſchon, daß Waſſer aus Sauerſtoff und
Waſſerſtoff
beſteht;
aber man bilde ſich nicht ein, daß es ein
Waſſer
geben kann, worin etwas mehr Sauerſtoff iſt als in
irgend
einem andern, ſondern es ſteht unerſchütterlich feſt, daß
in
jeder Art von Waſſer, mag man es hernehmen aus dem
Meer
oder aus einer Quelle oder aus Eis oder aus Schnee
bereiten
oder in Thau oder Regen anſammeln, immer und zu
aller
Zeit in einem Kilo Waſſer ſtets genau ſo und ſoviel Gramm
Sauerſtoff
und ſo und ſo viel Gramm Waſſerſtoff vorhanden
ſein
werden.
Kein Chemiker in der Welt und auch die Natur
vermag
ein Waſſer herzuſtellen, worin ein Atom Sauerſtoff
oder
Waſſerſtoff mehr iſt, als in allen Waſſern der Welt.
Das heißt aber nichts anderes, als daß in jedem Kilo Waſſer
ſtets
das Gewicht des Sauerſtoffs und des Waſſerſtoffs genau
und
unumſtößlich feſt gegeben iſt.
Hundert Gramm Sauerſtoff verbinden ſich ganz genau mit
zwölf
und einem halben Gramm Waſſerſtoff zu 112 {1/2} Gramm
Waſſer
;
will man 100 Kilo Sauerſtoff zur Bildung von Waſſer
verwenden
, ſo muß man 12 {1/2} Kilo Waſſerſtoff dazu bringen,
und
es darf auch nicht das kleinſte Teilchen daran fehlen.
Nimmt man mehr Sauerſtoff oder mehr Waſſerſtoff, ſo bleibt
er
übrig und verbindet ſich nicht, das heißt, er läßt ſich auf
keinen
chemiſchen Prozeß weiter ein.
Und wie dies mit dem Waſſer iſt, ſo iſt es mit allen
Dingen
, die aus zwei Urſtoffen beſtehen.
Die Schwefelſäure
z
.
B. beſteht immer aus 100 Gewichtsteilen Schwefel und
150
Gewichtsteilen Sauerſtoff, man mag die Schwefelſäure
fabrizieren
, wie und wo man will.
Unſer gewöhnlicher ge-
brannter
Kalk beſteht aus einem Metall, das den Namen
Calcium
hat, und aus einer Portion Sauerſtoff, und zwar ſind
immer
im Kalk 250 Gewichtsteile Calcium und 100 Gewichts-
teile
Sauerſtoff, gleichviel ob man den Kalk aus Marmor
oder
aus Kalkſtein, aus Kreide oder Knochen oder
54933 brennen will. Es geht ein für allemal nicht anders, es werden
immer
in 350 Gramm Kalk 250 Gramm Calcium und 100
Gramm
Sauerſtoff enthalten ſein.
Woher aber mag das rühren? Warum vermag man nicht
ein
chemiſches Ding herzuſtellen, worin man etwas mehr von
dem
einen Stoff hineinthut als die Chemie vorſchreibt?
Offenbar rührt dies von der chemiſchen Anziehungskraft
her
, die zwiſchen je zwei Stoffen herrſcht.
Dieſe iſt gewiſſer-
maßen
wie der Appetit, aber ein ſo geregelter und genau zu-
gemeſſener
Appetit, daß er nur eine beſtimmte, genau gewogene
Portion
aufuimmt und nicht ein Krümelchen mehr oder weniger.
XI. Die Gewichts-Verhältniſſe der chemiſchen
Verbindungen.
Der Grund, weshalb ein gewiſſes Gewicht eines Urſtoffes
nur
ein ganz genau beſtimmtes Gewicht eines andern Stoffes
anzuziehen
vermag und ſich nicht ein bißchen abdingen oder
ein
bißchen mehr aufdringen läßt, iſt ein tiefer und ſehr be-
deutſamer
.
Gerade die Erſcheinung dieſes Grundes hat die
geiſtesſchärfſten
Denker dahin geführt, anzunehmen, daß alles,
was
wir in der Welt ſehen, alles, was wir in, um und an
uns
haben, zuſammengeſetzt iſt aus einzelnen kleinen Ato@en,
die
ſo klein ſind, daß wir ein einzelnes davon nicht ſehen
können
, ſelbſt mit den ſchärfſten Vergrößerungsgläſern nicht,
und
daß aus der Zuſammenſtellung dieſer Atome ſämtliche
Dinge
der Welt erſt entſtanden ſind.
Wir werden über dieſe wichtige Lehre noch weiterhin ein
Näheres
ſprechen;
für jetzt haben wir ein höchſt merkwürdiges
chemiſches
Geſetz unſern Leſern vorzuführen, deſſen Erforſchung
ebenfalls
für die Wiſſenſchaft von der höchſten Bedeutung ge-
worden
iſt.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher V.
55034
Wir wiſſen, daß jeder chemiſche Urſtoff einen gewiſſen
Appetit
hat, ſich mit einem andern chemiſchen Urſtoffe zu ver-
binden
, daß aber der Appetit des Stoffes durchaus mit einer
ganz
genau beſtimmten Portion des zweiten Stoffes geſättigt
werden
muß, von der er ſich nichts abhandeln und zu der er
ſich
nichts zulegen läßt.
Es findet nun aber ein ganz wunder-
bares
Verhältnis in dieſem Appetit ſowohl wie in den Portionen
ſtatt
.
Um dies einleuchtend zu machen, müſſen wir einmal
dieſen
Appetit und die Portionen bei einigen Stoffen etwas
näher
kennen lernen.
Wir wollen nun wieder mit dem Sauerſtoff anfangen und
uns
denken, wir haben 100 Gramm Sauerſtoff vor uns und
dazu
eine ganze Maſſe von einzelnen Urſtoffen, die wir beliebig
mit
dieſer Portion Sauerſtoff chemiſch verbinden können.
Es
fragt
ſich nun z.
B. , wie viel Waſſerſtoff werden die 100 Gramm
Sauerſtoff
aufnehmen?
Die Antwort hierauf lehrt die Erfahrung,
und
die genaueſte Prüfung ergiebt, daß genau 12 {1/2} Gramm
Waſſerſtoff
den Appetit von 100 Gramm Sauerſtoff ſtillen, ſo
daß
nun aus beiden Stoffen 112 {1/2} Gramm Waſſer entſtehen.
Da wir nun wiſſen, wie groß der Appetit von 100 Gramm
Sauerſtoff
iſt, wenn wir ihn mit Waſſerſtoff ſpeiſen, ſo wollen
wir
einmal ſehen, ob ſein Appetit zum Chlor größer oder kleiner
iſt
.
Macht man nun den Verſuch und bringt die einfachſte
Verbindung
von Sauerſtoff und Chlor zu Wege, woraus eine
Art
chlorſaures Gas entſteht, ſo findet man, daß er von Chlor
eine
ganz gewaltige Portion zu ſich nehmen kann, denn die
100
Gramm Sauerſtoff nehmen 440 Gramm Chlor auf.
Da nun dieſelben 100 Gramm Sauerſtoff ſchon ſatt wurden
durch
12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff, dagegen 440 Gramm Chlor
brauchen
, um geſättigt zu werden, ſo muß man ſchon annehmen,
daß
12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff gerade ſoviel Sättigungsver-
mögen
beſitzen wie 440 Gramm Chlor.
Verſucht man es, Waſſerſtoff mit Chlor in
55135 Verbindung zu bringen, ſo zeigt es ſich, daß gerade die 12 {1/2}
Gramm
Waſſerſtoff, die wir ſchon kennen, netto die 440 Gramm
Chlor
aufnehmen, um die Verbindung einzugehen, welche als
Salzſäure
allgemein bekannt iſt.
Alſo die 12 {1/2} Gramm
Waſſerſtoff
ſind nicht nur für den Appetit des Sauerſtoffs ſo
gut
wie 440 Gramm Chlor, ſondern die 12 {1/2} Gramm Waſſer-
ſtoff
haben auch eben ſolch großen Appetit wie die 100 Gramm
Sauerſtoff
, denn ſie verſtehen gleich dieſen das Kunſtſtück, ſich
nur
durch 440 Gramm Chlor ſättigen zu laſſen.
Wir haben geſehen, daß 100 Gramm Sauerſtoff ſchon
ſatt
werden durch 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff, während ſie 440
Gramm
Chlor zur Sättigung brauchen;
jetzt aber ſehen wir,
daß
die beſcheidene Portion von 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff auch
einen
ſehr geſegneten Appetit hat nach Chlor und ebenfalls
erſt
ſatt wird, wenn ſie 440 Gramm davon verzehrt hat.
Wir finden alſo, daß der Appetit von 12 {1/2} Gramm Waſſer-
ſtoff
genau ſo groß iſt wie der von 100 Gramm Sauerſtoff
und
kommen nun endlich dahinter, daß gerade darum 12 {1/2}
Gramm
Waſſerſtoff mit 100 Gramm Sauerſtoff ſich verbinden,
weil
ihr chemiſcher Appetit gleich groß iſt.
Das, was wir hier halb ſcherzweiſe als chemiſchen Appetit
bezeichnet
haben, iſt aber nichts anderes als die chemiſche
Anziehungskraft
, und wir kommen ſo hinter das Folgende:
Da 100 Gramm Sauerſtoff ſich nur mit 12 {1/2} Gramm
Waſſerſtoff
verbinden, ſo müſſen wir ſchließen, daß die chemiſche
Anziehungskraft
der 100 Gramm Sauerſtoff gerade ſo groß
iſt
, wie die der 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff.
Das Eigentümliche und Wunderbare, das wir hier von
den
drei Stoffen:
Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Chlor angeführt
haben
, findet aber bei allen übrigen ſiebenzig Stoffen ſtatt,
und
hieraus ergiebt ſich ein ſo wichtiges Naturgeſetz der
chemiſchen
Verbindungen, daß man wohl ſagen darf, daß
deſſen
Erkenntnis erſt die Chemie zu begründen vermochte.
55236
XII. Wie die chemiſchen Stoffe ſtets nur
in beſtimmten Gewichtsteilen ihre Verbindungen
eingehen.
Da es, wie wir geſehen haben, ein ſo eigentümliches Ding
iſt
mit der Anziehungskraft der chemiſchen Urſtoffe, ſo wollen
wir
einmal eine Reihe derſelben hier aufſuchen und durch
Zahlen
genauer angeben, wie viel von jedem Urſtoff man
nehmen
muß, um deſſen Anziehungskraft gleich zu machen mit
dem
von 100 Gramm Sauerſtoff.
Will man Kohlenſtoff nehmen, ſo ergiebt der Verſuch,
daß
75 Gramm desſelben ſich mit 100 Gramm Sauerſtoff
verbinden
und dieſe beiſammen bilden das ſo gefährliche Kohlen-
oxyd
oder denKohlendunſt”, an dem noch immer ſo viele
Menſchen
erſticken, wenn ſie unvorſichtigerweiſe eine etwa vor-
handene
Ofenklappe zu früh ſchließen.
Alſo 75 Gramm Kohlen-
ſtoff
oder reine Kohle hat ſoviel chemiſche Anziehungskraft wie
100
Gramm Sauerſtoff oder 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff oder
440
Gramm Chlor.
Macht man denſelben Verſuch mit Schwefel, ſo ergiebt
ſich
, daß er eine halb mal ſo ſchwache Anziehungskraft hat als
Sauerſtoff
, denn von Schwefel muß man ſchon an 200 Gramm
dazu
nehmen.
Phosphor iſt nahe viermal ſo ſchwach an An-
ziehungskraft
, denn man muß ſchon 400 Gramm nehmen, um
ſeine
Anziehung der von 100 Gramm Sauerſtoff gleich zu
machen
.
Von Stickſtoff muß man 175 Gramm dazu thun, um
durch
ihn eine eben ſo ſtarke Anziehung zu haben.
Für Natrium
braucht
man wieder 290 Gramm hierzu.
Hieraus aber folgt,
daß
290 Gramm Natrium ſo ſtark in der Anziehung ſind als
440
Gramm Chlor, denn jeder dieſer Stoffe iſt in ſolcher ange-
gebenen
Menge ja ſo ſtark in ſeiner Anziehung als 100 Gramm
Sauerſtoff
.
Da nun Chlor und Natrium wirklich in der
55337 eine ſehr gewöhnliche Verbindung eingehen und als ſolche
unſer
gewöhnliches Kochſalz bilden, ſo weiß man mit vollſter
Sicherheit
, daß man zu 440 Gramm Chlor genau 290 Gramm
Natrium
nehmen muß, um aus beiden 730 Gramm Kochſalz
zu
bilden.
Daher rührt es auch, daß, wenn man einem Chemiker
eine
Hand voll Kochſalz bringt, er dies nur genau zu wiegen
braucht
, um gleich ſagen zu können, wie viel Chlor und wie
viel
Natrium darin ſteckt.
Wir wollen nun noch einige andere bekannte Urſtoffe hier
aufführen
und neben dieſelben die Zahlen ſtellen, welche an-
deuten
, wie viele Gramm von jedem Stoffe nötig ſind, um
ſeine
chemiſche Anziehung ſo ſtark zu machen, wie die von
100
Gramm Sauerſtoff.
Die Verſuche haben gelehrt, daß man von Eiſen 350 Gramm
nehmen
muß, von Zink 509 Gramm, von Zinn 737 Gramm,
von
Blei 1294 Gramm, von Kupfer 396 Gramm, von Queckſilber
1250
Gramm, von Silber 1350 und von Gold 2462 Gramm.
Das Wichtigſte in dieſen Zahlen iſt nun, daß ſie ur-
ſprünglich
eigentlich doch nur in einer Beziehung zum Sauer-
ſtoff
zu ſtehen ſcheinen, aber daß ſie zugleich auch für alle
Verbindungen
der Stoffe unter einander gelten.
Geſetzt, es
wollte
jemand Zinnober machen, die bekannte, vorzügliche, rote
Farbe
, die von den Malern ſo ſehr geſchätzt wird und eine
chemiſche
Verbindung von Schwefel und Queckſilber iſt, ſo fragt
es
ſich, wie viel Schwefel und wie viel Queckſilber muß man
dazu
haben.
Hierüber geben unſere Zahlen genauen Aufſchluß.
Zweihundert Teile Schwefel ſind, wie oben gezeigt, ſo ſtark in
der
Anziehung wie 100 Teile Sauerſtoff, und 1250 Teile Queck-
ſilber
ſind auch in ihrer Anziehung ſo ſtark wie 100 Teile
Sauerſtoff
, folglich müſſen ſich 200 Gewichtsteile Schwefel mit
1250
Gewichtsteilen Queckſilber verbinden und zuſammen Zin-
nober
bilden.
55438
So aber geht es mit allen genannten und ebenſo mit den
übrigen
Urſtoffen, die wir hier nicht aufgeführt haben.
Die
Gewichtsteile
, in welchen ſie ſich mit irgend einem Stoffe ver-
binden
, paſſen auch zu allen andern Stoffen.
Es ergiebt ſich
alſo
hieraus, daß alle chemiſchen Urſtoffe in einem gewiſſen
Verhältnis
zu einander ſtehen, ſo daß man, um eine gewiſſe
chemiſche
Wirkung hervorzubringen, den einen ſtatt des andern
nehmen
kann, wenn man nur das richtige, oben angegebene
Gewicht
dazu verwendet.
Das aber kann unmöglich zufällig ſein, ſondern deutet auf
ein
ganz beſtimmtes Naturgeſetz hin, das in der Chemie waltet.
Gewiß muß es ſeinen Grund haben, warum man 1250 Gramm
Queckſilber
braucht, um eine ſo ſtarke Anziehung hervor-
zubringen
, wie ſie 100 Gramm Sauerſtoff ausüben.
Zwei-
hundert
Gramm Schwefel, haben wir geſehen, ſind ſo ſtark in
ihrer
Anziehung wie 100 Gramm Sauerſtoff;
kann es da wohl
Zufall
ſein, daß man gerade 200 Gramm Schwefel braucht,
um
1250 Gramm Queckſilber chemiſch zu binden?
Muß nicht
hier
eine Kraft ſchlummern, die den chemiſchen Vorgängen zu
Grunde
liegt, und die es macht, daß ſämmtliche chemiſche
Verbindungen
nur dann vollſtändig geſchehen, wenn man ge-
rade
ſo viel von zwei Stoffen zu einander bringt, daß ihre
chemiſche
Anziehungskraft ganz gleich iſt?
XIII. Was chemiſche Anziehung und was chemiſche
Energie iſt.
Die Erfahrung lehrt, daß ſehr oft ein Stoff einen audern
aus
ſeiner bereits eingegangenen Verbindung verdrängt.
Nehmen wir zum Beiſpiel eine Verbindung von 100 Gramm
Sauerſtoff
mit 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff, ſo wiſſen wir, daß
dies
112 {1/2} Gramm Waſſer giebt, und wir müſſen nach
55539 früher Geſagten annehmen, daß die 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff
in
ihrer chemiſchen Anziehungskraft ebenſo wirken wie die
100
Gramm Sauerſtoff.
Nun aber wiſſen wir durch Verſuche,
daß
489 Gramm des Metalls Kalium ſich auch mit 100 Gramm
Sauerſtoff
verbinden, und alſo der Anziehung von 12 {1/2} Gramm
Waſſerſtoff
ganz gleich kommen.
Wenn dem aber ſo iſt, woher
kommt
es, daß das Kalium in Waſſer geworfen das Waſſer
zerſetzt
, den Waſſerſtoff vertreibt und ſich mit dem Sauerſtoff
verbindet
?
Man werfe nur einmal ein Stückchen Kalium-Metall in
einen
Teller Waſſer, und man wird ein herrliches Schauſpiel
vor
ſich ſehen.
Das Metall ſprudelt auf dem Waſſer umher,
wird
im Waſſer glühend, aus dem Waſſer ſteigt ein Gas auf,
das
bald zu brennen anfängt, bis endlich das Kalium ganz
und
gar ſchwindet, das Waſſer an Gewicht ein wenig zu-
genommen
hat und der ganze Vorgang zu Ende iſt.
Nun
weiß
man, daß dieſe ſonderbaren Erſcheinungen daher rühren,
daß
das Kalium größere Neigung hat, ſich mit dem Sauerſtoff
des
Waſſers zu verbinden, als das bisher mit dem Sauerſtoff
verbundene
Waſſerſtoffgas.
Das Kalium zieht nun den Sauer-
ſtoff
an und verbindet ſich mit dieſem ſo heftig, daß das
Kalium
dabei in Glut gerät.
Gleichzeitig muß der Waſſerſtoff,
der
früher mit dem Sauerſtoff verbunden war, entweichen, und
da
der Waſſerſtoff ein brennbares Gas iſt, ſo zündet er ſich
an
dem glühend gewordenen Kalium an und brennt, während
das
mit Sauerſtoff verbundene Kalium eine Verbindung giebt,
die
ſich im übrigen Waſſer auflöſt.
Wir ſehen demnach, daß
das
Kalium durchaus ſtärker ſein muß in ſeiner chemiſchen
Kraft
als das Waſſerſtoffgas, und doch haben wir behauptet,
daß
ſie eigentlich von gleicher Anziehungskraft ſind?
Die
Antwort
auf dieſe Frage iſt folgende.
Es iſt richtig, daß die Anziehung von 12 {1/2} Gramm Waſſer-
ſtoff
gerade ſo groß iſt wie die Anziehung von 489
55640 Kalium, denn beide verbinden ſich mit 100 Gramm Sauerſtoff;
aber die Begierde derſelben iſt nicht gleich. Man kann
ſich
beiſpielsweiſe denken, daß zwei Menſchen nur eine Portion
Speiſe
vor ſich haben, von welcher jeder derſelben ſich ſättigen
könnte
.
Der eine jedoch ſei von der heftigſten Eßgier be-
fallen
, während der andere nur mäßig und gemächlich genießen
möchte
, und daß der erſtere nicht nur die Portion dem andern
vor
der Naſe aufißt, ſondern ihm auch noch das aus der
Hand
reißt, was jener ſich ſchon angeeignet hat.
Wenn dies
Beiſpiel
auch nicht ganz zutrifft, ſo macht es doch wenigſtens
deutlich
, daß man den Appetit, der nur anzeigt, wie viel man
zu
verzehren imſtande iſt, nicht mit der Begierde verwechſeln
darf
, die die Heftigkeit und Schnelligkeit anzeigt, mit welcher
man
die Portion verzehrt.
In dieſem Sinne können wir
ſagen
, daß der Appetit oder die Anziehung von 489 Gramm
Kalium
freilich nur ſo groß iſt wie der von 12 {1/2} Gramm
Waſſerſtoff
;
allein die Begierde des Kalium, ſeinen Appetit zu
ſtillen
, iſt ſo ungeheuer groß, daß es dem Waſſerſtoff die
Portion
gewiſſermaßen aus dem Magen zu reißen vermag.
Wollen wir das, was wir eben durch eine bildliche
Sprache
deutlich zu machen ſuchten, in ſtrengerem wiſſen-
ſchaftlichem
Ausdruck wiedergeben, ſo müſſen wir folgendes
ſagen
:
Je zwei chemiſche Urſtoffe können ſich in einem beſtimmten
Verhältnis
chemiſch verbinden, und wenn ſie dies thun, ſo ge-
ſchieht
es immer in ſolchen Gewichtsmengen, daß ihre An-
ziehung
auf einander gleich groß iſt.
Allein wenn auch die
Anziehung
gleich iſt, ſo iſt doch die Energie, mit welcher ſie
ſich
verbinden, nicht gleich groß bei jeden beliebigen zwei
Stoffen
, und daher iſt auch nicht immer jede Verbindung
zweier
Stoffe gleich ſtark, gleich haltbar und unerſchütterlich.
Woher aber rührt dieſe Verſchiedenheit? Warum können
12
{1/2} Gramm Waſſerſtoff ſo viel Sauerſtoff chemiſch
55741 als 489 Gramm Kalium, trotzdem das Kalium ſo ſtark iſt,
den
Waſſerſtoff aus dem gebildeten Waſſer hinauszuwerfen?
Offenbar ſteckt hier wieder ein Naturgeheimnis dahinter,
das
man zu erforſchen hat;
ein Naturgeheimnis, das bewirkt,
daß
einerſeits ein kleiner Teil eines Stoffes ſo viel vom andern
Stoff
aufnehmen kann, als ein dritter Stoff nur in einer
größeren
Summe von Gewichtsmenge es vermag, und anderer-
ſeits
bewirkt, daß dieſer dritte Stoff dennoch energiſch genug
iſt
, den erſteren Stoff aus ſeiner bereits eingegangenen Ver-
bindung
zu treiben.
Auch dieſem Naturgeheimnis iſt die
Wiſſenſchaft
ſchon auf die Spur gekommen, und wir wollen
dasſelbe
auch unſern Leſern vorführen;
wir bedürfen aber
hierzu
einiger Vorbereitungen, die wir nunmehr, ſo kurz wie
es
uns möglich, entwickeln wollen.
XIV. Die Verbindung eines chemiſchen Stoffes
mit doppelten und mehrfachen Portionen.
In unſerer bisherigen Betrachtung der Geſetze der chemiſchen
Verbindungen
haben wir die Behauptung aufgeſtellt, daß zwei
Stoffe
ſich nur dann vollſtändig mit einander verbinden, wenn
man
von beiden das richtige, beſtimmte Gewicht dazu nimmt.
Wir haben indeſſen zu dieſem ganz richtigen Grundſatze noch
einen
zweiten hinzuzufügen, der ſcheinbar wie ein Widerſpruch
klingt
;
wir werden aber bei aufmerkſamerer Betrachtung bald
ſehen
, daß dies nicht der Fall iſt.
Wir wiſſen, daß, wenn man Schwefel mit Sauerſtoff zu
einer
chemiſchen Verbindung bringen will, man 200 Gewichts-
teile
Schwefel und 100 Gewichtsteile Sauerſtoff dazu ver-
wenden
muß.
Man ſollte nun glauben, daß es gar nicht
möglich
ſei, aus Schwefel und Sauerſtoff etwas anderes
55842 zu bilden, als eben das, was aus den angegebenen Gewichts-
mengen
wird.
Allein die Erfahrung lehrt, daß dem nicht ſo iſt.
Schon ſeit älterer Zeit verſtand man aus Schwefel und
Sauerſtoff
zwei verſchiedene Dinge zu fabrizieren:
jetzt iſt es
ſogar
gelungen, eine ganze Anzahl verſchiedener chemiſcher
Verbindungen
aus dieſen beiden Stoffen herzuſtellen, und zwar
entſtehen
dieſelben dadurch, daß man die Gewichtsmenge des
Schwefels
und Sauerſtoffs verſchieden anwendet.
Für den
erſten
Augenblick ſcheint dies nun freilich im Widerſpruch zu
ſtehen
mit dem bisher ausgeſprochenen Grundſatz, daß in jeder
chemiſchen
Verbindung zweier Stoffe ſtets ein feſtes, unver-
rückbares
Gewichtsverhältnis der Stoffe angewandt werden
müſſe
;
allein, wenn man ſich die Sache genauer anſieht, ſo
bemerkt
man, wie man Urſache hat, in jenem Grundſatz ſich
nur
noch mehr beſtärkt zu fühlen;
ja man gelangt bei einigem
Nachdenken
erſt recht hinter ein großes Geſetz.
Wir wollen einmal die Gewichte angeben, welche man
anwenden
muß, um vier wichtige Verbindungen von Schwefel
und
Sauerſtoff herzuſtellen;
wir werden ſogleich ſehen, daß es
mit
den Gewichtsmengen doch nicht ſo willkürlich geht, ſondern
daß
ſie in einem ganz beſtimmten Verhältnis bleiben müſſen.
Man kann 64 Gramm Schwefel mit 48 Gramm Sauer-
ſtoff
verbinden, dann entſteht ein Stoff, welcher feſte, grüne
Maſſen
bildet und den man als Schwefelſesquioxyd bezeichnet.
Es gelingt ferner, 64 Gramm Schwefel mit 64 Gramm
Sauerſtoff
zu vereinigen, dann bildet ſich ein farbloſes Gas,
Schwefeldioxyd
oder ſchweflige Säure, welches jeder ſchon ge-
rochen
hat, denn dieſes Gas bringt den unangenehm ſtechenden
Geruch
hervor, der entſteht, wenn man gewöhnliche Schwefel-
hölzchen
anzündet.
Eine dritte Verbindung von Schwefel mit
Sauerſtoff
erhält man, wenn man 64 Gramm Schwefel mit
96
Gramm Sauerſtoff vereinigt, alsdann entſteht ein eisartige
Nadeln
vorſtellender Körper, welcher in Waſſer aufgelöſt
55943 gewöhnliche Schwefelſäure oder das Vitriolöl giebt. Vereinigt
man
endlich 64 Gramm Schwefel mit 112 Gramm Sauerſtoff,
ſo
entſteht eine vierte Verbindung beider Körper, das Schwefel-
heptoxyd
, ein nur den Chemikern bekannter Stoff.
Betrachtet man dieſe Zahlen näher, ſo ſieht man zwar,
daß
Sauerſtoff und Schwefel nicht ſo ſtrenge an dem Geſetz
feſthalten
, ſich nur in einem einzigen beſtimmten Gewichts-
verhältnis
zu verbinden.
Man hat ſogar, wie geſagt, noch
weitere
verſchiedene Verhältniſſe herausgefunden, in welchen
dieſe
zwei Stoffe Verbindungen eingehen;
allein wenn man
hieraus
ſchließen wollte, daß überhaupt in der Chemie jenes
ſtrenge
Verbindungsgeſetz nicht feſtſtehe, ſo würde man ſich
irren
.
Im Gegenteil, aus den Zahlen geht gerade hervor,
daß
die Gewichtsverhältniſſe bei mehrfachen Verbindungen ſehr
ſtrenge
inne gehalten werden.
Wir ſehen, daß 64 Gewichts-
teile
Schwefel ſich nicht willkürlich mit einer beliebigen Gewichts-
menge
von Sauerſtoff verbinden, ſondern es müſſen gerade
6
X 8, 8 X 8, 12 X 8 oder 14 X 8 Teile Sauerſtoff ſein, die
in
die betreffende Verbindung eingehen.
Man ſieht, daß der
Sauerſtoff
verſchiedene Verbindungen herſtellt, aber man be-
merkt
, daß ſeine Menge in jeder folgenden Stufe um ein
ganzes
Vielfaches von 8 von der Menge der vorigen Stufe
abweicht
.
Dies auffallende Verhältnis muß ſicherlich zu
dem
Schluß führen, daß es bei einer chemiſchen Verbindung
wohl
möglich iſt, einen Stoff doppelt, dreifach und vierfach
mit
einem andern zuſammenzubringen, aber nicht in ſonſt be-
liebiger
Menge.
Da ſich dieſe verſchiedenen Stufen der Verbindungen bei
den
chemiſchen Dingen, die aus Stickſtoff und Sauerſtoff ent-
ſtehen
, noch auffallender herausſtellen, ſo wollen wir einmal
auch
dieſe hier vorführen.
Vom Stickſtoff wiſſen wir, daß 28 Gramm desſelben ſich
mit
16 Gramm Sauerſtoff verbinden.
Wir wollen der
56044 fachheit halber 28 Gewichtsteile Stickſtoff eine Portion Stick-
ſtoff
nennen, und ebenſo 16 Gewichtsteile Sauerſtoff mit einer
Portion
Sauerſtoff bezeichnen.
Nun giebt es fünf verſchiedene
Stufen
der Verbindungen des Stickſtoffs mit dem Sauerſtoff;
aber auch bei dieſen zeigt ſich, daß nur dann eine neue Ver-
bindung
zu Wege gebracht wird, wenn man gerade doppelt,
dreifach
, vierfach oder fünffach vom Sauerſtoff dazu nimmt;

nicht
aber, wenn man die Sauerſtoffmenge in beliebigem Ver-
hältnis
dazu verwenden will.
Es lehrt die Erfahrung, daß eine Portion Stickſtoff und
eine
Portion Sauerſtoff das Stickſtoff-Oxydul giebt.
Eine
Portion
Stickſtoff und zwei Portionen Sauerſtoff geben das
Stickſtoff-Oxyd
.
Eine Portion Stickſtoff und drei Portionen
Sauerſtoff
geben die ſalpetrige Säure.
Eine Portion Stick-
ſtoff
und vier Portionen Sauerſtoff geben die Unter-Salpeter-
ſäure
, und eine Portion Stickſtoff und fünf Portionen Sauer-
ſtoff
geben die Salpeterſäure.
Hier alſo ſehen wir, daß man
zu
28 Gewichtsteileu Stickſtoff immer nur ſtets volle ſechzehn
Gewichtsteile
Sauerſtoff anwenden kann;
nimmt man nicht die
volle
ſechzehn oder richtiger die volle, richtige Portion, ſo entſteht
keine
neue chemiſche Verbindung.
Dies aber muß ſeinen tiefen Grund haben, und dieſen
wollen
wir nun kennen lernen, denn er iſt ein Grundpfeiler
der
jetzigen Lehren über die Natur.
XV. Was man in der Chemie von den Atomen
erfahren kann.
Sehen wir uns einmal den chemiſchen Vorgang an, wie
ihn
ſich die ſcharfſinnigen Naturforſcher vorſtellen, um dadurch
die
Rätſel der Chemie zu löſen;
wir werden ſehen, daß dieſe
Vorſtellung
höchſt einfach iſt.
Nach den Lehren der
56145 Naturforſchung beſteht jedes Ding in der Welt aus einer
Sammlung
einzelner Atome.
Ein Stückchen Schwefel, ein wenig
Gold
, Eiſen, Kupfer, Phosphor, mit einem Worte jeder chemiſche
Urſtoff
, den wir ſehen, iſt nichts anderes als eine Anhäufung
außerordentlich
kleiner Teile dieſes Stoffes.
Ein einziges Atom
Schwefel
oder ſonſt eines Stoffes iſt für unſer Auge wegen
99[Figure 99]Fig. 2.
Blut
des Menſchen, unter dem Mikroſkop
die
ſcheibenförmigen Blutkörperchen zeigend.
a
von der Fläche, b von der Kante aus
geſehen
.
a a b a b
ſeiner Kleinheit nicht ſicht-
bar
;
ſelbſt wenn man die
ſtärkſten
Mikroſkope an-
wendet
, kann man immer
noch
nicht ein ſo kleines
Ding
ſehen, wie ein Atom
iſt
.
Jedes Stück oder
jeder
Teil eines Stoffes,
der
ſchon geſehen werden
kann
, iſt ohne Zweifel
bereits
eine große Samm-
lung
ſolcher einzelnen
Atome
.
Wir ſehen alſo
an
einem ſolchen Dinge
nur
die Sammlung, nicht
den
einzelnen Teil, aus
dem
er beſteht.
Es geht
uns
hierbei, wie es unſern
Vorfahren
erging, die die
rote
Farbe des Blutes oder die grüne Farbe der Blätter als
etwas
, das dem Blute und dem Blatte ſelber eigen ſei, anſahen,
während
wir, durch die verbeſſerten Mikroſkope belehrt, wiſſen,
daß
die Röte des Blutes nicht der Flüſſigkeit angehört, ſondern
herrührt
von den Blutkörperchen, die darin herumſchwimmen
(Fig.
2), und die grüne Farbe der Pflanzen an einzelnen kleinen
Beſtandteilchen
haftet, welche in dem Gewebe getrennt von ein-
ander
wie Inſeln daliegen (Fig.
3). Nur weil unſer
56246 nicht feinſichtig genug iſt, erſcheint uns das mit Blutkörperchen
verſehene
Blut als eine durchweg rote Flüſſigkeit und die
Pflanzenwelt
als eine durchweg grüne Maſſe;
in Wahrheit
aber
kann man jeden durch ein Mikroſkop überzeugen, daß das,
was
er mit bloßem Auge als eine einzige, ungeteilte, rote Maſſe
anſieht
, aus einer Sammlung von einander getrennter, roter
100[Figure 100]Fig. 3.
Ouerſchnitt
durch ein Stückchen des Blattes der Buche, 315 mal vergrößert.
E
= Hautgewebe, P und Sch = Gewebe mit den grünen Körnern,
L
= Nahrung leitender Strang.
E. P. Schw. E St. L.
Körperchen beſteht, und was er als ungeteiltes, einziges, grünes
Blatt
betrachtet, eine Sammlung vieler Beſtandteile iſt, unter
denen
auch grüne Körperchen vorhanden ſind.
Es geht uns, wie geſagt, jetzt ebenſo, wie es unſeren Vor-
eltern
ging, die das Mikroſkop noch nicht kannten.
Für unſer
Auge
iſt ein Stück Schwefel ein ungeteilter, zuſammengehöriger
Körper
, iſt ein Stückchen Gold, Silber, Blei oder ſonſt
56347 ein Stoff ein ungeteiltes Ding, das ganz und gar zuſammen-
zuhängen
ſcheint;
und in der That iſt es noch nicht gelungen
mit
Mikroſkopen nachzuweiſen, daß dem nicht ſo iſt.
Allein
durch
die Ehemie iſt man zu der Annahme gezwungen worden,
daß
alles in der Welt, das uns wie ungeteilt und zuſammen-
hängend
als eine einzige Maſſe erſcheint, doch nichts als eine
Sammlung
von einzelnen, unendlich kleinen Atomen iſt, die ſich
in
feſten Körpern nicht verſchieben laſſen, weil ſie ſich gegenſeitig
mit
einer gewiſſen Kraft anziehen.
Es iſt wichtig, daß man ſich hiervon eine möglichſt klare
Vorſtellung
mache, da man ſonſt gar leicht irre wird, und
deshalb
iſt es gut, ſich Folgendes zu merken.
Nach der an-
gegebenen
Lehre der Naturforſcher, daß alles in der Welt aus
Atomen
beſteht, hat man ſich zu denken, daß z.
B. ein Stück
Eiſen
oder Gold oder ſonſt ein harter Körper derart entſteht,
daß
ſich in der Nähe eines Atomes ein zweites befindet, ohne
das
erſte zu berühren;
hierzu kommt noch ein drittes, viertes
Atom
immer ſehr nahe dem andern, ohne daß ſie ſich gegen-
ſeitig
berühren, und wenn eine große, ſehr große Anzahl ſolcher
Atome
ſich irgendwo und wie angeſammelt hat, erſt dann
werden
ſie unſerm Auge ſichtbar und zwar als eine ungeteilte,
zuſammenhängende
Maſſe.
In Wahrheit alſo beſteht ein jeder
Körper
aus vereinzelten Atomen und leeren Zwiſchenräumen,
die
jedes Atom umgeben;
und es iſt ſehr leicht möglich, ja ſogar
oft
wahrſcheinlich, daß die Zwiſchenräume zwiſchen einem
Atom
und dem andern größer ſind als jedes einzelne Atom.
XVI. Verſchiedener Zuſtand der Atome in ver-
ſchiedenen Dingen.
Wenn man ſich eine richtige Vorſtellung von dem Zuſtand
der
Atome in feſten oder flüſſigen oder luftförmigen
56448 machen will, ſo muß man ſich denken, daß es immer außer-
ordentlich
kleine Atome ſind, welche dieſe Maſſen bilden.
Sind
die
Atome ſo aneinander gelagert, daß ſie einander ſtark an-
ziehen
, ſo laſſen ſie ſich nicht leicht verſchieben und trennen,
und
wir nennen ſolche Maſſen feſte Maſſen.
Iſt die An-
ziehungskraft
in den Atomen ſo ſchwach, daß ſie ſich zwar
nicht
trennen, aber doch durch leichte Erſchütterung verſchoben
werden
können, ſo nennen wir die Maſſen, die ſie bilden,
Flüſſigkeiten
.
Iſt aber die Anziehungskraft der Atome ganz
und
gar nicht vorhanden, ſondern herrſcht in ihnen die Ab-
ſtoßungskraft
vor, ſo nennt man die von ihnen gebildeten
Maſſen
Gaſe (Luftarten).
Blicken wir nun auf das hin, was bei einer chemiſchen
Verbindung
vor ſich geht, ſo kann man ſich alles am leichteſten
erklären
, wenn man ſich lebhaft vorſtellt, daß ſelbſt in den
feſteſten
Maſſen, z.
B. im Eiſen, die Atome noch verhältnis-
mäßig
ſehr weit von einander getrennt liegen, ſo daß immer
weite
Zwiſchenräume zwiſchen einem Atom und dem andern
vorhanden
ſind.
Bringt man nun zu dem Eiſen unter günſtigen
Umſtänden
etwas Sauerſtoff, ſo findet die bereits beſprochene
chemiſche
Anziehung zwiſchen jedem einzelnen Sauerſtoff-Atom
ſtatt
, und es lagert ſich vorerſt ſtets ein Atom Sauerſtoff
neben
einem Atom Eiſen hin;
und das iſt die chemiſche Ver-
bindung
des Eiſens mit dem Sauerſtoff.
Iſt das aber der Fall, ſo hört das Eiſen auf Eiſen zu
ſein
, es wird vielmehr eine Art Sauerſtoff-Eiſen, das ganz
andere
Eigenſchaften hat als vorher, und auch in jeder Be-
ziehung
anders wirkt als vorher, und wir ſagen mit Recht, es
ſei
aus beiden Stoffen ein ganz neues Ding geworden, ob-
gleich
wir ſehr wohl wiſſen, daß man durch gewiſſe Vor-
richtungen
den Sauerſtoff aus der Verbindung treiben und
das
Eiſen wieder ohne den dazwiſchen gelagerten Sauerſtoff
herausbekommen
kann.
56549
Bleiben wir einmal bei dem bereits öfter angeführten
Beiſpiel
ſtehen, daß man ſolches Sauerſtoff-Eiſen, das man im
gewöhnlichen
Leben Eiſenerz nennt, durch Zuſammenglühen
mit
Kohle wieder in Eiſen verwandelt, ſo kann man ſich den
Vorgang
derart denken, daß während des Glühens die Eiſen-
Atome
ſich von dem Sauerſtoff durch die ausdehnende Kraft
der
Wärme etwas trennen.
Es ſchwächt ſich hierdurch aber zu-
gleich
die Anziehungskraft jedes Eiſen-Atoms auf das Sauer-
ſtoff-Atom
.
Nun aber hat die Kohle gerade beim Glühen eine
erhöhte
Neigung, ſich mit Sauerſtoff zu verbinden.
Jedes
Atom
Kohle alſo zieht nun Sauerſtoff-Atome an, und es lagert
ſich
ſo eine Sammlung von Kohle und Sauerſtoff an ein-
ander
, daß ſie Kohlenſäure bilden und das Eiſen rein zu-
rückbleibt
.
Ziehen wir nun als ein anderes Beiſpiel die Bildung von
Zinnober
in Betracht, ſo iſt hier der Vorgang ebenfalls der-
ſelbe
.
Man erhitzt einerſeits eine Portion Schwefel und an-
dererſeits
eine Portion Queckſilber in geeigneten Apparaten.
Durch die Erhitzung verliert der harte Schwefel derart ſeinen
Zuſammenhang
, daß er flüſſig wird, das heißt ſeine Atome
werden
leichter verſchiebbar;
durch weitere Erhitzung verwandelt
ſich
ſogar der Schwefel in Dampf, in eine Gasart, das heißt,
die
Schwefel-Atome treten noch weiter auseinander.
Dieſen
Dampf
, aus ſehr weit getrennten Schwefel-Atomen beſtehend,
leitet
man nun in einen Raum, in welchen von der andern Seite
Dämpfe
von erhitztem Queckſilber einſtrömen.
Dieſe Queckſilber-
dämpfe
ſind ebenfalls nichts als ſehr weit von einander getrennte
Queckſilber-Atome
.
Nun aber ziehen immer ein Atom Queck-
ſilber
und ein Atom Schwefel ſich gegenſeitig an und lagern
ſich
aneinander, und es entſteht aus dieſer Paarung der Atome
ein
neues Ding, eine Art Schwefel-Queckſilber, welches, ſobald
es
ſich in reichlichſter Maſſe gebildet hat, unſerm Auge als
jenes
rote, feine Pulver erſcheint, das wir Zinnober nennen.
A. Bernſtein, Naturw. Volfsbücher V.
56650
Da man aber durch die ſchärfſten Mikroſkope nicht am
Zinnober
ſehen kann, daß er aus zwei ſehr verſchiedenen
Dingen
zuſammengeſetzt iſt, ſo muß man annehmen, daß ſelbſt
im
feinſten Stäubchen Zinnober eine ſehr große gleiche Zahl
von
Schwefel-Atomen und Queckſilber-Atomen vorhanden iſt,
ſo
daß ſie einzeln gar nicht geſehen werden können und unſerm
Auge
erſt ſichtbar werden, wenn ſich eine bedeutende Menge
ſolch
kleiner Dinger gebildet hat.
In gleicher Weiſe wie dieſe Verbindung hat man ſich nun
alle
chemiſchen Verbindungen zu denken und man wird ge-
ſtehen
, daß dieſe Erklärungsweiſe einfach iſt;
ſie paßt vor-
trefflich
für alle Erſcheinungen der Chemie.
Nun aber bitten wir unſere Leſer einmal zu beachten,
welche
Reihe wichtiger und höchſt intereſſanter Schlüſſe aus
dieſer
einfachen Lehre von der Atom-Verbindung folgt, und
wie
dieſe Lehre einen tiefen Einblick in das Weſen der Dinge
gewährt
.
XVII. Die Anzahl der Atome bei chemiſchen
Verbindungen und das Gewicht jedes Stoffes.
Wenn ſich wirklich in den erwähnten chemiſchen Verbin-
dungen
, wie wir angenommen haben, immer ein Atom des
einen
Stoffes an das Atom eines andern Stoffes anlegt, ſo
folgt
hieraus, daß bei einfachen Verbindungen die Zahl der
Atome
beider Stoffe gleich ſein muß.
Nehmen wir wiederum die Bildung von Zinnober aus
Schwefel
und Queckſilber als Beiſpiel für viele andere Ver-
bindungen
an, ſo wiſſen wir, daß eigentlich ein Atom Zinnober
eine
Art Doppelatom iſt, weil es aus der Verbindung der
zwei
Atome entſtanden iſt, von denen das eine Schwefel, das
andere
Queckſilber iſt.
Solche kleinſten Teile von
56751 dungen, die doch alſo ſtets aus mehreren Atomen beſtehen,
nennt
man Moleküle.
Wenn wir nun ein wenig Zinnober
vor
uns haben, ſo wiſſen wir zwar nicht, wie viele Atome
darin
ſind, wir kennen alſo auch nicht die Zahl der Schwefel-
und
der Queckſilber-Atome, die darin enthalten ſind:
es iſt
möglich
, daß ein wenig Zinnober, das der Maler auf ſeinem
feinſten
Pinſel zerreibt, viele Millionen oder gar Billionen
Atome
enthält;
aber wir wiſſen wenigſtens das Eine, daß im
Zinnober
immer die Zahl der Schwefel-Atome eben ſo groß
iſt
wie die Zahl der Queckſilber-Atome.
Denn, da Zinnober
uur
entſteht, wenn ſich die zwei verſchiedenen Atome paaren,
ſo
würde jedes Atom Schwefel, das nicht ein Atom Queck-
ſilber
findet, um ſich mit ihm zu paaren, als Schwefel übrig
bleiben
;
dasſelbe wäre mit jedem Atom Queckſilber der Fall,
der
nicht ein Atom Schwefel vorfindet;
es würde übrig bleiben
und
nichts zur Bildung des Zinnobers beitragen können.
Hiernach alſo muß man annehmen, daß immer im Zinnober
der
Zahl nach ſo viele Atome Schwefel vorhanden ſind, als
Atome
Queckſilber.
Hieraus aber wird es klar, warum es keinen reinen Zin-
nober
geben kann, der ein bißchen mehr Queckſilber oder ein
bißchen
mehr Schwefel enthält als irgend welcher Zinnober in
der
Welt.
Kein Chemiker vermag einen Zinnober herzuſtellen,
worin
ein anderes Verhältnis des Queckſilbers zum Schwefel
ſtattfindet
, und wie es mit Zinnober der Fall iſt, ſo iſt es
mit
allen chemiſchen Verbindungen der Fall.
Sie können durch
fremde
Beimiſchung mehr oder weniger verunreinigt werden;
reinigt man ſie aber, ſo bleiben ſie ſich in Bezug auf ihre
Urſtoff-Beſtandteile
ganz gleich.
Nun aber wiſſen wir, daß man immer zu 200 Gramm
Schwefel
1250 Gramm Queckſilber nehmen muß, um aus ihnen
1450
Gramm Zinnober zu machen.
Wie groß die Zahl der Atome
in
dieſer Portion Zinnober iſt, das weiß man freilich nicht
56852 zugeben, jedoch aus der chemiſchen Verbindung weiß man mit
vollſter
Sicherheit zu beſtimmen, daß ſich das Gewicht eines jeden
Atoms
Schwefel zu jedem Atom Queckſilber verhalten muß wie
die
Gewichte der ganzen Mengen Schwefel und Queckſilber,
nämlich
wie 200 zu 1250, oder daß ein Atom Schwefel
6
{1/4} mal weniger wiegt als ein Atom Queckſilber.
Ganz ſo wie es hier mit dem Schwefel und dem Queck-
ſilber
der Fall iſt, ſo iſt es auch ein Gleiches mit den andern
chemiſchen
Verbindungen.
So wiſſen wir ja, daß Chlor
und
Natrium das gewöhnliche Kochſalz bilden.
Hieraus zieht
man
den Schluß, daß auch hier bei der Bildung des Koch-
ſalzes
ſtets ein Atom Chlor ſich an ein Atom Natrium anlegt,
und
wenn ſich eine ganze Menge ſolcher Doppelatome gebildet
hat
, ſo erſcheinen ſie unſeren Sinnen als Salz.
Nun aber
hat
die Erfahrung gelehrt, daß man ſtets 443 Gramm Chlor
mit
287 Gramm Natrium zuſammenbringen muß, um 730
Gramm
Kochſalz zu bilden.
Da nun die Zahl der Chlor-
Atome
im Salz ganz gleich groß iſt jener der Natrium-Atome,
ſo
iſt der Schluß vollkommen ſicher, daß ein Atom Chlor dem
Gewichte
nach mehr als anderthalbmal ſchwerer iſt als ein
Atom
Natrium.
Auf dieſem Wege iſt die Naturforſchung zu der Annahme
gekommen
, daß dieſe Zahlen zugleich das Gewichtsverhältnis
der
Atome jedes einzelnen Urſtoffes darſtellen.
Jetzt erſt wird es klar, warum nur 100 Gewichtsteile
Sauerſtoff
mit 12 {1/2} Gewichtsteilen Waſſerſtoff imſtande ſind,
Waſſer
zu bilden, weshalb weder mehr Sauerſtoff noch mehr
Waſſerſtoff
dazu genommen werden kann.
Es geſchieht dies
deshalb
, weil in 100 Gewichtsteilen Sauerſtoff genau ſo viel
Atome
vorhanden ſind, wie in 12 {1/2} Gewichtsteilen Waſſerſtoff,
wodurch
die vollſtändige Paarung möglich iſt, ohne daß ein
Atom
des einen oder des andern Stoffes übrig bleibt.
Bei der Bildung des Waſſers hat man ſo recht den
56953 daß wirklich eine ſolche Paarung der Atome vor ſich geht und
zwar
, daß ſich immer ein Atom Sauerſtoff etwa in den Zwiſchen-
raum
hineinbettet, der zwiſchen einem Atom Waſſerſtoff und
dem
andern ſich befindet.
Bringt man nämlich ein Maß
Sauerſtoff
im Gewicht von 100 Gramm und zwei Maß Waſſer-
ſtoff
, die dann 12 {1/2} Gramm wiegen, zu einander und verſucht
man
eine chemiſche Verbindung dieſer Gaſe, ſo entſtehen nicht,
wie
man meinen ſollte, drei Maß Waſſergas, ſondern nur
zwei
Maß;
und dieſe zwei Maß wiegen ihrer Zuſammen-
ſetzung
entſprechend 112 {1/2} Gramm.
Es haben ſich alſo die
Gaſe
verdichtet, das aber kann eben nicht anders geſchehen
ſein
, als wenn die Zwiſchenräume, welche die Atome früher
getrennt
haben, ſich verkleinerten, ſo daß die Atome nunmehr
näher
an einander gerückt ſind!
XVIII. Die mehrfachen Verbindungen der Atome.
Wie aus zwei Maß Waſſerſtoffgas und einem Maß
Sauerſtoffgas
nicht drei, ſondern nur zwei Maß Waſſerdampf
werden
, wie alſo hier die chemiſche Verbindung zugleich eine
Verdichtung
der Gaſe hervorgerufen hat, ganz ſo iſt es in
vielen
anderen Verbindungen der Fall.
So wiſſen wir z. B. ,
daß
aus drei Maß Waſſerſtoffgas und einem Maß Stickſtoff-
gas
nicht vier Maß Ammoniakgas entſtehen, ſondern nur zwei
Maß
Ammoniak.
Es haben ſich alſo die Gaſe bei ihrer
chemiſchen
Verbindung ſofort verdichtet.
Dies aber kann auf
keine
andere Weiſe geſchehen, als daß ſich die Räume zwiſchen
den
Atomen verkleinern und die Atome näher aneinander
gerückt
ſind.
Viele andere Fälle zeigen dieſelbe Erſcheinung; am
leichteſten
jedoch kann man ſich von dem Vorhandenſein
57054 Zwiſchenräume zwiſchen einem Atom und dem andern über-
zeugen
, wenn man mit Flüſſigkeiten Verſuche anſtellt.
Nimmt man ein Glas Waſſer und ein Glas Schwefel-
ſäure
und miſcht ſie mit einander, ſo geben ſie beide nicht
zwei
Gläſer Miſchung, wie man vermuten ſollte, ſondern be-
deutend
weniger.
Ein Gleiches iſt bei vielen anderen Flüſſig-
keiten
der Fall.
Wie aber ſoll man ſich dies anders erklären,
als
daß die beiden Flüſſigkeiten ſich nicht nur miſchen, ſondern
daß
ſie zugleich ihre Atome nach der Miſchung näher an-
einander
rücken, ſo daß ſie dichter gelagert ſind.
Wir dürfen verſichern, daß viele tauſendfältige Verſuche
gemacht
worden ſind, ehe ſich die Wiſſenſchaft dazu entſchloſſen
hat
, die Exiſtenz von Atomen anzunehmen, und können ſagen,
daß
unendlich weitere Unterſuchungen immer mehr und mehr
die
Beſtätigung für dieſe Annahme geliefert haben.
Wenn aber wirlich nur eine Paarung von Atomen ſtatt-
findet
, wie ſoll man es ſich erklären, daß oft ein Urſtoff mit
einem
zweiten in mehreren Stufen Verbindungen eingeht?
Wir haben geſehen, daß 28 Gramm Stickſtoff ſich ver-
binden
können mit 16 Gramm Sauerſtoff und auch mit
32
Gramm, ebenſo mit 48, mit 64, ja ſogar mit 80 Gramm
Sauerſtoff
.
Woher ſollte das wohl rühren, wenn wirklich
immer
nur eine Paarung der Atome ſtattfindet?
Sollen
wir
annehmen, daß in 28 Gramm Stickſtoff genau ſo viel
Atome
vorhanden ſind wie in 16 Gramm Sauerſtoff, ſo wäre
bei
dieſer Verbindung ſchon die Paarung vollendet;
wohin
aber
lagern ſich bei den weiteren Stufen der Verbindung die
noch
hinzukommenden Atome Sauerſtoff?
Die Antwort hierauf iſt folgende.
Die einfachſte chemiſche Verbindung kann in der That am
beſten
als eine Paarung erklärt werden, bei der ſich immer
ein
Atom des einen Stoffes an ein Atom des andern Stoffes
anlegt
;
allein man kann ſich recht gut denken, daß ſich
57155 oft an ein Atom des einen Stoffes zwei oder drei, ja vier
und
fünf Atome eines zweiten Stoffes anlegen.
Und in der
That
muß dies in vielen Fällen auch ſo ſein.
Wenn wirklich die
Atome
von Stickſtoff unter gewiſſen Umſtänden eine An-
ziehungskraft
ausüben auf Atome von Sauerſtoff, ſo iſt gar nicht
anzunehmen
, daß dieſe Anziehungskraft ganz aufhört, ſobald
ſich
zwei Atome von Stickſtoff und Sauerſtoff nahe gekommen
ſind
.
Es könnte die Begierde des Stickſtoffs, ſich mit Sauer-
ſtoff
zu vereinen, noch lange nicht ganz geſtillt ſein.
Und dies
lehrt
ja eben die Erfahrung, daß jedes einzelne Stickſtoffatom
noch
ein zweites, drittes, viertes und fünftes Sauerſtoffatom
anziehen
und feſthalten kann.
Wir müſſen uns demnach vor-
ſtellen
, daß, wenn eine Anzahl von Stickſtoffatomen mit einer
Anzahl
von Sauerſtoffatomen unter beſtimmten Umſtänden
zuſammengebracht
werden, der Hunger der einzelnen Stick-
ſtoffatome
gleichmäßig befriedigt wird.
Sind wenig Sauer-
ſtoffatome
da, dann erhält jedes Stickſtoffatom nur ein Atom
Sauerſtoff
, iſt mehr Sauerſtoff zugegen, ſo bekommt jedes
Stickſtoffatom
zwei, bei noch mehr Sauerſtoff drei, vier und
ſchließlich
fünf Atome.
In der Verbindung von einem Atom
Stickſtoff
mit fünf Atomen Sauerſtoff iſt der Appetit des
Stickſtoffs
nach den jetzigen Erfahrungen der Wiſſenſchaft
vollſtändig
befriedigt, und man nennt eine ſolche Verbindung
eine
geſättigte”.
Man kann noch ſoviel Sauerſtoff herbei-
ſchaffen
, der Stickſtoff nimmt keinen weiter auf.
Die Chemie hat aber auch Verbindungen kennen gelehrt,
die
man alsüberſättigte” bezeichnen mußte, da in ihnen die
Atome
des einen Stoffes mehr Atome von dem andern auf-
nehmen
, als zur Befriedigung ihres gewöhnlichen Appetits
notwendig
iſt.
So vereinigt ſich der Waſſerſtoff noch mit mehr Sauer-
ſtoff
, als er im Waſſer feſthält.
Dieſe Verbindung, Waſſerſtoff-
Superoxyd
, enthält für jedes Atom Waſſerſtoff zwei
57256 Sauerſtoff, während im Waſſer jedes Waſſerſtoffatom nur ein
Atom
Sauerſtoff bindet.
Das Waſſerſtoff-Superoxyd iſt aber
eine
überſättigte” Verbindung, weil es ſehr leicht in Sauer-
ſtoff
und Waſſer zerfällt, und alſo das, was es über ſeinen
Appetit
aufgenommen, bald abgiebt.
Gerade alſo der Umſtand, daß man zu 28 Gramm Stick-
ſtoff
16 Gramm Sauerſtoff nehmen muß, um Stickſtoff-Oxydul
zu
erhalten, und wenn man Stickſtoff-Oxyd haben will, durch-
aus
32 Gramm Sauerſtoff, wenn man ſalpetrige Säure haben
will
, nochmals volle 16 Gramm, alſo 48 Gramm nehmen muß,
wenn
man Unterſalpeterſäure machen will, wiederum volle 16
Gramm
anwenden, und wenn man endlich Salpeterjäure machen
will
, wiederum nochmals volle 16, alſo 80 Gramm Sauerſtoff
zuſetzen
muß, gerade dieſer Umſtand iſt der ſchlagendſte Beweis,
daß
in immer 16 Gramm Sauerſtoff ſo viele Atome ſein müſſen,
als
in 28 Gramm Stickſtoff, ſo daß man, wenn man eine
höhere
Stufe der Verbindung erreichen will, immer für jedes
einzelne
Atom Stickſtoff ein neues Atom Sauerſtoff zubringen
muß
.
Und ſo iſt denn die Atom-Lehre gerade durch die Chemie
feſt
begründet worden.
XIX. Die Atome und die Wärme.
Eine intereſſante Beſtätigung erhielt die Lehre von den
Atomen
auf einem ganz anderen Wege als dem chemiſchen.
Die Entdeckung, die wir meinen, beruht auf folgenden That-
ſachen
.
Nehmen wir an, es ſtellt jemand auf den Tiſch ſeines
Zimmers
ein Stück Wachs, ein Stück Eiſen, ein Stück Holz,
ein
Stück Leder und ein Glas Waſſer.
Nun heizt er die
Stube
ſo ein, daß ſie etwa 15 Grad Celſius Wärme hat,
57357 wird nach einiger Zeit all’ das, was auf dem Tiſche liegt,
ebenfalls
15 Grad warm ſein.
Freilich werden ſich die Gegenſtände ſehr verſchieden an-
fühlen
.
Berührt man mit der Hand das Wachs und das Eiſen,
ſo
wird es ſcheinen, als ob das Eiſen kälter ſei als das Wachs,
ebenſo
wird man, dem Gefühl nach zu urteilen, Verſchieden-
heiten
in der Wärme der übrigen Gegenſtände wahrzunehmen
glauben
;
aber das iſt doch nur eine Täuſchung.
Hiervon kann man ſich überzeugen, wenn man die Wärme
der
Gegenſtände mit einem Thermometer unterſucht;
man wird
finden
, daß ſie ſamt und ſonders 15 Grad warm ſind.
Woher aber kommt es, daß ſich das Eiſen trotzdem kälter
anfühlt
?
Das kommt daher, daß das Eiſen die Wärme der Hand
ſchnell
fortleitet, denn Eiſen hat wie alle Metalle die Eigenſchaft,
daß
es die Wärme ſchneller leitet, als andere Stoffe es thun.
Wenn man ein Streichhölzchen auf dem einen Ende anbrennt,
kann
man es am andern Ende in der Hand halten, weil die
Wärme
nicht von einem Ende des Hölzchens zum andern geleitet
wird
.
Macht man jedoch eine ebenſo große Stopfnadel an der
einen
Seite heiß, ſo kann man ſie am andern Ende nicht in der
Hand
halten, weil die Wärme ſich im Eiſen verbreitet, oder
weil
Eiſen, wie auch jedes andere Metall, die Wärme leitet.
Fühlt man nun ein Stück Eiſen von 15 Grad Wärme an,
ſo
giebt die wärmere Hand dem Eiſen Wärme ab;
bliebe nun
die
Wärme an der Stelle, ſo würde ſich das Eiſen ſo warm
anfühlen
wie jeder andere Gegenſtand von 15 Grad Wärme;
allein das Eiſen leitet die Wärme durch das ganze Stück und
entzieht
ſo der Hand immer aufs neue Wärme, und dies erregt
in
uns die Empfindung, als ob das Eiſen kälter wäre als
das
Wachs, was in Wahrheit nicht der Fall iſt.
Es ſteht vielmehr feſt und kann durch die genaueſten
Verſuche
bewieſen werden, daß alle in einem Zimmer von
gleicher
Wärme befindlichen Dinge ganz gleich warm werden.
57458
Ganz anders aber iſt es, wenn man die genannten Dinge
um
einen Grad wärmer machen will.
Geſetzt, man will das
15
Grad warme Wachs bis 16 Grad warm machen, ſo wird
man
eine gewiſſe Portion Wärme zuführen müſſen;
und ebenſo
muß
man Wärme hinzuführen, wenn man das Eiſen, das
Holz
, das Leder und das Waſſer um einen Grad wärmer zu
haben
wünſcht.
Allein die Portion Wärme, die hierzu nötig
iſt
, wird ſehr verſchieden ſein.
Nehmen wir an, all’ die
Gegenſtände
wären gleich groß, und nun hätte man ein Neben-
zimmer
, das gerade 16 Grad Wärme beſitzt;
wenn man nun
den
Tiſch mit den Gegenſtänden in die Nebenſtube trägt und
dort
ſtehen läßt, ſo wird man bemerken, daß das Stück Eiſen
in
kurzer Zeit ſchon 16 Grad warm geworden iſt.
Sehr lange
nachher
wird erſt das Leder 16 Grad warm geworden ſein,
noch
ſpäter wird das Waſſer die Wärme von 16 Grad an-
genommen
, und am ſpäteſten wird das Holz um einen Grad
Wärme
ſich vermehrt haben.
Dieſe Verſchiedenheit aber iſt nicht etwa nur bei den vier
Gegenſtänden
, die wir angeführt haben, der Fall, ſondern ſie
findet
bei allen Dingen in der Welt ſtatt, und um die Sache
ein
bißchen ſtrenger wiſſenſchaftlich anzufaſſen, wollen wir an-
nehmen
, man habe ſtatt der genannten vier Dinge vier chemiſche
Urſtoffe
, alſo etwa ein Stück Eiſen, ein Stück Blei, ein Stück
Zinn
, ein Stück Schwefel auf den Tiſch gelegt und mit dieſen
die
Verſuche gemacht.
Bei ſolchen Verſuchen wird man finden,
daß
das Blei am allerſchnellſten den Grad Wärme in ſich
aufgenommen
hat;
nächſt ihm wird dann das Zinn den Grad
Wärme
aufnehmen;
faſt noch einmal ſo lange wird es dauern,
bevor
das Eiſen den einen Grad Wärme aufnimmt;
wohin-
gegen
das Stück Schwefel noch einmal ſo viel Zeit braucht
als
das Stück Eiſen um die gleiche Wärme anzunehmen.
Die Naturforſcher haben mit der allergrößten Sorgfalt
dieſe
Verſuche auf alle chemiſchen Urſtoffe ausgedehnt
57559 haben durch genaue Zahlen feſtgeſtellt, wie ſich jeder Urſtoff
hierzu
verhält, und da hat man die herrliche Entdeckung gemacht,
daß
dieſe Erſcheinung aufs Genaueſte mit den Atomen der
Urſtoffe
und den chemiſchen Verbindungs-Zahlen im Zu-
ſammenhang
ſteht.
XX. Was man ſpezifiſche Wärme der Stoffe
nennt und wie die Atome erwärmt werden.
In unſerem Beiſpiel haben wir geſehen, daß Blei am
allerſchnellſten
den bewußten Grad Wärme annimmt, und ge-
naue
Meſſungen in den verſchiedenſten Methoden haben ergeben,
daß
es mehr als ſechsmal früher den Grad Wärme in ſich
auf@immt
als Schwefel.
Fragen wir uns, woher kommt das? ſo giebt die Forſchung
hierauf
folgende Antwort.
Aus der Chemie wiſſen wir, daß, wenn man eine Ver-
bindung
von Blei und Schwefel herſtellen will, man immer
1293
Gewichtsteile Blei und 200 Gewichtsteile Schwefel dazu
nehmen
muß, das heißt, man muß mehr als ſechsmal ſoviel
Blei
nehmen als Schwefel.
Nun aber wiſſen wir aus der Atomlehre, daß ſich bei
ſolchen
chemiſchen Verbindungen immer ein Atom Blei an ein
Atom
Schwefel legt, ſo daß ſie in der Verbindung Atompaare
ausmachen
.
Hieraus folgt, daß z. B. 1293 Kilo Blei nur
ſo
viele einzelne Atome haben wie 200 Kilo Schwefel;
oder
richtiger
, daß in einem Kilo Blei über ſechsmal weniger Atome
ſind
, als in einem Kilo Schwefel.
Wollen wir nun ein
Kilo
Blei und ein Kilo Schwefel um einen Grad wärmer
machen
, ſo haben wir im Schwefel mehr als ſechsmal ſo viel
Atome
zu erwärmen als im Blei, und deshalb dauert es auch
mehr
als ſechsmal länger, als es beim Blei dauert.
57660
Das heißt einfacher ausgedrückt: ein einzelnes Schwefel-
Atom
nimmt eben ſo ſchnell die Wärme auf wie ein Blei-Atom.
Weshalb aber wird ein Kilo Blei mehr als ſechsmal ſchneller
warm
als ein Kilo Schwefel?
Weil im Kilo Schwefel mehr
als
ſechsmal ſo viele Atome vorhanden ſind.
Geben wir einmal acht, wie dies auch bei anderen Stoffen
zutrifft
.
Wollen wir z. B. ein Kilo Zinn um einen Grad wärmer
machen
, ſo braucht man nur den vierten Teil der Wärme dazu,
wie
um ein Kilo Schwefel um einen Grad zu erwärmen.
Alſo
Zinn
wird viermal leichter erwärmt als Schwefel.
Verſucht man
es
, Zinn mit Schwefel chemiſch zu verbinden, ſo findet man, daß
man
von Zinn 737 Gewichtsteile und von Schwefel 200 Ge-
wichtsteile
dazu nehmen muß.
Man hat alſo Urſache zu
ſchließen
, daß 737 Kilo Zinn genau ſo viel Atome enthalten
wie
200 Kilo Schwefel;
das heißt: ein Kilo Schwefel hat an
viermal
ſo viele Atome in ſich als ein Kilo Zinn.
Hieraus folgt
nun
, daß, wenn auch jedes einzelne Atom gleich ſchnell warm
wird
, es doch viermal ſo lange dauern muß, um ein Kilo
Schwefel
zu erwärmen als ein Kilo Zinn, weil im Kilo Schwefel
wirklich
viermal ſo viele Atome ſtecken als im Kilo Zinn.
Vom Eiſen wiſſen wir durch Verſuche, daß ein Kilo da-
von
faſt noch einmal ſo ſchnell die Wärme aufnimmt als ein
Kilo
Schwefel.
Sehen wir aber zu, wie ſich Eiſen mit Schwefel
chemiſch
verbindet, ſo finden wir, daß 350 Gewichtsteile Eiſen
ſich
mit 200 Gewichtsteilen Schwefel verbinden, das heißt, in
350
Kilo Eiſen ſind eben ſo viele Atome als in 200 Kilo
Schwefel
.
Hieraus folgt, daß in einem Kilo Schwefel faſt
noch
einmal ſo viele Atome vorhanden ſind als in einem Kilo
Eiſen
.
Es iſt alſo ganz erklärlich, daß ein Kilo Schwefel un-
gefähr
noch einmal ſo lange erwärmt werden muß, um ſo warm
zu
werden wie ein Kilo Eiſen.
Wenn wir nun die Verſicherung geben, daß erſtens
57761 Zahlen weit genauer ſtimmen als wie wir ſie hier der Leich-
tigkeit
wegen angeben;
daß zweitens eine Übereinſtimmung,
die
wir hier zwiſchen Erwärmung und Atom-Zahl zeigen, nicht
nur
bei den angegebenen Stoffen, ſondern bei allen feſten
Stoffen
ſtattfindet;
daß drittens die kleinen Abweichungen, die
ſich
vorfinden, noch auf Rechnung der ſchwer zu vermeidenden
Beobachtungsfehler
zu ſetzen ſind:
ſo wird man geſtehen, daß
die
Lehre von den Atomen, die die Chemie aufgeſtellt hat, die
glänzendſte
Beſtätigung erhält durch die Beobachtungen, die
man
beim Geſetz der Erwärmung oder bei der Unterſuchung
der ſpezifiſchen Wärme der Stoffe” wie man dies wiſſen-
ſchaftlich
nennt gemacht hat.
Freilich iſt es wahr, daß dieſe Übereinſtimmung zwiſchen den
Gewichtsverbindungen
und der ſpezifiſchen Wärme nur auf die
feſten
Körper paßt, während die gasförmigen Stoffe ſich nicht
in
demſelben Maße erwärmen, wie die Gewichtsanteile ihrer
Verbindungen
ergeben müßten.
Allein die genauere Unter-
ſuchung
hat für einen großen Teil der gasförmigen Urſtoffe
ein
anderes, merkwürdiges Geſetz ergeben, das wir nicht minder
als
eine Beſtätigung der Atomenlehre kennen lernen werden.
12 {1/2} Gramm Waſſerſtoffgas verbinden ſich, wie wir wiſſen,
mit
100 Gramm Sauerſtoffgas zu 112 {1/2} Gramm Waſſerdampf.
Es braucht alſo jedes Gramm Waſſerſtoff 8 Gramm Sauer-
ſtoff
zu ſeiner chemiſchen Verbindung, und es muß nach unſerer
bisherigen
Anſchauung ein Gramm Waſſerſtoff acht mal ſoviel
Atome
enthalten, als ein Gramm Sauerſtoff.
Hiernach müßte
auch
die ſpezifiſche Wärme des Waſſerſtoffs achtmal größer
ſein
, oder ein Gramm Waſſerſtoff müßte ſich achtmal langſamer
erwärmen
als ein Gramm Sauerſtoff.
Der Verſuch zeigt
aber
, daß ſich ein Gramm Waſſerſtoff nicht achtmal, ſondern
ſechzehnmal
langſamer erwärmt, daß daher in einem Gramm
Waſſerſtoff
ſechzehumal ſo viele Atome enthalten ſind, als
in
einem Gramm Sauerſtoff.
Da nun 12 {1/2} Gramm
57862 ſtoff ſich ſtets mit 100 Gramm Sauerſtoff zu Waſſer verbinden,
ſo
müſſen auch die 12 {1/2} Gramm Waſſerſtoff noch einmal ſo viele
Atome
enthalten als die 100 Gramm Sauerſtoff.
Wir kommen
alſo
zu dem merkwürdigen Reſultat, daß ein Waſſerſtoffatom,
das
ſich mit einem Sauerſtoffatom zu Waſſer verbindet,
eigentlich
aus zwei Atomen beſtehen muß und daher ein Doppel-
Atom
genannt werden kann.
Hiermit ſtimmt es nun in
höchſt
überraſchender Weiſe, daß wir zur Darſtellung von
Waſſer
auch zwei Maß Waſſerſtoff und ein Maß Sauerſtoff
brauchen
.
Die Anzahl der Atome iſt daher in jedem Maß
dieſer
beiden gasförmigen Urſtoffe dieſelbe, und die Unter-
ſuchung
der übrigen gasförmigen Körper hat zu dem ganz über-
einſtimmenden
Ergebnis geführt, daß in gleichen Maßen aller
Gaſe
immer dieſelbe Anzahl von Atomen vorhanden ſein müſſe.
Dieſer Umſtand, daß luftförmige Körper in gleichen Raum-
@eilen
immer dieſelbe Anzahl von Atomen enthalten, voraus-
geſetzt
natürlich, daß Druck wie Temperatur ſich gleich bleiben,
daß
vom Sauerſtoff, vom Waſſerſtoff, vom Stickſtoff und von
allen
andern gasartigen Stoffen immer ein und dieſelbe
Auzahl
Atome denſelben Raum ausfüllen, unterſcheidet die
Gaſe
ſehr weſentlich von den feſten Körpern und rührt wahr-
ſcheinlich
von jener Abſtoßungskraft her, welche die Atome
gasartiger
Stoffe aufeinander ausüben.
Von dieſer geheimnis-
vollen
Abſtoßung der Atome gasartiger Stoffe gegen einander
wollen
wir im nächſten Abſchnitt dem Leſer noch ein anderes
eben
ſo intereſſantes wie lehrreiches Beiſpiel vorführen.
XXI. Was man unter Diffuſion verſteht.
Was man unter Diffuſion verſteht, wird man am leichteſten
einſehen
, wenn wir eines Verſuches erwähnen, der in Paris
mit
großer Sorgfalt angeſtellt worden iſt.
57963
In den Kellerräumen des Gebäudes der Akademie der
Wiſſenſchaften
in Paris, an einem Orte, wo man ſich verſichert
hatte
, daß keine Erſchütterung von der Straße her eindringe,
ſtellte
man einen großen Ballon auf, gefüllt mit Kohlenſäuregas.
Über dieſem Ballon wurde ein zweiter Ballon angebracht, der
jedoch
den untern nicht berührte, und dieſer obere Ballon
wurde
mit Waſſerſtoffgas gefüllt.
Sodann wurde ein dünnes
Glasrohr
von dem einen Ballon zum andern geführt.
Als
man
nach einigen Tagen die Gaſe in beiden Ballons unter-
ſuchte
, fand es ſich, daß ſowohl im untern wie im obern
Ballon
eine ganz gleiche Miſchung beider Gaſe vorhanden
war
, ſo daß ſich allenthalben in den beiden Ballons ein ganz
gleiches
Gemiſch von Kohlenſäure- und Waſſerſtoffgas durch
das
Glasrohr hergeſtellt haben muß.
Nun aber weiß man durch Verſuche, daß Kohlenſäure
und
Waſſerſtoffgas ſich chemiſch nicht ſo verbinden;
alſo eine
chemiſche
Anziehung der Atome findet hier nicht ſtatt.
Ferner
ſteht
es feſt, daß Kohlenſäuregas an zweiundzwanzigmal
ſchwerer
iſt als Waſſerſtoffgas, daß alſo eigentlich das ſchwere
Gas
, die Kohlenſäure im unteren Ballon, das leichte Waſſer-
ſtoffgas
im oberen Ballon hätte bleiben müſſen.
Ja, man
hätte
ſogar ſchließen ſollen, daß, wenn man gleich das Gemiſch
beider
Gaſe in beide Ballons gebracht hätte, die Leichtigkeit
des
Waſſerſtoffgaſes dieſes hätte zum Steigen, die Schwere
der
Kohlenſäure dieſe hätte zum Sinken veranlaſſen, ſo daß
ſich
eigentlich das Waſſerſtoffgas in den oberen Ballon, die
Kohlenſäure
in den unteren Ballon hätte hinbegeben müſſen.
Gleichwohl geſchieht dies nicht: es tritt vielmehr das Gegenteil
ein
.
Er ſtellt ſich eine Miſchung zweier Gaſe her, ganz gegen
das
ſonſt allenthalben gültige Geſetz der Schwere.
Schon im Anfange dieſes Jahrhunderts, als man dahinter
gekommen
war, daß unſere Luft im weſentlichen aus einem
Gemiſch
von Sauerſtoff und Stickſtoff beſteht, hat Alexander
58064von Humboldt (1769—1859) durch Verſuche die intereſſante
und
wichtige Thatſache nachgewieſen, daß die beiden Gaſe
Stickſtoff
und Sauerſtoff immer und allenthalben in ganz gleichen
Miſchungen
vorhanden ſind.
Er unterſuchte die Luft in über-
füllten
Theatern, wo Tauſende von Menſchen den Sauerſtoff
einatmen
und Kohlenſäure ausatmen, und fand, daß auch hier
immer
auf 79 Teile Stickſtoff 21 Teile Sauerſtoff vorhanden
ſind
.
Ganz dasſelbe Reſultat ſtellte ſich heraus bei Unter-
ſuchung
der Luft auf hohen Gebirgen, ja, der genannte Natur-
forſcher
unterſuchte Luft, welche er durch aufſteigende Luft-
ballons
aus den verſchiedenſten Höhen des Luftmeeres herab-
holte
;
immer blieb ſich das Reſultat gleich. Es fand ſich
allenthalben
, daß in 100 Maß Luft 79 Maß Stickſtoff und
21
Maß Sauerſtoff vorhanden waren.
Iſt ſchon dies allein für das Leben der Tiere und Menſchen
von
der größten Wichtigkeit, da eine Störung der Miſchung
unſerer
Luft weſentlich die Geſundheit gefährden würde, ſo iſt
es
noch wichtiger, daß die Kohlenſa:
;ure, die wir ausatmen,
nicht
zu Boden ſinkt, obgleich ſie ſchwerer iſt als die ge-
wöhnliche
Luft, ſondern daß ſie ſich ſelbſt bei vollſtändigſter
Windſtille
mit der Luft äußerſt regelmäßig miſcht und ſo bis
in
die höchſten Höhen des Luftkreiſes dringt.
Wäre dies
nicht
der Fall, ſo müßten wir im Zimmer oder an windſtillen
Orten
im eigenen Atem erſticken.
Was aber iſt dies @für eine geheime Kraft, welche dieſe
Miſchung
der Gasarten veranlaßt?
Die Naturwiſſenſchaft weiß hierauf keine andere Antwort,
als
daß es jene ſelbe Abſtoßungskraft iſt, welche die Atome
gasartiger
Körper gegen einander ausüben.
Das Studium
der
Diffuſionserſcheinungen hat nämlich das Geſetz ergeben,
daß
, wenn man in einen und denſelben Raum verſchiedene
Gaſe
bringt, die keine chemiſche Wirkung auf einander aus-
üben
, ſich jedes gleichförmig durch den ganzen Raum verbreitet.
58165 Wie die Atome eines abgeſchloſſenen Gaſes ſich ſo lange ab-
ſtoßen
, bis ſie gleichmäßig durch den ganzen Raum verteilt,
gleich
weit von einander entfernt ſind, ganz ebenſo breiten ſie
ſich
aus, wenn ein zweites Gas zugegen iſt, das keine chemiſche
Anziehung
auf das erſte ausübt.
Das zweite Gas verbreitet
ſich
in gleicher Weiſe durch den Raum ganz ſo, als ob es
allein
da wäre.
Daher kommt es, daß wir nach einiger Zeit
an
jeder Stelle ein gleichmäßiges Gemiſch beider Gaſe an-
treffen
.
Wir begreifen nun, warum in dem obigen Verſuch in
beiden
Ballons ein gleichmäßiges Gemiſch von Kohlenſäure
und
Waſſerſtoff angetroffen wurde.
Die Kohlenſäure des
unteren
Ballons verbreitete ſich in dem ganzen Raume beider
Ballons
, als ob ſie allein da wäre.
T@sſelbe machte der
Waſſerſtoff
des obern Ballons.
Nachdem nun @ie Kohlenſäure-
und
Waſſerſtoff-Atome ſich gleichmäßig durch @ide Ballons
verteilt
hatten, mußte man überall ein gleiches E@niſch von
Wafferſtoff
und Kohlenſäure vorfinden.
Das Geſetz der Diffuſion der Gaſe können wir demnach
auch
ſo bezeichnen:
Gaſe, welche keine chemiſche Wirkung auf
einander
ausüben, verhalten ſich gegen einander wie leere
Räume
.
Gleichwohl ergaben die Unterſuchungen des verdienſtvollen
engliſchen
Gelehrten Graham (1805—1869), daß die Schwere
der
Gaſe nicht ohne Einfluß auf ihre Diffuſion iſt.
Wenn er ein
ſchweres
und ein leichtes Gas gegen einander diffundieren ließ,
und
den Verſuch in der Art anſtellte, daß die beiden Gaſe durch
eine
poröſe Scheidewand, einen Pfropfen aus Gips, von ein-
ander
getrennt waren, ſo verbreiteten ſich die Gaſe durch die
feinen
Löcher des Gipſes hindurch in dem ganzen Raum, dem
Diffuſions-Geſetze
entſprechend, ganz gleichmäßig, als ob jedes
Gas
allein da wäre.
Aber die Geſchwindigkeit, mit welcher
die
Gaſe diffundierten, war eine verſchiedene, und zwar diffun-
58266 dierte das ſchwerere Gas langſamer als das leichtere. In derſelben Zeit dringt z. B. , wenn wir wieder Kohlenſäure und Waſſerſtoffgas gegen einander diffundieren laſſen, viel weniger Kohlenſäure in den Waſſerſtoff-Ballon als Waſſerſtoff in den untern mit Kohlenſäure gefüllten Ballon gedrungen war. Eine gleichmäßige Verteilung des Waſſerſtoffs und der Kohlenſäure wurde deshalb erſt nach einigen Tagen in beiden Ballons vorgefunden.
Wenn wir die Gaſe durch eine poröſe Scheidewand trennen,
ſo
läßt ſich die verſchiedene Geſchwindigkeit direkt beobachten.
Wir füllen eine Schweinsblaſe, deren Wände ſehr feine Poren
beſitzen
, mit Waſſerſtoffgas an, ſo daß ſie ganz ſtraff ausgedehnt
iſt
, binden ſie feſt zu und laſſen ſie an der Luft liegen, ſo
wird
ſie nach einigen Stunden ſchon ſchlaff werden und ganz
zuſammenſinken
.
Der leichtere Waſſerſtoff geht ſchnell durch
die
Wände nach außen, die ſchwere Luft aber dringt weit
langſamer
nach Innen hinein.
Nun aber füllen wir dieſelbe
Schweinsblaſe
nur ganz ſchlaff mit Luft an und legen ſie in
einen
Raum hinein, der mit Waſſerſtoffgas angefüllt iſt.
Da
beobachten
wir dann das Umgekehrte.
Die Blaſe füllt ſich
immer
mehr und mehr, dehnt ſich ſtraff und prall aus, bis ſie
ſchließlich
ſogar platzt.
Die Urſache iſt nun ganz klar; der
Waſſerſtoff
, der 14 mal leichter iſt als Luft, dringt ſchnell durch
Diffuſion
in die Blaſe ein, während die Luft nur langſam
heraus
kann, und dehnt ſie ſo enorm aus.
XXII. Von der Diffuſion flüſſiger Körper.
Der Vorgang bei der Diffuſion von Flüſſigkeiten wird
dem
Leſer am leichteſten verſtändlich, wenn wir ihm auch hier
gleich
einen Verſuch vorführen, den jeder bei einiger Vorſicht
ſelbſt
anſtellen kann.
58367
Man gieße in ein ſchmales, hohes Glasgefäß (am beſten
wählt
man ein von den Chemikern benutztes, in jeder größeren
Glashandlung
zu kaufendesReagenzgläschen”) ſoviel deſtillier-
tes
Waſſer, daß das Gläschen etwa zur Hälfte damit gefüllt iſt.
Hierauf ſetze man in dies Gläschen einen mit langer Röhre
verſehenen
Trichter, ſo daß er den Boden des kleinen Gefäßes
berührt
, und gieße in denſelben eine geſättigte Löſung von
Kupfervitriol
.
Hat man das Eingießen der dunkelblauen
Kupfervitriol-Löſung
mit der nötigen Vorſicht ausgeführt, und
den
Trichter behutſam aus dem Gläschen entfernt, ſo ſind die
Vorbereitungen
zum Verſuche beendet.
In dem Gefäße hat
ſich
die ſchwerere, dunkelblaue Löſung unten angeſammelt, und
das
farbloſe, reine Waſſer ſteht darüber.
War man beim Ein-
füllen
der Flüſſigkeiten ſehr vorſichtig, ſo ſieht man in dem
Reagenzgläschen
eine deutliche Grenze, an der ſich die dunkel-
blaue
Löſung und das klare Waſſer berühren.
Man ſtelle
nun
das Gefäß vorſichtig an einen Ort, an welchem es vor
Erſchütterung
geſichert iſt, und ſehe ſich dasſelbe nach einiger
Zeit
wieder an.
Das Bild, welches die beiden Flüſſigkeiten
nun
darbieten, hat ſich weſentlich geändert.
Die ſcharfe Grenze
zwiſchen
der dunkelblauen Kupfervitriol-Löſung und dem klaren
Waſſer
iſt verſchwunden.
Die unteren Schichten des Waſſers
ſind
blau, während die obern Schichten der Löſung heller ge-
worden
ſind.
Die Blaufärbung des Waſſers iſt nicht gleichmäßig,
ſondern
in der Nähe der früheren Grenze am ſtärkſten und nach
oben
zu immer blaſſer, bis zu den oberſten Schichten, welche
noch
ganz farblos ſind.
Bleibt das Gefäß noch länger ruhig
ſtehen
, ſo wird das oben befindliche Waſſer immer mehr gefärbt,
die
untere Kupfervitriol-Löſung immer heller, bis man ſchließlich,
wenn
der Verſuch lange genug fortgeſetzt wird, im ganzen
Gefäß
eine gleichmäßig gefärbte Löſung von Kupfervitriol hat.
Was iſt nun bei dieſem Verſuch in unſerem Reagenz-
gläschen
vorgegangen?
58468
Offenbar iſt ein Teil des farbloſen, deſtillierten Waſſers
aus
dem obern Teil des Gläschens in die dunkelblaue Kupfer-
vitriollöſung
hinabgeſtiegen und machte ſie dadurch heller.
Andererſeits iſt aber auch ein Teil der dunkeln Löſung in die
Höhe
gegangen und hat das klare Waſſer gefärbt.
Die ver-
ſchiedenen
Flüſſigkeiten haben ſich mit einander gemiſcht und
hat
man ihnen die gehörige Zeit gegönnt, ſo iſt die Miſchung
eine
vollſtändige geworden, und man findet an jeder Stelle des
Gefäßes
gleichviel Kupfervitriol und Waſſer, wie dies die
gleichmäßige
Färbung der ganzen Flüſſigkeit ſchon dem Auge
anzeigt
.
Das Merkwürdige bei dieſem Vorgange iſt, daß die Kupfer-
vitriollöſung
ſchwerer iſt als Waſſer, daß alſo die ſchwere
Flüſſigkeit
nach oben geſtiegen, während das leichtere Waſſer
nach
unten geſunken iſt, was unſerer Vorſtellung von der Wir-
kung
der Schwere gradezu widerſpricht.
Dieſe nach und nach eintretende, von der Schwere unab-
hängige
, gleichmäßige Miſchung zweier Flüſſigkeiten nennt die
Wiſſenſchaft
Diffuſion und bringt ſie in eine Reihe mit den
im
vorigen Abſchnitt beſprochenen Erſcheinungen der Diffuſion
der
Gaſe, obſchon wir ſehen werden, daß hier eine ganz andere
Naturkraft
thätig iſt.
Bevor wir aber nach dieſer Kraft fragen, welche die gleich-
mäßige
Miſchung der Flüſſigkeiten veranlaßt, müſſen wir dem
Leſer
einen weiteren, noch leichter von jedem ausführbaren
Diffuſionsverſuch
vorführen.
Wir nehmen ein Glasrohr, das ungefähr einen Fuß lang
und
einen halben Zoll dick iſt, und binden es an einem Ende
mit
einem Stück Schweinsblaſe feſt zu.
Dann bereiten wir
uns
eine Löſung von Kochſalz in Waſſer, indem wir ein paar
Hände
voll Salz in ein Glas Waſſer werfen und tüchtig um-
rühren
, bis ſich nichts mehr auflöſt.
Nun gießen wir einen
Teil
der Kochſalzlöſung in das abgebundene Rohr und
58569 dieſes in ein Glas reinen Waſſers, ſo daß die Flüſſigkeit in
beiden
Gefäßen gleich hoch ſteht.
Wenn wir nun das Ganze mehrere Stunden ruhig ſtehen
laſſen
, ſo machen wir die merkwürdige Beobachtung, daß in
dem
Rohr die Flüſſigkeit langſam immer höher und höher
ſteigt
.
Noch ſchneller findet dieſes Steigen ſtatt, wenn etwas
feſtes
Kochſalz unten auf dem Boden des Rohres liegt.
Welche
Kraft
iſt es nun, die das Waſſer hier aus dem Glaſe durch
die
Schweinsblaſe in das Rohr hinauftreibt, ganz gegen das
Geſetz
der Schwere?
Dieſe Kraft iſt die Diffuſion. Die
Atome
des Kochſalzes im Rohr und des Waſſers im Glaſe ziehen
ſich
gegenſeitig an, da ſie aber durch eine Scheidewand getrennt
ſind
, ſo müſſen ſie die Poren derſelben erſt durchwandern,
um
zu einander zu gelangen.
Nun können die Waſſeratome
durch
die Poren leichter hindurch als die Kochſalzatome, folg-
lich
wird mehr Waſſer durch die Blaſe in das Rohr eintreten
als
umgekehrt Kochſalz in das Glas hinausgehen wird, und
die
Flüſſigkeit im Rohr muß ſteigen;
und zwar findet dieſes
Steigen
ſo lange ſtatt, bis ſich die ganze Kochſalzmenge im
Glaſe
und im Rohr ganz gleichmäßig verteilt hat.
Wartet
man
nun noch länger, nachdem dieſe Ausgleichung eingetreten
iſt
, ſo fängt die Flüſſigkeit im Rohr wieder an zu ſinken, weil
nun
die Kraft der Diffuſion aufgehört hat und die Kraft der
Schwere
wieder in ihr Recht eintritt.
Dieſe Diffuſion von Flüſſigkeiten durch eine poröſe Scheide-
wand
wird von der Wiſſenſchaft Endosmoſe genannt und iſt
für
das Leben der Menſchen, Tiere und Pflanzen von der
größten
Wichtigkeit.
Wir kommen im zehnten Bändchen dieſer
Volksbücher
ausführlich auf dieſe Erſcheinung zurück und wollen
hier
nur andeuten, daß die Ernährung, der Übertritt der Nähr-
ſtoffe
aus dem Darmkanal ins Blut und aus dem Boden in
die
Pflanzenzelle auf einem ſolchen Diffuſionsvorgang beruht,
daß
hierbei ein Austauſch durch die Wand der Blutgefäße
58670 der Zellen zwiſchen den zu beiden Seiten befindlichen, ver-
ſchiedenen
Flüſſigkeiten ſtattfindet.
Die hohe Bedeutung der Endosmoſe für den Lebensvor-
gang
der Tiere und Pflanzen hat eine große Reihe von Unter-
ſuchungen
zur Erforſchung ihrer Geſetze veranlaßt.
Es ſtellte
ſich
dabei heraus, daß unter gleichen äußeren Umſtänden durch
ein
und dieſelbe Scheidewand verſchiedene Flüſſigkeiten auch
verſchieden
ſchnell diffundieren.
So dringen durch eine Schweins-
blaſe
in derſelben Zeit, während welcher 1 Gramm Kupfervitriol
zum
Waſſer diffundiert, 9 {1/2} Gramm Waſſer zum Kupfervitriol.
Mit Kochſalz diffundiert Waſſer viermal ſchneller, das heißt:
während
1 Gramm Kochſalz zum Waſſer geht, dringen etwas
über
4 Gramm Waſſer zum Kochſalz.
Alkohol diffundiert wie
Kochſalz
viermal langſamer als Waſſer durch eine Tierblaſe
hindurch
.
Nimmt man hingegen eine Kautſchuckplatte als
trennende
Scheidewand, ſo diffundiert der Alkohol ſchneller als
das
Waſſer.
Es iſt demnach unzweifelhaft, daß die Natur der
trennenden
Scheidewand für die Schnelligkeit, mit der die
Flüſſigkeiten
ſich miſchen, von größtem Einfluß iſt.
Wir haben bereits erwähnt, daß bei dieſen Erſcheinungen
Anziehungskräfte
wirkſam ſind, ſowohl zwiſchen den Atomen
der
Flüſſigkeiten und der Scheidewand, wie zwiſchen den Atomen
der
beiden Flüſſigkeiten gegen einander.
Die wichtigſte Thatſache, welche dafür ſpricht, daß bei der
Diffuſion
der Flüſſigkeiten nur Anziehungskräfte thätig ſind,
iſt
die, daß nicht alle Flüſſigkeiten mit einander diffundieren.
Öl und Waſſer z. B. werden, ſie mögen noch ſo lange über
einander
geſchichtet liegen, nie in Diffuſſion zu einander treten,
ſie
werden ſich nicht miſchen;
kein Atom Öl wird ſich zwiſchen
die
Waſſeratome begeben und kein Atom Waſſer wird ſich unter
die
Ölatome wagen.
Die Atome dieſer beiden Flüſſigkeiten
üben
auf einander keine Anziehung aus, ſie bleiben deshalb
bei
den ihrigen.
Schwefelſäure und Waſſer hingegen
58771 gegen einander ſehr ſtark, weil die Schwefelſäureatome auf die
Waſſeratome
eine ſehr ſtarke Anziehung ausüben.
Dieſe An-
ziehung
der Schwefelſäure- und Waſſeratome iſt ſtark genug,
daß
ſie die Anziehung der Waſſeratome zu einander und der
Schwefelſäureatome
unter ſich überwindet.
Die Vereinigung
derſelben
iſt ſogar eine ſo heftige, daß ſich Wärme dabei ent-
wickelt
und die ganze Miſchung ſehr heiß wird.
Die Anziehungskraft, welche die Atome verſchiedener
Flüſſigkeiten
bei ihrer Diffuſion, der gleichmäßigen Miſchung
ihrer
Teilchen, auf einander ausüben, iſt offenbar der chemiſchen
Anziehung
verſchiedenartiger Atome ſehr nahe verwandt, viel-
leicht
nur ein geringerer Grad derſelben.
Die Wiſſenſchaft hat
die
Ähnlichkeit zwiſchen Miſchung und chemiſcher Verbindung
durch
ihre bisherigen Forſchungen ſehr wahrſcheinlich gemacht.
Das wahre Verhältnis zwiſchen der Anziehung der Atome in
einer
Miſchung und einer chemiſchen Verbindung iſt ihr aber
bis
jetzt noch ein Rätſel.
XXIII. Wie Chemie und Elektrizität mit ein-
ander verwandt ſind.
Wir haben bisher das Geheimnis der chemiſchen Ver-
bindungen
dadurch zu erklären verſucht, daß wir in den Atomen
eine
Anziehungskraft angenommen haben, welche es bewirkt,
daß
zwei Atome verſchiedener Stoffe ſich zu paaren beſtrebt
ſind
, oder in einzelnen Fällen ſich mehrere Atome eines Stoffes
an
ein Atom eines anderen Stoffes anlegen.
Allein es wird unſern Leſern nicht entgangen ſein, daß
hierdurch
nur erklärt wird, weshalb ſich gerade nur gewiſſe
Gewichtsteile
eines Stoffes mit genau beſtimmten Gewichts-
teilen
eines andern Stoffes verbinden;
es bleibt aber immer
noch
die Frage:
was iſt denn das für eine Kraft, welche
58872 den Atomen ſitzen ſoll? Zeigt ſich dieſe Kraft auch in andern
Fällen
als bei chemiſchen Verbindungen?
Iſt dieſe Kraft eine
ganz
neue, den Atomen eigene, oder haben wir vielleicht dieſe
Kraft
ſchon anderweitig wirken ſehen, ohne erkannt zu haben,
daß
ſie zugleich die ſogenannte chemiſche Anziehungskraft iſt?
Auf dieſe Frage hat die Naturwiſſenſchaft ganz beſonders
ihr
Augenmerk gerichtet und die Antwort hierauf mit ziemlicher
Sicherheit
aufgefunden.
Wir wollen das, was die Wiſſenſchaft hierüber ausfindig
gemacht
hat, in möglichſt deutlichen Umriſſen hier unſeren
Leſern
vorführen.
Seit der Zeit, daß man die Elektrizität und die Chemie
näher
zu unterſuchen begonnen hat, ſtellte ſich ſchon mit einiger
Sicherheit
heraus, daß jedesmal, wo ein chemiſcher Vorgang
ſtattfindet
, auch zugleich elektriſche Wirkungen aufgefunden
werden
können, und ebenſo, zum Teil noch auffallender, zeigen
ſich
chemiſche Wirkungen allenthalben, wo man elektriſche Ströme
in
Bewegung ſetzt.
Dies hat auf den Gedanken geführt, daß Chemie und Elek-
trizität
ſehr nahe verwandt, obgleich in ihren Erſcheinungen
außerordentlich
verſchieden ſind.
In der That verdankt man den Wirkungen der elektriſchen
Ströme
die wichtigſten chemiſchen Entdeckungen.
Wir wollen
einige
dieſer Entdeckungen hier aufführen.
Vor dem Jahre 1807 hatte man keine Idee davon, daß
gewiſſe
Dinge, die wir alltäglich ſehen und anfaſſen, eigentlich
Metalle
ſind, die ſich mit Sauerſtoff oder Kohlenſäure oder
ſonſt
einem andern Stoffe verbunden haben.
Der Kalk z. B.
iſt gewiß ein bekanntes Material und iſt ſeit Jahrtauſenden
von
Menſchen benutzt worden, ohne daß man ſelbſt in ſchon
wiſſenſchaftlichen
Zeitaltern mehr davon zu ſagen wußte, als
daß
er eine Erdart ſei.
Nicht minder iſt Kali, der eigentliche
Beſtandteil
der Pottaſche, und auch Natron, der
58973 teil der Soda, allgemein bekannt. Daß aber dieſe Dinge
eigentlich
ganz etwas anderes ſind, als ſie ſcheinen, das hat
man
durch die chemiſche Wirkung der galvaniſchen Säule ent-
deckt
.
Im Jahre 1807 brachte Davy, einer der verdienſtvollſten
Naturforſcher
der neueren Zeit, ein Stückchen Kali zwiſchen
die
Pole einer ſehr ſtarken galvaniſchen Säule und bemerkte
zu
ſeinem Erſtaunen, daß der elektriſche Strom, indem er durch
das
Kali geht, dieſes in zwei Beſtandteile zerlegt, von denen
der
eine gewöhnliches Sauerſtoffgas und der andere ein ſilber-
ähnliches
, blankes, ſehr leichtes Metall iſt.
Zugleich aber be-
merkte
er, daß die an dem galvaniſchen Pol ſich bildenden,
blanken
Kügelchen ſofort wieder in der Luft beſchlagen, weiß
und
ſalzartig werden, und daß ſie ſich wiederum in Kali ver-
wandeln
.
Er verſtand dieſe Erſcheinung ſehr wohl und fand
mit
Leichtigkeit heraus, daß eigentlich Kali nichts iſt als ein
bis
dahin unbekanntes Metall, das mit großer Begierde Sauer-
ſtoff
anzieht und ſich mit ihm verbindet, ſo daß man in der
Natur
nirgends dieſes Metall rein auffinden kann.
Davy
nannte
dieſes MetallKalium”, und jetzt ſtellt man dasſelbe
bereits
auf anderem als galvaniſchen Wege her.
Ähnlich ging es mit dem Natron, in welchem man durch
Einwirkung
des Galvanismus das MetallNatrium” entdeckte,
und
ein Gleiches war mit dem Kalk, Gips, Marmor und der
Kreide
der Fall, welche insgeſamt nur chemiſche Verbindungen
eines
bis zu unſerm Jahrhunderte unbekannten Metalls, des
Calciums
, ſind.
Da man auf dieſem Wege merkte, welche wichtigen Auf-
ſchlüſſe
der elektriſche Strom für die Chemie giebt, verſuchte
man
weitere Erfolge zu erringen und gelangte dahin, die eigent-
liche
chemiſche Wirkung der Elektrizität näher kennen zu lernen.
59074
XXIV. Die chemiſchen Wirkungen elektriſcher
Ströme.
Schon zu Anfang dieſes Jahrhunderts hatten die Natur-
forſcher
Carlisle und Nicholſon die Entdeckung gemacht,
daß
, wenn man die beiden Pole einer ſtarken galvaniſchen
Kette
in ein dazu eingerichtetes Gefäß mit Waſſer leitet, an
101[Figure 101]Fig. 4. dem negativen Pol Bläschen von Waſſerſtoffgas aufſteigen,
während
der poſitive Pol ſich mit Sauerſtoffgas verbindet.
Später kam man auf den Gedanken, einen Silber- oder Platin-
draht
ſtatt des poſitiven Pols zu benutzen, und da dieſe Metalle
nicht
leicht Verbindungen mit Sauerſtoff eingehen, bemerkte
man
auch, daß am poſitiven Pol Bläschen von Sauerſtoffgas
aufſteigen
.
Woher aber kamen dieſe Gaſe?
59175
Sie entſtanden daher, daß der elektriſche Strom das Waſſer
in
ſeine chemiſchen Urſtoffe zerlegte, die zu Waſſer verbundenen
Gaſe
, Waſſerſtoff und Sauerſtoff, auseinander riß, ſo daß
beide
Gaſe, die früher zuſammen Waſſer bildeten, nunmehr ſich
trennten
und als freie Gasbläschen im übrigen Waſſer auf-
ſtiegen
.
Da man dieſen Verſuch weiter fortſetzte und die Vor-
richtungen
zu demſelben verbeſſerte (Fig.
4), ſo iſt man jetzt
imſtande
, vor dem Auge jedes Wißbegierigen eine kleine Portion
Waſſer
in die zwei Gaſe direkt zu zerlegen, damit er ſich durch
den
Augenſchein überzeuge, daß Waſſer etwas ganz anderes
iſt
, als man ſich im gewöhnlichen Leben vorſtellt.
Es kann ſich wohl jeder unſerer Leſer denken, daß man
nicht
unterließ, alle möglichen chemiſchen Stoffe dem elektriſchen
Strom
einer galvaniſchen Säule auszuſetzen, und wir können
verſichern
, daß es bald keine chemiſche Verbindung mehr gab,
die
nicht durch den galvaniſchen Strom aufgehoben wurde.
Daß auf dieſem Wege ganz neue Urſtoffe, aus ihren Verbin-
dungen
gelöſt, erſt bekannt wurden, haben wir bereits erwähnt.
Wie aber geht das zu? Woher kommt dieſe Kraft des
galvaniſchen
Stromes, die imſtande iſt, chemiſche Wirkungen
zu
äußern?
Was hat die Elektrizität mit der chemiſchen Kraft
zu
thun, die ihr gar nicht im mindeſten ähulich zu ſein ſcheint?
Die Antwort, die man auf obige Fragen jetzt mit mög-
lichſt
hinreichender Sicherheit geben kann, lautet kurz gefaßt
wie
folgt:
Man hatte ſich vorgeſtellt, es gäbe eine chemiſche Kraft,
welche
in den Atomen ſtecke und Verbindungen und Verwand-
lungen
der Stoffe veranlaſſe;
wir können nun dieſe beſondere
chemiſche
Kraft vielleicht auch als eine den Atomen innen-
wohnende
elektriſche Kraft auffaſſen, dann iſt die ganze Chemie
nur
eine Erſcheinung der Elektrizität, ein Zweig der Wirkung
dieſer
die ganze Welt der Stoffe durchdringenden Kraft.
59276
Dieſe Antwort klingt für den erſten Augenblick freilich
kühu
, und ſie hat auch wirklich nicht wenige Gegner gefunden:
aber man ſöhnt ſich mit dieſer Antwort aus, ſobald man erſt
einſieht
, daß in der wirklichen Natur die Kräfte gar nicht in
ſo
einzelne Fächer geſondert ſind, wie es in Lehrbüchern der
Fall
iſt und ſein muß, daß vielmehr in der wirklichen Welt
die
Naturkräfte innig in einander greifen und wahrſcheinlich
aus
einer einheitlichen Geſamtkraft ſtammen, die wir uns nur
in
viele Kräfte zerlegen, weil wir ſie in ihrer Einheit noch
nicht
hinreichend zu faſſen vermögen.
Wie ſich der Menſch die Zeit einteilt in Stunden, Tage,
Jahre
, Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtauſende, Jahrmillionen,
obwohl
er weiß, daß dieſe Einteilung nur willkürlich und nur
ein
Hilfsmittel für uns iſt, um irgend ein Moment aus der
Reihe
der ewigen Wandlungen in unſerer Vorſtellung feſtzu-
halten
, ſo teilt die menſchliche Wiſſenſchaft auch die eine Natur-
erſcheinung
in geſonderte Naturerſcheinungen und bringt zu
ihrer
überſichtlichen Belehrung die Natur in Fächer, von
welchen
die Natur ſelber ſicherlich nichts weiß.
Ein jedes Steinchen, das wir mit dem Fuße gedankenlos
zertreten
, gehört im Bereich der Naturwiſſenſchaft in viele ge-
ſonderte
Fächer.
Der Mineralog kann ſein Entſtehen, der
Chemiker
ſeine Beſtandteile ſtudieren, der Phyſiker kann die
ſpezifiſche
Wärme, das ſpezifiſche Gewicht, die Lichtbrechung,
den
Zuſammenhang, das Gefüge und die elektriſche Eigenſchaft
unterſuchen
, und bei jeder dieſer Unterſuchungen ſetzt man eine
geſonderte
Kraft voraus, die in dieſem Steinchen thätig iſt.
XXV. Von der elektro-chemiſchen Kraft.
Wir wollen nun einmal ſehen, wie man ſich die chemiſchen
Vorgänge
erklären kann, wenn man die Elektrizität zu
59377 ruft und ſtatt der zwei getrennten Kräfte, die wir bisher be-
trachtet
haben, nur eine Kraft und zwar dieelektro-chemiſche”
annimmt
.
Der Aufſchluß, den dieelektro-chemiſche” Lehre über die
Erſcheinungen
der Chemie giebt, beſteht im weſentlichen in
Folgendem
.
Wir wiſſen es bereits, daß ein Stück Zink und ein Stück
Kupfer
, die ſich berühren, eine elektriſche Trennung in beiden
Metallen
erzeugen.
Das Zink wird poſitiv-elektriſch und das
Kupfer
wird negativ-elektriſch.
Durch geeignete Vorrichtungen
iſt
man ſogar, wie wir ſchon geſehen haben, imſtande, höchſt
wirkſame
elektriſche Ströme durch die bloße Berührung dieſer
zwei
Metalle hervorzurufen.
Mag nun der Grund dieſer Er-
ſcheinung
ſein, welcher er wolle, ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß
vor
der Berührung des Zinks und Kupfers weder das Zink,
noch
das Kupfer irgendwelche elektriſche Eigenſchaft zeigt, daß
die
elektriſche Kraft nur erſt bei dem Aneinanderbringen der
Metalle
erzeugt wird.
Nun, ſagt der Elektro-Chemiker, iſt es höchſt wahrſcheinlich,
daß
eine ganz ähnliche Trennung der Elektrizität in allen ſo-
genannten
chemiſchen Urſtoffen ſtattfindet, ſobald ſich zwei ver-
ſchiedene
Atome derſelben berühren.
Das Atom des einen Ur-
ſtoffes
wird negativ-elektriſch, und das Atom des audern Stoffes
wird
poſitiv-elektriſch.
Da wir aber bereits wiſſen, daß poſitive
und
negative Elektrizität ſich anziehen, ſo iſt es ganz erklärlich,
daß
zwei verſchiedene Atome ſich anziehen, ſobald ſie ſich ſehr
nahe
ſind, weil ſie entgegengeſetzte Elektrizität beſitzen;
und ſo
verbinden
ſich die beiden Atome, das heißt, ſie bilden ein
Atompaar
.
Haben die zwei Atome das gethan, ſo ſagen wir freilich,
ſie
hätten ſich chemiſch verbunden, allein, die Bezeichnung iſt
ungenau
;
wir müßten eigentlich ſagen: ſie haben ſich elektriſch
verbunden
.
59478
Zwar liegt die Frage ſehr nahe, warum geſchieht denn
das
nicht bei der Berührung von Zink und Kupfer?
Warum
trennen
ſich immerfort die Elektrizitäten und ſenden negative
Ströme
durch das Kupfer und poſitive durch das Zink, ohne
daß
zwiſchen Zink und Kupfer das vorgeht, was wir gewöhn-
lich
chemiſche Verbindung nennen?
Allein die Antwort
hierauf
iſt ſehr einfach.
Wären wir imſtande, ein loſes Zinkatom an ein loſes
Kupferatom
zu bringen, ſo würden ſie ſich in der That feſt-
halten
, und ihre entgegengeſetzte Elektrizität würde wirklich das
bewirken
, was man eine chemiſche Verbindung nennt.
Es
würde
ein Atom-Pärchen entſtehen, das Zink-Kupfer bilden
würde
.
Allein wir können kein loſes Atom Zink herſtellen
und
ebenſowenig ein loſes Atom Kupfer.
In einem noch ſo
kleinen
Stückchen Zink oder Kupfer hängt das Atom feſt zu-
ſammen
mit dem ganzen Stück und kann ſich nicht trennen.
Nun kommt noch dazu, daß ſie beide Metalle ſind, die die
Elektrizität
leiten.
Die Trennung der Elektrizität, die an
der
Berührungsſtelle eines Stückes Zinks oder Kupfers vor
ſich
geht, leitet ſich ſogleich fort durch beide Metalle, und
lötet
man Drähte an die Metalle und bringt deren Enden
an
einander, ſo entſteht ſogar ein Strom von beiden Seiten
her
, ſo daß die getrennten Elektrizitäten ſich in dieſer geſchloſſenen
Kette
fortwährend verbinden, wie ſie ſich an der Berührungs-
ſtelle
fortwährend trennen.
Es findet alſo das, was man
chemiſche
Verbindung der Atome nennt, nicht ſtatt, ſondern es
ſtellt
ſich eine andere Ausgleichung der Elektrizitäten her und
zwar
durch einen elektriſchen Strom.
Kommen aber zwei Atome anderer Stoffe mit einander
in
Berührung, von denen eins oder beide Atome nicht im
Zuſammenhang
mit einem feſten Stück ſind, und findet bei
ihnen
oder bei einem von ihnen nicht der Umſtand ſtatt, daß
ſie
die in ihnen entſtehende Elektrizität fortleiten, ſo
59579 ſie zu einander, und ſie thun es wegen der entgegengeſetzten
Elektrizität
, die in ihnen erweckt iſt, und ſo lagert ſich Atom
zu
Atom, und ſie bilden beiſammen Atom-Pärchen, von denen
wir
ſagen, ſie haben ſich chemiſch verbunden.
In der That beſtätigt die Erfahrung dieſe Annahme.
Zwei feſte Stoffe verbinden ſich durchaus nicht chemiſch.
Schwefel
und Eiſen können jahrhundertelang bei einander liegen,
es
wird kein Schwefel-Eiſen entſtehen.
Will man eine chemiſche
Verbindung
zweier Stoffe haben, ſo muß man mindeſtens einen
in
einen Zuſtand verſetzen, wo ſeine Atome loſer zuſammen-
hängen
, und dann gelingt in vielen Fällen die Verbindung.

Wären wir imſtande, Sauerſtoff feſtzumachen, ſo könnte
man
ihn mit einem Stück Kalium zuſammenpacken, trotzdem
die
Neigung zwiſchen beiden, ſich zu verbinden, ſo unendlich
groß
iſt.
Sie würden als feſte Körper bei einander liegen,
ohne
chemiſche Verbindungen einzugehen.
Dahingegen wiſſen
wir
, daß der gasförmige Sauerſtoff, weil er eben ein Gas
iſt
und ſeine Atome nicht feſthält, ein gefährlicher Nachbar für
Kalium
iſt.
Die chemiſche Verbindung beider geſchieht mit
großer
Energie.
Ähnlich geht es mit allen Stoffen, die ſich
chemiſch
verbinden, und das beſtätigt ſchon wenigſtens in dieſer
Beziehung
die eben von uns ausgeſprochene Behauptung.
Allein dieſe Beſtätigung iſt an ſich noch ſehr geringfügig,
denn
wir werden ſogleich ſehen, daß die eigentlichen chemiſchen
Rätſel
höchſt überraſchende und intereſſante Erklärungen finden,
ſobald
man zu ihrer Löſung die elektriſche Kraft zu Hilfe ruft.
XXVI. Die Erklärung der chemiſchen Er-
ſcheinungen durch elektriſche Kräfte.
Um einzuſehen, wie viel Wahrheit in der Lehre ſteckt, nach
welcher
die chemiſche Kraft nichts anderes iſt, als die
59680 Kraft der Atome, wollen wir vor allem einen Umſtand hervor-
heben
.
Wir haben bereits auf die Sonderbarkeit aufmerkſam
gemacht
, daß zwei chemiſche Urſtoffe ſich am heftigſten und
ſchnellſten
verbinden, wenn ſie ſich beide höchſt unähnlich ſind.
Die Metalle haben ſamt und ſonders eine gewiſſe Ähnlichkeit
mit
einander.
Kupfer, Zink, Silber, Gold, Eiſen, Blei ſind
zwar
in ihren Eigenſchaften verſchieden, aber in ihrer weſent-
lichſten
Natur ſind ſie doch ſehr nahe verwandt.
Gleichwohl
haben
ſie nicht die mindeſte Neigung, ſich chemiſch zu ver-
binden
.
Nun giebt es gewiß nichts Unähnlicheres in der Welt
als
Sauerſtoff und Eiſen, und gleichwohl iſt ihre Neigung zur
Verbindung
ſehr ſtark, wie überhaupt die Neigung ſämtlicher
Metalle
ſich mit Sauerſtoff zu verbinden bedeutend iſt.
Ganz
dasſelbe
zeigt ſich, wenn man diejenigen Stoffe betrachtet, die
ihrer
Natur nach dem Sauerſtoff ähnlich ſind, wie z.
B. Chlor,
Brom
, Jod und Fluor, trotzdem haben ſie nur ein ſehr ge-
ringes
Beſtreben ſich mit dem Sauerſtoff zu verbinden;
im
Gegenteil
, ſie erſetzen unter gewiſſen Umſtänden oft den Sauer-
ſtoff
, wenn er ſich mit einem Metall verbunden hat und füllen
ſo
ſeine Stelle aus.
Hieraus aber und aus einer ganzen Reihe mannigfaltiger
Verſuche
und Betrachtungen geht mit aller Beſtimmtheit her-
vor
, daß die chemiſche Neigung zweier Stoffe zu einander
immer
ſtärker iſt, je weniger ſie ſich in ihrer Natur gleich ſind.
Vergleicht man dies aber mit der Elektrizität, ſo findet
man
hier ein ganz ähnliches Verhältnis.
Ein Kügelchen mit
poſitiver
Elektrizität geladen zieht ein zweites Kügelchen mit
negativer
Elektrizität geladen an, das Ungleiche hat eine
Neigung
zu einander und ſucht ſich auf.
Dahingegen ſtößt
die
gleiche Elektrizität ſowohl poſitive wie negative in
zwei
Kügelchen ſich gegenſeitig ab.
Das Gleiche flieht ſich und
verbindet
ſich nicht mit einander.
59781
Nimmt man nun an, daß alle Urſtoffe, wenn ſich zwei
und
zwei von ihnen berühren, verſchiedenartig ſtark elektriſch
werden
, ſo kann man ſich damit viele Rätſel der Chemie ver-
ſtändlich
machen.
Wenn ſich zum Beiſpiel ein Atom Sauerſtoff und ein
Atom
Kalium nahe kommen, ſo braucht man ſich nur zu
denken
, daß es ihnen ſo ergeht, wie wenn Zink zu Kupfer
gebracht
wird.
Das Atom Sauerſtoff wird negativ-elektriſch
und
das Atom Kalium wird poſitiv-elektriſch.
Sie gleichen
hierin
zwei Kügelchen, die immerfort entgegengeſetzte Elektrizität
beſitzen
, und darum ziehen ſie ſich an und halten ſich feſt.
Die Neigung des Kaliums ſich mit Sauerſtoff zu verbinden
iſt
die allerſtärkſte, die man in der Chemie findet.
Will man
nun
dieſe Verbindung hervorbringen, ſo braucht man nur ein
Stückchen
reines Kalium-Metall an die Luft zu bringen.
Es
entſteht
ſofort die heftigſte Vereinigung der beiden Stoffe, weil
ſie
bei ihrer gegenſeitigen Berührung am ſtärkſten die elek-
triſche
Trennung bewerkſtelligen.
Sauerſtoff und Natrium-Metall machen es ebenſo; aber
nicht
ſo heftig.
Ein Atom Sauerſtoff und ein Atom Natrium
bilden
nicht einen ſo ſtarken elektriſchen Gegenſatz mehr.
Das
Natrium
iſt nicht ſo ſehr poſitiv-elektriſch wie das Kalium.
Sauerſtoff und Eiſen haben auch bei ihrer Berührung ent-
gegengeſetzte
Elektrizität, aber ſchon eine bedeutend ſchwächere;

deshalb
verbindet ſich zwar Sauerſtoff mit Eiſen, aber nicht
ſo
ſchnell und energiſch.
Eiſen alſo iſt weniger poſitiv-
elektriſch
als Natrium.
In dieſer Weiſe kann man alle
Elemente
in eine Stufenreihe bringen, deren erſtes Glied
Sauerſtoff
iſt, als das negativſte und deren letztes Glied
Kalium
iſt, als das poſitivſte, und man hätte ſo die Neigung
der
Stoffe ſich zu verbinden und die verſchiedenen Grade dieſer
Neigung
vollſtändig erklärt, ohne eine andere Kraft zu Hilfe
zu
rufen als die elektriſche Kraft.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher V.
59882
Wir werden nun zeigen, wie durch dieſe Annahme nicht
nur
die chemiſchen Verbindungen, ſondern auch die chemiſchen
Löſungen
ſich leicht erklärlich und anſchaulich machen laſſen,
vorerſt
aber wollen wir nur ſagen, daß ſolch eine Stufenfolge,
ſolch
eine Anordnung der Stoffe, wie wir ſie hier angedeutet
haben
, von den größten Naturforſchern unſerer Zeit aufgeſtellt
worden
iſt und daß man dieſe mit ziemlicher Sicherheit auch
als
richtig annehmen kann;
allein bis zur wirklichen, unum-
ſtößlichen
Feſtſtellung iſt man auch hier noch nicht gelangt,
und
namentlich deshalb nicht, weil ſowohl das elektriſche wie
das
chemiſche Verhalten zweier Stoffe zu einander oft von
beſonderen
Umſtänden abhängt, die eine Vergleichung mit
anderen
Umſtänden ſehr erſchweren.
XXVII. Erklärung der chemiſchen Verbindungen
und Trennungen nach der elektro-chemiſchen Lehre.
Mit derſelben Leichtigkeit, mit welcher ſich die einfache
chemiſche
Verbindung zweier Urſtoffe erklären läßt, wenn man
die
Elektrizität als Kraft betrachtet, welche dieſe bewirkt, mit
eben
ſo großer Leichtigkeit erklärt ſich auch jede chemiſche Zer-
ſetzung
und jede chemiſche Verbindung höherer Ordnung.
Wir wollen dies wieder an dem bereits bekannten Beiſpiel
zeigen
, das wir ſchon öfter erwähnt haben.
Wenn man ein
Stückchen
Kalium-Metall in ein Glas Waſſer wirft, ſo entreißt
das
Kalium dem Waſſer den Sauerſtoff, ſo daß der Waſſerſtoff
des
Waſſers in Blaſen aus dem übrigen Waſſer aufſteigt.
Dieſer Vorgang iſt durch die elektriſche Kraft ſehr leicht zu
bewerkſtelligen
.
Nach den bereits im vorigen Abſchnitt ange-
gebenen
Verſuchen hat man gefunden, daß Kalium der elek-
triſch-poſitivſte
aller Urſtoffe, während Sauerſtoff der negativſte
iſt
.
Waſſerſtoff ſteht ſo ungefähr in der Mitte zwiſchen beiden.
59983 Im Vergleich mit Kalium iſt jedoch Waſſerſtoff negativ-elektriſch.
Bei der Bildung des Waſſers hat ſich freilich der negative
Sauerſtoff
mit dem ihm gegenüber poſitiven Waſſerſtoff ver-
bunden
;
ſowie aber ein Ding hinzukommt, das ſo ſtark poſitiv
iſt
wie Kalium, verläßt der negative Sauerſtoff ſeinen bis-
herigen
nur ſchwach poſitiven Geſellen und geht eine neue
Verbindung
mit dem ſtärker poſitiven ein.
Gäbe es einen
Stoff
, der noch negativer elektriſch wäre als Sauerſtoff, ſo
würde
er, wenn er dazu gebracht würde, das Kalium anziehen
und
den Sauerſtoff verdrängen.
In ähnlicher Weiſe kann man ſich jeden chemiſchen Vor-
gang
erklären, wo immer ein oder zwei hinzukommende Stoffe
zu
einer bereits fertigen Verbindung die beſtehende chemiſche
Anziehung
aufheben und eine neue bewirken.
In ſolchem
Falle
wirkt immer nur der ſtärkere elektriſche Gegenſatz zweier
Stoffe
gegen den ſchwächeren.
Woher aber, könnte man bei oberflächlicher Betrachtung
fragen
, woher kommt es, daß ein elektriſcher Strom gerade
oft
eine Trennung einer chemiſchen Verbindung hervorruft?
Wir wiſſen, daß, wenn man die Pole einer ſtarken gal-
vaniſchen
Säule in ein Glas Waſſer bringt, ſich das
Waſſer
in ſeine Urbeſtandteile zerſetzt;
daß die chemiſche Ver-
bindung
des Waſſers aufgehoben wird und in geeigneten
Apparaten
gezeigt werden kann, wie die elektriſche Strömung
dem
Waſſer einerſeits Sauerſtoff und anderſeits Waſſerſtoff
entreißt
.
Wie, könnte der Uneingeweihte fragen, wenn die
chemiſche
Verbindung nur auf der Kraft der Elektrizität
beruht
, ſo müßte ja ein elektriſcher Strom, durch das Waſſer
gehend
, dieſes nur noch feſter verbinden und nicht die Ver-
bindung
ſtören?
Zur Beantwortung dieſer Frage braucht man ſich nur
zu
erinnern, daß die Pole einer galvaniſchen Säule entgegen-
geſetzt
elektriſch ſind.
Der Vol, der am Zink angebracht
60084 beſitzt poſitive Elektrizität; der Pol, der am Kupfer angebracht
iſt
, beſitzt negative.
Nun aber beſteht Waſſer ebenfalls nur
aus
zwei entgegengeſetzt elektriſchen Atomen, die ſich angezogen
haben
.
Der negative Sauerſtoff hat den poſitiven Waſſerſtoff
angezogen
.
Bringt man nun beide Pole der Säule hinein, ſo
zieht
, wenn die galvaniſche Säule ſtark iſt, alſo auch die Pole
bedeutende
elektriſche Kräfte beſitzen, der poſitive Pol der
Säule
das negative Atom des Waſſers an ſich;
während der
negative
Pol der Säule das poſitive Atom des Waſſers anzieht.
Es begiebt ſich demnach der negative Sauerſtoff zum poſitiven
Pol
und der poſitive Waſſerſtoff zum negativen Pol der Säule,
wodurch
die Trennung des Waſſers bewirkt wird.
Betrachtet man das, was hierbei vorgegangen iſt, auf-
merkſamer
, ſo ſieht man ein, daß die ſtärkere Elektrizität der
galvaniſchen
Säule die ſchwächere Elektrizität, welche das
Waſſer
bildete, aufgelöſt hat.
Das negative Atom Sauerſtoff
verließ
darum das poſitive Atom Waſſerſtoff, mit welchem es
verbunden
war, weil der Zinkpol der galvaniſchen Kette noch
elektriſch-poſitiver
war;
und ebenſo verließ das poſitive Atom
Waſſerſtoff
das mit ihm verbundene negative Atom Sauerſtoff,
weil
es einen noch negativeren Körper vorfand, zu dem es hin-
gezogen
wurde, nämlich den Kupferpol der galvaniſchen Säule.
Ganz wie es dem Waſſer ergeht, ſo ergeht es allen
chemiſchen
Flüſſigkeiten.
In allen Fällen begiebt ſich der
poſitiv-elektriſche
Teil der Flüſſigkeit zum negativen Pol und
der
negativ-elektriſche Teil der Flüſſigkeit zum poſitiven Pol
der
galvaniſchen Kette, und wenn dieſe Pole dazu eingerichtet
werden
, ſo entſteht ſogar eine wirkliche Ablagerung der chemiſch
aufgelöſten
Stoffe an den Polen der Säule, ſo daß man auf
galvaniſchem
Wege Gold, Silber, Kupfer oder ſonſt irgend
welche
Stoffe, die in Flüſſigkeiten aufgelöſt ſind, an den be-
treffenden
Polen der galvaniſchen Kette anſammeln kann.
Hierauf beruht eine der intereſſanteſten Erfindungen
60185neueren Zeit, die Galvano-Plaſtik, welche wir unſern Leſern
vorführen
und ſo angeben wollen, daß jedermann, dem es Ver-
gnügen
macht, eine Anleitung zu derartigen eigenen Verſuchen
erhalten
wird.
Eine ſolche Beſchäftigung, die wenig Zeit, ſehr
wenig
Mühe und auch nur ſehr wenig Geld koſtet, hat das
Angenehme
, daß man ſpielend dabei viel lernen kann und daß
ſie
anregt zu weiterem Nachdenken und weiterem Forſchen!
XXVIII. Die Galvano-Plaſtik.
Nachdem man bereits lange wußte, daß alle chemiſchen
Flüſſigkeiten
durch die Pole einer elektriſchen Kette derart
zerſetzt
werden, daß der poſitive Beſtandteil der chemiſchen
Flüſſigkeit
, wie etwa ein Metall, ſich an den negativen Pol
anſetzt
, während der negative Beſtandteil der Flüſſigkeit ſich
zum
poſitiven Pol hin begiebt, kam zuerſt der franzöſiſche
Naturforſcher
de la Rive im Jahre 1836 auf den Gedanken,
daß
man dadurch Metall-Niederſchläge in beliebiger Form aus
metalliſchen
Auflöſungen herſtellen könnte.
Kurze Zeit darauf endeckte Profeſſor Jacoby in Peters-
burg
, wie man dieſen Umſtand zu wichtigen praktiſchen Zwecken
benutzen
kann und nannte ſeine neue Entdeckung, die mit Recht
viel
Aufſehen machte:
Galvano-Plaſtik. Ein Zweig der Galvano-
Plaſtik
iſt die galvaniſche Verſilberung und Vergoldung, die
jetzt
ſo außerordentlich gebräuchlich iſt, daß ſie von vielen
Tauſenden
mit Erfolg als Gewerbe betrieben wird.
Die Galvano-Plaſtik wird im Großen in ſo ausgedehntem
Maße
betrieben, daß man durch dieſelbe rieſige metallene
Standbilder
, die man ſonſt nur durch den Guß herſtellen konnte,
anfertigt
;
man kann ſich aber auch einen Apparat im kleinen
herſtellen
, welcher eine eben ſo unterhaltende wie belehrende
Beſchäftigung
gewährt.
60286
Zu dieſem Zwecke läßt man ſich von einem gewöhnlichen
Lampen-Cylinder
ein Stück von ungefähr drei Zoll Länge ab-
ſchneiden
, und bindet über das eine offene Ende ein Stück
Kalbsblaſe
, ſo daß man einen Becher hat, deſſen Boden aus
Tierblaſe
beſteht.
Ein paar Drähte, die man um den Becher
bindet
, richtet man ſo ein, daß man den Becher in ein ge-
wöhnliches
Bierglas hineinſtellen kann, ohne daß er den
Boden
des Glaſes berührt, und daß er an den Drähten vom
102[Figure 102]Fig. 5. Rande des Glaſes
getragen
wird.
Nun
ſchüttet
man in das
Bierglas
eine Auf-
löſung
von Kupfer-
vitriol
und in den
Cylinder
, der im
Glaſe
hängt,
Waſſer
, in welches
man
einige Tropfen
Schwefelſäure
ge-
goſſen
hat.
Sodann
biegt
man ein Stück
Kupferdraht
ſo, daß
ein
Ende desſelben
in
das Bierglas
taucht
und das andere Ende in den Cylinder.
Bringt man
nun
an dem Ende, das in den Cylinder getaucht wird, ein
Stück
Zink an, ſo entſteht ein elektriſcher Strom an der
Stelle
, wo Zink und Kupfer ſich berühren, und dieſer Strom,
der
durch die Flüſſigkeit und durch die Tierblaſe wie durch
den
Draht zirkuliert, iſt ſtark genug, um die Auflöſung von
Kupfervitriol
, die im Glaſe iſt, zu zerſetzen und das in ihr
enthaltene
metalliſche Kupfer an den in die Flüſſigkeit tauchenden
Draht
abzulagern.
60387
Läßt man dieſen Apparat ein paar Tage ſo ſtehen, ſo
ſetzt
ſich an den Draht, der in das Bierglas hineinragt, all’
das
Kupfer an, das in der Auflöſung von Kupfervitriol vor-
handen
iſt.
Bringt man aber an dem Draht irgend eine
Form
an, z.
B. den Abdruck einer Medaille in Wachs oder
Stearin
und überzieht den Abdruck mit einer feinen Schicht
Graphit
oder Bronze-Pulver, während man den Kupferdraht,
ſo
weit er in die Flüſſigkeit taucht, mit Wachs überzieht, ſo
legt
ſich das Kupfer aus der Auflöſung an die Form an, und
man
erhält nach einigen Tagen einen außerordentlich getreuen
Abklatſch
der Medaille.
Wer ſich das Vergnügen bereiten will, ſolch einen Verſuch
anzuſtellen
, der wird von ſelber auf einzelne Vorteile und
beliebige
Abänderungen in der Einrichtung kommen (ſiehe Fig.
5)
und
wird ſicherlich viel Gelegenheit zur Selbſtbelehrung haben,
wenn
er die richtige Erklärung dieſer intereſſanten Erſcheinung
ſich
merkt.
Dieſe Erklärung iſt folgende:
Kupfervitriol iſt eine chemiſche Verbindung von Schwefel-
ſäure
und Kupfer und iſt bei jedem Droguiſten zu haben.
Dieſes Salz von blauer Farbe kann man in Waſſer auf-
löſen
und thut man dies, ſo hat man in dem blauen Waſſer
eigentlich
Atome von Schwefel, von Sauerſtoff und von Kupfer.

Durch
den Kupferdraht und durch das Zinkſtück an dem einen
Ende
, das man in das ſchwach angeſäuerte Waſſer eingetaucht
hat
, und durch das zweite Ende Kupferdraht, das man in
die
Auflöſung von Kupfervitriol taucht, wird ein elektriſcher
Strom
erregt.
Das Zink wird poſitiv-elektriſch und das Kupfer
negativ-elektriſch
.
Da aber ſowohl das Zink wie das Kupfer
in
.
chemiſchen Flüſſigkeiten ſich befindet, ſo zieht das poſi-
tive
Zink den negativen Sauerſtoff aus dem Waſſer an und
bildet
mit der vorrätigen Schwefelſäure eine Verbindung,
welche
weißer Vitriol heißt, der ſich im Waſſer auflöſt.
60488 Kupferdraht dagegen iſt der negative Pol der Kette; da er
ſich
aber in der Flüſſigkeit, wo das Kupfer aufgelöſt iſt, be-
findet
und dieſe Kupferatome poſitiv-elektriſch ſind, ſo werden
ſie
von dem negativen Pol angezogen und bilden dort nach und
nach
metalliſches Kupfer, das ſich je nach den Formen, die
man
ihm bietet, anſetzt.
XXIX. Von der galvaniſchen Verſilberung.
Ganz auf demſelben Prinzip wie die Galvano-Plaſtik be-
ruht
die galvaniſche Verſilberung und Vergoldung, die im
Großen
außerordentlich ſtark getrieben wird.
Es gewährt
aber
auch im Kleinen einen lehrreichen Genuß, ſich ſolch einen
Apparat
ſelber einzurichten, und deshalb wollen wir hierzu
die
Anleitung geben, in der Hoffnung, daß Jeder, dem eine
Beſchäftigung
derart Vergnügen macht, von ſelber hinter die
kleinen
Kunſtgriffe und Verbeſſerungen kommen wird, wenn er
nur
aufmerkſam den Vorgang betrachtet.
Um auf galvaniſchem Wege verſilbern zu können, iſt es
nötig
, daß man eine Flüſſigkeit herſtelle, die hierzu anwendbar
iſt
, und das iſt eben nicht leicht.
Wer ſich das recht bequem
machen
will, der braucht nur einige Gramm Cyan-Silber zu
kaufen
.
Dieſes Cyan-Silber ſchüttet man in 1 Liter deſtil-
liertes
Waſſer, worin es ſich auflöſt und man hat ſomit die
gewünſchte
Flüſſigkeit, um ein Dutzend neuſilberne Theelöffel
recht
ſtark zu verſilbern.
Allein es iſt ſehr lehrreich, ſich
dieſe
Flüſſigkeit ſelber zu bereiten, denn bei dieſer Gelegenheit
hat
man nicht nur Stoff zum Nachdenken, ſondern auch zum
Erkennen
der chemiſchen Vorgänge aus eigener Anſchauung
und das iſt immer die erfolgreichſte und leichteſte Art, ſich
in
die Chemie einigermaßen hinein zu arbeiten.
Man nehme einige Gramm altes Silber und klopfe
60589 mit einem Hammer ſo dünn, daß man es bequem mit einer
Scheere
zerſchneiden kann.
Die dünnen, zerſchnittenen Stückchen
Silber
thue man in ein Fläſchchen und gieße reine Salpeter-
ſäure
darauf.
Je dünner das Silber geklopft iſt, deſto ſchueller
löſt
ſich dasſelbe in der Salpeterſäure auf.
Wenn das Silber
chemiſch
rein war, ſo bleibt die Flüſſigkeit weiß, war das
Silber
aber, wie das faſt immer der Fall iſt, mit Kupfer ver-
mengt
, ſo wird die Flüſſigkeit blau-grün ausſehen.
Sobald
das
Silber vollſtändig aufgelöſt iſt, was oft erſt in einigen
Tagen
der Fall iſt, ſchütte man die Flüſſigkeit in ein Bierglas
und
gieße ungefähr ein halbes Glas deſtilliertes Waſſer dazu.
Sodann ſchütte man in ein anderes Bierglas eine Hand voll
Kochſalz
und gieße ein halbes Glas Waſſer darauf und warte,
bis
das Salz ſich aufgelöſt hat.
Wenn dies geſchehen iſt, ſo
ſchütte
man die Silberauflöſung in das Salzwaſſer und man
wird
ein Schauſpiel eigener Art haben.
Es wird ſich nämlich jeder Tropfen Silberauflöſung, der
ins
Salzwaſſer kommt, in eine Art käſige Flocken verwandeln,
die
zu Boden ſinken.
Hat man die ganze Silberauflöſung
hineingeſchüttet
, ſo warte man ſo lange, bis ſich der ſogenannte
Käſe
völlig geſetzt hat, und das darüberſtehende Waſſer recht
klar
iſt.
Iſt dies der Fall, ſo gieße man vorſichtig das Waſſer
fort
und gebe acht, daß man nichts von dem Käſe fortſchüttet,
denn
in dieſem Käſe eben ſteckt, wie wir ſehen werden, das
koſtbare
Silber.
Obgleich noch immer nicht die nötige Flüſſigkeit fertig iſt,
ſo
wollen wir uns doch einmal umſehen, was denn eigentlich
bisher
mit dem Silber vorgegangen iſt, und die Verwandlungen,
die
man mit demſelben vorgenommen, etwas genauer kennen
lernen
.
Das Silber hat ſich in der Salpeterſäure aufgelöſt; aber
nicht
aufgelöſt wie Zucker im Waſſer, ſondern die Auflöſung
iſt
eine chemiſche.
Man kann ſich hiervon durch folgenden
60690 ſuch überzeugen. Stellt man Zuckerwaſſer über Feuer oder in
eine
heiße Ofenröhre und läßt das Waſſer verdampfen, ſo er-
hält
man den Zucker wieder, wie er früher war.
Thut man
dasſelbe
mit der Salpeterſäure, ſo erhält man nicht etwa das
Silber
wieder, ſondern es zeigen ſich Kryſtalle, die wie Salz
ausſehen
und den Namen ſalpeterſaures Silber führen.
Durch
Abdampfen
der übrigen Salpeterſäure kann man dies Salz,
das
wir Silberſalz nennen wollen, rein erhalten, und wenn
man
dieſes ſchmilzt und erkalten läßt, ſo hat man den bekannten
Höllenſtein
, den man in der Medizin vielfach braucht.
Zu unſerm Zweck iſt das Herſtellen des Silberſalzes nicht
weiter
nötig, wir haben vielmehr das ſalpeterſaure Silber
ſamt
der überflüſſigen Salpeterſäure in eine Auflöſung von
Kochſalz
geſchüttet und daraus den weißen Käſeniederſchlag er-
halten
.
Hierbei iſt Folgendes vorgegangen.
Das Kochſalz iſt, wie wir wiſſen, eine chemiſche Verbin-
dung
;
es beſteht nämlich aus einem Metall, das den Namen
Natrium
hat, und aus einer Luftart, die den Namen Chlor
führt
.
Kochſalz heißt deshalb in der Wiſſenſchaft Chlor-Na-
trium
.
In dem einen Glaſe alſo war Chlor und Natrium in
Waſſer
aufgelöſt;
ſobald man zu demſelben ſalpeterſaures Silber
geſchüttet
, ſo geſchieht augenblicklich eine Trennung der alten
chemiſchen
Verbindungen, und es tritt eine neue ein.
Das
Natrium
verläßt das Chlor und verbindet ſich mit der Salpeter-
ſäure
, dadurch wird einerſeits das Silber und andererſeits das
Chlor
frei, und dieſe beiden Stoffe, die eben erſt ihre Freiheit
erlangt
haben, beſitzen gerade deshalb die heftigſte Begierde,
ſich
zu verbinden und bilden Chlor-Silber.
Und dies iſt eben der weiße, käſige Niederſchlag, den wir
haben
entſtehen ſehen;
er heißt Chlor-Silber.
60791
XXX. Von der Bereitung der Verſilberungs-
Flüſſigkeit.
Das Chlor-Silber, das wir nun in der Form eines käſigen
Niederſchlages
beſitzen, muß noch weiter chemiſch behandelt
werden
, um aus demſelben die Flüſſigkeit herzuſtellen, die zum
Verſilbern
gebraucht werden kann.
Wir wollen jedoch die Ge-
legenheit
nicht vorübergehen laſſen, ohne einen Blick ſeitwärts
auf
das zu werfen, was wir mit dem Waſſer fortgeſchüttet
haben
.
Hat dies auch keinen reellen Wert für uns, ſo iſt es
doch
gut zu wiſſen, was man eigentlich unter Händen gehabt hat.
Das Waſſer, das man abgegoſſen hat, beſtand erſtens aus
dem
Waſſer, worin das ſalpeterſaure Silber aufgelöſt geweſen,
und
zweitens aus dem hinzugegoſſenen Salzwaſſer.
Nun aber
enthält
der käſige Niederſchlag, den wir jetzt zurückbehalten
haben
, nur Chlor-Silber, das heißt nur Chlor, welches im
Glaſe
Salzwaſſer geweſen iſt und Silber, welches im erſten
Glaſe
war.
Im Salzwaſſer war aber außer Chlor noch
Natrium
, denn Kochſalz beſteht aus Chlor und Natrium
und
im erſten Glaſe war außer Silber noch Salpeterſäure
enthalten
.
Es läßt ſich alſo ohne weiteres einſehen, daß
in
dem Waſſer, das wir fortgegoſſen haben, Natrium und
Salpeterſäure
geweſen ſein muß;
da ſich dieſe aber chemiſch
verbinden
, ſo bilden ſie ſalpeterſaures Natrium, welches in dem
überſchüſſigen
Waſſer aufgelöſt, für unſere Augen unmerklich iſt.
Würde man dieſes Waſſer nicht fortgießen, ſondern in einem
Glaſe
auffangen und über Feuer oder in einer heißen Ofenröhre
verdampfen
laſſen, ſo würde man finden, daß wirklich eine
Art
Salz zurückbleibt, das dem Kochſalz durchaus nicht gleich,
ſondern
von anderen Eigenſchaften iſt und weil es würfelartig
ausſieht
, “kubiſcher Salpeter” genannt wird.
Nunmehr wollen wir zum Chlor-Silber zurückkehren, das
wir
benutzen wollen.
60892
Wir müſſen mit demſelben noch eine Operation vornehmen,
aber
wir raten Jedem, dabei mit der allergrößten Vorſicht zu
verfahren
.
Man braucht hierzu nämlich einen Stoff, der äußerſt
giftig
iſt, da ſchon ein Krümelchen davon, das an eine wunde
Stelle
der Haut kommt, imſtande iſt, den Tod herbeizuführen.
Dieſer Stoff heißt Cyan-Kalium.
Was Kalium iſt, wiſſen unſere Leſer bereits. Es iſt ein
Metall
, welches ſo ungeheure Neigung hat, ſich mit Sauerſtoff
zu
verbinden, daß man es garnicht davor hüten kann.
Dieſes
Metall
geht auch eine Verbindung mit einem eigentümlichen, gif-
tigen
Gas ein, welches Cyan heißt, und ſich von allen uns bisher
bekannt
gewordenen Stoffen unterſcheidet.
Cyan nämlich be-
ſteht
aus Kohlenſtoff und Stickſtoff, iſt alſo ein zuſammengeſetzter
Stoff
, verbindet ſich aber dennoch chemiſch faſt mit allen Me-
tallen
.
Das Cyan hat große Neigung, ſich mit Waſſerſtoff zu
verbinden
und bildet mit dieſem die furchtbare Blauſäure,
deren
Geruch ſchon tötlich wirkt.
Wir haben hier ein Beiſpiel,
wie
der unſchädliche Kohlenſtoff, der ebenſo unſchädliche Stick-
ſtoff
und der in jedem Glaſe Waſſer maſſenweis von uns ver-
ſchluckte
Waſſerſtoff in chemiſcher Verbindung das furchtbarſte
Gift
erzeugen, das man in der Welt kennt.
Das Cyan aber iſt es, das wir brauchen, und zwar
nimmt
man zu einem halben Gramm Silber etwa fünf Gramm
Cyan-Kalium
.
Dieſes löſt man in deſtilliertem Waſſer auf
und
ſchüttet das Chlor-Silber hinein und man wird ſofort
ſehen
, wie nach einigem Schütteln das käſige Chlor-Silber ſich
auflöſt
, und bald hat man eine farbloſe Flüſſigkeit vor ſich, die
nicht
im Entfernteſten durch ihr Anſehen verräth, daß hier ſo
viele
verſchiedene Stoffe darin ſind.
In dieſer Flüſſigkeit, die wir nun bald gebrauchen werden,
ſind
nicht weniger als zwei Metalle vorhanden, und außerdem
noch
zwei, eigentlich drei Stoffe.
Erſtens iſt, wie wir wiſſen,
Silber
da, zweitens ſteckt auch Kalium darin, drittens
60993 ſich hier auch Chlor und endlich viertens Cyan, oder eigentlich
viertens
und fünftens:
Kohlenſtoff und Stickſtoff.
Was aber machen dieſe vier oder gar fünf Stoffe darin?
Das wollen wir gleich ſehen.
Das Cyan iſt, wie wir wiſſen, früher mit dem Kalium
verbunden
geweſen.
Nun iſt Kalium der elektriſch-poſitivſte
Stoff
, den wir kennen, und Chlor iſt ſehr negativ-elektriſch.
Schüttet man daher das Cylor-Silber in die Löſung von Cyan-
Kalium
, ſo verbindet ſich ſofort das Chlor mit dem Kalium,
während
das Silber ſich mit dem Cyan verbindet.
Wir haben alſo in dem Waſſer erſtens Cyan-Silber und
zweitens
Chlor-Kalium.
Da dies aber beides Stoffe ſind,
welche
ſich im Waſſer auflöſen, ohne es zu färben, ſo kann man
es
dem Waſſer garnicht anmerken, was in ihm ſteckt.
Und dieſes Waſſer eben iſt die Flüſſigkeit, die wir benutzen
wollen
.
Man ſchütte nun noch etwa ein Liter deſtilliertes
Waſſer
hinzu und bereite ſich vor, zur Einrichtung des elek-
triſchen
Apparats zu gehen, bei dem wir im nächſten Abſchnitt
dem
Liebhaber ſogleich zur Hand ſein wollen.
XXXI. Einrichtung des Apparats zum Verſilbern.
Die Einrichtung des Apparats zum Verſilbern iſt, wenn
man
ſich’s bequem machen will, höchſt einfach.
Man braucht
nur
denſelben Apparat anzuwenden, den wir bereits bei der
Galvano-Plaſtik
beſchrieben haben, und zwar ſetzt man zu dieſem
Zweck
den mit Tierblaſe umbundenen Cylinder wieder in ein
Glas
, das eine Portion Salzwaſſer enthält, während man in
den
Cylinder die Cyan-Silberflüſſigkeit gießt.
Will man nun
etwas
verſilbern, zum Beiſpiel einen neuſilbernen Theelöffel, ſo
befeſtigt
man dieſen an einen Kupferdraht, der an ſeinem
andern
Ende an ein Stück Zink gelötet iſt.
Das Stück
61094 wird ins Salzwaſſer geſteckt und der Theelöffel in die Cyan-
Silber-Löſung
.
Die elektriſche Strömung beginnt nun ſofort
zu
wirken;
die Cyan-Silber-Löſung zerſetzt ſich chemiſch und es
legt
ſich das Silber in außerordentlich feiner Schicht ſofort an
das
Neuſilber, das hier der negative Pol iſt, und überzieht ſo
das
Löffelchen, daß es nach einigen Stunden ſchon ganz ſilber-
weiß
erſcheint.
Wenn das Salzwaſſer wenig Salz enthält, ſo geht die
Verſilberung
ſehr langſam vor ſich;
aber ſie iſt dafür viel
reiner
und zarter.
Am ſchönſten iſt die Verſilberung, wenn ſie
ſo
langſam geſchieht, daß 24 Stunden dazu nötig ſind, um
eine
gehörige Schicht herzuſtellen.
Der verſilberte Gegenſtand
hat
dann ein weißes, mattes Anſehen, nimmt aber durch Politur,
namentlich
durch Bearbeiten mit dem Polierſtahl den ſchönen
Silberglanz
an, der dieſem Metalle ſeinen beſondern Wert
giebt
.
Wer mit dem Polieren durch den Polierſtahl nicht
Beſcheid
weiß, erreicht auch ſeinen Zweck durch Putzen mit
Schlemmkreide
und etwas Pariſer Rot, obgleich dies nicht jenen
tiefen
Glanz hervorbringt, der am Silber ſo gern geſehen wird.
Zur Erklärung des Vorganges brauchen wir nur wenig
zu
ſagen.
Durch die Berührung des Kupferdrahtes und des
Zinkes
wird Elektrizität erzeugt.
Das Zink wird poſitiv-
elektriſch
und der Kupferdraht negativ-elektriſch.
Da nun der
Theelöffel
an dem Kupferdraht befeſtigt iſt, ſo wird auch dieſer
zum
negativen Pol.
Stellt man nun das Zink in das Salz-
waſſer
und den Löffel in die Cyan-Silber-Löſung, ſo zieht das
poſitive
Zink den negativen Beſtandteil aus dem Salzwaſſer,
alſo
das Chlor an ſich und bildet Chlor-Zink, für das wir uns
beim
Verſilbern nicht weiter intereſſieren.
Der Theelöffel da-
gegen
, der negativ-elektriſch iſt, zieht aus der Cyan-Silber-
Löſung
den poſitiven Beſtandteil an, und dies iſt das Silber,
woher
dann die Silberſchicht rührt, welche ſich auf dem Löffel
anlegt
.
61195
Dieſe Art zu verſilbern iſt ſehr einfach und gewährt viel
Vergnügen
;
aber wir raten jedem Liebhaber zu einer Er-
weiterung
des Apparats, welche ſehr viel Intereſſantes an ſich
hat
und wobei man eine neue Erſcheinung kennen lernen wird.
Die Erweiterung beſteht in Folgendem:
Man fülle den bewußten Cylinder mit Kupfervitriol und
ſtelle
ein Stück Kupferblech hinein.
Das Glas fülle man mit
Waſſer
, worin man drei bis vier Tropfen Schwefelſäure ge-
ſchüttet
, ſtelle den Cylinder in das Glas und thue in das Glas
ein
Stück Zink.
An dieſes Stück Zink und ebenſo an das
Stück
Kupferblech befeſtige man einen dünnen Kupferdraht von
beliebiger
Länge, ſodaß man die Enden beider Drähte, die die
Pole
eines galvaniſchen Apparats ſind, beliebig in ein geeig-
netes
Gefäß eintauchen kann, worin man die Verſilberung vor-
nehmen
will.
Nehmen wir an, daß man einen neuſilbernen Eßlöffel ver-
ſilbern
will, ſo ſchüttet man die Cyan-Silber-Löſung in ein
Gefäß
, worin der Löffel bequem liegen oder hängen kann, ohne
aus
der Löſung hervorzuragen.
Der Löffel wird nun an dem
einen
Kupferdraht befeſtigt, der an dem Kupfer des galvaniſchen
Apparats
angelötet iſt, alſo am negativen Pol.
An dem
poſitiven
Pol des Apparats aber befeſtige man ein beliebiges
Stück
reines Silber und nun ſtelle man beides, den Löffel, der
ſich
verſilbern ſoll, und das Stück Silber in die Eyan-Silber-
Flüſſigkeit
, jedoch ſo, daß ſie ſich nicht berühren.
Auch hier geht die Verſilberung wie bei der obigen Ein-
richtung
vor ſich;
allein es geſchieht noch ein zweites dabei,
das
höchſt intereſſant iſt.
Während bei der obigen Einrichtung die
Cyan-Silber-Löſung
fortwährend ſchwächer wird, je mehr Silber
ſich
an dem Löffel abgelagert hat, iſt es bei dieſer Einrichtung
nicht
der Fall.
Die Löſung bleibt unendliche Zeiten immer
in
derſelben Stärke, ohne daß ſie erneuert wird.
In großen
Verſilberungsanſtalten
erhält man in ſolcher Weiſe die
61296 monatelang in gutem Zuſtande, ohne daß man ſie zu erneuern
braucht
.
Wie aber geht dies zu?
Die Sache iſt ganz einfach. Am negativen Pol ſetzt ſich
aus
dem Cyan-Silber das Silber ab, weil das Silber poſitiv-
elektriſch
iſt.
Nun iſt aber Cyan negativ-elektriſch und dies
wird
vom poſitiven Pol angezogen.
Da nun am poſitiven
Pol
ein Stück Silber ſteckt, ſo kommt hier Cyan zum Silber,
und
es bildet ſich da genau ſo viel Cyan-Silber, wie am
negativen
Pol zerlegt wird.
Das Stück Silber am poſitiven
Pol
wird auch dadurch aufgezehrt und muß daher erſetzt
werden
.
Thut man dies aber, und nimmt man es nur groß
genug
, ſo zehrt ſich am poſitiven Pol ſo viel ab, wie ſich am
negativen
Pol anſetzt.
Mit Recht alſo kann man ſagen, daß
der
elektriſche Strom eine Wanderung des Silbers vom poſitiven
zum
negativen Pol hervorbringt.
XXXII. Etwas von der galvaniſchen Vergoldung.
Manchem denkenden Leſer, der in der Chemie nicht Beſcheid
weiß
, möchte ſich leicht die Frage aufdrängen, wozu ſtellt man
bei
der galvaniſchen Verſilberung erſt Cyan-Silber her, wes-
halb
benutzt man nicht die ſalpeterſaure Silberauflöſung zu
demſelben
Zweck?
Die ſalpeterſaure Silberauflöſung läßt ſich
ja
mit Waſſer verdünnen und ſo hätte man ja bereits eine
wäſſerige
Flüſſigkeit, worin der eine Stoff, das Silber, poſitiv-
elektriſch
und der andere, die Salpeterſäure, negativ-elektriſch
iſt
;
warum ſteckt man nicht die Pole eines galvaniſchen Apparats
in
die Löſung und läßt die Verſilberung in dieſer vor ſich
gehen
?
Die Antwort hierauf iſt folgende:
Die Salpeterſäure, welche Silber auflöſt und ſich
61397 mit demſelben verbindet, hat noch größere Neigung, ſich mit
Kupfer
zu verbinden, und wollte man die Pole des galvaniſchen
Apparats
in die ſalpeterſaure Silberlöſung ſtecken, ſo würde
man
ſtatt der Verſilberung ganz etwas anderes hervorbringen.
Wer Gelegenheit dazu hat, der mache ſich das Vergnügen
einmal
, in ein wenig Auflöſung von ſalpeterſaurem Silber ein
Streifchen
Kupferblech hineinzuſtellen und er wird ein Schau-
ſpiel
eigener Art vor ſich ſehen, das ihn mehr belehren wird,
als
viele Worte es vermögen.
Vor ſeinen Augen nämlich wird
ſich
in der hellen, klaren Flüſſigkeit an dem blanken Kupfer-
ſtreifen
eine Art Pelz anlegen und immerzu wachſen, während
die
Flüſſigkeit blaugrün wird.
Schüttelt man den Kupferſtreifen,
ſo
fällt der Pelz ab, und es legt ſich dann ein neuer an, bis
endlich
eine ziemliche Maſſe dieſes Pelzes ſich ſammelt und zu
Boden
föllt, worauf dann dieſe Erſcheinung aufhört.
Was aber iſt hier eigentlich vorgegangen?
Der Vorgang iſt einfach folgender.
Kupfer iſt zwar, wie wir ſchon wiſſen, gegen Zink negativ-
elektriſch
, allein im Vergleich mit Silber iſt es ein wenig
poſitiver-elektriſch
als das Silber.
Steckt man nun den Kupfer-
ſtreifen
in die ſalpeterſaure Silberflüſſigkeit, ſo verdrängt das
poſitivere
Kupfer das weniger poſitive Silber.
Es verbindet
ſich
daher die Salpeterſäure mit dem Kupfer, und wo bleibt
das
Silber?
Es wird verdrängt aus der Verbindung und
tritt
als feine Stäubchen wieder metalliſch auf und zwar legt
es
ſich als Pelz an den Kupferſtreifen.
Es wird demnach aus
der
waſſerhellen, ſalpeterſauren Silberauflöſung eine blaugrüne
ſalpeterſaure
Kupferauflöſung, und das Silber fällt in feinen
Stäubchen
zu Boden.
Beiläufig wollen wir hier nur erwähnen,
daß
man in dieſer Weiſe das Silber ſammeln, waſchen und
reinigen
kann, ſodaß man es nachher zwar nicht in Stücken,
aber
doch in Pulverform wieder hat, ohne daß deſſen Wert
irgendwie
verloren hätte.
A. Bernſtein, Naturw. Volksbücher V.
61498
Es wird nun Jeder einſehen, daß man die ſalpeterſaure
Silberlöſung
nicht zum Verſilbern anwenden kann, weil die
Kupferdrähte
des galvaniſchen Apparats, wenn ſie in dieſe
Flüſſigkeit
eingetaucht werden, das Silber verdrängen und das
Pulver
zu Boden fallen ließen.
Dieſerhalb muß man erſt das
Cyan-Silber
herſtellen.
Ein vergoldeter Gegenſtand braucht nicht poliert zu werden,
ſondern
erhält durch leiſes Putzen ſchon den ſchönſten Glanz.
Man muß nicht glauben, daß die Vergoldung teuer iſt, für
3
Mark Gold kann man eine Unmaſſe von Schmuckſachen auf’s
ſchönſte
vergolden.
Zu dieſem Zweck wirft man ein Stück
reines
Dukatengold inKönigswaſſer”, das iſt eine Miſchung
von
Salzſäure und Salpeterſäure.
In dieſer Flüſſigkeit löſt
ſich
das Gold auf, und wenn man dann die Flüſſigkeit ab-
dampft
, ſo bleibt ein Salz von feinen, gelben Stäubchen zurück,
welche
Chlorgold ſind, denn Salzſäure beſteht aus Chlor und
Waſſerſtoff
, und das Gold geht bei der Auflöſung eine Ver-
bindung
mit dem Chlor ein.
Das Chlorgold wird nun in deſtilliertem Waſſer aufgelöſt
und
tropfenweiſe in eine Cyan-Kalium-Löſung geſchüttet, wo-
durch
die eigentlich zu brauchende Flüſſigkeit entſteht, nämlich
die
Cyan-Gold-Flüſſigkeit.
Dieſe Flüſſigkeit beſteht am beſten ſo, daß man auf einen
Teil
Gold zehn Teile des giftigen Cyan-Kalium und hundert
Teile
deſtilliertes Waſſer anwendet.
Beim Vergolden verfährt
man
eben ſo wie bei dem Verſilbern:
hängt man an den nega-
tiven
Polen den zu vergoldenden Gegenſtand und an den po-
ſitiven
Pol ein Stückchen echtes Blattgold, ſo behält die Flüſſig-
keit
lange ihre Kraft und es wandert auch hier das Gold vom
poſitiven
zum negativen Pol hin.
61599
XXXIII. Merkwürdige weitere Verſuche.
Die Verſuche, durch Elektrizität chemiſche Wirkungen her-
vorzubringen
, welche in Paris angeſtellt worden ſind, haben ein
ſo
auffallendes Reſultat geliefert, daß ſie faſt wie eine Fabel
klingen
, weshalb wir die berühmten Namen der Forſcher hier
nennen
wollen.
Der engliſche Naturforſcher Davy, dem die Wiſſenſchaft
ganz
außerordentliche Erfolge verdankt, hat Verſuche angeſtellt,
ob
der elektriſche Strom imſtande iſt, die chemiſchen Stoffe aus
dem
eignen Körper des Naturforſchers in gleicher Weiſe zu
zerſetzen
, wie dies in leitenden Flüſſigkeiten der Fall iſt.
Er
ging
von dem Gedanken aus, daß eben ſo gut wie an den zwei
Polen
eines galvaniſchen Apparats, die ins Waſſer getaucht ſind,
der
poſitive Teil des Waſſers an den negativen Pol hingeht,
während
der negative Teil des Waſſers an den poſitiven Pol
ſich
hinbegiebt, daß dies eben ſo gut der Fall ſein müſſe, wenn
er
einen galvaniſchen Apparat auf die chemiſchen Beſtandteile
ſeines
Körpers einwirken laſſe.
Und wirklich gelang es ihm
durch
genaue Forſchungen nachzuweiſen, daß dem ſo iſt.
Nach
Davys
Verſuchen läßt ſich aus dem Körper eines Menſchen
ſowohl
Phosphorſäure wie Schwefelſäure und Salzſäure durch
den
galvaniſchen Strom ausſcheiden.
Dieſe Entdeckung führte zu weiteren Verſuchen, welche
Becquerel und Fabré-Palaprat in Paris anſtellten und
die
noch auffallendere Reſultate lieferten.
Der hauptſächlichſte
dieſer
Verſuche iſt folgender.
Es iſt nämlich eine allen Chemikern ganz bekannte That-
ſache
, daß, wenn das Element Jod zu irgend einer Art von
Stärkemehl
gebracht wird, dies ſofort eine blaue Farbe annimmt.
Dieſe Eigenſchaft iſt ſo auffallend, daß man dadurch die leiſeſten
Spuren
von Jod ſofort entdecken kann, wenn man nur ein we-
nig
Stärkemehl zur Hand hat.
616100
Die genannten Forſcher haben nun folgenden Verſuch an-
geſtellt
.
Es wurden beide Arme eines Menſchen vollkommen
trocken
gemacht, damit die Haut nicht die Elektrizität leiten
ſolle
.
Sodann wurde auf den einen Arm ein feuchtes Pflaſter
gelegt
, das mit Jod-Kalium getränkt war, das heißt mit einer
Auflöſung
eines bekannten Salzes, das aus einer chemiſchen
Verbindung
von Jod und Kalium beſteht.
Auf den andern
Arm
brachte man ein Pflaſter, das in gewöhnlichen Kleiſter,
alſo
in eine Stärkemehl-Auflöſung getaucht war.
Nunmehr
brachte
man an den erſten Arm den negativen Pol eines gal-
vaniſchen
Apparats, während man deſſen poſitiven Pol an das
Kleiſterpflaſter
brachte;
und ſchon nach wenigen Minuten wurde
das
Kleiſterpflaſter blau.
Woher kommt dies?
Auf keinem andern Wege, als daß der elektriſche Strom
das
Jod-Kalium in ſeine Beſtandteile zerlegte.
Kalium, das
poſitiv-elektriſch
iſt, blieb an dem negativen Pol, und Jod,
welches
negativ-elektriſch iſt, ging durch den Körper des Menſchen
zum
poſitiven Pol und färbte das dort befindliche Kleiſter-
pflaſter
blau.
Dies heißt aber nichts weniger, als daß es gelungen iſt,
einen
Stoff, einen wirklichen Stoff, auf dem Wege des elek-
triſchen
Stromes durch den Körper eines Menſchen hindurch
zu
transportieren.
Freilich kann uns das nicht Wunder nehmen, da wir ge-
ſehen
haben, daß bei der Verſilberung das Silber am poſitiven
Pol
ſich abzehrt und nach dem negativen Pol hinbegiebt.
Und
wäre
das Gefäß eine Meile lang und die beiden Pole ſtänden
an
beiden Enden des Gefäßes, es wäre doch dasſelbe.
Es
würde
das Silber die Meile weit wandern.
Ja, es giebt
keine
Grenze der Entfernung für dieſe Kraft;
denn es ſteht
feſt
, daß eine Silberplatte, welche man in Berlin in einem Ver-
ſilberungsapparat
an den poſitiven Pol hängte, ſich
617101 und daß das Silber bis nach Paris wandern würde, wenn der
Verſilberungsapparat
ſo lang wäre und ſeinen negativen Pol
dort
hätte.
Es iſt alſo das Transportieren, das wirkliche
Transportieren
auf elektriſch-chemiſchem Wege keineswegs neu.
In noch höherem Maße intereſſant iſt ein weiterer Ver-
ſuch
Davys.
Er ſtellte drei Gläſer auf den Tiſch. In das
eine
Glas goß er reines deſtilliertes Waſſer, in das zweite
Glas
goß er eine ſchwache Ammoniak-Löſung und in das dritte
eine
Auflöſung von ſchwefelſaurem Natrium, das iſt das bekannte
Glauberſalz
.
Die drei Gläſer wurden durch feine Asbeſtdochte
verbunden
, ſo daß ein elektriſcher Strom von Glas zu Glas wan-
dern
konnte.
Nun brachte er den poſitiven Pol einer ſtarken
Voltaſchen
Säule von 150 Plattenpaaren in das reine Waſſer,
den
negativen Pol tauchte er in das Glauberſalz, und ſchon
nach
fünf Minuten entdeckte man, daß in dem Glaſe, worin
früher
reines Waſſer war, jetzt Schwefelſäure ſei.
Der elektriſche
Strom
hatte das ſchwefelſaure Natron zerſetzt, das poſitive
Natron
blieb beim negativen Pol und die negative Schwefel-
ſäure
ging hinüber in das Glas Waſſer, wo der poſitive Pol
ſteckte
.
Das Wunderbare hierbei iſt, daß die Schwefelſäure ihren
Transport
durch das Glas mit Ammoniak nehmen mußte und
nehmen
konnte, obgleich das Ammoniak die Schwefelſäure ſonſt
ſehr
ſtark bindet.
XXXIV. Schlußbetrachtung.
So ſicher wir auch ahnen, daß die von uns betrachteten
geheimen
Kräfte der Natur nur die verſchiedenen Äußerungen
einer
einzigen Naturkraft ſind (vergl.
Bändchen I), ſo ſehr
müſſen
wir doch davor warnen, dieſe Geſamtkraft auf
618102 Wege zu ſuchen, als auf dem der Beobachtung der Natur und
der
weiteren Erforſchung ihrer bisher entdeckten Geſetze.
Niemals iſt die Wiſſenſchaft in tiefere Irrtümer geraten,
als
wenn Denker ſich eingebildet haben, durch reine Spekulation
ihrer
Vernunft hinter die Triebfedern der Welt und der Dinge
zu
kommen;
und nirgend hat ſich die Wiſſenſchaft früher aus
dieſen
Irrtümern aufgerafft, als bis die getreue, fleißige Be-
obachtung
der Natur ſich geltend machte.
Wollte man einmal zuſammenſtellen, was die größten
Philoſophen
der Welt von Ariſtoteles bis auf Hegel für Unſinn
über
die Natur ans Tageslicht gebracht haben, der für Natur-
philoſophie
gelten ſollte, ſo würde man das luſtigſte und zu-
gleich
traurigſte Bild von den Irrtümern des menſchlichen
Geiſtes
vor ſich haben;
aber es iſt doch eine ſolche Zuſammen-
ſtellung
eine Wohlthat, um dadurch von Spekulationen abzu-
ſchrecken
, die ohne die genaueſte Kenntnis der Natur über
dieſelbe
angeſtellt werden.
Hat ja Hegel, der große Hegel,
zum
Beginn ſeiner Laufbahn noch den Beweis geführt, weshalb
es
ſieben Planeten geben müſſe, und wie ſie mit den ſieben
Farben
und den ſieben Tagen zuſammenhängen.
Als ſpäter
noch
bei ſeinen Lebzeiten elf Planeten geſehen wurden, hat er
ſich
eine Philoſophie zurechtgelegt, in die auch die elf hinein-
paßten
;
würde er jetzt noch leben, ſo wäre er genötigt, noch-
mals
ſeine Pläne über die Welt zu ändern und ſein Syſtem
ſo
einzurichten, daß die bis jetzt entdeckten Planeten, deren Zahl
über
vierhundert geſtiegen iſt, darin ihren Platz finden!
Geiſtesirrtümer dieſer Art ſind ein gutes Warnungs-
zeichen
, daß der Denker nicht all’ zu kühn hinausgreife in ein
Gebiet
, das erſt nach und nach und mit der allerernſtlichſten
Sorgfalt
der Beobachtung errungen werden kann, und ſich
nicht
einbilde, Geheimniſſe zu erforſchen, welche vielleicht erſt
unſere
Enkel oder gar die ſpäteſten Nachkommen zu erforſchen
imſtande
ſein werden.
619103
Wer es indeſſen liebt, über die geheimen Kräfte der Natur
nachzuſinnen
und dem Reiz nicht widerſtehen kann, der in dem
Vertiefen
in dieſe Beſchäftigung liegt, der mag eines nicht un-
beachtet
laſſen, das ihn Beſcheidenheit lehren wird;
und das
eine
iſt die Betrachtung, mit welcher wir unſer Thema be-
gonnen
haben.
Er vergeſſe nicht, daß wir die geſamte Natur nur durch
unſere
fünf Sinne wahrnehmen;
daß wir von allem, was ſich
unſeren
fünf Sinnen nicht verrät, nicht die leiſeſte Ahnung
haben
und haben können;
daß aber die wirkliche Natur ſchwer-
lich
ſo beſchränkt eingerichtet iſt, daß nichts in ihr exiſtiert,
was
wir nicht wahrzunehmen imſtande ſind.
Wir Menſchen
ſind
von Jugend auf gewöhnt, die ganze Welt ſo anzuſehen,
als
ob ſie nur für uns exiſtierte.
Wir nennen Pflanzen,
die
wir nicht eſſen oder brauchen:
Unkraut; Gegenden, wo wir
nicht
leben können:
Wildnis; wir ſuchen an allen Dingen die
Seite
auf, die eine Beziehung zu uns hat und vergeſſen dabei,
daß
es nicht die Wahrheit der Natur, ſondern unſere Selbſt-
liebe
iſt, die uns ſolch ein Aburteilen der Welt außer uns
eingiebt
.
Ganz in demſelben Maße aber verfahren noch leider
die
allergeſcheiteſten Menſchen mit der Erkenntnis der Natur.
Sie vergeſſen oder faſſen den Gedanken nicht, daß in der
Natur
ohue Zweifel unendlich viele Erſcheinungen vorhanden
ſind
, welche für uns nicht exiſtieren, weil uns die Sinne fehlen,
durch
welche wir ſie in uns zur Wahrnehmung bringen können.

Sie
bedenken nicht, daß wahrſcheinlich nur ein ſehr kleiner
Teil
der Natur uns zur Erkenntnis kommt, und nur ſo weit
zur
Erkenntnis kommt, ſoweit uns unſere fünf Sinne einen
Eindruck
derſelben verſchaffen, daß alſo der allergrößte Teil
der
Natur für uns ein ewig verſchloſſenes Geheimnis iſt, das
wir
direkt niemals entſiegeln werden.
Die Naturwiſſenſchaft hat aber gleichwohl auf ihrem
Wege
, dem Wege der ſtrengen Beobachtung, einzelnen
620104 der Geheimniſſe der Natur nachzufolgen verſucht, und in vielen
Beziehungen
iſt ihr Bemühen mit Erfolg gekrönt worden.
Was wir in den vorſtehenden Abſchnitten unſeren Leſern in
flüchtigen
Umriſſen mitgeteilt haben, iſt freilich nur gering
im
Vergleich mit der Aufgabe, die ſich der Wiſſensdrang
der
Menſchen ſtellt;
aber es iſt doch viel im Vergleich zu
dem
, was die verwichenen Jahrhunderte uns hinterlaſſen
haben
.
Können wir auch nur in Beſcheidenheit hinblicken
auf
das, was noch zu thun übrig bleibt und was bisher ge-
leiſtet
worden iſt, ſo dürfen wir doch ſtolz unſer Jahrhundert
als
das erleuchtetſte der bisherigen Jahrhunderte der Menſchen-
geſchichte
bezeichnen und können von uns ſagen, daß wir den
kommenden
Geſchlechtern weit mehr von wahrer Erkenntnis
hinterlaſſen
, als wir von den vergangenen Geſchlechtern geerbt
haben
.
Deshalb aber iſt der nur würdig, ein Genoſſe unſeres
Zeitalters
genannt zu werden, der ſich mindeſtens eine An-
ſchauung
von dem verſchafft, was in demſelben geleiſtet wurde.
Und wenn unſere Schriftchen eine Anregung hierzu und zur
weiteren
Belehrung über die Natur geben, ſo genügen ſie ihrer
Aufgabe
.
Druck von G. Bernſtein in Berlin.
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