Ampère, A.M., Natürliches System aller Naturwissenschaften. Eine Begegnung deutscher und französischer Speculation., 1844

Bibliographic information

Author: Ampère, A.M.
Title: Natürliches System aller Naturwissenschaften. Eine Begegnung deutscher und französischer Speculation.
Year: 1844
City: Stuttgart
Publisher: Ebner & Seubert
Number of Pages: 130

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Copyright: Max Planck Institute for the History of Science (unless stated otherwise)
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Table of contents
1. Page: 0
2. Natürliches Syſtem aller Naturwiſſenſchaften. Eine Begegnung deutſcher und franzöſiſcher Speculation. Aus dem Franzöſiſchen des A. M. Ampère im Auszug bearbeitet und mit critiſchen Noten begleitet von Dr. G. Widenmann, practiſchem Arzt. Stuttgart. Verlag von Ebner & Seubert. 1844. Page: 3
3. Einleitung des Herausgebers. Page: 5
4. Inhaltsanzeige. Page: 13
5. Ampère’s Begriff einer Claſſification Alles Wiſſens überhaupt und eines natürlichen Syſtems Alles Wiſſens insbeſondere. Page: 15
6. Plan des Werks. Page: 25
7. Eintheilungsprincip Ampère’s und die Art, wie er es entdeckte. Page: 31
8. Buſatz Ampère’s zu ſeinem Eintheilungsprincip. Page: 45
9. Ampère’s natürliche Claſſification aller Uatur- wiſſenſchaften. Erſtes Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, welche es nur mit den Begriffen von Maas und Größe zu thun haben. Page: 55
10. §. 1. Wiſſenſchaften der erſten Ordnung, welche ſich auf das Meſſen der Größen im Allgemeinen beziehen. Page: 55
11. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Arithmographie. Page: 56
12. 2) Mathematiſche Analhſe. Page: 57
13. 3) Theorie der Functionen. Page: 58
14. 4) Theorie der Wahrſcheinlichkeitsrechnung. Page: 58
15. b) Claſſification. Page: 59
16. Anmerkungen Ampère’s. Page: 59
17. §. 2. Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche ſich mit dem Meſſen und den Eigenſchaften der ausgedehnten Größen beſchäftigen. Page: 64
18. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Synthetiſche Geometrie. Page: 65
19. 2) Analytiſche Geometrie. Page: 65
20. 3) Theorie der Linien und Flächen. Page: 65
21. 4) Moleculärgeometrie.) Page: 66
22. b) Claſſification. Page: 67
23. Anmerkung des Herausgebers. Page: 67
24. §. 3. Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche ſich auf die allgemeinen Beſtim-mungen der Bewegungen und Kräfte beziehen. Page: 68
25. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Cinematik. Page: 68
26. 3) Dynamik. Page: 71
27. 4) Molecularmechanik. Page: 71
28. b) Claſſification. Page: 72
29. §. 4. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, die ſich mit der Beſtimmung der wirklich im Raum exiſtirenden Bewegungen und Kräfte beſchäftigen. Page: 73
30. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Uranographie. Page: 73
31. 2) Helioſtatik. Page: 74
32. 3) Aſtronomie. Page: 74
33. 4) Mechanik des Himmels. Page: 75
34. b) Claſſification. Page: 75
35. §. 5. Definition und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, welche der Beobachtung nur die Begriffe von Größe und Maas entnehmen. Page: 76
36. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Arithmologie. Page: 76
37. 2) Geometrie. Page: 77
38. 3) Mechanik. Page: 78
39. 4) Uranologie. Page: 79
40. b) Claſſification. Page: 79
41. Zweites Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, melche die unorganiſchen Eigen- ſchaften der Körper und ihre Anordnung auf dem Erdball zum Gegenſtand haben. Page: 81
42. §. 1. Wiſſenſchaften dritter Ordnung, die es mit ben unorganiſchen Eigen-ſchaften der Körper und mit den Erſcheinungen zu thun haben, die ſie bei einer allgemeinen Betrachtung zeigen. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Experimentalphyſik. Page: 81
43. 2) Chemie. Page: 82
44. 3) Stereonomie. Page: 82
45. 4) Atomologie. Page: 82
46. b) Claſſification. Page: 83
47. §. 2. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, die ſich mit den Arbeiten beſchäfti-gen, mittelſt deren wir die Körper auf die unſerem Nutzen und unſerem Vergnügen angemeſſenſte Weiſe beſchäftigen. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Technographie. Page: 83
48. 2) Induſtrielle Gewinnlehre (Cerdoriſtik). Page: 83
49. 3) Induſtrielle Oeconomie. Page: 83
50. 4) Induſtrielle Phyſik. Page: 84
51. b) Claſſification. Page: 84
52. §. 3. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, die ſich auf die Zuſammenſetzung der Erde, auf die Natur und Anordnung ihrer verſchiedenen Beſtandtheile beziehen. Page: 84
53. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Phyſiſche Geographie. Page: 84
54. 2) Mineralogie. Page: 85
55. 3) Geonomie. Page: 86
56. 4) Theorie der Erde. Page: 86
57. b) Claſſification. Page: 86
58. §. 4. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, welche unterſuchen, wie die auf der Oberfläche und in der Tiefe der Erde befindlichen Materien herbeizuſchaffen ſind, um auf die möglichſt vortheilhafte Art bearbeitet zu werden. Page: 86
59. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Grubenbau. Page: 87
60. 2) Probirkunſt. Page: 87
61. 3) Oryxionomie. Page: 87
62. 4) Mineralphyſik. Page: 87
63. b) Claſſification. Page: 87
64. §. 5. Definitionen und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, welche die unorganiſchen Eigenſchaften der Körper und die Anordnung der letz-tern auf und in der Erde zum Inhalt haben. Page: 88
65. a) Aufzählung und Claſſification. 1) Allgemeine Phyſik. Page: 88
66. 2) Technologie. Page: 89
67. 3) Geologie. Page: 89
68. 4) Oryctotechnie. Page: 90
69. b) Claſſification. Page: 91
70. Drittes Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, die ſich auf lebendige Weſen, Pflanzen und Thiere beziehen. Page: 91
71. §. 1. Wiſſenſchaften britter Ordnung, enthaltend die Kenntniß der Pflanzen und der Lebenserſcheinungen dieſer zwar organiſirten, aber der Empfin-dung und freien Bewegung entbehrenden Weſen. Page: 92
72. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Phytographie. Page: 92
73. 2) Phytctomie. Page: 92
74. 3) Phytonomie. Page: 92
75. 4) Pflanzenphyſiologie. Page: 93
76. b) Claſſification. Page: 93
77. §. 2. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, enthaltend die Arbeiten, mittelſt deren wir die Pflanzenwelt zu unſerem Nutzen und Vergnügen tauglich machen. Page: 93
78. §. 3. Wiſſenſchaften der dritten Ordnung, ſich beziehend auf die Kenntniß der Thiere und ſämmtliche Lebenserſcheinungen dieſer mit Empfindung und freier Bewegung begabten Weſen. Page: 94
79. §. 4. Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche ſich auf die Benützung der Thiere beziehen. Page: 94
80. §. 5. Definitionen und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, die ſich auf die lebenden Weſen, Pflanzen und Thiere beziehen. a) Aufzählung und Definitionen. 1) Botanik. Page: 95
81. 2) Agricultur. Page: 95
82. 3) Zoologie. Page: 95
83. 4) Zootechnie. Page: 96
84. b) Claſſification. Page: 96
85. Viertes Kapitel. Mediciniſche Wiſſenſchaften, oder Cosmologiſche Wiſſenſchaften, melche theils auf die äußern und innern Einflüſſe und Um- ſtände ſich beziehen, durch welche in den Thieren der normale Hergang der Lebenserſcheinungen erhalten, verändert, wieder- hergeſtellt oder zerſtört wird, theils auch von den durch dieſe Einflüſſe hervorgebrachten Abweichungen ſelbſt handeln. Page: 98
86. Fünftes Kapitel. Definitionen und Eintheilung der verſchiedenen Provinzen der cosmologiſchen Wiſſenſchaften. A. Aufzählung und Definitionen. Page: 102
87. 1) Die mathematiſchen Wiſſenſchaften. Page: 102
88. 2) Die phyſicaliſchen Wiſſenſchaften. Page: 103
89. 3) Die naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften. Page: 110
90. 4) Die mediciniſchen Wiſſenſchaften. Page: 112
91. B. Claſſification. Page: 112
92. Critik der Ampère’ſchen Claſſification. Page: 117
93. Die moderne Philoſophie oder Die Perſönlichkeit Gottes. Eine Kritik der Gottes-Lehre der modernen Philoſophie und ihrer Angriffe auf das chriſtliche Dogma von Immannel Paulus, Mitvorſteher und Lehrer der Philophie an der wiſſenſchaftl. Bildungsanſtalt auf dem Salon bei Ludwigsbnrg. gr. 8. geheftet. Preis fl. 2. oder Rthlr. 1. 6 ggr. Page: 145
94. Die ſechs Schöpfungstnge. Ein Beitrag zu Förderung wahrer Bildung von E. Ph. Paulus, Direktor der wiſſenſchaftlichen Bildungsanſtalt auf dem Salon bei Ludwigsburg. gr. 8. geheftet. Preis fl. 1. 12 kr. oder 18 ggr. Page: 145
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3
Natürliches Syſtem
aller
Naturwiſſenſchaften.
Eine Begegnung
deutſcher und franzöſiſcher Speculation.
Aus dem Franzöſiſchen des A. M. Ampère im Auszug bearbeitet
und
mit critiſchen Noten begleitet
von
Dr. G. Widenmann,
practiſchem
Arzt.
Stuttgart.
Verlag von Ebner & Seubert.
1844.
4
Gedruckt auf einer Schnellpreſſe bei K. Fr. Hering & Comp.
5
Einleitung des Herausgebers.
Gegen den überwiegenden Einfluß, den franzöſiſche Philo-
ſophie
und Geiſtesbildung im vorigen Iahrhundert auf Deutſch-
land
ausgeübt hat, bildet die Gegenwart einen ſeltſamen Contraſt,
da
man jetzt in Frankreich deutſche Philoſophie ſtudirt, in Deutſch-
land
aber von den Bewegungen der Philoſophie in Frankreich keine,
oder
nur höchſt oberflächliche Notiz nimmt.
Der Grund dieſer
Erſcheinung
liegt darin, daß ſeit 60 Iahren die deutſche Philoſophie
durch
die Größen ihrer Probleme und die Unermüdlichkeit ihrer
Forſchungen
eine gebietende Stellung in den Kreiſen der Wiſſenſchaft
errungen
hat, während die franzöſiſche Philoſophie, nach der Auf-
ſtellung
ihrer materialiſtiſchen Lehren, ſcheinbar keine weitere Ent-
wicklung
hatte.
Ich ſage ſcheinbar, denn es fand dennoch
eine
ſolche Fortentwicklung ſtatt, und das vorliegende Werk hat
den
Zweck, die neueſte Stufe dieſer Entwicklung in das verdiente
Licht
zu ſtellen.
Die neuere franzöſiſche Philoſophie hat, wie die neuere deutſche,
ihren
Urſprung in dem Umſchwung, den das Denken am Ende des
vorigen
Iahrhunderts erfahren, nachdem es Iahrhunderte lang in
ſpeciellem
Arbeiten und Lernen verſenkt war.
Man fing an, einen
6IV Ueberblick über das Ganze, die Grenzen und den Zuſammenhang
der
verſchiedenen Gebiete zu ſuchen, und die Philoſophie begann
nach
einer Weltanſchauung zu ſtreben, die Alles in ſich faſſen und
erklären
, und ebendamit von aller Autorität frei ſein ſollte.
Dieſe
neue
Tendenz mußte in verſchiedener Form ſich äußern, je nachdem
der
active organiſirende, der eigentlich ſpeculative Verſtand oder der
receptive
Verſtand überwog, der nur Gegebenes aufnimmt, ordnet
und
ſcharfſinnig combinirt.
Wenn das Erſtere, wie in Deutſchland, der Fall iſt, ſo legt der
Geiſt
vor Allem den Organismus ſeiner Denkverhältniſſe an die
Welt
der Objecte, und aus dem Verhältniſſe beider reſultirt die
weitere
Entwicklung.
Iſt der Organismus der Categorieen noch
unreif
und ſchief, ſo kann man auf zweierlei Arten verfahren.
Ent-
weder
geſteht man ſich offen den Widerſtreit zwiſchen Denken und
Sein
;
aber man gibt, getrieben von dem autonomiſchen Character
der
Zeit, dem erſteren Recht, vernichtet ſkeptiſch die reale Erkenntniß,
wie
Kant, und behauptet, wie Fichte, idealiſtiſch das Ich, als die
einzige
Realität.
Oder aber man fingirt gewaltſam eine Ueber-
einſtimmung
zwiſchen Denken und Welt;
man thut den empiriſchen
Thatſachen
ſo lange Zwang an, bis ſie in die unfertigen Categorieen
des
Geiſtes paſſen, wie Schelling und Hegel thaten.
Sie wollten
zwiſchen
der Philoſophie und Erfahrung eine Vermittlung finden;
aber dieſe Vermittlung iſt unmöglich, ſo lange nicht der richtige
Organismus
der Categorieen vollendet iſt.
Erſt dann wird das
Denken
auf ungezwungene Art mit der Welt in Einklang, und das
Eine, wahre reale Syſtem gefunden ſein.
Anders iſt die Sache im zweiten Fall. Wenn, wie bei den
Franzoſen
, das receptive Erkennen, die ſenſuale Richtung, das
Uebergewicht
hat, ſo geht der Verſtand, ohne critiſches Zagen an
die
objective Welt, und im Drang nach Einheit alles Wiſſens, will
er
ſie als ein Ganzes, als aus einem Guße entſtanden, begreifen.
7V So lang aber nicht durch Vollendung der empiriſchen Analyſe die
Mannigfaltigkeit
der Welt in eine alleserklärende Einheit verknüpft
iſt
, mußte die neue Weltanſchauung das Beſondere, ſtatt es zu
erklären
, ignoriren.
„Natur, „Materie” hieß der letzte Grund
alles
Daſeins;
aber nicht die ſenſualiſtiſche Färbung dieſer Begriffe,
ſondern
ihre Leerheit war ihr eigentlicher Mangel.
Man faßte
das
Ganze abſtract, und der Reichthum des Beſondern fiel als un-
organiſches
Aggregat auseinander.
Dieß iſt unter andern Formen
daſſelbe
Verhältniß, welches die deutſche Philoſophie in den Idea-
lismus
trieb;
aber der empiriſche Geiſt der Franzoſen ſchlug den
entgegengeſetzten
Weg ein, und warf ſich auf die Analyſe des Be-
ſondern
, und wenn in Deutſchland der Idealismus, ſeiner feind-
ſeligen
Stellung gegen die Welt der Objecte ungeachtet, doch immer
noch
Philoſophie war, ſo ſchien dieſe, die Bemühung um das All-
gemeine
, in Frankreich erloſchen, ſobald ſich der Geiſt ausſchließlich
zu
der empiriſchen Forſchung gewendet hatte.
Aber unter ver-
änderter
Geſtalt machte ſich auch in Frankreich das philoſophiſche
Bedürfniß
nach Einheit alles Wiſſens wieder geltend, indem man
die
Geſammtheit des beſondern in ein Ganzes zuſammenfaßte,
claſſificirte
, und dieſer ariſtoteteliſche Weg, von der Vielheit zur
Einheit
, iſt um nichts minder ſpeculativ, als der umgekehrte Weg,
den
man in Deutſchland einſchlug.
Um von dieſem Punkt aus die weiteren Phaſen der fran-
zöſiſchen
Philoſophie richtig zu beurtheilen, muß man im Auge
behalten
, daß man bei der Claſſification eines empiriſchen Materials
auf
doppelte Weiſe verfahren kann, auf künſtliche Art, wenn
man
einſeitig und willkührlich ausgewählte Merkmale zu Ein-
theilungsgründen
macht, oder auf natürliche Art, wenn man
den
ganzen Inhalt der einzutheilenden Objecte zur Grundlage der
Eintheilung
nimmt.
Dieſes, das natürliche Syſtem allein, läßt
den
wirklichen Organismus der Dinge erkennen, und iſt deßhalb
8VI ein ſpeculatives Syſtem. Dieſer Gegenſatz des künſtlichen und
natürlichen
Syſtems, den man bis jetzt blos bei den ſpeciellen Ein-
theilungen
der Naturreiche zu hören gewohnt war, tritt bei den
Franzoſen
in der Anwendung auf das Ganze des Wiſſens auf und
beſtimmt
die Perioden ihres ferneren Philoſophirens, ja er iſt,
weſentlich
betrachtet, daſſelbe, was in Deutſchland der Gegenſatz
des
ſubjectiven und des ſogenannten objectiven Idealismus iſt.
Wie in Deutſchland der ſubjective Idealismus dem objectiven
vorausging
, ſo mußten, der Natur der Sache nach, die künſtlichen
Syſteme
aller Wiſſenſchaften dem natürlichen Syſtem vorangehen.
Solche künſtlichen Syſteme finden wir bei Baco, bei den Encyclo-
pädiſten
, und Andern.
Das Système figuré des connaissances hu-
maines
, das an der Spitze der Encyclopädie ſteht, iſt nur eine Copie
von
Baco’s Eintheilung.
Den erſten Schritt zum natürlichen
Syſtem
hat Ampère gethan.
Er verwirft die künſtlichen Syſteme
Baco’s
und der Encyclopädie und erklärt es ausdrücklich für ſein
Hauptbeſtreben
, ein natürliches Syſtem alles Wiſſens aufzuſtellen.

Dadurch
iſt er nun ganz auf dem Boden der Speculation.
Ob
er
jenes Ziel erreicht habe, dieß auszumachen, iſt hier nicht der
Ort
;
aber der Leſer kann fragen, ob er auch der rechte Mann zu
einem
ſolchen Geſchäft geweſen ſei.
Es mögen darum einige No-
tizen
aus ſeinem Leben hier ihre Stelle finden.
Ampère iſt geboren im Iahr 1775. Mathematiſche Studien
bildeten
die Grundlage ſeiner Bildung.
Er wurde ſchon in jun-
gen
Iahren des mathematiſchen Wiſſens vollkommen Herr, be-
ſonders
auch der Anwendung der höheren Rechnungsarten auf
Mechanik
und Phyſik.
Seine Iugend fiel in die Zeit der Ent-
deckungen
Lavoiſier’s und Davy’s, er beſchäftigte ſich auch auf das
Eifrigſte
mit der Chemie und war Lehrer der letztern in Aix.
Später kam er als Profeſſor der höhern Analyſe nach Lyon, und
von
dort ging er nach Paris, wo er zuerſt Repetitor der Analyſe
9VII in der polytechniſchen Schule und ſpäter Profeſſor der Mathe-
matik
und Phyſik ebenbaſelbſt wurde.
Im Iahr 1814 trat er an
Boſſuet’s
Stelle in die Academie und ſtarb als Generalſtudien-
inſpector
.
Von ihm ſtammt das durch ſeine Allgemeinheit und
mathematiſche
Schärfe großartige Geſetz über die gegenſeitige An-
ziehung
und Abſtoßung zweier von electriſchen Strömungen be-
ſeelten
Metalldrähte.
Neben dieſen mathematiſchen und phyſica-
liſchen
Studien zieht ſich aber durch ſein ganzes Leben ein unge-
meines
Streben nach allgemeinem Wiſſen.
In den meiſten Wiſſen-
ſchaften
war er Autodidact.
Er machte Studien in der Botanik
und
Zoologie, in den alten Sprachen, Geſchichte u.
ſ. f. ; er war
auch
Dichter, und von dem Iahr 1803 an, wo er ſchon in Paris
war
, beſchäftigte er ſich mit Pſychologie und Metaphyſik.
Seine
Genoſſen
in dieſen Beſtrebungen waren Cabanis, de Tracy, Dége-
rando
, Maine de Biron.
Er ſelbſt erzählt den Beginn ſeiner pſycho-
logiſchen
Studien mit den Worten:
c’est en 1803, que je commençai
à
m’occuper presque exclussivement de recherches sur les phénomènes
aussi
variés, qu’intéressants, que l’intelligence humaine offre à l’obser-
vation
, qui saitse soustraire à l’influence des habitudes.

Im
Iahr 1820 war er ſchon daran, ein Schema der pſychologiſch-
metaphyſiſchen
Begriffe zu vollenden, als ihn die bekannte Oerſtedti-
ſche
Entdeckung zu phyſicaliſchen Unterſuchungen rief, in Folge
deren
er ſpäter das vorerwähnte wichtige Geſetz fand.
Dieß Schema
der
metaphyſiſchen Grundbegriffe iſt auch in unſerem Werke im
Auszug
gegeben und ſteht in genauem Zuſammenhang mit den
vier
Geſichtspunkten, welche nach Ampère den Schlüſſel zu der
ganzen
encyclopädiſchen Eintheilung des menſchlichen Wiſſens bil-
den
.
Den erſten Verſuch des natürlichen Syſtems aller Wiſſen-
ſchaften
hatte er ſchon im Iahr 1804 entworfen.
Den Abriß
des
vollendeten Syſtems gibt das im Iahr 1834 erſchienene Werk:
Essai sur la philosophie des sciences, das wir hier im Auszug
10VIII mittheilen, welches aber nur den erſten Theil, die Naturwiſſen-
ſchaften
, in encyclopädiſcher Eintheilung, enthält, da er an der
Herausgabe
des zweiten Bandes, welcher die geiſtigen Wiſſenſchaften
enthalten
ſollte, durch den Tod verhindert wurde.
So ſchloß er
alſo
mit dem, was ſchon ſeine früheſten Iahre beſchäftigt hatte;
denn
als
Knabe ſchon hat er die Encyclopädie mit Begierde verſchlungen
und
wußte ſie faſt auswendig;
und es beſtätigt ſich alſo an ſeiner
perſönlichen
Entwicklung die aufgeſtellte Behauptung, daß ency-
clopädiſche
Zuſammenfaſſung des empiriſchen Materials die Grund-
lage
geworden ſei für die weitere Entwicklung der franzöſiſchen
Philoſophie
.
Ampère iſt der originelle franzöſiſche Philoſoph, der in
der
nationalen Fortbildung der franzöſiſchen Philoſophie den letzten
wichtigen
Knotenpunkt bildet, nicht Couſin, nicht dieſe Eklectiker in
Frankreich
, welche an dem Tiſch der deutſchen Philoſophie hungrig
ſchmarotzen
.
Dieß letztere iſt auch ganz überflüſſig, da die fran-
zöſiſche
Philoſophie nur durch ihre Methode einen Gegenſatz macht
gegen
die deutſche, während ſie ſich, den Reſultaten nach, auf ihrem
ſelbſtſtändigen
Wege der deutſchen Philoſophie in kühner Weiſe
nahe
kommt.
Durch eine empiriſche Grundlage traten dem fran-
zöſiſchen
Philoſophiren die verſchiedenen Weltgebiete, deren Unter-
ſchied
der abſtracte Materialismus vernichtet hatte, wieder deutlich
auseinander
, und dennoch werden, durch die Conſequenz der na-
türlichen
Eintheilung, ſämmtliche Gebiete wieder auf einen oberſten
Punkt
bezogen.
Ia der Alles beherrſchende Eintheilungsgrund,
der
ſämmtliche Gebiete in eine Einheit verknüpft, und mittelſt deſſen
dieſelben
wieder auf aprioriſche Weiſe abgeleitet werden können,
liegt
bei Ampère in der nothwendigen Stufenfolge der menſchlichen
Erkenntniß
, und ſo iſt alſo bei ihm das Geſetz des Denkens
auch
das Geſetz, wornach ſich die Welt in ihre ver-
ſchiedenen
Gebiete zerlegt
ein Satz, wodurch die fran-
11IX zöſiſche Philoſophie vollſtändig mit den objectiv-idealiſtiſchen Sy-
ſtemen
Deutſchlands zuſammentrifft.
Trotz aller Aehnlichkeit in den Reſultaten jedoch iſt die Art,
wie
er dazu kam, originell franzöſiſch.
Ein univerſeller Wiſſens-
durſt
treibt Ampère in alle ſpecielle Gebiete, in allen Fächern
macht
er ſeine empiriſchen Studien, und erſt nachdem er ſich dieſe
Totalität
des Stoffes errungen, macht ſich hintenher das
Bedürfniß
bemerklich, denſelben überſichtlich zu ordnen.
Er greift
nach
den Claſſificationen ſeiner Vorgänger, aber ſie verletzen ſein
Wahrheitsgefühl
, indem ſie den Beſtimmungen und Definitionen,
die
er aus ſeinen beſondern Forſchungen gewonnen, wider-
ſprechen
.
Er wirft die Objecte und Gebiete ſo lange hin und her,
bis
ſie endlich in einer Ordnung erſcheinen, die mit ſeinem empi-
riſchen
Wiſſen von ihnen übereinſtimmt.
Aber noch fehlt es
ihm
an einem Schlüſſel, welcher das ganze Syſtem beherrſcht.
Zufällig entdeckt er, daß auch die höheren und höchſten Grup-
pen
auf dieſelbe Weiſe ſich unter einander gliedern, wie die ver-
ſchiedenen
Geſichtspunkte, nach welchen die Erkenntniß einen ſpe-
ciellen
Gegenſtand ſtufenmäßig auffaßt und begreift.
So hat alſo
Ampère
wohl am Ende ein natürliches Syſtem, er hat für daſſelbe
in
den Categorien des Denkens die beherrſchende Einheit gefun-
den
, aber es iſt ein zufälliges geniales Aperçu, und das erſte trei-
bende
Motio war zunächſt blos das Streben nach Totalität des
Materials, des gegebenen Stoffes.
Wenn ein Deutſcher
einen
ſolchen Fund macht, ſo bringt er denſelben in Beziehung
mit
den höchſten Fragen des Daſeins, er glaubt auf heiligem
Boden
zu ſtehen;
der franzöſiſche Ampère dagegen ſetzt pünktlich
die
Vortheile auseinander, welche aus einem natürlichen Syſtem
für
das practiſche Leben entſpringen, wie man durch daſſelbe be-
fähigt
werde, eine Bibliothek zweckmäßig zu ordnen, oder die Lehr-
curſe
einer Bildungsanſtalt, die Sectionen einer gelehrten Körper-
12X ſchaft ſachgemäß einzutheilen. So machen die verſchiedenen Be-
rufe
der beiden Nationen da am ſchärfſten ſich geltend, wo ſie der
Sache
nach in Eins zuſammentreffen.
Bei dem nachſtehenden Auszug des Ampère’ſchen Werkes
ſchien
es mir zweckmäßig, von der Ordnung des Originals ab-
zuweichen
.
Ich beginne mit dem Begriff des natürlichen
Syſtems
, welchen Ampère in der Einleitung ſeines Werks
aufſtellt
.
Dann werde ich das eigenthümliche Eintheilungsprincip,
welches
dem Ampère’ſchen Syſtem zu Grunde liegt, und den Weg,
wie
Ampère daſſelbe entdeckt hat, und die verſchiedenen weitgreifen-
den
Anwendungen, welche er von demſelben macht, auseinander-
ſetzen
, und zu dieſem Ende den weſentlichen Inhalt der Vorrede
Ampère’s
und einer vor dem eigentlichen Texte des Werks ſtehenden
Note
wiedergeben.
Auf dieſe Darſtellung des Grundprincips ſeines
Syſtems
laſſe ich dieſes ſelbſt folgen, ſo weit es in dem vorliegenden
Werke
enthalten iſt, und den Schluß des Ganzen bilden critiſche
Bemerkungen
über Ampère’s Syſtem und die wichtigen Beziehun-
gen
, welche daſſelbe zur gegenwärtigen Phaſe der deutſchen Phi-
loſophie
hat.
13
Inhaltsanzeige.
11
# Seite
Einleitung
des Verfaſſers # V-XII
Ampère’s
Begriff einer Claſſification alles Wiſſens überhaupt und
# eines natürlichen Syſtems alles Wiſſens ins Beſondere # 1
Plan
des Werks # 11
Eintheilungsprincip
Ampère’s und die Art, wie er es entdeckte # 17
Ampère’s
Zuſatz zu ſeinem Eintheilungsprincip # 31
Ampère’s
natürliche Claſſification aller Wiſſenſchaften # 41
Erſtes Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, welche es nur
# mit den Begriffen von Größe und Maas zu thun haben # 41
Zweites Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, welche die
# unorganiſchen Eigenſchaften der Körper und ihre Anordnung
# auf dem Erdball zum Gegenſtand haben # 66
Drittes Kapitel. Cosmologiſche Wiſſenſchaften, die ſich auf
# lebendige Weſen, Pflanzen und Thiere, beziehen # 77
Viertes Kapitel. Mediciniſche Wiſſenſchaften # 84
Fünftes Kapitel. Definitionen und Eintheilung der verſchie-
# denen Provinzen der cosmopolitiſchen Wiſſenſchaften # 88
Tabelle
aller Naturwiſſenſchaften erſter Ordnung # 102
Critik
der Ampère’ſchen Claſſification # 103
14
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151
Ampère’s Begriff einer Claſſification Alles Wiſſens überhaupt und
eines natürlichen Syſtems Alles Wiſſens insbeſondere.
Sobald der Menſch über einen Gegenſtand ſich eine
Anzahl
von Begriffen gebildet hat, ſo fühlt er das Bedürf-
niß
, ſie nach einer beſtimmten Ordnung zuſammenzuſtellen,
um
dieſelben ſicherer zu beſitzen, um ſie wiederfinden und
andern
mittheilen zu können.
Dies iſt der Urſprung der
Eintheilungen
, welche außer den ebengenannten noch andere
Vortheile
gewähren.
Sie vermehren nämlich die Summe
unſeres
Wiſſens über irgend einen Gegenſtand, indem ſie
uns
nöthigen, denſelben von verſchiedenen Seiten zu be-
trachten
, und neue Beziehungen an ihm aufzuſuchen, die
außerdem
unentdeckt geblieben wären.
Längſt hat man den Vortheil eingeſehen, welchen eine
allgemeine
Eintheilung aller Wiſſenſchaften und Künſte haben
könnte
, und man kennt die Arbeiten, welche Baco, d’Alem-
bert
und viele Andere zu dieſem Zwecke unternommen haben.
Dieſe Verſuche hatten jedoch nicht den gewünſchten Erfolg,
wofür
ſich verſchiedene Gründe anführen laſſen.
Zu Baco’s
Zeit
war noch in keiner Wiſſenſchaft eine Claſſification,
welche
auf die wahren Beziehungen ihrer Gegenſtände ge-
gründet
geweſen wäre, und von einer natürlichen Einthei-
lung
hatte man keine Ahnung.
Wie Baco machten auch die
Späteren
ſich keine andere Aufgabe, als die Aggregate von
Kenntniſſen
, die der Zufall zuſammengeführt, und denen die
Laune
des Sprachgebrauchs Namen gegeben hatte, in eine
Ordnung
zu bringen.
Man ſah die doppelte Nothwendig-
keit
nicht ein, daß man zuerſt ſämmtliche Wahrheiten
162 auf die richtige Art gruppiren, und daß man jeder ſolchen
Gruppe
einen neuen Namen geben müſſe, wenn ſie noch
keinen
habe.
Zudem ging man von einem ganz willkürlichen
Eintheilungsprincip
aus.
So iſt es z. B. in dem von
Baco
entlehnten Schema Alles Wiſſens, das an der Spitze
der
Encyclopädie ſteht;
hier ſind drei oberſte Abtheilungen
gebildet
, entſprechend den drei Grundvermögen, auf welche
man
damals das geiſtige Leben des Menſchen glaubte zu-
rückführen
zu können:
Gedächtniß, Vernunft und Einbil-
dungskraft
.
Soll die darauf gebaute Eintheilung eine gute
ſeyn
, ſo dürfen zum Mindeſten nicht ganz heterogene Wiſ-
ſenſchaften
in dieſelbe Abtheilung zuſammengeſtellt werden,
noch
weniger dürfen ſolche, welche durch zahlreiche Analo-
gieen
einander nahe ſtehen, in ganz verſchiedene Abtheilungen
gebracht
werden.
Nun bedarf es aber blos eines Blicks auf jenes Sy-
ſtem
, um ſich zu überzeugen, wie ganz fremdartige Wiſſen-
ſchaften
neben einander ſtehen, die Beſchreibung der Mine-
ralien
, Pflanzen, Thiere, Elemente neben der politiſchen
Geſchichte
, während die Mineralogie, Botanik, Zoologie,
Chemie
, welche von den erſteren gar nicht oder höchſtens
durch
den Geſichtspunkt verſchieden ſind, unter denen man
ganz
gleiche Objekte betrachtet, in einer andern der drei
Hauptabtheilungen
, bei der Metaphyſik, Logik und Mathe-
matik
ſtehen.
Ebenſo unnatürlich iſt die Zoologie von der
Botanik
getrennt, und zwiſchen beide Wiſſenſchaften die
Aſtronomie
, die Meteorologie und Mineralogie eingeſchoben,
die
ihrerſeits wieder durch die Zoologie von den phyſikaliſch-
mathematiſchen
Wiſſenſchaften getrennt ſind.
Nicht bei allen Eintheilungen zeigen ſich vielleicht ſo
in
die Augen fallende Anomalieen, aber überall kommen
Zuſammenſtellungen
vor, deren Grund man nicht abſieht,
überall
werden Wiſſenſchaften von einander getrennt, deren
Aehnlichkeit
vor Augen liegt.
Manchmal geht die Ver-
wirrung
wirklich ins Abenteuerliche.
So ſteht z. B. in
173 einer ganz neuen Eintheilung die Mathematik zwiſchen der
Chemie
und Anatomie;
die Phyſik, welche doch die Mathe-
matik
ſo nöthig hat, ſteht vor dieſen Wiſſenſchaften, und
hinter
der Zoologie und Botanik;
ſie iſt durch dieſe beiden
von
der Mineralogie und Geologie getrennt, die doch mit
der
Phyſik in ſo naher Beziehung ſtehen.
Die Aſtronomie
endlich
, die noch enger mit der Mathematik verwandt, ja
nur
eine unmittelbare Anwendung derſelben iſt, ſteht am
Anfang
des ganzen Syſtems, weil ſie die einfachſte und
am
leichteſten zu faſſende Wiſſenſchaft ſei;
und das
nennt
der Verfaſſer „die Wiſſenſchaften in natürliche Fa-
milien
zuſammenſtellen, um leicht von einer zur andern
übergehen
zu können, und ſich ſo wenig als möglich wie-
derholen
zu müſſen.
Nach ſo vielen unglücklichen Verſuchen iſt man bis
jetzt
erſt in den naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften zu Einthei-
lungen
gekommen, welche eine ſtrengere Prüfung aushalten
können
;
auch liegt es in der Natur der Sache, daß gerade
dieſe
zuerſt einen gewiſſen Grad von Vollendung erreichten,
weil
die in denſelben betrachteten Gegenſtände ſcharf be-
ſtimmte
Charaktere an ſich tragen, die man nur ausſprechen
darf
, um die Gruppen zu einem natürlichen Syſteme zu
haben
.
Will man aber in das ungeheure Reich des menſch-
lichen
Wiſſens eine Ordnung bringen, ſo liegt die Schwie-
rigkeit
darin, zu beſtimmen, was man unter einer Wiſſen-
ſchaft
verſteht.
Man trennt gewöhnlich die Wiſſenſchaften von den
nſten.
Dieſer Unterſchied beruht darauf, daß in den
Wiſſenſchaften
der Menſch blos erkennt, bei den Künſten
aber
erkennt und handelt;
denn wenn der Phyſiker die Ei-
genſchaften
des Goldes erkennt, ſeine Schmelzbarkeit, ſeine
Hämmerbarkeit
u.
ſ. f. , ſo muß auch der Goldarbeiter ſei-
nerſeits
die Mittel kennen, daſſelbe zu gießen, zu ſchlagen,
in
Draht zu ziehen u.
ſ. f. , in dem einen, wie in dem an-
dern
Fall findet alſo Erkenntniß ſtatt.
Handelt es ſich
184 alſo um eine Eintheilung aller Wahrheiten, ſo giebt es
keinen
weſentlichen Unterſchied zwiſchen Künſten und Wiſ-
ſenſchaften
, und die erſteren müſſen ebenſogut in die Ein-
theilung
aufgenommen werden, wie die andern.
Die Künſte
haben
jedoch nur inſofern eine Stelle in der Claſſification,
als
man das Verfahren und die Inſtrumente kennen
lernt
, die dabei in Anwendung kommen, und gänzlich ab-
ſieht
von der praktiſchen Ausübung;
denn dieſe hängt von
der
Geſchicklichkeit des Arbeiters ab, und hat nichts zu
ſchaffen
mit den mehr oder weniger vollſtändigen Kennt-
niſſen
, die er erworben, da ihn dieſe nur zu einem wiſ-
ſenſchaftlich
gebildeten
Arbeiter machen.
In Beziehung auf die Erkenntniß iſt alſo jede Kunſt
und
jede Wiſſenſchaft eine Gruppe von Wahrheiten, welche
durch
die Vernunft bewieſen, durch äußere oder innere Er-
fahrung
gewonnen werden, und durch einen gemeinſamen
Charakter
verbunden ſind, mag nun dieſer darin beſtehen,
daß
man es mit gleichartigen Gegenſtänden zu thun, oder
daß
man verſchiedene Gegenſtände unter demſelben Geſichts-
punkt
betrachtet.
Man kann ſagen, der Philoſoph müſſe bei der Ein-
theilung
alles Wiſſens die einzelnen Wahrheiten als das
anſehen
, was für den Naturhiſtoriker die verſchiedenen Arten
von
Pflanzen und Thieren ſind.
Wie dieſer die nächſtſte-
henden
Arten in Gattungen, die ähnlichſten Gattungen in
Familien
, die Familien in Ordnungen, die Ordnungen in
Claſſen
u.
ſ. f. gruppirt, ſo muß der Philoſoph aus den
Wahrheiten
, die er eintheilen will, Gruppen von verſchie-
denen
Ordnungen und Graden bilden.
Die Gruppen, welche
die
einander am nächſten ſtehenden Wahrheiten enthalten,
werden
den Gattungen der Naturgeſchichte entſprechen, und
Wiſſenſchaften
der niederſten Ordnung heißen.
Dieſe werden
in
Wiſſenſchaften der nächſt höheren Ordnung vereinigt, wie
die
Gattungen in Familien.
Mehrere ſolcher Wiſſenſchaften
zuſammen
, bilden abermals eine Wiſſenſchaft von noch aus-
195 gedehnterem Umfang, welche den Ordnungen entſpricht, und
ſo
immer höher hinauf, bis man endlich zu den zwei großen
Hauptabtheilungen
aller Wahrhciten, Natur und Geiſt,
kommt
, wie die Naturgeſchichte zuletzt bei der oberſten Zwei-
theilung
, Thier- und Pflanzenreich, anlangt.
Wir ſehen bei der Claſſification der natürlichen Arten
ein
doppeltes Moment:
1) Vereinigung der Arten zu Gat-
tungen
, 2) Claſſification der Gattungen;
ebenſo haben wir
auch
bei Eintheilung aller Wahrheiten ein doppeltes Ge-
ſchäft
;
1) Vereinigung dieſer Wahrheiten in Wiſſenſchaften
der
unterſten Ordnung, 2) Eintheilung dieſer Wiſſenſchaften.
Wären, wie es bei den Pflanzen durch Bernard de Iuſſieu
geſchehen
iſt, die menſchlichen Erkenntniſſe ſchon in Wiſſen-
ſchaften
von weiterem Umfang, entſprechend den Pflanzen-
familien
vereinigt, ſo würde nur noch die Eintheilung dieſer
Wiſſenſchaften
zu finden ſein, wie das Werk Iuſſieu’s durch
den
Erben ſeines Namens und Genies in der Claſſification
der
Familien vollendet wurde.
Werden mehrere Wiſſenſchaften einer gewiſſen Ordnung
in
eine Wiſſenſchaft der nächſt höhern Ordnung zuſammen-
gefaßt
, ſo kann der Unterſchied zwiſchen denſelben ein dop-
pelter
ſein:
entweder enthält die niedere Wiſſenſchaft nur
einen
Theil der Gegenſtände, welche in der höheren zu einer
Geſammtheit
vereinigt ſind, oder aber enthält jede niedere
die
Geſammtheit der Objecte, aber nur unter einem beſon-
dern
Geſichtspunkt.
Der erſte Fall findet z. B. ſtatt, wenn
man
die Zoologie in die Lehre von den Säugethieren, Vö-
geln
, Inſekten u.
ſ. f. trennt; der zweite Fall findet ſtatt,
wenn
man ſagt, die Zoologie beſteht aus der Zoographie,
aus
der vergleichenden Anatomie u.
ſ. f. , wo jede Wiſſen-
ſchaft
das ganze Thierreich, aber nur aus einem beſondern
Geſichtspunkt
umfaßt.
Man hat natürliche und künſtliche Syſteme unterſchie-
den
.
Bei dieſen letzteren reichen einige willkührlich gewählte
Merkmale
hin, für jeglichen Gegenſtand die Stelle im Sy-
206 ſtem zu beſtimmen; die übrigen läßt man fallen, und ſo
werden
oft die Gegenſtände auf die ſonderbarſte Weiſe zu-
ſammengeſtellt
oder von einander getrennt.
Bei den natür-
lichen
Eintheilungen dagegen werden alle weſentlichen Cha-
ractere
eines Gegenſtandes zuſammengefaßt und die Bedeu-
tung
derſelben gegen einander abgewogen;
und dies Geſchäft
iſt
erſt dann zu Ende, wenn die Gegenſtände, welche die
größſte
Aehnlichkeit zeigen, auch am nächſten beiſammen
ſtehen
;
deßgleichen die Gruppen, die man aus jenen Ob-
jecten
bildet;
und wenn von einer Gruppe zur nächſtſtehen-
den
ein gewiſſer Uebergang nachgewieſen werden kann.
Da die künſtlichen Syſteme auf willkührlich gewählte
Charactere
ſich ſtützen, ſo kann man ſolche nach Laune und
Belieben
aufſtellen.
Weit entfernt aber, zu dem Fortſchritt
der
Wiſſenſchaften etwas beizutragen, bringen dieſe Syſteme,
die
wie die Wellen des Meeres kommen und gehen, nichts
als
Verwirrung in unſer Wiſſen.
Wer ihnen folgt, richtet
ſeine
Aufmerkſamkeit blos auf die Seite der Objecte, welche
bei
der Eintheilung zur Sprache kommen.
Die natürlichen
Eintheilungen
dagegen faſſen das Ganze der Gegenſtände
ins
Auge, ſie nöthigen uns dadurch, dieſelben nach allen
Seiten
und Beziehungen zu unterſuchen, und führen uns
hiermit
zu der möglichſt umfaſſenden Kenntniß einer Sache.
Dieſe Nothwendigkeit, die Objecte ganz zu erſchöpfen,
iſt
der Grund davon, daß wir dieſe Eintheilungen ändern
müſſen
, ſobald wir neue Beziehungen entdecken, und dieſe
Aenderungen
bringen das Syſtem ſeiner Vollendung immer
näher
.
Bei einem künſtlichen Syſteme iſt man Herr über
die
Beſtimmungen deſſelben, wählt nach Belieben die Cha-
ractere
der oberſten Abtheilungen, dann die für die Unter-
abtheilungen
, während der Gründer eines natürlichen Sy-
ſtems
bei den letzten Unterabtheilungen beginnen muß, die
nur
aus wenigen Individuen beſtehen, und deren Aehnlich-
keiten
am meiſten in die Augen fallen und am leichteſten
zu
beſtimmen ſind.
Durch Zuſammenſtellung dieſer niederſten
217 Unterabtheilungen nach demſelben Geſetz der größten Ver-
wandtſchaft
, kommt er zu den nächſt höheren Abtheilungen,
und
ſo am Ende zu den Hauptabtheilungen, mit welchen der
künſtliche
Eintheiler begonnen hatte.
Erſt wenn dieß geſche-
hen
iſt, kann er die Charactere für jede Gruppe beſtimmen.
Wir haben bereits oben die beiden Momente erwähnt,
durch
welche ſich eine Wiſſenſchaft beſtimmen und gegen an-
dere
abgrenzen läßt, nemlich 1) die Natur der Objecte, die
man
erforſcht, 2) die Geſichtspunkte, unter welchen dieß ge-
ſchieht
.
Man könnte glauben, nur die Natur der Objecte
brauche
berückſichtigt zu werden, da die Wahrheiten, die
man
eintheilen will, ſich zunächſt auf jene beziehen.
Aber
dieſe
Wahrheiten werden von dem menſchlichen Verſtand
erfaßt
;
die Wiſſenſchaften ſind für und durch den Menſchen,
und
dieß Alles nöthigt uns, auf die verſchiedenen möglichen
Geſichtspunkte
Rückſicht zu nehmen.
An zweierlei Characteren
alſo
kann man erkennen, ob die allgemeine Eintheilung alles
unſeres
Wiſſens in der That eine natürliche iſt, während
nur
Eine Art von Characteren, nemlich die von der Natur
der
Gegenſtände abhängigen, nothwendig ſind, um allein
die
Dinge ſelbſt einzutheilen.
Hinſichtlich der erſten Art
von
Characteren wird man die Eintheilung der Wiſſen-
ſchaften
für gelungen halten müſſen, wenn, (mit Ausnahme
des
Falls, wo die Natur der Wiſſenſchaft ſelbſt eine andere
Eintheilung
nöthig macht) die aus den zuſammengehörigen
Wahrheiten
gebildeten Gruppen ſo gebildet ſind, daß ſie mit
den
Gruppen der Gegenſtände ſelbſt zuſammenfallen, und daß
auch
die Anordnung der erſtgenannten Gruppen der natür-
lichen
Ordnung der letztern entſpricht.
Hinſichtlich der zweiten
Art
von Characteren, (der ſubjectiven) müſſen noch die
weiteren
Forderungen hinzugefügt werden, daß diejenigen
Wiſſenſchaften
in eine Gruppe vereinigt werden, mit deren
Inhalt
ſich dieſelben Menſchen beſchäftigen, da auch dieſer
Umſtand
auf eine Aehnlichkeit deutet, und daß ſie in me-
thodiſcher
Ordnung auf einander folgen.
Eine ſolche Ord-
228 nung wird dann ſtattfinden, wenn man bei Durchlaufung
des
Ganzen nie nöthig hat, bei andern Wiſſenſchaften Aus-
kunft
zu ſuchen, als bei ſolchen, welche ſchon weiter oben
abgehandelt
ſind.
Dieß wäre dann bei den Wiſſenſchaften
daſſelbe
, was Iuſſieu bei dem Pflanzenreich that;
er ſtellte
die
einfachſten Organiſationen voran und ſtieg ſtufenweiſe
zu
den verwickelteren auf.
Später hat man dieſe Ordnung
umgekehrt
und mit den vollkommeneren Organiſationen be-
gonnen
, und wenn es ſich um die natürliche Claſſification
der
organiſchen Reiche handelt, kann man füglich beide
Methoden
befolgen.
Bei der Claſſification des menſchlichen
Wiſſens
aber wird man nicht lange im Zweifel ſein, ob
man
bei den einfachen oder verwickeltſten Wiſſenſchaften an-
fangen
ſoll.
Dieſer Gedanke leitete mich bei den erſten Verſuchen
meiner
Arbeit, ehe ich noch ahnen konnte, wie weit ſie mich
führen
würde.
Ich ſah, daß man bei jeder natürlichen
Eintheilung
der Wiſſenſchaften mit den mathematiſchen an-
fangen
müſſe, weil dieſe, im Vergleich mit den andern, nur
eine
geringe Zahl einfacher Grundbegriffe, wie Größe, Aus-
dehnung
, Bewegung, Kraft u.
ſ. f. enthalten, ohne irgend
etwas
aus andern Wiſſenſchaften entlehnen zu müſſen.
Auf
die
Mathematik müſſen diejenigen Wiſſenſchaften folgen, die
es
mit den unorganiſchen Eigenſchaften der Körper zu thun
haben
;
denn für dieſe iſt bekanntlich die Mathematik die
einzige
Hülfswiſſenſchaft.
Dann erſt kommen die Wiſſen-
ſchaften
des organiſchen Lebens;
denn der Naturhiſtoriker
und
Arzt braucht oft die Mathematik und Phyſik, während
der
Mathematiker nie, der Phyſiker nur ſelten die natur-
hiſtoriſchen
Wiſſenſchaften zu Hülfe nehmen muß.
Unter
den
organiſchen Weſen aber iſt eines, das uns allein
ebenſo
ſehr in Anſpruch nimmt, als die ganze übrige Welt
zuſammen
, der Menſch;
und aus dem Studium deſſelben
entſpringen
die philoſophiſchen, moraliſchen und politiſchen
Wiſſenſchaften
.
239
Das Studium des Menſchen kann erſt nach dem Stu-
dium
der äußern Welt und Natur kommen, denn ſo gut
wir
uns des Auges bedienen, ohne ſeinen Bau und die
Natur
ſeiner Thätigkeiten zu kennen, ſo kann der Mathe-
matiker
, der Phyſiker, der Phyſiolog das philoſophiſche Stu-
dium
der Geiſtesvermögen entbehren, die bei den Meſſungen
des
Raums, bei der Beobachtung und Eintheilung der in
der
Welt befindlichen Weſen und Körper mitwirken.
Der
Philoſoph
dagegen muß wenigſtens überblicklich die Mathe-
matik
, die Phyſik und die naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften
inne
haben, denn dieſe geben ihm das Material für das
Studium
der menſchlichen Geiſtesvermögen, deren ſchönſte
Frucht
eben jene Wiſſenſchaften ſind;
in ihnen findet er die
Methode
, mittelſt deren der menſchliche Geiſt alle in denſel-
ben
enthaltenen Wahrheiten entdeckte, und welchen Vorſchub
leiſtet
ihm vor Allem die phyſiologiſche Kenntniß unſeres
Organismus
, die ja auch einen Theil der Naturwiſſenſchaft
bildet
, bei der Erforſchung der geiſtigen und ſittlichen Kräfte
im
Menſchen.
Dann können die Unterſuchungen der Hülfs-
mittel
folgen, durch welche ſich die Menſchen ihre Gedanken,
Gefühle
, Affecte u.
ſ. f. mittheilen. Hier iſt die Stelle für
das
Studium der Sprache, der Literatur und der freien
Künſte
, und vor Allem der größten von Allen, der Kunſt
den
Menſchen zu erziehen.
Daß dieſe Abtheilung auf die
Unterſuchung
der geiſtigen und ſittlichen Kräfte folgen
muß
, iſt leicht zu erſehen, ſobald man bedenkt, daß der Phi-
loſoph
die Sprache, die ihm zur feſten Bezeichnung ſeiner
Gedanken
allerdings unentbehrlich iſt, dennoch nicht anders
gebraucht
, als der Mathematiker die Denkgeſetze, und daß
weder
der eine noch der andere die Natur ſeines Mittels
und
Werkzeugs erforſcht zu haben braucht.
Umgekehrt aber
iſt
bei einem tieferen Studium der Mittel, durch welche ſich
der
Menſch ſeines Gleichen mittheilt, die Kenntniß ſeiner
geiſtigen
und ſittlichen Kräfte, der verſchiedenen Empfindun-
gen
, deren er fähig iſt, die Einſicht in die Art, wie er
2410 Gedanken bildet und verknüpft, unentbehrlich. Auf das
Studium
der Sprachen, der Literatur und freien Künſte
folgt
die Unterſuchung der menſchlichen Geſellſchaften, aller
Umſtände
und Thatſachen aus ihrer Vergangenheit und Ge-
genwart
, der Inſtitutionen, durch welche ſie regiert werden,
und
alles deſſen, was mit dieſen Dingen zuſammenhängt.
In einem ſolchen ungehemmten und ungezwungenen
Uebergang
von einer Wiſſenſchaft zur andern beſteht der
Character
einer guten und natürlichen Eintheilung;
und
man
wird in der angeführten Reihe von Wiſſenſchaften die
richtige
Ordnung des Stufengangs nicht verkennen.
Außer den vielen practiſchen Vortheilen, welche eine
wahrhaft
natürliche Eintheilung alles Wiſſens für literariſche,
pädagogiſche
und wiſſenſchaftliche Inſtitute hat, laſſen ſich
auch
Vortheile aufzählen, welche die Wiſſenſchaften ſelbſt
unmittelbar
betreffen.
Man weiß, wie dieſe entſtanden ſind,
und
daß nur zu oft der Zufall dabei ſein Spiel getrieben.
Diejenigen, welche alle auf einen Gegenſtand bezüglichen
Wahrheiten
in eine Wiſſenſchaft vereinigen wollten, ver-
mochten
es oft nicht, den ganzen Gegenſtand zu umfaſſen oder
ſich
in ſeinen Grenzen zu halten;
ſelten ſuchten ſie nach den
Beziehungen
zwiſchen den beſonderen Wahrheiten, die ihnen
vorlagen
, und dem Ganzen unſeres Wiſſens.
Daher kommt
es
, daß bei ſo vielen Wiſſenſchaften die Grenzen ſo ſchlecht
gezogen
ſind;
ſo hat man ſich z. B. , um die Algebra von
der
Arithmetik zu trennen, blos an einen künſtlichen Unter-
ſchiedsgrund
gehalten, nemlich die Verſchiedenheit der äußeren
Größenzeichen
, ſtatt auf den Grundcharacter Rückſicht zu
nehmen
, der auf der Natur der Operationen ſelbſt beruht,
und
der ſich erſt bei den Gleichungen weſentlich ändert.

Ebenſo
hat man die Cryſtallographie irriger Weiſe mit der
Mineralogie
verbunden;
ſie betrachtet alle Körper, welche
beſtimmte
Formen zeigen, ſie mögen nun durch die Natur
oder
die Kunſt hervorgebracht worden ſein;
ſie iſt eine rein
geometriſche
Wiſſenſchaft, und läßt auf die Mineralogie,
2511 welche ſich auf die von der Natur in vollſtändiger Form
gelieferten
Körper beſchränkt, durchaus keine weitere An-
wendung
zu, als alle übrigen Zweige der Mathematik auf
die
phyſiologiſchen und naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften.
Die
Mineralogie
ſelbſt vereinigt man gewöhnlich mit der Bo-
tanik
und Zoologie, unter dem Namen Naturgeſchichte;
ſie
darf
aber, wie ich am gehörigen Orte zeigen werde, nur
als
Theil der Geologie angeſehen werden;
in den medici-
niſchen
Wiſſenſchaften ſind die Grenzen der verſchiedenen
Theile
willkührlich beſtimmt, und öfters ganz verkannt;
man
iſt
z.
B. ſo weit gegangen, die Arzneimittellehre mit der
allgemeinen
Therapie in eine Wiſſenſchaft zuſammenzuwerfen,
als
ob die Kenntniß der allgemeinen Eigenſchaften der Arz-
neien
zuſammenfiele mit einer zweckmäßigen Anwendung
derſelben
in den Krankheiten.
Noch größer iſt die Verwir-
rung
in den philoſophiſchen Wiſſenſchaften;
die verſchiedenen
Namen
ihrer Unterabtheilungen ſind in ganz verſchiedenem
Sinne
genommen worden, je nachdem der Autor ein Syſtem
hatte
;
ſo iſt z. B. eine Wiſſenſchaft nach Einigen Theil einer
andern
, während andere Philoſophen dieſelbe zur allgemei-
neren
, höheren machen, welche die zweite als beſonderen
Zweig
in ſich begreift.
Plan des Werks.
Ich werde mich zuerſt mit den Gruppen ſolcher Wahr-
heiten
beſchäftigen, die ſowohl im Gegenſtand, als in dem
Geſichtspunkte
, unter welchem man denſelben auffaßt, über-
einkommen
.
Dieſe Gruppen, die den natürlichen Pflanzen-
und
Thierfamilien entſprechen, werde ich Wiſſenſchaften
dritter
Ordnung
nennen.
a) Ich werde nach der Reihe dieſe Wiſſenſchaften durch-
2612 gehen, ich werde ſie definiren, indem ich den Gegenſtand
derſelben
und den Geſichtspunkt, unter welchem er aufgefaßt
wird
, auseinanderſetze;
und wenn zwiſchen einer derſelben
und
den benachbarten Wiſſenſchaften die Grenze ſich nicht
unmittelbar
aus den angeführten Begriffsbeſtimmungen er-
gibt
, ſo müſſen die näheren Merkmale aufgeſucht werden,
welche
zur Feſtſetzung der Grenzen nothwendig ſind.
Bei
dieſer
Gelegenheit werde ich die Gründe angeben, die mich
zur
Abänderung hergebrachter Unterſcheidungen bewogen,
wenn
dieſe, meiner Auſicht nach, einer richtigen und natür-
lichen
Grundlage entbehrten.
b) Wollte ich aber in dieſer Weiſe ohne Unterbrechung
die
ganze Reihe der Wiſſenſchaften dritter Ordnung durch-
laufen
, ſo würde ich den Leſer durch ein endloſes Aufzählen
ermüden
, und ihm die Beziehungen zwiſchen den Wiſſen-
ſchaften
, um welche es mir doch hauptſächlich zu thun iſt,
ganz
aus den Augen rücken.
Sobald ich daher alle Wiſſen-
ſchaften
dritter Ordnung, welche einen gemeinſchaftlichen
beſonderen
Gegenſtand haben, unter den verſchiedenen Ge-
ſichtspunkten
unterſucht haben werde, ſo ſoll ein Ruhepunkt
gemacht
werden, um die genannten Wiſſenſchaften in eine
Wiſſenſchaft erſter Ordnung zuſammenzufaſſen.
Da
ferner
unter den Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche in
einer
Wiſſenſchaft erſter Ordnung begriffen ſind, Einige nur
ſolche
Wahrheiten enthalten, die man durch ein unmittelbares
Studium
der Objecte an ſich auffindet, die andern aber die-
jenigen
Wahrheiten in ſich begreifen, die ſich uns durch die
Beobachtung
und Vergleichung der Veränderungen ergeben,
welche
dieſe Objecte unter verſchiedenen Raum- und Zeit-
verhältniſſen
bemerken laſſen, welche Beobachtung und Ver-
gleichung
ſelbſt wieder zur Entdeckung der den beobachteten
Thatſachen
zu Grunde liegenden Urſachen führt, ſo werde
ich
jede Wiſſenſchaft erſter Ordnung in zwei Wiſſen-
ſchaften
der zweiten Ordnung
abtheilen, welche nun
abermals
in die Wiſſenſchaften dritter Ordnung zerfallen
2713 werden, die zu einer Wiſſenſchaft erſter Ordnung gehören.
Die erſte dieſer beiden Wiſſenſchaften zweiter Ordnung iſt
das
elementare Wiſſen über einen Gegenſtand;
die zweite
enthält
die tieferen Kenntniſſe, zu denen man in einer Sache
durchdringen
kann.
Will man in der Vergleichung fortfahren, die ich zwi-
ſchen
meiner Eintheilung der Wiſſenſchaften und der natür-
lichen
Claſſification der Pflanzen und Thiere angeſtellt habe,
ſo
kann man die Wiſſenſchaften erſter Ordnung mit den
Klaſſen
der organiſchen Reiche, und die Wiſſenſchaften zweiter
Ordnung
mit Zwiſchenabtheilungen vergleichen, welche zwi-
ſchen
den Klaſſen und Familien in der Mitte ſtehen, und
welche
man in den Tabellen dieſer Reiche als Ordnun-
gen
aufführt.
Wenn gleich jede Wiſſenſchaft erſter Ordnung ihren be-
ſonderen
Gegenſtand hat, ſo kann man doch dieſen Gegen-
ſtand
wieder als einen bloßen beſondern Geſichtspunkt eines
allgemeineren
Gegenſtandes anſehen, und dann bilden ſämmt-
liche
Wiſſenſchaften erſter Ordnung, die ſich auf einen und
denſelben
allgemeineren Gegenſtand beziehen, eine ausge-
dehntere
Gruppe von Wahrheiten, und dieſe Gruppen wer-
den
wir mit dem Namen Provinzen bezeichnen.
a) Sollen aber die Wiſſenſchaften erſter Ordnung in
Provinzen
vereinigt werden, ſo iſt es keineswegs hinreichend,
daß
die erſteren blos durch die beſonderen Definitionen der
in
ihnen enthaltenen Wiſſenſchaften dritter Ordnung beſtimmt
werden
;
ſondern ſie müſſen ganz unabhängig von den Wiſ-
ſenſchaften
definirt werden, welche in ihnen begriffen ſind;
ſie müſſen ihre eigenen Charactere haben, und die Grenz-
linien
gegen die benachbarten Wiſſenſchaften müſſen ſcharf
gezogen
werden.
Mit dieſer Operation muß angefangen
werden
.
b) Um nun aber den S. 12 angeführten Uebelſtand
zu
vermeiden, werde ich nach Muſterung aller Wiſſenſchaften
erſter
Ordnung, welche ſich auf einen und ebendenſelben all-
2814 gemeineren Gegenſtand beziehen, wiederum einen Ruhepunkt
machen
, um denſelben in eine Provinz zuſammenzufaſſen.
Eine Provinz beſteht aus allen den Wiſſenſchaften er-
ſter
Ordnung, die ſich auf einen und denſelben allgemeineren
Gegenſtand
beziehen und ihn unter allen möglichen Geſichts-
punkten
auffaſſen.
Wir werden jedoch ſehen, daß es unter
dieſen
Wiſſenſchaften wieder theils ſolche gibt, welche dieſen
allgemeineren
Gegenſtand nur erſt an ſich ſelbſt unterſuchen;
theils ſolche Wiſſenſchaften, welche denſelben nach den Bezie-
hungen
ſeiner verſchiedenen Modificationen und Urſächlich-
keitsverhältniſſe
betrachten, und die Folge davon iſt, daß jede
Provinz
in zwei Kreiſe getheilt werden muß, welche die
verſchiedenen
auf ein und daſſelbe allgemeinere Object be-
züglichen
Wiſſenſchaften erſter Ordnung in ſich begreifen.
Da ſich endlich alle für den Menſchen erkennbaren
Wahrheiten
ſchließlich auf zwei allgemeinſte Gegenſtände zu-
rückführen
laſſen, die materielle Welt und den Geiſt,
A. ſo werde ich mich zunächſt mit den Provinzen be-
ſchäftigen
, welche ſich auf den erſteren dieſer beiden Haupt-
gegenſtände
beziehen, um dieſelben einzutheilen, zu definiren,
und
um durch genaue Unterſcheidungskennzeichen die Grenz-
linien
zwiſchen denſelben zu beſtimmen.
B. Habe ich alle dieſe Provinzen durchgeprüft, ſo werde
ich
ſie in eine Gruppe höherer Ordnung vereinigen, und
werde
derſelben den Namen cosmologiſche Wiſſen-
ſchaften
geben.
Ich werde ſodann ganz daſſelbe mit den Provinzen der-
jenigen
Wiſſenſchaften thun, die ſich auf den menſchlichen
Geiſt
beziehen, auf die Geſellſchaften, welche derſelbe ge-
gründet
hat, auf die Inſtitutionen, durch welche dieſelben
regiert
werden u.
ſ. w. , und ich erhalte auf dieſe Weiſe eine
zweite
Gruppe von Wahrheiten, welche ich noologiſche
Wiſſenſchaften
nenne.
Iedes dieſer beiden Reiche zerfällt in zwei Hauptge-
biete
.
Bei den cosmologiſchen Wiſſenſchaften wird das erſte
2915 Hauptgebiet alle auf die unorganiſche Welt bezüglichen Wahr-
heiten
in ſich begreifen, und das zweite alle diejenigen, welche
es
mit den organiſchen Weſen zu thun haben.
Das erſte
Hauptgebiet
der noologiſchen Wiſſenſchaften hat die Aufgabe,
den
menſchlichen Geiſt und die Mittel zu erforſchen, mittelſt
deren
ſich die Menſchen ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre
Leidenſchaften
mittheilen, während ſich das zweite Hauptge-
biet
mit den menſchlichen Geſellſchaften und den dieſelben
leitenden
Inſtitutionen beſchäftigt.
Ich muß bei dieſer Gelegenheit bemerken, daß die Be-
ſtimmung
der verſchiedenen Geſichtspunkte, unter denen man
einen
beſonderen oder allgemeinen Gegenſtand auffaſſen kann,
ein
halbes Licht auf meine Eintheilung werfen.
Sie ver-
binden
alle Theile unter einander, laſſen die Beziehungen
zwiſchen
denſelben und ihre gegenſeitige Abhängigkeit her-
vortreten
, und bilden alſo gewiſſermaßen den Schlüſſel der
Eintheilung
.
Da jedoch dieſe Eintheilung ganz unabhängig
von
demſelben iſt, und beinahe ſchon vollendet war, ehe ich
entdeckte
, daß man ſie mittelſt jener Geſichtspunkte ableiten
könne
, ſo habe ich die Betrachtung derſelben unter dem Na-
men
Bemerkungen an das Ende jedes Paragraphen
verlegt
, und dieſelben mit kleineren Lettern drucken laſſen,
um
dem Leſer anzudeuten, daß dieſelben zum Verſtändniß
der
übrigen Partieen meines Werkes nicht unumgänglich
nothwendig
ſind.
In meiner Eintheilung ging ich nur bis zu denjenigen
Wiſſenſchaften
herab, die ungefähr den Familien der Na-
turhiſtoriker
entſprechen.
Hätte ich mich auch über das ver-
breiten
wollen, was man etwa als Gattungen und Arten
von
Wahrheiten anſehen kann, hätte ich zum Beiſpiel die
Zoologie
noch weiter in ſo viele verſchiedene Wiſſenſchaften
getheilt
, als in dem Thierreich Provinzen und Klaſſen ent-
halten
ſind;
hätte ich in der Geſchichte alle möglichen Un-
terabtheilungen
der Zeiten und Länder verfolgen wollen, um
zuletzt
mit der Specialgeſchichte einer Gegend, einer Stadt,
3016 einer Auſtalt, einer Wiſſenſchaft, eines Menſchen u. ſ. w. zu
ſchließen
, ſo würde ich mich, ohne einen weſentlichen Vortheil
in
endloſen Details verwirrt haben.
Noch auf einen Punkt muß ich die Aufmerkſamkeit des
Leſers
lenken;
ich meine die Namen, womit ich die Wiſſen-
ſchaften
verſchiedener Ordnungen bezeichnet habe.
Ich war
weit
entfernt, in den Endigungen der von mir gewählten
Namen
eine Symmetrie erzwingen zu wollen, welche, immer
im
Einklang mit den Abtheilungen der Claſſification, nichts
als
dieſe Abtheilungen ſelbſt wiedergegeben hätten, nur in
dem
Fall, wenn ich neue Benennungen anzunehmen genö-
thigt
war, war mein Augenmerk, durch die Wahl der Worte
die
Modificationen zu bezeichnen, welche aus den Characteren
folgen
, auf denen die Eintheilung ruht.
Sobald aber durch
den
Sprachgebrauch Namen ein Bürgerrecht erhalten haben,
welche
mit den von mir zwiſchen den verſchiedenen Wiſſen-
ſchaften
gezogenen Grenzen zuſammenſtimmen, ſo habe ich
ſie
gewiſſenhaft beibehalten.
Wenn Schriftſteller, ſtatt eine
ganze
Wiſſenſchaft zu umfaſſen, nur einen Theil derſelben
bearbeitet
haben, und dieſem beſonderen Theil den Namen
beilegten
, der eigentlich dem Ganzen gebührt hätte, und
wenn
dieſer Name und die oft ſehr unrichtige Einſchränkung
ſeiner
Bedeutung durch den Sprachgebrauch in Aufnahme
gebracht
wurde, ſo hielt ich es dennoch für beſſer, dieſen
Namen
beizubehalten und ihm eine umfaſſendere Bedeutung
zu
geben, als willkührlich einen neuen Namen zu bilden.
Wenn ich aber auf Wiſſenſchaften ſtieß, die noch keinen
Namen
hatten und für welche unſere Sprache keine paſſende
Umſchreibung
bot, ſo war ich natürlich genöthigt, für die-
ſelben
einen Namen zu bilden, wie Linne, Bernard von
Iuſſieu
und alle Urheber von Claſſificationen Benennungen
für
die verſchiedenen Abtheilungen, Claſſen, Ordnungen, Fa-
milien
ſchaffen mußten, welche ſie aufgeſtellt hatten.
Ich
ſchmeichle
mir jedoch keineswegs, die Wiſſenſchaften, denen
ich
Namen gab, auch erfunden oder entdeckt zu haben;
ſie
3117 beſtanden bereits, denn über die meiſten derſelben gibt es
zahlreiche
Werke;
denn um nur ein Beiſpiel zu geben,
exiſtirte
nicht die Wiſſenſchaft, die ich Cinematik genannt
habe
, ſchon vorher, ehe ich ihr dieſen Namen gab, wenig-
ſtens
theilweiſe in dem Werk, das Carnot über die geo-
metriſche
Bewegung ſchrieb, und in der Abhandlung von
Lanz
und Bétancourt über die Zuſammenſetzung der Ma-
ſchinen
?
Sind dieſe und mehrere andere Wiſſenſchaften noch
nicht
vollſtändig abgehandelt, ſo wird man es mir vielleicht
Dank
wiſſen, daß ich die Lücken bezeichnet habe, die auszu-
füllen
, die Arbeiten, die anzufangen und zu vollenden ſind.
Eintheilungsprincip Ampère’s und die Art, wie er
es entdeckte.
Als ich mich im Iahr 1829 auf den Curſus der all-
gemeinen
und der Experimentalphyſik, zu dem ich im Col-
lège
de France verpflichtet bin, vorbereitete, boten ſich mir
zwei
Fragen dar, die ich vor allen Dingen beantworten
mußte
.
1) Was iſt allgemeine Phyſik, und wie unterſcheidet
ſie
ſich mit klarer Beſtimmtheit von den andern Wiſſen-
ſchaften
?
Ich glaubte dieſen Unterſchied darin zu finden, daß ſie
die
unorganiſchen Eigenſchaften der Körper und ihre Er-
ſcheinungsweiſe
unterſucht, abgeſehen von dem Nutzen, den
wir
aus ihnen ziehen, und von den Modificationen, welche
dieſe
Eigenſchaften und Erſcheinungen in verſchiedenen Zeiten,
Orten
und Klimaten erleiden.
Die unorganiſchen
Eigenſchaften
der Körper, ſagte ich, um die allgemeine Phyſik
von
den naturhiſtoriſchen und phyſiologiſchen Wiſſenſchaften
zu
trennen;
ich fügte bei abgeſehen von dem Nutzen,
3218 den wir aus ihnen ziehen zum Unterſchied von der
Technologie
;
und durch die Ausſchließung der Mo-
dificationen
, die jene Eigenſchaften und Er-
ſcheinungen
in verſchiedenen Zeiten, Orten und
Klimaten
erleiden
ſollten auf eine genaue Art die
Grenzen
beſtimmt ſein, zwiſchen der allgemeinen Phyſik
einerſeits
und andrerſeits der phyſikaliſchen Geographie und
allen
übrigen Wiſſenſchaften, die ſich mit der Erdkugel be-
ſchäftigen
.
2) Welches ſind die verſchiedenen Zweige der ſo be-
ſtimmten
allgemeinen Phyſik, die man nun nach Belieben
entweder
als ebenſoviele beſondere Wiſſenſchaften anſehen
kann
, oder nur als Theile der einen ausgedehnteren Wiſſen-
ſchaft
, von welcher hier die Rede iſt?
Schon vorher hatte ich bemerkt, daß es bei Definition
und
Eintheilung der Wiſſenſchaften keineswegs hinreiche,
blos
auf die Natur der Gegenſtände ſein Augenmerk zu
richten
, auf welche ſich die Wiſſenſchaften beziehen, ſondern
daß
man auch auf die verſchiedenen Geſichtspunkte Rückſicht
nehmen
müſſe, von denen aus man dieſe Gegenſtände be-
trachten
kann.
Ich bildete demnach aus der allgemeinen
Phyſik
zwei Ordnungen von Wiſſenſchaften nach den ver-
ſchiedenen
Geſichtspunkten, unter welchen man die unorgani-
ſchen
Eigenſchaften der Körper betrachten kann, und theilte ſie
zunächſt
ab in die allgemeine (Elementar-) Phyſik
und
in die mathematiſche Phyſik.
Die Grenzlinie
zwiſchen
dieſen beiden Theilen der allgemeinen Phyſik beſtand
darin
, daß ich in dem erſten alles dasjenige vereinigte, was
Beobachtung
und Erfahrung uns an den Körpern, für ſich
betrachtet
, kennen lehrt;
in dem zweiten Theil aber zuerſt
die
allgemeinen Geſetze, die ſich uns aus der Vergleichung
und
Zuſammenſtellung theils der an den Körpern bemerk-
baren
Erſcheinungen, theils der mit der Modification der
äußeren
Umſtände gleichlaufenden Veränderungen dieſer Er-
ſcheinungen
ergeben, ſodann die Urſachen, zu denen wir
3319 durch Zerlegung der Thatſachen und Schlußfolgerungen aus
den
in denſelben enthaltenen Geſetzen aufſteigen.
Wir haben ſomit zwei Hauptgeſichtspunkte nicht allein
für
die allgemeine Phyſik, ſondern, wie ſich im Verlauf des
vorliegenden
Werks zeigen wird, für alle Wiſſenſchaften, die,
wie
die obengenannte, die Geſammtheit des auf einen Ge-
genſtand
bezüglichen Wiſſens in ſich faſſen.
Bei dem erſten
Geſichtspunkt
werden die Gegenſtände an ſich betrachtet;
bei dem zweiten in ihrer Wechſelbeziehung, d. h. es werden
durch
Zuſammenſtellung der Thatſachen allgemeine Geſetze
aufgeſucht
und in einen Zuſammenhang gebracht, in dem
ſie
ſich gegenſeitig erklären, bis es gelingt von den Wirkun-
gen
zu den Urſachen aufzuſteigen und von den entdeckten
Urſachen
wieder rückwärts auf die Wirkungen zu ſchließen.
Ich bemerkte ferner, daß jeder dieſer beiden Hauptge-
ſichtspunkte
wieder in zwei beſondere Geſichtspunkte zerfällt.
So kann man, wenn nach dem erſten Hauptgeſichtspunkte
die
Gegenſtände an ſich betrachtet werden, entweder bei dem,
was
die unmittelbare Beobachtung gibt, ſtehen bleiben, oder
man
kann etwas ſuchen, das Anfangs noch verborgen iſt,
und
zu dem man erſt durch weitere Zerlegung der Objekte
durchdringt
.
Ich bildete deßhalb eine erſte Unterabtheilung
der
allgemeinen Phyſik, welche alle Wahrheiten in ſich be-
greift
, die ſich auf die unmittelbar wahrnehmbaren unorga-
niſchen
Erſcheinungen und Eigenſchaften der Körper beziehen,
Experimentalphyſik;
eine zweite Unterabtheilung enthält
die
Wahrheiten, die ſich mit dem, was in den Körpern ver-
borgen
iſt, beſchäftigen, d.
h. mit den Elementen, aus denen
ſie
beſtehen, und die man nur durch Zerlegung derſelben
kennen
lernen kann.
So wurde mir die Chemie der zweite
Theil
der allgemeinen Phyſik.
Bei dem zweiten Hauptgeſichtspunkt, wo es ſich um
Vergleichung
und Erklärung der Thatſachen handelt, findet
eine
ähnliche Unterabtheilung in zwei beſondere Geſichts-
punkte
ſtatt.
Der eine davon bezieht ſich auf die allmäh-
3420 ligen Veränderungen, die ein und derſelbe Gegenſtand theils
für
die unmittelbare Wahrnehmung, theils in Beziehung
auf
das, was erſt durch weitere Zerlegung gefunden werden
kann
, erleidet;
man unterſucht dieſe Veränderungen, um den
dieſelben
beherrſchenden Geſetzen auf die Spur zu kommen,
und
wenn man ſo weit iſt, ſo vergleicht man das, was
man
an einem Gegenſtand beobachtet hat, mit dem, was
man
an einem anderen fand, um die ſo aufgefundenen Ge-
ſetze
ſo weit zu verallgemeinern, als es die Natur der Sache
zuläßt
.
Der zweite beſondere Geſichtspunkt (oder, wenn man
die
früher angegebenen zwei beſonderen Geſichtspunkte mit-
rechnet
, der vierte), geht von den unter den drei vorange-
gangenen
beſonderen Geſichtspunkten erhaltenen Reſultaten
aus
, um die letzten Gründe der in den vorhergegangenen
Unterſuchungen
aufgefundenen Thatſachen und Geſetze zu
erforſchen
und um von dieſen oberſten Gründen und Urſa-
chen
aus die künftigen Wirkungen vorherzuſehen und zu
berechnen
.
Ich vereinigte demgemäß in der erſten Unter-
abtheilung
der mathematiſchen Phyſik das vergleichende Stu-
dium
der Mittel, durch welche die Beobachtungen die größeſt-
mögliche
Genauigkeit erhalten, ferner die Verbeſſerungen,
die
man an den erhaltenen Reſultaten je nach der Tempe-
ratur
, dem atmoſphäriſchen Druck u.
ſ. w. anbringen muß,
die
Formeln, die ſich aus der Zuſammenſtellung der erhal-
tenen
Reſultate ableiten laſſen, und alle Folgerungen, zu
denen
man bei Anwendung des Calculs der Dynamik auf
die
genannten Formeln kommt;
dieß iſt das Ziel der Unter-
ſuchungen
, aus denen ich die beſondere Wiſſenſchaft der
Stereonomie
gebildet habe.
In der dieſer ebengenannten
Wiſſenſchaft
entſprechenden zweiten Unterabtheilung ſtellte
ich
Alles zuſammen, was ſich auf die letzten Gründe ſowohl
der
in der Experimentalphyſik und Chemie beobachteten Er-
ſcheinungen
, als der phyſikaliſch-mathematiſchen Geſetze be-
zieht
, welche letztere Gründe ſich in äußerſter Verallgemei-
nerung
auf die Kräfte der Anziehung und Abſtoßung zwi-
3521 ſchen Molekülen der Körper unter einander, und ebenſo
zwiſchen
den Atomen, aus denen die Moleküle beſtehen, zu-
rückführen
laſſen.
)
Ich fand ferner, daß die übrigen Wiſſenſchaften, welche
die
Natur der Körper erforſchen, wie Geologie, Botanik,
Zoologie
u.
ſ. w. ſich auf natürliche Art und ganz entſpre-
chend
den vorhin angeführten vier Geſichtspunkten in zwei
Theile
und vier Unterabtheilungen trennen.
Einige Zeit
nachher
entdeckte ich, daß daſſelbe bei den mathematiſchen,
den
phyſikaliſch mathematiſchen, den mediciniſchen und den
techniſchen
Wiſſenſchaften ſtattfinde.
Immer bemerkte ich, daß die Gegenſtände dieſer ver-
ſchiedenen
Wiſſenſchaften ſich unter denſelben Geſichtspunkten
betrachten
laſſen, wie die Objecte der Phyſik;
daß ſich dieſe
Geſichtspunkte
ganz auf dieſelbe Weiſe wie dort zu einander
verhalten
, und, ohne im Weſentlichen ſich zu ändern, höch-
ſtens
Modificationen erleiden, die von der Natur der Ge-
genſtände
abhängen, wie man ja dieſes auch bei den natür-
lichen
Characteren, deren man ſich in der Botanik und Zoo-
logie
bedient, bemerken kann.
Der Leſer wird ſpäter ſehen,
worin
dieſe Modificationen beſtehen, wenn ich im Verlauf
dieſes
Werkes die fraglichen Geſichtspunkte auf die verſchie-
denen
Wiſſenszweige anwende.
Im Frühjahr 1830 brachte ich eine Eintheilung der
cosmologiſchen
Wiſſenſchaften zu Stande.
Noch im Lauf
deſſelben
Iahres faßte ich den Gedanken, auch die noologi-
ſchen
Wiſſenſchaften zu claſſificiren.
Dieſelben zwei Hauptgeſichtspunkte ſammt ihren Unter-
abtheilungen
, mittelſt deren ich bereits die Gegenſtände der
cosmologiſchen
Wiſſenſchaften eingetheilt hatte, gaben mir
1
11Anmerkung. Ueber den Unterſchied von Molekülen und Atomen
leſe
man nach, Bibliothèque universelle, März 1832, Theil XLIX.,
pag. 225 ff., wo ſich ein von mir verfaßtes Memoire über dieſen
Punkt
findet.
3622 auch für die noologiſchen Wiſſenſchaften einen ganz natür-
lichen
Eintheilungsgrund an die Hand.
Auf dieſe Art erhielt ich Wiſſenſchaften von verſchiede-
nen
Ordnungen.
Wiſſenſchaften der erſten Ordnung nannte
ich
diejenigen, in welchen alle auf einen Gegenſtand be-
züglichen
Erkenntniſſe vereinigt ſind.
Iede Wiſſenſchaft der
erſten
Ordnung theilt ſich nach den zwei Hauptgeſichts-
punkten
, unter denen man einen Gegenſtand betrachten kann,
in
zwei Wiſſenſchaften von der zweiten Ordnung, und jede
von
dieſen beiden theilt ſich wieder in zwei Wiſſenſchaften
der
dritten Ordnung, entſprechend den früher angeführten
vier
ſpecielleren Geſichtspunkten.
Alle Wiſſenſchaften der zweiten und dritten Ordnung
ſind
alſo in Wiſſenſchaften der erſten Ordnung vereinigt,
und
ich war ſomit bei der Eintheilung des menſchlichen
Wiſſens
ungefähr auf denſelben Punkt gekommen, wie Ber-
nard
Iuſſieu, als er ſämmtliche damals bekannten Pflanzen-
gattungen
in natürliche Familien gruppirt hatte.
Es blieb
mir
nur noch übrig, die Wiſſenſchaften der erſten Ordnung
zu
claſſifiziren und in größere Abtheilungen zu vereinigen,
gerade
ſo, wie der Verfaſſer der genera plantarum die na-
türlichen
Familien in Klaſſen, und dieſe ſelbſt wieder in die
drei
großen Haufen der Acotyledonen, Monocotyledonen und
Dicotyledonen
vereinigte, welche letztere ganz mit den von
Cuvier
im Thierreich gemachten Hauptabtheilungen (embran-
chements
) zuſammenfallen, die wir Provinzen nennen wollen.
So entſprechen alſo die Wiſſenſchaften der dritten Ord-
nung
den natürlichen Familien Iuſſieu’s, die Wiſſenſchaften
der
erſten Ordnung bildeten gleichſam Klaſſen von Wahr-
heiten
, und es war nur meine Aufgabe, aus dieſen Wiſſen-
ſchaften
erſter Ordnung Provinzen und Reiche zu bilden.
Vor Allem theilte ich unſer ſämmtliches Wiſſen in zwei
Reiche
.
Das eine ſollte alle Wahrheiten befaſſen, die ſich
auf
die Körperwelt beziehen, das andere alles, was mit dem
menſchlichen
Geiſt zuſammenhängt.
Die Wiſſenſchaften der
3723 erſten Ordnung unter die zwei Reiche einzureihen, machte
keine
große Schwierigkeit;
aber ich mußte Zwiſchenglieder
aufſuchen
, damit in jedem Reiche eine natürliche Reihen-
folge
die gegenſeitigen Verhältniſſe und Beziehungen jener
Wiſſenſchaften
beſſer in die Augen fallen laſſe.
Sollten dieſe Unterabtheilungen natürlich ſein, ſo durften
ſie
nicht nach vorgefaßten Meinungen und vorausbeſtimmten
Eintheilungsgründen
gemacht werden, ſondern nach der Ge-
ſammtheit
der Beziehungen aller Art, welche ſich in den
Wiſſenſchaften
, die eingetheilt und geordnet werden ſollten,
auffinden
ließen, und ich machte der Reihe nach Verſuche,
ſie
bald zu drei, bald zu vier zu gruppiren, je nach dem
größeren
oder geringeren Grad von Aehnlichkeit, welchen ſie
unter
einander hatten.
Ieder dieſer Eintheilungsverſuche
ließ
mich neue Beziehungeu zwiſchen ihnen auffinden, aber
immer
noch fehlte die rechte Art der Zuſammenſtellung,
welche
alle dieſe Beziehungen mit der größtmöglichen Deut-
lichkeit
hervortreten ließ, und erſt im Frühling 1831 wurde
mir
klar, daß ich, um keine jener Beziehungen zu vernach-
läſſigen
, die Wiſſenſchaften erſter Ordnung zu zwei und
zwei
zuſammenſtellen müſſe, indem ich immer diejenigen,
welche
die ſchlagendſten und vielfältigſten Aehnlichkeiten zeig-
ten
, vereinigte;
und daß ferner die ſo gebildeten Gruppen
wieder
auf dieſelbe Art zu zwei und zwei, je die nächſtſte-
henden
mit einander verbunden werden müſſen.
Indem ich
dieſe
Arbeit immer weiter fortführte, mußte ich zuletzt auf
die
große Abtheilung in zwei Reiche und ſomit auf eine
conſeguent-dichotomiſche
Eintheilung kommen;
wie man auch
im
Verlauf des Werkes ſelbſt finden wird, daß jedes Reich
in
zwei Hauptgebiete, jedes Hauptgebiet in zwei Provinzen,
jede
Provinz in zwei Kreiſe, und jeder Kreis in zwei Wiſ-
ſenſchaften
der erſten Ordnung zerfällt.
Als ich einmal ſo weit war, wollte ich auch in dem
Curs
, zu dem ich im Collège de France verpflichtet bin,
eine
Arbeit fruchtbar machen, die nur im Intereſſe dieſes
3824 Curſes begonnen worden war, aber ganz unerwartet ſolche
Reſultate
hervorgerufen hatte, und ich beſtimmte Eine wö-
chentliche
Lection zu einer überſichtlichen Darſtellung dieſer
Unterſuchung
.
Dabei ſah ich jedoch gleich, daß meine Arbeit
noch
nicht zu Ende war.
Es fehlte mir an genauen Cha-
racteren
für die Unterſcheidung und Zuſammenſtellung der
zwiſchen
die Reiche und die Wiſſenſchaften erſter Ordnung
eingeſchobenen
Mittelglieder der Eintheilung.
Es fehlte mei-
ner
Claſſification noch gleichſam der Schlüſſel, den Iuſſieu
für
ſeine Zuſammenſtellung der natürlichen Pflanzenfamilien
in
der Zahl der Samenlappen, in der Stellung der Staub-
fäden
, in der Anweſenheit oder dem Mangel einer Blumen-
krone
u.
ſ. w. gefunden hat. Dabei kamen aber mancherlei
Schwierigkeiten
zum Vorſchein.
Da die verſchiedenen Grup-
pen
, welche ich nach natürlichen Analogieen aus den Wiſ-
ſenſchaften
erſter Ordnung gebildet hatte, vorher fertig wa-
ren
, ehe ich noch einen Schlüſſel für das Ganze aufſuchte,
mußte
ich nothwendig dieſen letzteren ſo lange ändern, bis
ich
einen fand, welcher dieſe Gruppen in ihrer natürlichen
Ordnung
genau wieder hervortreten ließ.
Ich fand auch
bald
ein Mittel, die Stellung und die Charactere der Haupt-
gebiete
und Provinzen zu beſtimmen;
nicht ſo jedoch verhielt
es
ſich bei den Kreiſen, in welche die Provinzen eingetheilt
wurden
.
So weit war ich, als mir im Iahr 1832 der Gedanke
aufging
, daß alle die Abtheilungen und Unterabtheilungen,
die
ich mit ſo vieler Mühe zu Stande gebracht hatte, in
gewiſſer
Weiſe a priori hätten abgeleitet werden können, und
zwar
mit Hülfe eben derſelben Geſichtspunkte, die mir im
Anfang
zur Abtheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung
in
ſolche der zweiten und dritten Ordnung gedient hatten.
Zwar hatte ich bereits bemerkt, daß die Anwendung der ge-
nannten
Geſichtspunkte auf die zwei großen Hauptobjecte
des
menſchlichen Wiſſens hinreiche, um jedes dieſer beiden
Reiche
in dieſelben Hauptgebiete und Provinzen abzutheilen,
3925 die ſich ſchon vorher a posteriori ergeben hatten. Nun aber
erkannte
ich auch, daß bei wiederholter Anwendung jener
Geſichtspunkte
auch auf die weniger allgemeinen Gegenſtände,
die
den Inhalt der Provinzen ausmachen, letztere gleichfalls
in
dieſelben Kreiſe und Wiſſenſchaften erſter Ordnung ſich
zerlegen
, wie ſie ſchon vorher beſtimmt waren, ehe ich auch
nur
entfernt an dieſe neue Anwendungsart jener Geſichts-
punkte
dachte.
In den Anmerkungen, welche ich durch klei-
neren
Druck von dem übrigen Texte des Werkes ausge-
zeichnet
habe, wird man ſehen, wie ich dieſe Idee entwickle,
und
mit welcher Ungezwungenheit ſie zu einem natürlichen
Syſtem
der menſchlichen Erkenntniſſe führt.
Der Umſtand, daß die aus der ebengemachten Betrach-
tung
hervorgehende Eintheilung unſeres Wiſſens auf eine
ſo
folgerechte Weiſe mit der Claſſification zuſammentrifft,
die
aus der empiriſchen Betrachtung ſämmtlicher Analogieen
der
verſchiedenen Wiſſenſchaften ſich ergab, hat nothwendig
ſeinen
Grund in der Natur unſeres Denkens.
Was auch
der
Gegenſtand unſerer Unterſuchungen ſein mag, phyſiſch,
logiſch
oder ethiſch, ſo müſſen wir vor allen Dingen die
Thatſachen
ſammeln, welche ſich für die unmittelbare Beob-
achtung
ergeben;
ſodann müſſen wir aufſuchen, was ge-
wiſſermaßen
unter dieſen Thatſachen verſteckt iſt;
und erſt,
wenn
dieſe Unterſuchungen vollendet ſind, welche den in
dem
erſten Hauptgeſichtspunkt vereinigten zwei beſonderen
Geſichtspunkten
entſprechen, erſt dann kann man die gewon-
nenen
Thatſachen mit einander vergleichen, und allgemeine
Geſetze
daraus ableiten.
Dieſe Vergleichung und Verallge-
meinerung
entſpricht augenſcheinlich dem dritten beſonderen
Geſichtspunkt
.
Iſt dieß Alles geſchehen, dann kann man
endlich
zu den letzten Gründen der Erſcheinungen aufſteigen,
die
man unter dem erſten Geſichtspunkt beobachtete, zerlegte
und
analyſirte unter dem zweiten, und unter dem dritten
verglich
, ordnete und auf allgemeine Geſetze zurückführte.
Dieſe Erforſchung der letzten Gründe alles bisher Aufge-
4026 fundenen, und die Ableitung der Wirkungen aus den nach-
gewieſenen
letzten Urſachen machen den vierten beſonderen
Geſichtspunkt
aus, und vollenden ſo den Kreis deſſen, was
man
nur irgend an einem Gegenſtand erkennen kann.
Ich
muß
mich hier begnügen mit der bloßen Andeutung der vier
Geſichtspunkte
, deren Unterſchied und gegenſeitige Beziehung
gewiſſermaßen
als das Princip einer Eintheilung angeſehen
werden
muß, welche gleichwohl von ganz anderen ſelbſtſtän-
digen
Unterſuchungen ihren Ausgang nahm.
Erſt nach
Durchleſung
des ganzen Werks wird man im Stande ſein,
die
Anwendung dieſes oberſten Eintheilungsgrundes ganz
zu
faſſen, und die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit deſſelben
vollſtändig
einzuſehen.
Als ich die Abfaſſung des vorliegenden Werks begonnen
hatte
, fiel mir eine merkwürdige Uebereinſtimmung auf, zwi-
ſchen
den genannten vier Geſichtspunkten und den vier Haupt-
epochen
, welche der menſchliche Verſtand bei ſeiner allmähligen
Entwicklung
zu durchlaufen hat, von den erſten Empfindungen
und
Bewegungen, durch welche das Kind ſeines Daſeins be-
wußt
wird und daſſelbe bethätigt, bis zu dem Zeitpunkt, wo
der
Menſch, gebildet durch die Geſellſchaft von Seinesgleichen,
wie
durch die Uebung von Wiſſenſchaften und Künſten, ſich
zu
der höchſtmöglichen Stufe der Erkenntniß emporhebt.
Dieſe Entwicklungsgeſchichte des menſchlichen Geiſtes
war
das Ergebniß einer langen Arbeit, die ich um das Iahr
1804
begann, und mit der ich noch im Iahr 1820 beſchäf-
tigt
war.
Ich unterſuchte nemlich die Vermögen des Geiſtes,
die
Mittel, durch welche er das Wahre vom Falſchen unter-
ſcheidet
, die Wege, die er gehen muß, um die verſchiedenen
Gegenſtände
ſeines Wiſſens zu ordnen, und um ſeine Be-
griffe
und Urtheile in Zuſammenhang unter einander zu
bringen
;
ich unterſuchte endlich den Urſprung unſerer Ideen;
und ſo wurden nach und nach alle von der Philoſophie
aufgeworfenen
Fragen in den Kreis meiner Erörterung ge-
zogen
und die Löſung derſelben verſucht.
4127
Die erſte Periode geht von dem Augenblick, wo bei
dem
Kinde Empfindung und Selbſtthätigkeit erwacht, bis zu
dem
Zeitpunkt, wo es durch die Sprache mit der übrigen
Menſchenwelt
in einen geiſtigen Wechſelverkehr tritt;
die
zweite
Periode erſtreckt ſich von der Erlernung der Sprache
bis
zu den äußerſten Grenzen, welche der menſchliche Geiſt
erreichen
kann, wenn es überhaupt ſolche Grenzen gibt.
Aus der erſten Periode bewahrt uns das Gedächtniß nichts
auf
, aber ich hielt es für möglich, durch bloße Schlußfolge-
rungen
aus den Thatſachen unſeres Bewußtſeins, den Zeit-
raum
in ſeiner ganzen Vollſtändigkeit noch einmal zu con-
ſtruiren
, und als ich über dieſen Punkt ins Reine gekommen
war
, bemerkte ich, daß der genannte Zeitraum, ebenſo wie
der
andere, abermals in zwei beſondere Perioden zerfallen.

Ehe
das Kind die Sprache lernt, gibt es eine Zeit, in wel-
cher
es nur dasjenige auffaſſen kann, was unmittelbare Er-
ſcheinung
iſt, mag nun letztere durch die äußeren Sinne
vermittelt
ſein, oder durch die innere Empfindung ſeiner ei-
genen
Selbſtthätigkeit;
dieß iſt die erſte untergeordnete Pe-
riode
im erſten Zeitraum.
Die zweite untergeordnete Pe-
riode
geht von dem Zeitpunkt, wo es das Daſein von Kör-
pern
und von perſönlichen Weſen entdeckt, welche gleich ihm
Verſtand
und Willen haben, bis zu der Epoche, wo es durch
die
Sprache mit letzteren in Verkehr tritt, wo es die Zwecke
einſieht
, welche die umgebenden Perſonen bei ihren Hand-
lungen
haben, und wo es den Sinn ihrer Worte verſteht.
Nun beginnt der zweite Zeitraum und die dritte unter-
geordnete
Periode.
Das Kind hört einen Namen bei ver-
ſchiedenen
Gegenſtänden nennen, es hört ein und daſſelbe
Wort
wiederholen in verſchiedenen Satzverbindungen, deren
Sinn
durch die Umſtände, unter welchen man es ausſpricht,
ihm
deutlich werden muß, und es kann nun den Begriff,
welcher
durch den Namen oder das Wort bezeichnet wird,
nicht
anders erfaſſen, als wenn es die verſchiedenen Objecte,
die
verſchiedenen Umſtände unter einander vergleicht, und
4228 durch dieſe Vergleichung das Gemeinſchaftliche, das in dieſen
verſchiedenen
Objecten oder Umſtänden enthalten iſt, heraus-
findet
;
denn eben dieſes, das Allgemeine, iſt es, was
durch
einen Namen oder ein Wort bezeichnet wird.
Verſteht einmal der Menſch die Worte, ſo hat er eben
damit
auch das Mittel, ſeine Gedanken feſtzuhalten und zu
ordnen
, ſeine Urtheile auszudrücken, und er macht die Ent-
deckung
, daß er, von bereits bekannten Wahrheiten ausge-
hend
, andere Wahrheiten davon ableiten kann, welche mit
den
erſten in dem Verhältniß gegenſeitiger Abhängigkeit ſte-
hen
, ſo daß mit dem einen auch die anderen nothwendig
gegeben
ſind.
In der vierten untergeordneten Periode endlich
fand
ich Alles dasjenige vereinigt, was der Menſch, bei einer
tieferen
Ergründung der Dinge und Weſen, über ihre Eigen-
ſchaften
und Kräfte, ſo wie auch über die letzten Gründe er-
forſchen
kann, auf welche er die Thatſachen der Natur und
der
geiſtigen Welt zurückführen muß.
)
Die Analogie dieſer vier Perioden mit den vier Ge-
ſichtspunkten
ſpringt zu ſehr in die Augen, als daß ich mich
lang
dabei aufhalten ſollte.
Sieht man nicht auf den erſten
Blick
, daß die zwei Hauptperioden der Entwicklungsgeſchichte
des
menſchlichen Geiſtes zuſammenfallen mit den früher be-
zeichneten
zwei Hauptgeſichtspunkten?
Und iſt es nicht ebenſo,
wenn
man die vier beſonderen Perioden mit den vier unter-
1
11Anmerkung. Dieſe vier Perioden entſprechen vier Arten von
Begriffen
, die in Verbindung mit den Erſcheinungen der äußeren
und
inneren Welt, in ihren verſchiedenen Combinationen den Ur-
ſprung
aller Thatſachen unſeres Bewußtſeins geben, wie ich es in
einer
im Collège de France gehaltenen Vorleſung näher ausein-
andergeſetzt
habe und deſſen weſentlicher Inhalt im Nachſtehenden
zu
finden iſt. Ich füge blos die Bemerkung bei, daß der Menſch,
wenn
er einmal eine Art von Begriffen erfaßt hat, derſelben bis an
das
Ende ſeines Lebens fähig iſt, und daß ſomit ſein Geiſt, der
während
der ganzen erſten Periode nur die erſte Art von Begriffen
zuläßt
, die beiden erſten Arten in ſich aufnehmen kann während der
zweiten
Periode, die drei erſten während der dritten, u. ſ. f.
4329 geordneten Geſichtspunkten vergleicht? Iſt nicht ganz klar,
daß
die Periode, wo das Kind nur die unmittelbaren Er-
ſcheinungen
der äußeren und inneren Welt auffaßt, dem
Geſichtspunkt
entſpricht, unter welchem man ſich nur mit
dem
beſchäftigt, was Natur und Geiſt der unmittelbaren
Beobachtung
vor Augen ſtellen;
ebenſo die zweite Periode,
wo
das Kind die Eriſtenz körperlicher Dinge und geiſtiger
Weſen
außer ſich entdeckt, dem Geſichtspunkt derjenigen
Wiſſenſchaften
, welche ſich mit der Erforſchung des in den
Gegenſtänden
Verſtecktliegenden beſchäftigen;
die dritte Pe-
riode
, wo das Kind, um die Sprache ſeiner Umgebungen
zu
verſtehen, die Gegenſtände vergleichen und ordnen, ja
ſeine
eigenen Gedanken betrachten muß, und mit der fort-
ſchreitenden
Entwicklung ſeiner Vernunft aus bekannten
Wahrheiten
unbekannte ableiten lernt, den Wiſſenſchaften
des
dritten Geſichtspunktes, welche ſich mit Zuſammenſtellung
und
Vergleichung der Thatſachen beſchäftigen;
die vierte
Periode
endlich dem vierten Geſichtspunkt, weil die Mittel,
die
man ſowohl zur Bewahrheitung als zur tieferen Er-
gründung
der Thatſachen anwenden muß, in beiden Fällen
auf
das Gleiche hinauslaufen, nemlich die Einſicht in den
nothwendigen
Zuſammenhang von Urſache und Wirkung?
Dieſe durchgehende Analogie folgt aus der Natur un-
ſeres
Geiſtes;
denn der Gelehrte muß durchaus bei der
Unterſuchung
irgend welches natürlichen oder geiſtigen Ge-
genſtandes
denſelben Gang befolgen, wie die übrigen Men-
ſchen
bei der allmähligen Entwicklung ihrer Einſichten.
Man würde das Ebengeſagte entſchieden mißverſtehen,
wenn
man ſich etwa vorſtellen wollte, daß ich die verſchie-
denen
Gruppen der in dieſem Werk definirten Wiſſenſchaften
in
eine Beziehung mit den ebengenannten Perioden bringen
wollte
.
Es iſt klar, daß für das Kind vor Erlernung der
Sprache
keine Wiſſenſchaft vorhanden iſt, daß alſo der Menſch
nur
in den zwei letzten Perioden eine Wiſſenſchaft oder
Kunſt
zu erfaſſen im Stande iſt;
er kann es im Allgemeinen
4430 nur dann erſt, wenn er ſolche Kenntniſſe beſitzt, welche alle
vier
Arten von Begriffen in ſich vereinigen, wie ſie in der
Anmerkung
am Ende der Vorrede näher werden bezeichnet
werden
.
Aus allem geht ſomit hervor, daß die Betrachtung
der
Perioden, welchen die verſchiedenen dem menſchlichen
Wiſſen
zu Grund liegenden Begriffsgattungen entſprechen,
auf
keine Weiſe in die Unterſuchungen über die Eintheilung
unſerer
Erkenntniſſe hereingezogen werden dürfen.
In dem philoſophiſchen Curſus, zu dem ich von 1819
auf
20 bei der philoſophiſchen Facultät von Paris ver-
pflichtet
war, entwickelte ich meine Anſichten über eine all-
gemeine
Claſſification der Thatſachen des Bewußtſeins.
Ich
hatte
bereits die hauptſächlichſten Ergebniſſe meiner Arbeit
in
einer pſychologiſchen Tabelle, die ich für einige wenige
Freunde
drucken ließ, zuſammengeſtellt, und behielt mir vor,
dieſe
wichtigen Fragen ſpäter in einer beſonderen Abhand-
lung
näher zu erörtern, wovon ich damals durch phyſicaliſche
Unterſuchungen
abgehalten wurde.
Betrachtungen, welche von den bisher auseinanderge-
ſetzten
ganz verſchieden waren, führten mich länger als ein
Iahr
nachher, als der Druck des erſten Theils dieſes Werks
faſt
vollendet war, am 12.
December 1833, zum dritten
Mal
auf ganz anderen Wegen zu den gleichen Abtheilungen
und
Unterabtheilungen ſämmtlicher Wahrheiten, welche un-
ſere
Wiſſenſchaften und Künſte ausmachen, ganz ebenſo wie
die
Eintheilung war, auf die ich gleich im Anfang kam,
und
welche ich ſpäter mittelſt der öfter beſprochenen Ge-
ſichtspunkte
zum zweiten Mal in ebenderſelben Ordnung
reproducirte
.
Auf dieſe Betrachtungen kam ich, indem ich unterſuchte,
auf
welche Art dieſe nemlichen Abtheilungen und Unterab-
theilungen
, eine von der anderen ſich ableiten laſſen, und ſie
gaben
mir für meine Claſſification einen neuen Schlüſſel an
die
Hand, den man ganz füglich an die Stelle des bereits
angewandten
ſetzen könnte.
Von dieſen beiden Schlüſſeln
4531 ſcheint mir der erſtere philoſophiſcher und fruchtbarer an
neuen
Anwendungen und Ableitungen;
er iſt wohl auch
tauglicher
, meine Eintheilung dem Gedächtniß einzuprägen;
der andere aber ſcheint mir practiſcher und leichter zu faſſen,
und
wird auch deßhalb einer größeren Zahl von Leſern beſſer
zuſagen
.
Aber höchſt merkwürdig iſt es mir, daß zwei ſo
ganz
verſchiedene Mittel darin zuſammentreffen, die Abthei-
lungen
und Unterabtheilungen des menſchlichen Wiſſens
ganz
in derſelben Ordnung zu reproduciren, wie ſie ſchon
vorher
unabhängig von dem einen, wie von dem anderen,
gebildet
worden waren.
Dieſe Uebereinſtimmung iſt meines
Erachtens
der ſchlagendſte Beweis, daß die Eintheilungen
in
der eigenſten Natur unſeres Denkens begründet ſind.

Als
ich den zweiten Schlüſſel entdeckte, war der Druck mei-
nes
Werks ſchon zu weit vorgerückt, als daß ich noch, der
Reihe
nach, alle Anwendungen hätte beifügen können;
um
jedoch
den Leſer in dieſer Beziehung zufrieden zu ſtellen,
habe
ich mich entſchloſſen, am Ende des Werks einen Anhang
zu
geben, in welchem ich alles, was darüber zu wiſſen nö-
thig
iſt, nachholen werde.
Buſatz Ampère’s zu ſeinem Eintheilungsprincip.
Es wurde oben in einer Anmerkung davon geſprochen,
daß
die vier Geſichtspunkte, welche die Grundlage der Am-
père’ſchen
Eintheilung bilden, vier Gattungen von Begriffen
entſprechen
, welche, angewandt auf die Erſcheinungen der
äußeren
und inneren Welt in ihren verſchiedenen Combi-
1
11Da der Tod Ampère an der Herausgabe des zweiten Theils ver-
hinderte
, ſo entbehren wir auch den oben verſprochenen Anhang;
ich
ließ aber das Obige ſtehen, weil es den Gang des Verfaſſers
von
einer intereſſanten Seite ſehen läßt.
4632 nationen, den Urſprung aller Thatſachen des Bewußtſeins
geben
.
Da es von Intereſſe iſt, die umfaſſende Bedeutung,
welche
Ampère ſelbſt ſeinen Geſichtspunkten zuſchreibt, ken-
nen
zu lernen, ſo folgt hier der weſentliche Inhalt einer
Vorleſung
, die er im Collège de France über den genannten
Gegenſtand
gehalten hat.
Die menſchlichen Gedanken beſtehen nach Ampère aus
Anſchauungen
und Begriffen.
Unter Anſchauung verſteht
er
1) Alles, was wir empfindend von außen in uns auf-
nehmen
, die Sinneseindrücke, ferner die Nachbilder, welche
auch
dann noch fortdauern, wenn die Umſtände, durch welche
wir
die Eindrücke erhielten, aufgehört haben, und endlich
diejenige
Anſchauung, welche durch Vereinigung einer un-
mittelbar
gegenwärtigen Sinnesempfindung und des Nach-
bildes
einer ſchon früher dageweſenen gleichen Empfindung
in
uns erzeugt werden.
Dieſe Vereinigung nennt Ampère
„Concretion
.
2) Alles, was in das Bewußtſein unſerer
eigenen
Thätigkeit fällt, zunächſt das Gefühl eben dieſer
Selbſtthätigkeit
, welches er Emeſtheſe (ἐμ{οῦ}, ἀίσθησις)
nennt
, dann die Spur dieſes Gefühls, welche unſer Ge-
dächtniß
aufbewahrt, von ihm Automneſtie (ἀυτὸς, μνῆ-
στις
) genannt, und endlich diejenige Selbſtanſchauung, welche
durch
Vereinigung einer wirklichen Emeſtheſe und der in
unſerem
Gedächtniß aufbewahrten Spuren früherer Eme-
ſtheſen
entſteht, eine Vereinigung, welche offenbar unſer em-
piriſches
Selbſtbewußtſein ausmacht.
Daraus ergibt ſich
der
Unterſchied, den er zwiſchen den ſinnlichen Anſchauun-
gen
und den von ihm ſogenannten Anſchauungen der in-
neren
Selbſtthätigkeit macht.
Bei den Begriffen unterſcheidet er vier Arten: I. die
urſprünglichen Begriffe, welche von den Vorſtellungen
unzertrennlich
und in gewiſſer Art die Formen ſind, unter
denen
wir ſie vollziehen müſſen, wie Raum und Bewegung
für
die ſinnlichen Vorſtellungen, Zeit und Urſächlichkeit für
die
Vorſtellungen der Selbſtthätigkeit.
4733
II. Die objectiven Begriffe beſtehen hinſichtlich der
ſinnlichen
Vorſtellungen in dem Begriff der Materie und
der
Atome, aus welchen letztere zuſammengeſetzt iſt;
hin-
ſichtlich
der Vorſtellungen der geiſtigen Selbſtthätigkeit, in
dem
Begriff von der Subſtanz, welche unſeren Körper be-
wegt
, und der Träger unſeres Denkens und Wollens iſt,
die
wir zuerſt an uns ſelbſt erkennen, und dann auch, um
der
Analogie willen in Anderen unſeres Gleichen, und am
Ende
in allen belebten Weſen annehmen.
(Ampère bemerkt
dabei
, daß der erſte Begriff, den wir von dieſer Subſtanz
haben
, das Ergebniß unſerer Fähigkeit iſt, unſern Körper
ſelbſtthätig
zu bewegen, und daß dieſes auch der Grund ſei,
warum
ſie in faſt allen Sprachen den metaphoriſchen Namen
Hauch
oder Wind bekommen habe, was nichts anderes be-
deute
, als unſichtbare bewegende Urſache.
Daher komme es
auch
, warum im Anfange der menſchlichen Geſellſchaft die
Menſchen
überall das Daſein einer Seele angenommen ha-
ben
, wo ſie Bewegungen ohne augenfällige Urſachen be-
merkten
, warum Iupiter den Donner gerollt, Apollo den
Sonnenwagen
geführt, Aeolus die Winde entfeſſelt, und
Dryaden
die Bäume haben wachſen laſſen.)
Dieſe beiden erſten Arten von Begriffen ſind unab-
hängig
von der Sprache, und es iſt klar, daß dieſes große
Mittel
für die Entwicklung des Denkens nicht eher ins Le-
ben
treten kann, als bis das Kind in den umgebenden Per-
ſonen
ebenfalls eine bewegende, denkende und wollende Sub-
ſtanz
vorausſetzt, gleich der, welche es in ſich ſelber fühlt;
und nur der Sprache wiederum verdanken wir die beiden
anderen
Arten von Begriffen, zu denen wir jetzt übergehen.
III. Zuerſt kommen die Begriffe, welche das Kind durch
ſeine
Anſtrengungen, die Sprache der Eltern zu verſtehen,
erhält
.
In Betreff der ſinnlichen Vorſtellungen ſind dieß die
von
Ampère ſogenannten comparativen Begriffe, welche
man
ſonſt die allgemeinen Vorſtellungen nennt.
Hört das
4834 Kind ein und daſſelbe Beiwort, z. B. roth, verſchiedenen
Gegenſtänden
beilegen, einer Blume, einem Kleidungsſtoff,
einer
von der Abendſonne beleuchteten Wolke, ſo wird die
Begierde
, den Sinn des Worts zu verſtehen, das Kind nö-
thigen
, die verſchiedenen Gegenſtände zu vergleichen, und es
wird
auf dieſe Art das Gemeinſchaftliche derſelben erkennen.
Dieſe Thätigkeit nun, durch welche es die genannte Aehn-
lichkeit
auffaßt, läßt in ſeinem Gedächtniß die allgemeine
Vorſtellung
„roth”, welche ſich an den Wortlaut knüpft.

Ebenſo
ſucht es den Sinn der Worte zu faſſen, wenn es
die
Worte gleich, größer, kleiner, doppelt, vier-
fach
u. ſ. w
.
ſagen hört, und bekommt ſo die Vorſtellungen,
welche
Ampère mathematiſche nennt.
Andere Begriffe derſelben Art beziehen ſich auf die
Vorſtellungen
der Selbſtthätigkeit.
So ſucht das Kind,
wenn
es die Worte empfinden, wünſchen, urthei-
len
, wollen
hört, das Gemeinſchaftliche in den Zuſtänden
oder
Thätigkeiten des Geiſtes aufzufinden, welche es mit
demſelben
Namen benennen hört, und daraus entſpringen die
Begriffe
, welche mehrere Pſychologen ſehr richtig reflexive
Ideen
genannt haben, wobei das Wort Reflexion in
dem
Locke’ſchen Sinn zu nehmen iſt.
Ebenſo verhält es
ſich
mit den Begriffen über geſellſchaftliche Verhältniſſe, über
gut und böſe, über Pflicht u.
ſ. w.
Es iſt zweckmäßig, dieſe verſchiedenen Arten von Be-
griffen
, welche in eine und dieſelbe Periode fallen, unter
einem
gemeinſchaftlichen Namen zuſammenzufaſſen.
Ono-
matiſche
Begriffe, d.
h. Begriffe, die ſich auf Worte und
Namen
beziehen, ſcheint der angemeſſenſte Ausdruck dafür
zu
ſein.
IV. Die vierte Art von Begriffen endlich ſind die er-
klärenden
Begriffe, mittelſt deren wir nach dem verglei-
chenden
Studium der Erſcheinungen zu den letzten Urſachen
aufſteigen
.
Was uns das Gedächtniß von einem Begriff aufbe-
4935 wahrt, iſt eins mit dieſem Begriff ſelbſt. Eine ſolche Iden-
tität
findet jedoch keineswegs ſtatt zwiſchen den Empfindun-
gen
oder der Emeſtheſe einerſeits und den Nachbildern oder
der
Automneſtie andrerſeits, und es kann nur im Traume
oder
in der Narrheit geſchehen, wenn man letztere für die
erſteren
nimmt.
Bei jedem Urtheil iſt das Prädicat noth-
wendig
ein Begriff und auch das Subject immer dann,
wenn
ſich die Bejahung oder Verneinung nicht ausſchließlich
auf
eine einzelne Thatſache der inneren oder äußeren Em-
pfindung
bezieht.
Ampère macht aufmerkſam auf die Aehnlichkeit zwiſchen
dieſen
beiden Arten von Erfahrung, der ſinnlichen und der
geiſtigen
einerſeits und andrerſeits den zwei Hauptobjecten
alles
Wiſſens, der Natur und dem Geiſt, aus denen er die
erſte
Hauptabtheilung, die großen Reiche der cosmologiſchen
und
noologiſchen Wiſſenſchaften bildete.
Ebenſo auffallend
iſt
die Analogie zwiſchen den vier Arten von Begriffen, den
primitiven
, den objectiven, den onomatiſchen und den erklä-
renden
einerſeits und andrerſeits den vier Geſichtspunkten,
nach
denen jedes Reich in vier Provinzen zerfällt.
Der
erſte
Geſichtspunkt, welcher alles unmittelbare Erkennen in
ſich
begreift, entſpricht den primitiven Begriffen;
mit dem
zweiten
Geſichtspunkt, welcher das hinter der Erſcheinung
Verborgenliegende
zum Gegenſtand hat, fallen die objectiven
Begriffe
zuſammen, mittelſt deren wir theils die den Sinnes-
eindrücken
zu Grund liegende Materie, theils die bewegende,
denkende
und wollende Subſtanz auffaſſen, welche der Träger
unſerer
geiſtigen Lebensthätigkeiten iſt;
der dritte Geſichts-
punkt
vergleicht die Eigenſchaften der Körper und die That-
ſachen
des Bewußtſeins, um allgemeine Geſetze aufzuſtellen,
und
Vergleichungen ſind es auch, durch welche die onoma-
tiſchen
Begriffe zu Stand kommen;
der vierte Geſichtspunkt
endlich
gründet ſich auf das Wechſelverhältniß von Urſachen
und
Wirkungen, womit es auch die erklärenden Begriffe zu
thun
haben.
5036
Demungeachtet macht ſich zwiſchen den natürlichen Claſ-
ſificationen
des menſchlichen Wiſſens einerſeits und den That-
ſachen
des Bewußtſeins andrerſeits ein Unterſchied bemerklich.
Im erſten Fall nemlich, bei der Eintheilung der menſchlichen
Erkenntniſſe
muß man bei der in der Natur der Objecte ge-
gründeten
oberſten Unterſcheidung der zwei Reiche anfangen,
und
dann zu den Unterabtheilungen der vier Provinzen über-
gehen
, weil die Natur der Objecte, auf welche ſich, wie geſagt,
dieſe
Unterſcheidung gründet, in dieſem Fall das Hauptaugen-
m@rk
ſein muß.
Bei der Claſſification der Thatſachen des
Bewußtſeins
dagegen iſt der auf die Natur der verſchiedenen
Begriffsformen
begründete Unterſchied viel wichtiger, als der-
jenige
, welcher von der Natur der Objecte abhängt, und man
muß
demnach die Geſammtheit jener Thatſachen in genannte
vier
große Abtheilungen zerlegen, deren erſte es mit den
Vorſtellungen
und primitiven Begriffen zu thun hat;
in der
zweiten
Abtheilung kommt die Unterſuchung der objectiven
Begriffe
hinzu;
die dritte verbindet damit die auf die ono-
matiſchen
Begriffe bezüglichen Betrachtungen;
der Inhalt
der
vierten Abtheilung iſt das Weſen und die Entſtehungs-
art
der erklärenden Begriffe;
der auf den Gegenſatz von
innerer
und äußerer Wahrnehmung gegründete Unterſchied
darf
blos dazu verwendet werden, um die vier Hauptab-
theilungen
je in zwei Unterabtheilungen, in zwei Gruppen
oder
Syſteme von Thatſachen des Bewußtſeins zu trennen.

In
der That entwickeln ſich auch die inneren und äußeren
Wahrnehmungen
und die auf beide bezüglichen Begriffe ganz
parallel
und ſtehen in ſteter Wechſelbeziehung zu einander;

und
man kann ſich keine klare Vorſtellung von einem dieſer
acht
Syſteme bilden, wenn man nicht zu gleicher Zeit das
entſprechende
Syſtem erforſcht, das mit dem erſteren eine
der
vier Hauptabtheilungen macht.
Dieſe Wechſelbeziehung zwiſchen Sinnesempfindung und
geiſtiger
Selbſtthätigkeit iſt die Grundlage der Ideogenie, dem
vierten
Theil der Pſychologie, der es mit der Erforſchung
5137 des Urſprungs unſerer Begriffe und aller unſerer Erkennt-
niſſe
zu thun hat.
Ehe man an die Erörterung einer Erſcheinung unſeres
Seelenlebens
geht, muß man ſich vorher eine deutliche Vor-
ſtellung
von derſelben nach allen ihren Seiten machen.
Ampère hat dieß an andern Orten für die verſchiedenen
Begriffe
gethan, indem er bei jedem derſelben den ideogeni-
ſchen
Unterſuchungen pſychographiſche Beſtimmungen vor-
ausſchickte
.
Ampère wählt als Beiſpiel die Analyſe der ſinn-
lichen
Vorſtellungen, und wir können uns nicht enthalten,
dieſe
geiſtreiche Abſchweiſung im Nachſtehenden wiederzugeben.
Beiſatz. Unter ſinnlichen Vorſtellungen verſteht man
die
Nachbilder, welche die Empfindungen in uns zurücklaſſen, welche
wir
gehabt und auf die wir reagirt haben.
Es iſt z. B. eine That-
ſache
unſerer Selbſtbeobachtung, daß bei der Rückerinnerung an einen
früher
bewohnten Ort in unſerem Geiſt wirklich eine Vorſtellung dieſes
Orts
mit allen Formen, Farben u.
ſ. w. ſeiner Gegenſtände entſteht,
jedoch
ohne daß dieſe Nachbilder von Formen und Farben mit den Em-
pſindungen
ſelbſt eins wären;
vielmehr ſind dieß zwei von einander unter-
ſchiedene
Zuſtände.
Da im Wachſein zu gleicher Zeit die ſubjectiven
Nachbilder
neben den wirklichen Empfindungen vorkommen, ſo
kommt
während deſſelben eine Verwechslung nie vor, außer im Fall von
Hallucination
, wo die geſunden Verhältniſſe unſerer Vorſtellungen geſtört
ſind
.
Aber im Schlaf benimmt uns die Abweſenheit der wirklichen Empfin-
dungen
jedes Mittel der Vergleichung, wir nehmen die Nachbilder für
wirkliche
Empfindungen und glauben zu ſehen, was wir uns nur einbilden.
Bei der Automneſtie iſt es gerade wie mit den ſinnlichen Empfin-
bungen
, nur mit der Einſchränkung, daß im wachen Zuſtand die Autom-
neſtie
immer mit der Emeſtheſe zu einem Selbſtbewußtſein verſchmolzen
iſt
.
In den Träumen aber, bei recht tiefem Schlaf, gibt es ſo wenig
eine
Emeſtheſe als Sinnesempfindungen;
denn die Emeſtheſe entſpringt
aus
der Wirkung, welche die bewegende und denkende Subſtanz auf die
derſelben
unmittelbar unterworfenen Theile des Hirns äußert, von wo
aus
ſie ſich in den zur Fortleitung beſtimmten Nerven weiter fortpflanzt,
gerade
wie die Empfindungen das Product ſind, welches in derſelben
Subſtanz
durch Einwirkungen äußerer Urſachen auf die Sinnorgane ent-
ſteht
, wenn dieſe Einwirkungen vermittelſt der leitenden Nerven auf das
Hirn
fortgepflanzt werden.
Daraus folgt, daß die einzige Spur von
Selbſtbewußtſein
, die ſich etwa in den Träumen äußern kann, in der
5238 Vereinigung der Automneſtieen beſteht, welche mit den Emeſtheſen der
vorangegangenen
wachen Zuſtände ſich verſchmolzen haben.
Dieſe Ver-
einigung
erſcheint uns als wirkliches Selbſtbewußtſein ganz auf dieſelbe
Art
, wie wir im Schlaf die Nachbilder vergangener Empfindungen für
wirkliche
Empfindungen nehmen.
Man hat hierbei auf zweierlei zu merken: 1) wenn man, halberwacht,
ſich
durch eine Willensanſtrengung zum vollſtändigen Wachen bringen
will
, ſo kommt die Emeſtheſe in dieſer Anſtrengung von Neuem zum
Vorſchein
, um ſich für den Fall des vollſtändigen Erwachens zu behaupten;
2) das empiriſche Selbſtbewußtſein iſt nur eine von den zahlreichen Mo-
dificationen
, welche, ſeien ſie ſinnlichen Urſprungs oder von anderer Art,
in
der bewegenden und denkenden Subſtanz neben einander beſtehen kön-
nen
.
Das, wodurch es ſich weſentlich von den übrigen Erſcheinungen
des
Seelenlebens unterſcheidet, iſt, daß es nur in einer Thätigkeit dieſer
Subſtanz
ſeibſt ſeinen Urſprung hat, nicht in einer äußeren Einwirkung;

die
Emeſtheſe iſt darum auch die einzige Erſcheinung, die von Haus aus
mit
dem Begriff der Urſächlichkeit vergeſellſchaftet iſt.
Der Urſprung der ſinnlichen Vorſtellungen beruht im Allgemeinen
darauf
, daß die Empfindung nur durch die Vereinigung zweier Umſtände
zu
Stande kommen kann, nemlich eines äußeren Eindrucks auf die Sinn-
organe
, und einer Gegenwirkung gegen dieſen Eindruck, welche letztere
Ampère
einfach Gegenwirkung nennt, wenn ſie blos organiſch, ohne
Zuthun
des Willens geſchieht, und Aufmerkſamkeit, wenn ſie will-
kührlich
iſt.
In dem Nachbild beſteht der erſte Eindruck nicht mehr, und
daſſelbe
entſteht blos durch die Wiederholung der Gehirnthätigkeit, in wel-
cher
die Gegenwirkung beſteht.
Wenn eine einfache Gegenwirkung das Nachbild reproducirt,
geſchieht
dieß ganz unabhängig vom Willen, wie man es in Träumen
und
jener Art von Erinnerungen findet, die man paſſive Erinnerungen
nennen
kann.
Hat aber Aufmerkſamkeit ſtattgefunden, ſo hängt die
Hervorrufung
des Nachbildes mehr oder weniger vom Willen ab.
Um ein Veiſpiel zu geben, in welchem die beiden Hauptfälle der
paſſiven
Reproduction ſinnlicher Vorſtellungen vorkommen, wollen wir
annehmen
, es haben zwei Sinneseindrücke auf ein Mal ſtattgefunden, und
eine
und dieſelbe Gegenwirkung habe beide umfaßt;
es habe z. B. jemand
einen
Baum geſehen, an deſſen Fuß ein Thier gelagert war, und ſpäter
noch
einmal den Baum, aber ohne das Thier;
die von der erſten Gegen-
wirkung
her im Hirn entſtandene Fertigkeit wird die Urſache ſein, daß
ſtatt
der durch den Anblick des bloßen Baumes hervorgerufenen Gegen-
wirkung
in dem Hirn die Gegenwirkung wieder entſtehen wird, welche
beim
erſten Anblick gegen den Eindruck des Baums und des Thieres
zugleich
ſtattfand, und daher kommt es, daß man das ganze Nach-
5339bild des durch die beiden Gegenſtände hervorgebrachten Sinneseindrucks
hat
.
Man ſollte glauben, daß aus dieſer Empfindung des Baums
in
Verbindung mit der eben bezeichneten Gegenwirkung, die Em-
pfindung
des Baums und zwei Nachbilder, das des Baumes
und
das des Thieres, entſtehen ſollten.
Es verhält ſich jedoch anders.
Die Erfahrung zeigt, daß in dieſem Fall gewöhnlich nur zwei Vorſtellungen
Statt
haben, die Wahrnehmung des Baums und das Nachbild des Thiers,
das
durch den Anblick des Orts, den letzteres früher einnahm, wieder
auflebt
.
Dieß kommt daher, daß die Gegenwirkung gegen den wirk-
lichen
Eindruck
des Baums nicht verſchieden iſt von der wieder-
holten
Gegenwirkung
, welche die Nachbilder von Baum und
Thier
hervorbringen;
und weil es nur eine einzige Gegenwirkung iſt, ſo
verſchmelzen
auch Nachbild und Empfindung des Baums in eine einzige
Vorſtellung
.
Es iſt dieß ganz daſſelbe, wie wenn auf denſelben Punkt
der
Netzhaut zu gleicher Zeit ein Eindruck fällt, der für ſich roth, und
ein
anderer, der für ſich blau hervorbringen würde.
Da aber beide Ge-
genwirkungen
zu gleicher Zeit auf demſelben Punkt des Drgans zuſammen-
treffen
, ſo können ſie nur eine einzige Gegenwirkung erregen, aus welcher
auch
nur die einfache Empfindung von Violet hervorgeht.
Dem reproducirten Nachbild des nicht vorhandenen Thiers gibt Am-
père
den Namen Commemoration, und Concretion nennt
er
die Vorſtellung, die man in dieſem Fall durch den Baum erhält, eine
Vorſtellung
, in welcher die wirkliche Empfindung und das Nachbild einer
vergangenen
Empfindung mit einander verwachſen (concrétées) ſind.
Durch den Begriff der Concretion laſſen ſich eine Menge Erſcheinungen
erklären
.
Mittelſt derſelben kann man ſich z. B. Rechenſchaft über eine
Thatſache
geben, auf welche Ampère durch den berühmten Laplace auf-
merkſam
gemacht wurde.
Wenn man nemlich in der Dper von dem Ge-
ſange
blos die Töne hört, aber die Worte nicht verſteht, und man wirft
die
Augen auf den Tert, ſo verſteht man ſogleich dieſelben Worte, und
zwar
mit einer ſolchen Deutlichkeit, daß man ſelbſt den Accent des Schau-
ſpielers
, ob er Gasconier oder Normann u.
ſ. f. iſt, unterſcheiden kann,
während
man vorher, ſo lang man nur Töne vernahm, gar keine Ahnung
von
letzteren hatte;
und Ampère ſetzt hinzu, daß man ſich nicht etwa ſo
ausdrücken
dürfe, man wiſſe durch den Text die geſprochenen Worte, ſon-
dern
ſo, daß man ſie wirklich höre.
Dieß kommt einzig davon her,
daß
mittelſt der Commemoration und in Folge der ſeit der Erlernung des
Leſens
erworbenen Fertigkeiten, die gedruckten Buchſtaben in uns die
Nachbilder
der Worte hervorrufen, die nun mit den gerade gehörten ver-
worrenen
Tönen verwachſen (eine Concretion bilden), ſo daß wir eine
deutliche
Vorſtellung der einzelnen Silben haben, und ſelbſt den Accent
der
Sänger unterſcheiden können.
5440
So können wir, aus demſelben Grund, keine Silbe deutlich unter-
ſcheiden
, wenn wir einen Menſchen eine uns ganz unbekannte Sprache
reden
hören, während wir jedes Wort verſtehen, wenn wir mit der Sprache
vertraut
ſind, wegen der Concretion der eben vernommenen Töne mit
den
Nachbildern derſelben Töne, die wir früher ſchon oft gehört haben.
Aus dieſer Erſcheinung erklärt ſich Ampère auch die Vorſtellung
von
Erhabenheit und Vertiefungen an einem Gemälde, das doch eine ganz
ebene
mit verſchiedenen Farben bedeckte Fläche iſt, auf welcher aber der
Maler
die Abſtufungen von Licht und Schatten angebracht hat, wie ſie
ſich
bei wirklichem Beſtehen der Vertiefungen und Erhabenheiten dem
Auge
zeigen würden.
In der That ſind bei dem Menſchen durch die lange
Gemohnheit
die Vorſtellungen der Formen, welche er inſtinktmäßig an den
mit
Vorſprüngen und Vertiefungen verſehenen Gegenſtänden entdeckt hat,
aufs
engſte verbunden mit den Abſtufungen von Schatten und Licht, und
der
Anblick letzterer weckt in ihm durch Commemoration die Vorſtellung
der
Formen, welche nun mit dem unmittelbaren Eindruck verwächſt, wäh-
rend
er außerdem nur die Erſcheinung einer geſärbten Fläche ohne Vor-
ſprung
und Vertiefung gemacht haben würde.
Dieß kann man ſich
leicht
dadurch verſinnlichen, daß man auf einer ebenen Fläche in einer
beſtimmten
gegenſeitigen Lage zwei Rhomben zeichnet, deren Winkel 60°
und
120° betragen und auf gehörige Art mit einander verbunden werden,
oder
auch Parallellinien, deren Enden durch Kreisbögen verbunden ſind.
In Folge der erlangten Fertigkeiten, von denen wir ſo eben geſprochen,
ſtellt
uns die erſte dieſer Zeichnungen Würfel dar, die zweite die Falten
eines
Vorhangs.
Aber durch nichts unterſcheiden ſich im erſten Fall die
vorſpringenden
Winkel von denen, welche vertieft erſcheinen müſſen.
Nichts
zeigt
in dem zweiten Fall an, ob die Falten des Vorhangs ihre concave
oder
ihre convere Seite dem Betrachter zukehren.
Stellt man ſich nun
aber
in der erſten Zeichnung gewiſſe Winkel als vorſpringend vor, ſo
werden
dadurch die andern zu vertieften, und man faßt demgemäß auch
die
Lage der Würfel auf, und ſieht dieſelben auch ſo lang auf dieſe Art,
bis
durch eine neue Anſtrengung unſerer Einbildungskraft die Sache um-
gekehrt
und die erſteren vertieft, die letzteren vorſpringend erſcheinen.
Ebenſo verhält es ſich bei der zweiten Zeichnung, wenn man ſich die
Falten
conver denkt, ſieht man ſie auch ſo, und zwar ſo lang, bis man
ſich
die Sache auf die entgegengeſetzte Art vorſtellt.
Dieß Alles iſt nur dadurch möglich, daß man durch die willkührliche
Rückerinnerung
an die Formen ſich die Nachbilder erzeugt, mit welchen
die
Empfindungen zuſammenſließen (concretiren).
55
Ampère’s natürliche Claſſification aller Uatur-
wiſſenſchaften.
Erſtes Kapitel.
Cosmologiſche Wiſſenſchaften, welche es nur mit den Begriffen
von Maas und Größe zu thun haben.
Mit dieſen Wiſſenſchaften muß, wie ſchon früher be-
merkt
wurde, die Reihe der menſchlichen Erkenntniſſe begon-
nen
werden, weil man bei ihnen von den wenigſten und
einfachſten
Begriffen ausgeht, ferner, weil man die in ihnen
enthaltenen
Wahrheiten ſtudieren kann, ohne andere Wiſſens-
zweige
zu Hülfe nehmen zu müſſen, da ja vielmehr letztere
ſich
ſehr häufig auf die mathematiſchen Wiſſenſchaften ſtützen,
wie
z.
B. die phyſicaliſchen und technologiſchen Wiſſenſchaften
die
Berechnungen und Theoreme der letzteren zur Grund-
lage
haben.
§. 1.
Wiſſenſchaften
der erſten Ordnung, welche ſich auf das Meſſen der
Größen
im Allgemeinen beziehen.
Von den Wahrheiten, die ſich auf das Meſſen von
Größen
beziehen, haben es einige mit allen möglichen Größen
1
11Die Eintheilung Ampère’s folgt nun hier ohne Unterbrechung, und
die
Einwendungen, welche ich gegen dieſelbe zu machen habe, werden
erſt
am Ende des Ganzen folgen.
5642 zu thun, ſie mögen ſein, von welcher Art ſie wollen, die
andern
aber mit beſonderen Arten von Größen, wie Aus-
dehnung
in Raum und Zeit, Bewegungen, Kräfte.
Dieſe
letzteren
ſetzen die erſteren voraus, deßhalb muß mit dieſen,
den
allgemeinen Größen, der Anfang gemacht werden.
Man theilt gewöhnlich dieß Gebiet ein in Arithmetik
und
Algebra, und begreift unter letzterem Namen zwei we-
ſentlich
von einander verſchiedene Arten von Wahrheiten,
die
ſogenannte Buchſtabenrechnung und die Rechnungsart,
welche
vermittelſt der Gleichungen aus mehreren bekannten
Größen
eine vorher unbekannte zu beſtimmen ſucht.
Die
Operationen
der Buchſtabenrechnung ſind aber durchaus
nicht
verſchieden von denen der gewöhnlichen Arithmetik;
der einzige Unterſchied, daß im einen Fall concrete Zahlen,
im
andern Fall allgemeine Zahlen unter der Form von Buch-
ſtaben
die Elemente der Rechnung ſind, iſt ganz außer-
weſentlich
.
Ich habe daher die Buchſtabenrechnung und die
gewöhnliche
Arithmetik in Eine Wiſſenſchaft dritter Ordnung
zuſammengeſtellt
, während der zweite Theil der Algebra, die
Lehre
von den Gleichungen, eine ſehr wohl zu unterſcheidende
eigene
Wiſſenſchaft dritter Ordnung darſtellt.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Arithmographie.
Iede Verbindung von Ziffern, Zeichen (die Zeichen der
Rechnungsoperationen
, Addition, Subtraction, Multiplica-
tion
, Diviſion, Wurzelausziehung) und Buchſtaben, heißt
eine
Zahl;
Numeriren heißt eine Zahl angeben, welche
blos
einer Verbindung von Ziffern entſpricht.
Eine und
dieſelbe
Zahl kann durch eine Menge verſchiedener Verbin-
dungen
ausgedrückt werden, und die Arithmographie
oder
die Kunſt Zahlen zu ſchreiben, hat die Aufgabe, ſolche
Ausdrücke
in andere gleichbedeutende zu verwandeln, bis
man
endlich auf die einfachſte, und für einen gewiſſen Zweck
brauchbarſte
Form kommt, ſo z.
B. die Verwandlung der
5743 Zahl {132/18} im 7 + {6/18}, 7 + {3/9}, 7 + {1/3}, 7,333… Alle Ope-
rationen
, welche zur Arithmetik und zur Buchſtabenrechnung
gehören
, beſchränken ſich auf ſolche Umwandlung;
ſind in
einem
ſolchen Ausdruck Buchſtaben enthalten, ſo wird vor-
ausgeſetzt
, daß man den Werth derſelben kennt.
2) Mathematiſche Analhſe.
In der Arithmographie ſind alſo ſämmtliche in einem
Zahlenausdruck
vorkommende Größen bekannt, oder werden
als
bekannt angenommen.
Wenn aber die Werthe eines
oder
mehrerer der Buchſtaben unbekannt ſind, wenn zwiſchen
den
Ausdrücken, welche dieſelben enthalten, Beziehungen ſtatt-
finden
, welchen dieſe Unbekannten Genüge leiften müſſen,
und
wenn man nun, dieſen Beziehungen entſprechend, die
Beſtimmung
dieſer Unbekannten verlangt, ſo müſſen die Aus-
drücke
, zwiſchen welchen die Beziehungen ſtattfinden, zerlegt
werden
, um die Werthe jener Unbekannten zu finden, ſtatt,
wie
in der Arithmographie, auf dem Weg der Zuſammen-
ſetzung
die Werthe der Ausdrücke zu finden, deren Elemente
bekannt
ſind.
Die Wiſſenſchaft dritter Ordnung, welche uns
die
hiezu nöthigen Operationen lehrt, iſt der zweite Theil
der
gewöhnlich ſogenannten Algebra, und der Name ma-
thematiſche
Analyſe
paßt ganz für denſelben, wenn
man
die Natur der Operationen im Auge hat, durch welche
man
zu der Beſtimmung der Unbekannten gelangt.
Die
ebenbeſprochenen
Beziehungen laſſen ſich bekanntlich durch
Gleichungen ausdrücken, und man kann den Unterſchied
dieſer
Wiſſenſchaften von der Arithmographie auch ſo be-
zeichnen
, daß bei letzterer die ſtufenweiſen Umwandlungen,
die
man mit einem Ausdruck vornimmt, ſeinen Werth nicht
ändern
, während bei den Gleichungen die Umwandlung zu
gleicher
Zeit den Werth beider Seiten der Gleichung ändert,
aber
ſo, daß doch immer beide Seiten einander gleich bleiben,
weil
immer mit beiden Seiten die gleiche Veränderung vor-
genommen
wird.
5844
3) Theorie der Functionen.
Bis jetzt hatte man es mit Größen zu thun, welche be-
ſtimmte
Werthe hatten, oder wenigſtens dafür angenommen
wurden
, als ob ſie ſolche hätten, mögen nun dieſe Werthe
bekannt
oder unbekannt ſein.
Wendet man aber die Zahlen
an
als Maaß verſchiedener Arten von Größen, die von ein-
ander
abhängen, ſo bemerkt man, daß die Zahlen, welche
dieſe
verſchiedenen Größen ausdrücken, in Beziehungen zu
einander
ſtehen, die ſich auf zwei Aufgaben reduciren laſſen.
1) Kennt man die Beziehungen zwiſchen den Größen, welche
ſich
zu gleicher Zeit ändern, ſo kann man daraus diejenigen
Beziehungen
ableiten wollen, welche zwiſchen denſelben Grö-
ßen
und den Grenzen der Verhältniſſe ihrer beziehungs-
weiſen
Vergrößerungen ſtattfinden, oder umgekehrt 2) wenn
man
letztere Beziehungen kennt, ſo kann man die Beziehungen
der
urſprünglichen, veränderlichen Größen ausfindig machen.

Die
mathematiſchen Geſetze, auf welchen die Auflöſung dieſer
doppelten
Aufgabe beruht, machen den Inhalt der Differen-
tial-
und Integralrechnung aus, und dieſe bilden mit ein-
ander
eine weitere Wiſſenſchaft dritter Ordnung, die ich, nach
dem
Vorgang Lagrange’s, Theorie der Functionen
nenne
.
4) Theorie der Wahrſcheinlichkeitsrechnung.
Will der Menſch die letzten Urſachen erforſchen, die
letzten
Reſultate vorherſehen, ſo muß er die verſchiedenen
Grade
der Wahrſcheinlichkeit, die auf den erſten Anblick ſo
wenig
meßbar ſind, durch Zahlen ausdrücken.
Aus der
Geſammtheit
der hierauf bezüglichen Wahrheiten bilde ich
eine
vierte Wiſſenſchaft dritter Ordnung, welche unſer ſämmt-
liches
Wiſſen über Meſſung der Größen im Allgemeinen
abſchließt
, und welcher ich den gebräuchlichen Namen der
Wahrſcheinlichkeitsrechnung laſſe.
1
11Siehe hiergegen die Bemerkungen des Herausgebers, welche unten
folgen
werden.
5945
b) Claſſification.
Die eben aufgezählten und definirten vier Wiſſenſchaften
machen
die Geſammtheit unſerer Erkenntniſſe über das
Meſſen
der allgemeinen Größen aus.
Sie bilden zuſammen
eine
Wiſſenſchaft erſter Ordnung, die Arithmologie.
Von
dieſen
vier Wiſſenſchaften enthalten die beiden erſteren die
einfacheren
Begriffe, die beiden letzteren aber eine tiefer ein-
dringende
Erkenntniß.
Die Arithmologie theilt ſich alſo auf
eine
ganz natürliche Weiſe in zwei Wiſſenſchaften zweiter
Ordnung
, deren erſtere ich die elementare Arithmo-
logie
nenne, welche die Arithmographie und die mathema-
tiſche
Analyſe in ſich begreift.
Die zweite Wiſſenſchaft
zweiter
Ordnung enthält die Theorie der Functionen und
die
Wahrſcheinlichkeitsrechnung;
ich nannte ſie Megetho-
logie
, weil man hier nicht mehr Zahlen im engeren Sinn,
ſondern
Größen überhaupt, welche durch Zahlen ausgedrückt
werden
können, zu betrachten hat.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Arithmologie. # Glementar- \\ Arithmologie. # Arithmographie.
# # Mathematiſche Analyſe.
# Megethologie. # Theorie der Functionen.
# # Wahrſcheinlichkeits- \\ rechnung.
Anmerkungen Ampère’s.
Man ſieht leicht, daß ſich dieſe vier verſchiedenen Wiſſen-
ſchaften
dritter Ordnung nur ſo unterſcheiden, daß ſie den
vorherbezeichneten
gemeinſchaftlichen Gegenſtand unter ver-
ſchiedenen
Geſichtspunkten betrachten.
Wenn wir in der
Arithmographie
verſchiedene Ausdrücke einer und derſelben
Zahl
in einander umwandeln, ſo haben wir dieſelben gleich-
ſam
vor unſern Blicken, und wir ſehen unmittelbar, wenn
nicht
mit dem körperlichen, doch mit dem geiſtigen Auge,
daß
dieſe verſchiedenen Veränderungen den eigentlichen Werth
6046 der Zahl nicht ändern. Dieß iſt der erſte Geſichtspunkt,
wobei
wir uns blos mit dem beſchäftigen, was Gegenſtand
der
unmittelbaren Anſchauung werden kann.
Bei der
mathematiſchen
Analyſe handelt es ſich nicht mehr um die
Rechnung
mit Größen, deren Zuſammenſetzung wir kennen;
man muß dieſelben vielmehr zerlegen, um die Werthe der
unbekannten
Größen zu beſtimmen, welche in den auf-
zulöſenden
Gleichungen gewiſſermaßen verhüllt und verbor-
gen
ſind;
dieß iſt der zweite Geſichtspunkt. Der dritte Ge-
ſichtspunkt
, der in der Theorie der Funktionen zur Geltung
kommt
, iſt charakteriſirt durch die allmähligen Verände-
rungen
der Größen, welche mit einander zu- und abneh-
men
, und durch die Geſetze, die man aus der Verglei-
chung
der beiderſeitigen Zu- oder Abnahmen ableiten kann.

In
der Theorie der Wahrſcheinlichkeitsrechnung endlich, welche
den
vierten Geſichtspunkt ausmacht, ſucht man unbekannte
Größen
zu entdecken, welche ſo zu ſagen noch verborgener
ſind
, als die Unbekannten der mathematiſchen Analyſe, und
welche
mit der Wechſelbeziehung von Urſachen und Wirkun-
gen
in Zuſammenhang ſteht, dem großen Geſetz, dem das
ganze
Weltall unterworfen iſt.
Dieſe vier Geſichtspunkte gelten nicht allein hinſichtlich
der
Zahlen;
es wird ſich zeigen, daß ſie bei ſämmtlichen
Objecten
der ſpäter noch abzuhandelnden Wiſſenſchaften vor-
kommen
werden, weil es, wie ſchon früher gezeigt wurde,
für
die menſchliche Vernunft weſentlich iſt, ſich nur allmählig
bis
zu der vollſtändigen Erkenntniß eines Gegenſtandes zu
erheben
.
Sie muß mit dem anfangen, was uns in dem-
ſelben
gleichſam unmittelbar in die Augen fällt;
dann muß
ſie
aufſuchen, was in denſelben Gegenſtänden tiefer verborgen
iſt
.
Mit dieſen beiden Geſichtspunkten wären unſere Unter-
ſuchungen
zu Ende, wenn die Objecte zu allen Zeiten und
an
allen Orten dieſelben wären.
In der Natur iſt jedoch
Alles
ununterbrochenen Veränderungen unterworfen, wir
vergleichen
dieſelben, und leiten aus dieſer Vergleichung die
6147 allgemeinen Geſetze jener Veränderungen ab. Im vierten
Geſichtspunkt
endlich, welcher Alles, was ein Menſch über
eine
Sache wiſſen kann, vollendet und abſchließt, ſucht man
etwas
auf, was noch in einem höheren Grad verborgen iſt,
als
das Unbekannte, was den Inhalt des zweiten Geſichts-
punktes
ausmacht, und in dieſe Sphäre fällt für unſere
Forſchungen
Alles, was ſich auf die Verkettung von Ur-
ſachen
und Wirkungen bezieht.
Alles alſo, was wir ir-
gend
bei der Erforſchung einer Sache, der Natur unſeres
Denkens
gemäß thun können, ſchließt ſich in den vier be-
zeichneten
Punkten ab;
Beobachtung des offen vor Augen
Liegenden
, Entdeckung des Verborgenen, Vergleichung der
beobachteten
Thatſachen und der an denſelben unter ver-
ſchiedenen
Zeit- und Raumverhältniſſen vorgehenden Ver-
änderungen
, und Feſtſtellung der daraus abzuleitenden Ge-
ſetze
;
endlich die Erforſchung eines noch tiefer liegenden Un-
bekannten
, nemlich Gntwickelung der Urſachen aus bekannten
Wirkungen
, und Vorausberechnung der Wirkungen aus
bekannten
Urſachen.
Da ich öfters auf dieſe Geſichtspunkte zurückkommen
werde
, ſo will ich demſelben beſtimmte Namen geben, um
mich
endloſer Umſchreibungen zu entheben, die den Verfaſſer
und
den Leſer ermüden.
Den erſten Geſichtspunkt uenne ich demnach den au-
toptiſchen
, weil derſelbe ſeinen Gegenſtand nur mittelſt
der
unmittelbaren Anſchauung erfaßt.
Dem zweiten Geſichtspunkt, welcher das in einer Sache
Verborgene zu beſtimmen hat, gab ich den Namen des
cryptoriſtiſchen.
Da der weſentliche Character des dritten Geſichts-
punktes
darin beſteht, die Veränderungen der Gegenſtände
zu
unterſuchen, welche ſie in verſchiedenen Zeiten und Orten
erleiden
, und aus dieſen Modificationen die Geſetze jener
Veränderungen
abzuleiten, ſo werde ich dieſen Geſichtspunkt
den
troponomiſchen nennen.
6248
Der vierte Geſichtspunkt endlich, welcher das Verbor-
genſte
einer Sache erforſcht, wird der cryptologiſche
heißen
.
Wenn ich ſage, daß dieſe Geſichtspunkte ſich in allen
Zweigen
des menſchlichen Wiſſens wiederholen, ſo brauche
ich
nicht erſt bemerklich zu machen, daß ſie nicht immer in
derſelben
Weiſe zur Anwendung kommen.
In der Haupt-
ſache
bleiben ſie zwar dieſelben, ſie erleiden jedoch, je nach
der
Natur der Gegenſtände, auf welche man ſie anwendet,
nothwendig
mancherlei Modificationen, wie dieß auch häufig
bei
natürlichen Claſſificationen der Pflanzen und Thiere der
Fall
iſt, in Hinſicht auf die Charactere, durch welche ſich
die
verſchiedenen Gruppen unterſcheiden.
In der Mehrzahl
der
noologiſchen Wiſſenſchaften hat z.
B. der cryptoriſtiſche
Geſichtspunkt
einen auslegenden Character, wie man es weit
ſeltener
bei den cosmologiſchen Wiſſenſchaften findet.
In
beiden
Reichen aber ſind die Veränderungen, welche bei dem
troponomiſchen
Geſichtspunkt unterſucht und verglichen wer-
den
, theils ſolche, welche nacheinander an einem und dem-
ſelben
Gegenſtand ſtattfinden, theils aber ſolche, welche als
Modificationen
an verſchiedenen Gegenſtänden vorkommen,
mögen
ſie nun an verſchiedenen Orten oder in verſchiedenen
Zeiten
ihre Eriſtenz haben.
Bei den Wiſſenſchaften, welchen
man
den Namen Kunſt gibt, und deren Hauptzweck der
Nutzen
iſt, ſind die möglichen Vortheile und Verluſte bei
den
gewerblichen Unternehmungen die große Unbekannte,
welche
beſtimmt werden muß;
deßwegen gehören auch die
Hülfsmittel
, welche zu dieſer Beſtimmung nothwendig ſind,
in
den Bereich des cryptoriſtiſchen Geſichtspunkts, während
es
der cryptologiſche Geſichtspunkt hauptſächlich mit einer
andern
Art von unbekannten Größen zu thun hat, nemlich
mit
der Vervollkommnung der techniſchen Arbeiten.
Die Ordnung, in der ich hier die vier Geſichtspunkte
darſtelle
, iſt genau dieſelbe, welche das menſchliche Denken
befolgt
, wenn es bei der Erforſchung einer Sache ſtufenweiſe
6349 immer höher aufſteigt. Es iſt ſomit auch die Ordnung,
die
man bei einer natürlichen Eintheilung der Wiſſenſchaften
zu
befolgen hat.
Dieß darf jedoch nicht hindern, die Analogie
zu
bemerken, welche ſich nachweiſen läßt
1) zwiſchen dem erſten und dritten Geſichtspunkt, welche
beide
auf Beobachtung und Anſchauung gegründet ſind, und
ſich
nur darin unterſcheiden, daß man bei dem erſten Ge-
ſichtspunkt
eine Sache unterſucht, wie ſie, ganz abgeſehen
von
möglichen Veränderungen und von Beziehungen zu an-
dern
Gegenſtänden ſich darſtellt, während man bei dem dritten
Geſichtspunkt
gerade dieſe Veränderungen und Beziehungen
an
der Sache erforſcht.
2) Die zweite Analogie, die nicht übergangen werden
darf
, iſt die, zwiſchen dem zweiten und vierten Geſichtspunkt.
Beide ſuchen etwas Unbekanntes in einem Gegenſtand, und
der
einzige Unterſchied beſteht darin, daß man ſich bei dem
zweiten
Geſichtspunkt zur Entdeckung des Unbekannten mit
den
Kenntniſſen begnügt, die man durch den erſten Geſichts-
punkt
erhalten hat, während man bei dem vierten Geſichts-
punkt
nur dann erſt an die viel ſchwierigere Erforſchung
eines
noch tiefer liegenden Unbekannten gehen kann, wenn
man
alle Kenntniſſe vereinigt, welche man in den drei vor-
hergegangenen
Geſichtspunkten über einen Gegenſtand ge-
wonnen
hat.
Ich hielt es für zweckmäßig, dieſe Analogie
dadurch
zu bezeichnen, daß ich dieſen beiden Geſichtspunkten
die
Namen cryptoriſtiſch und cryptologiſch gab,
welche
beide dieſelbe Wurzel haben.
Man wird im Verlauf dieſes Werkes ſehen, daß alle
Künſte unter einen von dieſen beiden Geſichtspunkten
fallen
;
der Grund davon iſt einfach; alle Wahrheiten, die
ihren
Inhalt bilden, ſind nichts als die Entdeckung von
Mitteln
, durch welche der Menſch einen beſtimmten Zweck
erreicht
.
Dieſe Mittel ſind für denjenigen verborgen, welcher
dieſelben
zu erlangen trachtet.
Man würde ſich jedoch irren,
6450 wenn man daraus ſchließen wollte, daß alle cryptoriſtiſchen
oder
cryptologiſchen Wiſſenſchaften Künſte ſeien.
§. 2.
Wiſſenſchaften
dritter Ordnung, welche ſich mit dem Meſſen und den
Eigenſchaften
der ausgedehnten Größen beſchäftigen.
Die Wiſſenſchaften, welche ſich auf die Maasverhältniſſe
und
die Eigenſchaften der ausgedehnten Größen beziehen,
ſind
ſo eng verbunden mit den Wiſſenſchaften, die es mit
den
Größen im Allgemeinen zu thun haben, daß man ſie
häufig
in den davon handelnden Werken mit einander ver-
mengt
hat.
Ebenſo verband man, in der Mehrzahl der in
dem
letzten Iahrhundert herausgekommenen Schriften, die
Arithmetik
, die einfachſten Begriffe der Algebra, mit dem-
jenigen
Theil der Wiſſenſchaft der ausgedehnten Größen,
dem
man nach dem Beiſpiel der Alten ausſchließlich den
Namen
„Geometrie” gab.
Man hat ſie in den neueren
Schriften
von einander getrennt;
aber man ſtellte die Theorie
der
Functionen mit den Anwendungen derſelben auf die
ausgedehnten
Größen zuſammen, und der berühmte Lagrange
ging
in dem erſten Werke, das er über dieſe Theorie ſchrieb,
ſo
weit, auch noch die Anwendungen auf die Mechanik der-
ſelben
einzuverleiben.
Solche Zuſammenſtellungen laſſen ſich
wohl
entweder durch den beſtimmten Zweck rechtfertigen, den
ein
Schriftſteller gerade hat, oder durch den Vortheil, bei
dem
Unterricht, in einer Abhandlung ſämmtliche zu einem
Curſus
gehörigen Theile beiſammen zu haben.
Da jedoch
die
Unterſcheidung der Gegenſtände, auf welche ſich die
Wiſſenſchaften
beziehen, eine der Hauptgrundlagen ihrer
Claſſification
ausmacht, ſo hielt ich es für nothwendig, dieſer
Verwirrung
ein Cnde zu machen, und nur die engſtverbun-
denen
Wiſſenſchaften zuſammenzuſtellen, und wir kommen
nun
bei den Wiſſenſchaften an, welche es mit den Eigen-
ſchaften
ausgedehnter Größen zu thun haben.
6551
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Synthetiſche Geometrie.
Unter den Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche es
mit
den Eigenſchaften der ausgedehnten Größen zu thun
haben
, tritt uns als die erſte die ſynthetiſche Geometrie ent-
gegen
.
Sie geht aus von ganz augenfälligen einfachen
Wahrheiten
, verbindet dieſelben auf alle möglichen Arten,
und
kommt dadurch zu anderen, welche von Stufe zu Stufe
verwickelter
werden, indem man eine ununterbrochene Ein-
ſicht
in den Zuſammenhang hat, welcher ſämmtliche Wahr-
heiten
in nothwendiger Abhängigkeit an einander ſchließt.
Was ich hier ſynthetiſche Geometrie nenne, das iſt
derjenige
Zweig des mathematiſchen Wiſſens, den die Alten
am
meiſten gepflegt haben, und der bei ihnen Geometrie
hieß
, und die Neueren wußten faſt nichts mehr beizufügen,
ſchufen
jedoch andere Wiſſenſchaften der dritten Ordnung,
welche
ſich gleichfalls auf die ausgedehnten Größen beziehen,
und
von denen jetzt die Rede ſein wird.
2) Analytiſche Geometrie.
Die erſte Stelle unter denſelben hat die Wiſſenſchaft,
deren
Zweck iſt, das was an den Figuren unbekannt iſt,
aufzufinden
, was durch Anwendung der mathematiſchen Ana-
lyſe
auf dieſe beſondere Gattung von Größen geſchieht.
Man bezeichnet ſie gewöhnlich als Anwendung der Algebra
auf
die Geometrie.
Es ſcheint mir jedoch beſſer, dieſe Wiſſen-
ſchaft
analytiſche Geometrie zu nennen, um ihren
Endzweck
und die Natur ihrer Operationen beſſer zu be-
zeichnen
.
3) Theorie der Linien und Flächen.
Wenn ein Punkt auf ſtetige Weiſe ſeinen Ort verän-
dert
, ſo entſteht eine Linie, und auf dieſelbe Art entſtehen
Flächen
aus Linien.
Während der Ortsveränderungen finden
in
beiden Fällen conſtante Beziehungen ſtatt, zwiſchen den
geraden
Linien, oder den Winkeln, welche in jedem Augenblick
6652 die ſtetig veränderte Lage eines Punkts oder einer Linie
beſtimmen
.
Daher die fruchtbare Idee, Linien und Flächen
durch
Gleichungen darzuſtellen, in welchen dieſe Beziehungen
ausgedrückt
ſind.
Schon in der analytiſchen Geometrie
macht
man Gebrauch von Gleichungen dieſer Art, um die
daſelbſt
vorkommenden Curven und Flächen darzuſtellen und
ihre
verſchiedenen Eigenſchaften aufzuſuchen.
Wenn aber
auf
die gleichzeitigen Veränderungen von Linien oder Win-
keln
, wovon ſo eben die Rede war, die Theorie der Func-
tionen
angewendet wird, ſo kommt man auf Geſetze, welche
ebenſo
allgemein für alle Arten von Curven und von Flächen
gelten
, wie die Formeln, durch welche die verſchiedenartigſten
Größen
, Linien, Flächen und Körper dargeſtellt werden kön-
nen
.
Dieſe Anwendung der Theorie der Functionen auf
die
Meſſung ausgedehnter Größen, führe ich auf unter dem
Namen
Theorie der Linien und Flächen.
4) Moleculärgeometrie.)
Nun gibt es aber noch eine Wiſſenſchaft dritter Ord-
nung
, welche man in der Regel nicht zu den Wiſſenſchaften
rechnet
, mit denen wir es hier zu thun haben, und doch
gehört
ſie zu denſelben, denn ſie bietet der Beobachtung nur
die
Anſchauung von Maasverhältniſſen, und dieß iſt, wie
wir
bald ſehen werden, der unterſcheidende Character der
Provinz
, in welche alle dieſe Wiſſenſchaften gehören.
Der
Inhalt
der vorliegenden Wiſſenſchaft beſteht in der Beſtim-
mung
der ſogenannten Primitivformen cryſtalliſationsfähiger
Körper
, aus den durch die Beobachtung gegebenen Secundär-
formen
, oder umgekehrt in der Ableitung der Secundärformen
aus
den Primitiven;
man nennt gewöhnlich dieſe Wiſſen-
ſchaft
Cryſtallographie.
Man darf aber nur in das Werk
des
berühmten Phyſikers, welcher ſie aufgeſtellt hat, einen
Blick
werfen, um ſich zu überzeugen, daß ſie rein mathe-
1
11Siehe hierüber eine ſpätere Bemerkung des Herausgebers.
6753 matiſch iſt, und daß ſich das Ganze darauf beſchränkt, po-
lyedriſche
Figuren zu combiniren, und andere daraus abzu-
leiten
.
Ich hielt den Namen Moleculärgeometrie für den
paſſendſten
, denn er bezeichnet auf viel genauere Art ihren
Gegenſtand
, und den nahen Zuſammenhang deſſelben mit
den
eben beſprochenen Wiſſenſchaften.
b) Claſſification.
Wenn man mit dem Namen Geometrie nicht blos
das
begreift, was die Alten über die ausgedehnten Größen
gedacht
haben, ſondern auch die Arbeiten der Neueren, ſo
gibt
es außer ihm keine beſſere Bezeichnung für die Wiſſen-
ſchaft
erſter Ordnung, welche aus der Vereinigung der oben
definirten
vier Wiſſenſchaften dritter Ordnung hervorgeht.
Stellen wir einerſeits die ſynthetiſche Geometrie mit der ana-
lytiſchen
, und andrerſeits die Theorie der Linien und Flächen
mit
der Moleculärgeometrie zuſammen, ſo haben wir zwei
Wiſſenſchaften
zweiter Ordnung, deren erſte als Elementar-
wiſſenſchaft
betrachtet werden muß, in Beziehung auf die
zweite
, welche uns eine tiefere Einſicht in die Formen gibt,
die
man an den Körpern wahrnimmt, oder ſich blos im
Raume
denkt.
Ich nenne deßhalb die erſtere die Ele-
mentargeometrie
und die zweite die Theorie der
Formen
.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Geometrie. # Elementargeome- \\ trie. # Synthetiſche Geometrie.
# # Analytiſche Geometrie.
# Theorie der For- \\ men. # Theorie der Linien und \\ Flächen.
# # Moleculärgeometrie.
Anmerkung des Herausgebers.
Ampère wendet nun wieder in einer Anmerkung die
vier
Geſichtspunkte auf die obenſtehende Eintheilung an
6854 welches ich übergehe, da ſie von ſelbſt einleuchtet und mit
der
Anwendung der vier Geſichtspunkte auf die arithmolo-
giſchen
Wiſſenſchaften ganz übereinſtimmt.
Nur die Bezie-
hung
des cryptologiſchen Geſichtspunkts zur Moleculärgeo-
metrie
muß ich erwähnen, weil ſich ſpätere Bemerkungen
darauf
beziehen werden.
Den cryptologiſchen Geſichtspunkt,
ſagt
nemlich Ampère, findet man wieder in der Moleculärgeo-
metrie
, die in eines der verborgenſten Geheimniſſe der Natur
dringen
muß, indem ſie die Urſachen aufſucht, welche be-
wirkt
, daß eine und dieſelbe Subſtanz unter verſchiedenen
Formen
auftritt, deren gegenſeitige Abhängigkeit von einander
in
dieſer Wiſſenſchaft unterſucht wird.
§. 3.
Wiſſenſchaften
dritter Ordnung, welche ſich auf die allgemeinen Beſtim-
mungen
der Bewegungen und Kräfte beziehen.
Es leuchtet wohl jedem ein, daß nach den Wiſſenſchaften,
die
ſich auf die Eigenſchaften und die Meſſung ausgedehnter
Größen
beziehen, diejenigen kommen müſſen, welche es mit
der
Beſtimmung der Bewegungen und der Kräfte zu thun
haben
.
Denn dieß Gebiet ſetzt nichts voraus, als die
Kenntniß
der Verhältniſſe und Geſetze der allgemeinen und
der
ausgedehnten Größen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Cinematik.
Man kann faſt bei allen über dieſe Wiſſenſchaften ge-
ſchriebenen
Büchern bemerken, daß im Anfang derſelben ge-
wiſſe
Bedingungen übergangen ſind, die doch, wenn man
ſie
vollſtändig entwickelt, eine Wiſſenſchaft dritter Ordnung
ausmachen
.
Einzelne Theile dieſer letztern wurden theils
in
beſonderen Werken abgehandelt, wie z.
B. Carnot, „über
die
Bewegung in geometriſcher Hinſicht”, Lanz und Bétan-
court
, einen Verſuch über die Zuſammenſetzung der Ma-
ſchinen
geſchrieben haben.
In dieſe Wiſſenſchaft gehört Alles,
6955 was man über die verſchiedenen Arten von Bewegung ſagen
kann
, ſo weit man abſieht von den Kräften, welche dieſelbe
hervorrufen
.
Ihre erſte Aufgabe iſt die Unterſuchung der
bei
den verſchiedenen Bewegungen durchlaufenen Räume,
der
dazu nothwendigen Zeiten, die Beſtimmung der Ge-
ſchwindigkeiten
, welche von den verſchiedenen Verhältniſſen
zwiſchen
Räumen und Zeiten abhängen.
Sodann muß dieſe
Wiſſenſchaft
die verſchiedenen Inſtrumente betrachten, mittelſt
deren
man eine Bewegung in eine andere verwandelt, und
wenn
man dieſe Inſtrumente nach dem Sprachgebrauch unter
dem
Namen „Maſchinen” zuſammenfaßt, ſo muß man eine
Maſchine
nicht wie gewöhnlich, als ein Inſtrument defi-
niren
, wodurch man auf die Richtung und Stärke
einer
gegebenen bewegenden Kraft einwirken
,
ſondern
als ein Inſtrument, mittelſt deſſen man
die
Richtung und Geſchwindigkeit einer gege-
benen
Bewegung verändern kann
.
Auf dieſe Weiſe
wird
die Begriffsbeſtimmung unabhängig von der Betrach-
tung
der Kräfte, welche auf die Maſchine wirken;
und dieſe
Betrachtung
würde nur denjenigen verwirren, welcher den
Mechanismus
einer Maſchine ſich deutlich machen will.
Will
man
ſich zum Beiſpiel eine klare Vorſtellung von dem Räder-
werk
machen, das den Minutenzeiger zwölfmal herumtreibt,
während
der Stundenzeiger nur einmal umläuft, ſo hat
man
nichts mit der Kraft zu ſchaffen, welche die Uhr in
Bewegung
ſetzt.
Bleibt denn nicht die Wirkung des Räder-
werks
in Beziehung auf das Geſchwindigkeitsverhältniß der
beiden
Zeiger ganz daſſelbe, wenn dieſe Bewegung durch
irgend
welche andere Kraft, als durch die gewöhnliche be-
wegende
Kraft hervorgebracht wird;
bleibt es z. B. nicht
daſſelbe
, wenn man den Minutenzeiger mit dem Finger her-
umdreht
?
Würde man in einer Abhandlung ſämmtliche Bewe-
gungen
ganz unabhängig von den ſie verurſachenden Kräften
darſtellen
, ſo wäre dieß für den Unterricht von ungemeinem
7056 Vortheil; denn eine ſolche Abhandlung würde die verwickel-
teren
Punkte bei dem Spiel der verſchiedenen Maſchinen
auseinanderſetzen
, ohne daß der Geiſt des Schülers zugleich
auch
die Schwierigkeiten zu überwinden hätte, welche aus
der
Betrachtung des Gleichgewichts der Kräfte entſpringen.
Dieſer Wiſſenſchaft, welche bei den uns umgebenden
Körpern
die Bewegungen an ſich ſelbſt betrachtet, und die
Apparate
unterſucht, die man gewöhnlich Maſchinen nennt,
habe
ich den Namen Cinematik gegeben, von κίνημα,
Bewegung.
Nach dieſen allgemeinen Bemerkungen über das Weſen
der
Bewegung und der Geſchwindigkeit muß ſich die Cine-
matik
zu ihrem Hauptgegenſtand die Beziehungen machen,
welche
zwiſchen den verſchiedenen Punkten einer Maſchine,
und
, allgemeiner ausgedrückt, jeden Syſtems von materiellen
Punkten
bei ſämmtlichen Bewegungen ſtattfinden, deren dieſe
Maſchine
oder dieſes Syſtem fähig iſt;
oder mit andern
Worten
, die Cinematik hat die Aufgabe, die virtuellen Ge-
ſchwindigkeiten
unabhängig von den auf die materiellen
Punkte
wirkenden Kräften zu beſtimmen, was um ſehr vieles
leichter
iſt, ſobald man dieſe Beſtimmung von jeder Betrach-
tung
der Kräfte fern hält.
Kommt man dann an die nächſt-
folgende
Wiſſenſchaft zweiter Ordnung, und will man den
Schülern
den bekannten allgemeinen Lehrſatz der virtuellen
Geſchwindigkeit
beibringen, ſo werden ſie, wenn ſie die oben
angeführte
Beſtimmung der virtuellen Geſchwindigkeiten wohl
verſtanden
und ſich ſchon einige Zeit damit vertraut gemacht
haben
, den genannten Lehrſatz ohne Mühe einſehen, während
derſelbe
nach dem gewöhnlichen Lehrgang bedeutende Schwie-
rigkeiten
macht.
2) Auf die Cinematik muß diejenige Wiſſenſchaft dritter
Ordnung
folgen, welche, umgekehrt von der vorigen, die
Kräfte
unabhängig von den Bewegungen unterſucht, und
die
ich in Uebereinſtimmung mit dem allgemeinen Sprach-
gebrauch
Statik nenne.
Die Statik darf erſt nach der
7157 Cinematik kommen, denn der Begriff der Bewegung iſt durch
die
unmittelbare Anſchauung gegeben, während wir die
Kräfte
nicht ſehen, welche dieſe augenfälligen Bewegungen
hervorbringen
, und auf ihr Daſein nur aus den beobachteten
Bewegungen
ſchließen können.
Auch muß bereits in der
Cinematik
gelehrt worden ſein, wie die Beziehungen der
virtuellen
Geſchwindigkeiten berechnet werden, damit die
Statik
die Bedingungen des Gleichgewichts in verſchiedenen
Kräfteſyſtemen
beſtimmen kann.
3) Dynamik.
Nachdem die Cinematik die Bewegungen unabhängig
von
den Kräften, und die Statik letztere unabhängig von
den
erſteren unterſucht hat, ſo muß man ſie auch noch zu
gleicher
Zeit betrachten, die Kräfte mit den von ihnen her-
vorgebrachten
Bewegungen vergleichen, und aus dieſer Ver-
gleichung
die allgemeinen Geſetze der Bewegung
ableiten
, mittelſt deren man aus den gegebenen Bewegungen
die
zugehörigen Kräfte, und aus den bekannten Kräften die
Bewegungen
beſtimmen kann.
Dieſe beiden allgemeinen
Aufgaben
und die genannten Geſetze machen den Inhalt
einer
Wiſſenſchaft aus, die man gewöhnlich Dynamik
nennt
;
welchen Namen ich beibehalte.
4) Molecularmechanik.
Es gibt endlich noch eine vierte Wiſſenſchaft dritter
Ordnung
, die es gleichfalls mit der Beſtimmung von Be-
wegungen
und Kräften zu thun hat.
Es iſt aber noch kein
Werk
vorhanden, welches das Ganze derſelben umfaßt;
wohl
aber
ſind ihre einzelnen Theile in verſchiedenen Abhandlungen
und
beſonderen Werken der berühmteſten Mathematiker zer-
ſtreut
.
Dieſe haben die Geſetze, welche die Dynamik in Be-
ziehung
auf einzelne Punkte oder Körper eines beſtimmten
Umfangs
aufgefunden hat, auf die Moleküle angewendet,
aus
denen die Körper beſtehen, und haben in dem Gleich-
gewicht
und den Bewegungen dieſer Moleküle die Urſachen
7258 der an den Körpern bemerkbaren Erſcheinungen erkannt.
Dieſe Theorie des Gleichgewichts und der Bewegung der
Moleküle
nenne ich Molecularmechanik.
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Mechanik. # Elementarmecha- \\ nik. # Cinematik.
# # Statik.
# Tranſcendente \\ Mechanik. # Dynamik.
# # Molecularmechanik.
Die Anwendung der vier Geſichtspunkte auf dieſe Ein-
theilung
folgt dann wieder, wobei ich Folgendes aushebe.
Nachdem Ampère die Analogie des autoptiſchen Geſichts-
punktes
mit der Cinematik, der Statik, (welche es mit den
hinter den Bewegungen wirkenden Kräften zu thun habe)
mit
dem cryptoriſtiſchen Geſichtspunkt aufgeführt, fährt er
fort
:
der weſentliche Charakter des troponomiſchen Geſichts-
punktes
beſteht in den Veränderungen, welche die Objecte,
mit
denen wir es zu thun haben, oder ihre Eigenſchaften
erleiden
, und dieſer Geſichtspunkt tritt bereits in der Orts-
veränderung
eines Körpers, alſo in der Cinematik vor Au-
gen
, und ſomit muß man die ganze Mechanik troponomiſch
nennen
, was in einem gewiſſen Sinn der Fall iſt, wie ſpäter
gezeigt
werden wird.
Der Dynamik kommt aber nicht blos
dieß
allgemeine Merkmal des troponomiſchen Geſichtspunkts
zu
, ſondern auch der ganz ſpecielle Character dieſes Geſichts-
punktes
, nemlich daß aus Vergleichung jener Veränderungen
allgemeine
Geſetze abgeleitet werden, wie in der Theorie der
Functionen
, und in der Theorie der Linien und Flächen.

Wenn
Ampère in Beziehung auf die Stellung der Dynamik
Recht
hat, ſo iſt, wie ſpäter gezeigt werden ſoll, die Stellung
der
Mechanik eine unrichtige.
7359
§. 4.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, die ſich mit der Beſtimmung der
wirklich
im Raum exiſtirenden Bewegungen und Kräfte beſchäftigen.
Die Unterſuchung, die man bei der Mechanik über die
Bewegungen
und Kräfte im Allgemeinen angeſtellt hat, führen
von
ſelbſt auf die im Raume verbreiteten Bewegungen und
die
Kräfte, welche dieſelben erzeugen.
An dieſe Stelle ge-
hören
alſo die Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche ſich
auf
den genannten Gegenſtand beziehen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Uranographie.
Die erſte dieſer Wiſſenſchaften hat alles dasjenige zum
Inhalt
, was man beim Anblick des Himmels unmittelbar
beobachten
kann.
Sie beſchreibt die Sterngruppen, die man
Sternbilder nennt, die täglichen Bewegungen, welche
ſämmtliche
Geſtirne mit einander gemein haben, die Bewe-
gung
der Sonne, die Neigung der Ecliptik und die Art und
Weiſe
, wie die ungleiche Länge der Tage und Nächte, und
der
Wechſel der Iahreszeiten aus jener Neigung erklärt
werden
muß;
ſie erforſcht die Bewegungen der Planeten
und
des Mondes, und beobachtet die Phaſen des letztern;
ſie erblickt mit Hülfe des Fernrohrs die Sonnenflecken, die
verſchiedenen
Vorgänge auf der Scheibe des Mondes und
der
Planeten, die Phaſen der letztern u.
ſ. w. Hipparch
und
Ptolemäus dehnten die Grenzen dieſer Wiſſenſchaft ſo
weit
aus, als ohne Hülfe des genannten Inſtruments möglich
iſt
, aber ſie kamen nicht darüber hinaus;
denn die irrigen
Syſteme
, die man erdichtete, um dieſe Bewegungen mittelſt
der
Epicykeln zu erklären, kann man nicht als einen Theil
dieſer
Wiſſenſchaft anſehen.
Ich gebe der Geſammtheit der
auf
die vorhingenannten Punkte bezüglichen Wahrheiten den
Namen
Uranographie.
7460
2) Helioſtatik.
Seit Copernicus beſteht eine andere Wiſſenſchaft dritter
Ordnung
, welche ſämmtliche Erſcheinungen am Himmel zu
erklären
ſucht, indem ſie nachweiſt, wie dieſelben von der
wirklichen
Bewegung der Erde um ihre Are, und der Erde
und
der Planeten um die Sonne herrühren, wobei letztere
als
unbeweglich in dem Mittelpunkt des Planetenſyſtems
gedacht
wird.
Man weiß jetzt, daß dieſe Unbeweglichkeit
nur
eine relative iſt;
ſie mag aber abſolut oder relativ ſein,
ſo
bleiben dennoch die ſcheinbaren Bewegungen dieſelben;
und um die Erklärung dieſer letztern nicht durch fremdartige
Beobachtungen
zu verwirren, muß man in der genannten
Erklärung
die Sonne als unbeweglich anſehen.
Deßhalb
glaubte
ich auch dieſer Wiſſenſchaft den Namen Helio-
ſtatik
geben zu müſſen, von ἤλιος, Sonne, und στάσις,
Ruhe, Stillſtand.
3) Aſtronomie.
Nun kam Keppler, Er verglich zunächſt in verſchiedenen
Zeiten
die Entfernungen der Sonne und die Stellungen des
Planeten
Mars, unter ſich ſowohl, als mit dem Unterſchied
der
Beobachtungszeiten;
ferner verglich er die Entfernungen
der
Sonne von den verſchiedenen Planeten mit ihren Um-
laufszeiten
.
So entdeckte er die nach ihm benannten Geſetze;
und er durfte nur dieſelben mit den Elementen der Planeten-
bahnen
zuſammenſtellen, um ſämmtliche Umſtände ihrer Be-
wegungen
berechnen und Tabellen ausfertigen zu können,
mittelſt
deren man ihre Stellungen in allen zukünftigen und
vergangenen
Zeiten zu beſtimmen im Stande iſt.
Die auf dieſe Geſetze bezüglichen Wahrheiten und die
Darſtellung
der Operationen, durch welche die aſtronomiſchen
Beobachtungen
die größeſtmögliche Vollkommenheit erhalten
und
die Fehler der Inſtrumente ausgeglichen werden, bilden
eine
Wiſſenſchaft dritter Ordnung, die Aſtronomie im engern
Sinn
, welche ich ſchlechtweg Aſtronomie nennen will.
7561
4) Mechanik des Himmels.
Um unſere Kenntniſſe über den vorliegenden Gegenſtand
vollſtändig
abzuſchließen, mußte auch noch die Urſache ſämmt-
licher
Bewegungen der Himmelskörper entdeckt werden.
Dieſe
große
Unbekannte wurde von Newton enthüllt;
er lehrte
uns
, wie dieſe Bewegungen durch die allgemeine Schwer-
kraft
bedingt ſind, welche in allen Theilen der Materie wirkt,
und
aus dieſer großen Entdeckung, welche uns auch die Ur-
ſachen
der Abweichungen im Planetenlauf kennen lehrte,
und
die Mittel an die Hand gab, dieſelben zu berechnen,
entſtand
eine vierte Wiſſenſchaft dritter Ordnung, welche ich
Mechanik des Himmels nenne, nach dem Titel des
Werks
, in welchem der berühmte Erklärer Newton’s jene
Wiſſenſchaft
auf eine ſo bewundernswürdige Art entwickelte.
Wie ähnlich ſich auch dieſe und die vorhergehende Wiſſen-
ſchaft
ſein mögen, ſo hat man doch immer beide in den über
ſie
geſchriebenen Werken von einander getrennt, und ein
Curs
der Aſtronomie iſt etwas ganz anderes als ein
Curs
der Mechanik des Himmels.
b) Claſſification.
Dieſe vier Wiſſenſchaften, welche den vier großen Epo-
chen
des aſtronomiſchen Forſchens entſprechen, faßt Ampère
in
eine Wiſſenſchaft erſter Ordnung zuſammen, welche er
Uranologie nennt, und die weitere Eintheilung in Wiſſen-
ſchaften
zweiter Ordnung ſtellt ſich ſo dar:
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Uranologie. # Elementare Ura- \\ nologie. # Uranographie.
# # Helioſtatik.
# Uranognoſie. # Aſtronomie.
# # Mechanik des Himmels.
Die Anwendung der vier Geſichtspunkte auf dieſe Ein-
theilung
iſt klar;
die Uranographie, welche bei der unmittel-
7662 baren Anſchauung ſtehen bleibt, entſpricht dem autoptiſchen
Geſichtspunkt
;
die Helioſtatik, welche die wahren Bewegun-
gen
ſucht, welche gleichſam hinter den ſcheinbaren Bewe-
gungen
verſteckt liegen, entſpricht dem cryptoriſtiſchen
Geſichtspunkt
.
Der troponomiſche Geſichtspunkt ſtellt ſich
in
der Aſtronomie dar, welche die verſchiedenen Verände-
rungen
am Himmel auffaßt und die Geſetze ihrer Wechſel-
beziehungen
ableitet.
Der cryptologiſche Geſichtspunkt end-
lich
läßt ſich augenſcheinlich in der Mechanik des Himmels
wiedererkennen
, welche die verborgenſte Urſache der Him-
melsbewegungen
enthüllt.
§. 5.
Definition
und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, welche der
Beobachtung
nur die Begriffe von Größe und Maas entnehmen.
Bis jetzt wurden nur die Wiſſenſchaften dritter Ord-
nung
auf die Art beſtimmt, daß ihre unterſcheidenden Cha-
ractere
und ihre gegenſeitigen Grenzen bezeichnet wurden.
Von den Wiſſenſchaften erſter und zweiter Ordnung wurde
blos
geſagt, welche Wiſſenſchaften dritter Ordnung in ihnen
enthalten
ſeien, und ihre Beziehungen unter einander kamen
bis
jetzt noch nicht zur Sprache.
Die Wiſſenſchaften zweiter
Ordnung
ſind hinreichend beſtimmt, und das Folgende voll-
bringt
daſſelbe für die Wiſſenſchaften erſter Ordnung.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Arithmologie.
Die Arithmologie iſt die Wiſſenſchaft von dem Meſſen
der
Größen im Allgemeinen.
„Eine Größe meſſen” heißt
durch
eine Zahl, ſei es durch eine ganze oder gebrochene,
ausdrücken
, auf welche Art die Größe zuſammengeſetzt iſt
in
Beziehung auf eine gewiſſe Einheit.
Einheit aber iſt
diejenige
Größe, welche man aus gleichartigen Größen be-
liebig
wählte, um einen gemeinſchaftlichen Vergleichungs-
punkt
für ſolche gleichartige Größen zu haben.
Der Werth
7763 der Zahlen und Buchſtaben, welche eine Größe darſtellen,
ſteigt
und fällt mit der Größe der gewählten Einheit;
aber
das
gemeinſame Geſetz aller in der Arithmologie begriffenen
Wiſſenſchaften
beſteht darin, daß bei der Verwandlung eines
Ausdrucks
in eine Reihe von verſchiedenen Ausdrücken immer
die
Identität feſtgehalten wird, ſei es nun zwiſchen dieſen
verſchiedenen
Ausdrücken ſelbſt, oder wenn die Ausdrücke
verſchiedene
Werthe bekommen, durch ſtete Herſtellung der
Wahrheit
der Gleichungen, welche zwiſchen je zwei dieſer
Ausdrücke
ſtattfinden, deren Werthe geändert werden.
2) Geometrie.
Die Unterſchiede der Geometrie von der Arithmologie
beſtimmt
Ampère ſo:
1) Zu den Beziehungen der Größe,
welche
den Inhalt der letzteren bilden, kommen bei der erſten
noch
die Beziehungen der Lage von Punkten, Linien und
Flächen
hinzu.
Dieſe neuen Beziehungen muß die Geometrie
mit
den erſteren combiniren, und nachweiſen, wie man ſie
auf
dieſelben zurückführen kann, wie man z.
B. die Entfer-
nung
zweier Punkte durch das Maas der ſie verbindenden
geraden
Linien, die gegenſeitige Lage zweier geraden Linien
durch
das Maas ihrer kleinſten Entfernung und des von
ihren
Richtungen gebildeten Winkels beſtimmt u.
ſ. f. 2) Wenn
zwiſchen
den Punkten, Linien und Flächen einer Figur
ſowohl
in Hinſicht auf Größe als Lage eine Anzahl von
Beziehungen
ſtattfindet, ſo ergeben ſich zwiſchen dieſen Punk-
ten
, Linien und Flächen noch eine Menge anderer Beziehun-
gen
als nothwendige Folgen der erſteren, und dieſe Folgen
hat
die Geometrie zu entwickeln.
3) Die Arithmologie hat
es
nur mit der Gleichheit verſchieden geformter Zahlen-
ausdrücke
zu thun, und ſetzt nichts voraus, als die verſchie-
denen
Zeichen, deren Bedeutung durch die allgemeine Ueber-
einkunft
feſtſteht.
Die Geometrie aber ſetzt die nothwendigen
Eigenſchaften
des Raums, ſeiner drei Dimenſionen u.
ſ. f.
voraus, und dieſe unbeweisbaren Anſchauungen bilden einen
7864 Theil der Grundlagen, auf welchen die Geometrie ruht.
Dieſer Unterſchiede ungeachtet haben beide Wiſſenſchaften
dur
den gemeinſamen Charakter, ſich auf Größen zu be-
ziehen
, ſo große Aehnlichkeiten, daß manche Schriftſteller die
ſynthetiſche
Geometrie unmittelbar hinter die Arithmographie
ſtellten
, die Theorie der Linien und Flächen mit der Theorie
der
Functionen in denſelben Werken vortrugen, und ſelbſt
Newton
die ſynthetiſche Geometrie und mathematiſche Ana-
lyſe
in der geſammten Arithmetik vereinigte.
Einige Theile der ſynthetiſchen Geometrie hat man
irriger
Weiſe davon getrennt, und mittelſt beſonderer Namen
zu
eigenen Wiſſenſchaften geſtempelt.
Dieß iſt z. B. der
Fall
mit der beſchreibenden Geometrie, welche aber
nur
daſſelbe iſt für die Stereometrie, was die Löſung der
verſchiedenen
Zeichnungsaufgaben für die ebene Geometrie,
und
doch iſt es noch Niemand eingefallen, dieſe letzteren
Aufgaben
von der ſynthetiſchen Geometrie zu trennen.
Aehn-
lich
verhält es ſich mit der ebenen und ſphäriſchen Trigono-
metrie
;
beide gehören in die ſynthetiſche Geometrie, die eine
in
die Planimetrie, die andere in die Stereometrie;
und
dieſe
Behandlungsart iſt nach Ampère’s Meinung auch zu
den
Zwecken des Unterrichts weit vorzuziehen, da man ja
demungeachtet
beide noch in der analytiſchen Geometrie ab-
handeln
kann.
3) Mechanik.
Die Geometrie ſcheint, oberflächlich angeſehen, den glei-
chen
Gegenſtand mit der Mechanik zu haben, da erſtere
von
der Erzeugung einer Linie durch Bewegung eines Punk-
tes
, von der Erzeugung einer Fläche durch die Ortsbewe-
gung
einer Linie u.
ſ. f. ſpricht. Bei der Mechanik kommt
jedoch
der Begriff der Zeit und damit der aus dem Ver-
hältniß
des Raums und der Zeit entſpringende Begriff der
Geſchwindigkeit
dazu, und dieſe Betrachtung iſt der Geometrie
gänzlich
fremd und macht den eigenthümlichen Charakter der
Mechanik
aus.
7965
Man trennt gewöhnlich die Statik, in Statik im engern
Sinn
und Hydroſtatik, und macht gleiche Unterſchiede in der
Dynamik
.
Solche Unterabtheilungen müſſen als Wiſſen-
ſchaften
vierter Ordnung angeſehen werden.
Conſequenter
Weiſe
müſſen aber alsdann auch in der Molecularmechanik
die
Betrachtung der Schwingungen feſter Körper von der
der
Vibrationsbewegungen flüſſiger Körper getrennt werden,
was
unzuläſſig iſt.
Man müßte ferner dieſelbe Abtheilung
in
der Cinematik machen, aber wie kann man z.
B. die
Darſtellung
der hydrauliſchen Preſſe von der Beſchreibung
anderer
Maſchinen trennen?
4) Uranologie.
In der Mechanik hat man es nur mit möglichen
Bewegungen
zu thun, die Uranologie aber hat die wirk-
lichen
Bewegungen der im Raum zerſtreuten Weltkörper
zum
Gegenſtand.
b) Claſſification.
Die Provinz, welche dieſe vier Wiſſenſchaften erſter
Ordnung
in ſich begreift, und aus der Beobachtung nur
die
Begriffe von Größe und Maas nimmt, bezeichne ich als
mathematiſche
Wiſſenſchaften und theile ſie in zwei Kreiſe,
wie
eine Wiſſenſchaft erſter Ordnung in zwei Wiſſenſchaften
zweiter
Ordnung zerfällt.
11
Provinz
. # Kreiſe. # Wiſſenſchaften erſter \\ Ordnung.
Mathematiſche \\ Wiſſenſchaften. # Mathematiſche Wiſ- \\ ſenſchaftenimengern \\ Sinn. # Arithmologie.
# # Geometrie.
# Phyſicaliſch-mathe- \\ matiſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Mechanik.
# # Uranologie.
Ampère läßt nun wieder Bemerkungen folgen, in wel-
chen
er auch für dieſe vier Wiſſenſchaften erſter Ordnung
2
22Siehe hiergegen unſere critiſchen Anmerkungen.
8066 die Uebereinſtimmung mit den vier Geſichtspunkten nachweiſen
will
;
er ſieht ſie als den allen dieſen vier Wiſſenſchaften
zu
Grund liegenden gemeinſamen Gegenſtand das Weltganze
im
Gegenſatz zu dem Studium ſeiner beſondern Beſtand-
theile
, welches den Gegenſtand der nächſten Provinz bildet,
und
findet nun in der Arithmologie den autoptiſchen Ge-
ſichtspunkt
, weil ſie Ausdrücke, die uns vor Augen liegen,
nur
auf eine identiſche Weiſe verwandle;
in der Geometrie
den
cryptoriſtiſchen Geſichtspunkt, weil ſie aus den gegebe-
nen
Beziehungen einer Figur auf unbekannte und verbor-
gene
ſchließe, in der Mechanik den troponomiſchen, weil ſie
die
wechſelnden Lagen beweglicher Körper vergleiche und
daraus
die allgemeinen Geſetze der Bewegung und des
Gleichgewichts
der bewegenden Kräfte entwickle;
in der Ura-
nologie
den cryptologiſchen Geſichtspunkt, weil ſie die ver-
borgene
Urſache der wirklichen und weſentlichen Bewegun-
gen
aller Körper enthülle.
Wie er früher ſchon auch in
der
erſten Wiſſenſchaft der Mechanik, in der Cinematik,
den
troponomiſchen Charakter wiederfand, ſo will er nun
auch
ſchon in der Uranographie den dem cryptologiſchen
Geſichtspunkt
entſprechenden erklärenden Charakter dieſer
Wiſſenſchaft
erſter Ordnung finden;
ſelbſt die ſcheinbaren
Bewegungen
der Geſtirne ſeien zu langſam, als daß man
ſie
unmittelbar beobachten könne, man nehme ſie nur an,
um
die Ortsveränderung erklären zu können u.
ſ. f.
Ich werde ſpäter zeigen, daß dieſer Anwendung des
Schematismus
der vier Geſichtspunkte auf die umfaſſenderen
Gruppen
eine tiefere Wahrheit zu Grunde liegt, aber die
Ampère’ſche
Application eine unrichtige iſt.
Ich habe durch
die
ſehr ausführliche Angabe des erſten Kapitels den Leſern
ein
Beiſpiel gegeben, wie Ampère ſeine Eintheilung durchführt;
ich werde mich bei den künftigen Kapiteln ganz kurz faſſen;
indem
diejenigen Theile der Claſſification, welche wirklich
eine
ungekünſtelte Zuſammenſtimmung mit ſeinem allgemei-
nen
Schema zeigen, keiner Erörterung mehr bedürfen, und
8167 es außer meinem Zwecke iſt, die ſophiſtiſchen Deductionen,
mit
welchen er in andern Fällen eine gekünſtelte Anwendung
rechtfertigen
will, wiederzugeben.
Zweites Kapitel.
Cosmologiſche Wiſſenſchaften, melche die unorganiſchen Eigen-
ſchaften der Körper und ihre Anordnung auf dem Erdball zum
Gegenſtand haben.
Der Gegenſtand dieſes Kapitels iſt daſſelbe Univerſum,
was
in den Wiſſenſchaften des vorigen betrachtet wurde,
aber
nicht mehr blos nach den Begriffen von Größe und
Maas
, ſondern nach ſeinen beſonderen Elementarbeſtand-
theilen
, deren ſämmtliche unorganiſche Eigenſchaften wir
durch
Beobachtung und Verſuche in den Wiſſenſchaften dieſes
Kapitels
zu entdecken ſuchen.
§. 1.
Wiſſenſchaften
dritter Ordnung, die es mit ben unorganiſchen Eigen-
ſchaften
der Körper und mit den Erſcheinungen zu thun haben, die ſie
bei
einer allgemeinen Betrachtung zeigen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Experimentalphyſik.
Die erſte Wiſſenſchaft, die ſich mit dem genannten In-
halt
beſchäftigt, begreift alle aus der unmittelbaren Beob-
achtung
der Körper ſich ergebenden Wahrheiten in ſich;
ſie
beſchreibt
ihre verſchiedenen Zuſtände, ihre Härte, Elaſticität,
Gewicht
u.
ſ. f. , kurz alle Erſcheinungen, welche durch ihre
Wechſelwirkung
hervorgebracht werden und die Inſtrumente,
mittelſt
deren man ſich dieſe Erſcheinungen vor Augen bringt.
Dieſe Wiſſenſchaft erhielt den Namen Experimental-
phyſik
.
8268
2) Chemie.
Auf die ebengenannte Wiſſenſchaft kann diejenige folgen,
welche
in den Körpern die Grundbeſtandtheile aufſucht, aus
denen
ſie zuſammengeſetzt ſind, und die Proportionen, in
welchen
ſich jene Grundbeſtandtheile verbinden die Chemie.
3) Stereonomie.
Vergleicht man die verſchiedenen Werthe, welche eine
Eigenſchaft
eines Körpers annehmen kann, wenn man den
Körper
allmählig in eine Reihe von Umſtänden bringt, die
auf
jene Eigenſchaft Einfluß haben, ſo gehen daraus die
Geſetze
der Erſcheinungen hervor, die man in Formeln bringen
und
durch den Calcul in weitere Wahrheiten entwickeln kann.
Dieß nenne ich Körpergeſetzlehre Stereonomie.
4) Atomologie.
Die letzten Urſachen, aus welchen die Eigenſchaften der
Körper
und die Art ihrer Wechſelwirkungen entſpringen,
beruhen
auf den Kräften, welche die Moleküle der Materie
auf
einander ausüben, daher ich der Wiſſenſchaft, welche
dieſe
Verhältniſſe unterſucht, den Namen Atomologie gebe.
In den meiſten Büchern, welche über dieſe vier Theile
der
allgemeinen Phyſik da ſind, iſt nur die Chemie als be-
ſondere
Wiſſenſchaft abgetrennt, die andern Theile aber, die
Experimentalphyſik
, ſind mit der Stereonomie und Atomo-
logie
zuſammen geworfen, welche beide ich als mathemati-
ſche
Phyſik zuſammenfaſſe.
Für den Unterricht wäre es ge-
wiß
erſprießlicher, wenn man in einer Experimentalphyſik
alle
Erſcheinungen beſchreiben, ihren Zuſammenhang und
ihre
wechſelſeitige Abhängigkeit nachweiſen, alles aber, was
ſich
auf mathematiſche Phyſik bezieht, für eine ſelbſtſtändige
Wiſſenſchaft
aufſparen würde.
Eine ſolche reine Experimen-
talphyſik
könnte ohne Weiteres zu einem Theil des Volks-
unterrichts
gemacht werden.
8369
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften britter \\ Ordnung.
Allgemeine \\ Phyſik. # Allgemeine Elemen- \\ tarphyſik. # Experimentalphyſik.
# # Chemie.
# Mathematiſche \\ Phyſik. # Stereonomie.
# # Atomologie.
Folgt dann die Application des Schema’s der vier Ge-
ſichtspunkte
.
§. 2.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, die ſich mit den Arbeiten beſchäfti-
gen
, mittelſt deren wir die Körper auf die unſerem Nutzen und unſerem
Vergnügen
angemeſſenſte Weiſe beſchäftigen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Technographie.
Dieſe Wiſſenſchaft gibt die Kenntniß der verſchiedenen
Verfahrungsarten
bei der Verwandlung und Verarbeitung
roher
Materialien, bei ihrem Transport, Aufbewahrung,
ferner
die Kenntniß der verſchiedenen Inſtrumente und Ma-
ſchinen
, die zu allem dieſem nöthig ſind.
2) Induſtrielle Gewinnlehre (Cerdoriſtik).
Dieſe Wiſſenſchaft lehrt die Gewinne und Verluſte
berechnen
, die ſich bei techniſchen Unternehmungen ergeben,
und
wohin auch unter anderen die Kunſt der Buchhaltung
gehört
.
3) Induſtrielle Oeconomie.
Dieſe Wiſſenſchaft hat die Unterſuchung der Modifica-
tionen
, welche die angeführten techniſchen Unternehmungen
unter
verſchiedenen Verhältniſſen an verſchiedenen Orten
und
Gegenden erleiden, zum Gegenſtand, und iſt demjeni-
gen
nöthig, der nicht im Ioch bloßer Routine ſtecken blei-
ben
will.
8470
4) Induſtrielle Phyſik.
Wenn die vorherige Wiſſenſchaft empiriſch die unter
verſchiedenen
Umſtänden und Verfahrungsarten gewonnenen
Reſultate
vergleicht und daraus die beſte auswählen lernt,
ſo
iſt es Aufgabe der induſtriellen Phyſik, aus den der all-
gemeinen
Phyſik entnommenen Kenntniſſen heraus die rich-
tigſten
Verfahrungsarten anzugeben.
Ampère führt als
Beiſpiel
an, wie die chemiſche Entdeckung des Chlor zur
Verbeſſerung
des Bleichverfahrens gedient habe.
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Technologie. # Elementar-Tech- \\ nologie. # Technographie.
# # Induſtrielle Gewinnlehre.
# Vergleichende \\ Technologie. # Induſtrielle Oeconomie.
# # Induſtrielle Phyſik.
Bei der Anwendung der vier Geſichtspunkte auf dieſe
Eintheilung
iſt zu bemerken, daß hier der troponomiſche und
cryptologiſche
Geſichtspunkt in einem andern Verhältniß zu
einander
ſtehen, als ſie von Ampère ſonſt genommen wer-
den
, nemlich in dem Verhältniß eines empiriſch vergleichen-
den
und eines aus allgemeinen Principien ableitenden Er-
kennens
.
§. 3.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, die ſich auf die Zuſammenſetzung der
Erde
, auf die Natur und Anordnung ihrer verſchiedenen Beſtandtheile
beziehen
.
Es iſt klar, daß dieſe Wiſſenſchaften die in dem Bis-
herigen
angeführten mathematiſchen, mechaniſchen, phyſika-
liſchen
, chemiſchen und technologiſchen Kenntniſſe voraus-
ſetzen
und darum auf dieſelben folgen müſſen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Phyſiſche Geographie.
Sie erforſcht die auf der Oberfläche des Erdballs ſtatt-
8571 habenden Vorgänge, unterſucht die Meere, Flüſſe, Ebenen,
Berge
, die Höhen derſelben und ihre Verkettungen, ſie ſchil-
dert
die Phyſionomie der verſchiedenen Erdtheile und Länder
hinſichtlich
der daſelbſt vorkommenden Pflanzen- und Thier-
geſchlechter
, die Neigungen und Abweichungen der Magnet-
nadel
, Temperatur und chemiſche Beſchaffenheit der Quellen,
der
Meere u.
ſ. f. , Beſchaffenheit der Winde, überhaupt die
meteorologiſchen
Vorgänge;
die Natur der verſchiedenen
Terrains
, welche mittelſt übereinander gelagerter Schichten
den
Boden der Ebenen bilden und an den Seiten der Ge-
birge
entblößt liegen.
2) Mineralogie.
Dieſe Wiſſenſchaft geht über die unmittelbare Beobach-
tung
, bei welcher die vorige ſtehen bleibt, hinaus, und un-
terſucht
die Beſtandtheile, aus welchen die Erdrinde beſteht,
und
die man Mineralien nennt, die einfachen wie die Con-
glomerate
.
Die Mineralogie kann erſt nach der phyſiſchen
Geographie
kommen, denn ſpricht man von einem Mineral,
ſo
muß man auch ſagen können, welche Theile des Erdballs
welche
Gebirgsketten, welche Bodenarten daſſelbe enthalten.
Ampère macht bei der Mineralogie eine zweifache Be-
merkung
.
Er führt nemlich die Gründe an, warum er die
Mineralogie
nicht, wie gewöhnlich geſchieht, mit der Botanik
und
Zoologie in eine Claſſe ſtellt, ſondern warum die Mi-
neralogie
nur eine Wiſſenſchaft dritter Ordnung in ſeinem
Syſtem
iſt, während Botanik und Zoologie Wiſſenſchaften
erſter
Ordnung ſind.
Der Grund für die Trennung der
Mineralogie
aus der Claſſe der Wiſſenſchaften, in welchen
die
andern Naturreiche abgehandelt werden, beruht darauf,
daß
er das Mineral für etwas rein Unorganiſches erklärt;
wir werden ſpäter die nöthigen Einwürfe hiergegen machen
und
der Mineralogie ihre Stellung neben der Botanik und
Zoologie
vindiciren.
Die andere Bemerkung iſt ſehr ſinn-
reich
, und ſie gilt auch bei unſerer veränderten Annahme:

8672 der Lebensproceß des Minerals ſei ganz einfach, und ge-
wiſſermaßen
mit der Entſtehung des Minerals auch ſchon
zu
Ende, daher könne von einer Theilung des mineraliſchen
Wiſſens
in vier Wiſſenſchaften dritter Ordnung nicht die
Rede
ſein.
3) Geonomie.
Dieſe Wiſſenſchaft, welcher die beiden vorhergehenden
das
Material geben, unterſucht die Geſetze der Lagenver-
hältniſſe
und ihre wechſelſeitige Abhängigkeit von einander,
indem
gewiſſe Mineralien nur an beſtimmten Orten und
zuſammen
mit andern Mineralien vorkommen.
4) Theorie der Erde.
Dieſe Wiſſenſchaft erforſcht die letzten Urſachen der in der
vorigen
Wiſſenſchaft entwickelten Geſetze, die Urſachen ferner,
welche
den allmähligen Veränderungen, wie den plötzlichen
Umwälzungen
unſeres Erdballs und der Stufenfolge der
Formationen
u.
ſ. w. zu Grunde liegen.
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Geologie. # Elementargeologie. # Phyſiſche Geographie.
# # Mineralogie.
# Vergleichende Geo- \\ logie. # Geonomie.
# # Theorie der Erde.
Folgt dann die Application der vier Geſichtspunkte.
§. 4.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, welche unterſuchen, wie die auf der
Oberfläche
und in der Tiefe der Erde befindlichen Materien herbeizuſchaffen
ſind
, um auf die möglichſt vortheilhafte Art bearbeitet zu werden.
Dieſe Wiſſenſchaften verhalten ſich zur Geologie wie
die
Technologie zur allgemeinen Phyſik;
und auch die Stel-
lung
dieſer Wiſſenſchaften unter einander entſprechen ganz
8773 den Verhältniſſen, welche die technologiſchen Wiſſenſchaften
zu
einander haben.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Grubenbau.
Dieſe Wiſſenſchaft ſchildert analog der Technographie alle
Arbeiten
und Hilfsmittel, welche bei der Herbeiſchaffung der
Mineralien
nothwendig ſind.
Ampère nimmt das Wort in
einem
dem Wortlaut widerſprechenden weitern Sinn und
verſteht
darunter auch die Gewinnung mineraliſcher Pro-
ducte
aus dem Meer, die verſchiedenen Arten, Salz zu be-
kommen
u.
ſ. f.
2) Probirkunſt.
Dieſe Wiſſenſchaft ſchätzt den Werth der gewonnenen
Mineralien
, lehrt Vorausberechnung machen über die zu
erwartenden
Reſultate, Koſtenüberſchläge entwerfen u.
ſ. f.
3) Oryxionomie.
Dieſe Wiſſenſchafft ſtellt wie die induſtrielle Oeconomie
die
verſchiedenen Verfahren zuſammen, und lehrt daraus,
ſich
ein Urtheil zu bilden über den Werth der verſchiedenen
Methoden
.
4) Mineralphyſik.
Dieſe Wiſſenſchaft ſtellt die gleiche Unterſuchung an,
wie
die vorige, aber ſtatt die oft koſtſpieligen vergleichenden
Erfahrungen
zu machen, zieht ſie die Wiſſenſchaften über
die
phyſikaliſchen und chemiſchen Vorgänge, ſo wie die geo-
logiſchen
Reſultate zu Hilfe, weshalb ihr Ampère, analog
der
induſtriellen Phyſik den Namen Mineralphyſik gab.
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Oryctotechnie. # Elementar-Orycto- \\ technie. # Grubenbau.
# # Probirkunſt.
# Vergleichende Oryc- \\ totechnie. # Oryxionomie.
# # Mineralphyſik.
8874
Ueber die Anwendung der vier Geſichtspunkte iſt die
gleiche
Bemerkung zu machen, wie bei der Technologie.
§. 5.
Definitionen
und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, welche
die
unorganiſchen Eigenſchaften der Körper und die Anordnung der letz-
tern
auf und in der Erde zum Inhalt haben.
Wir haben nun alle Wiſſenſchaften erſter Ordnung
abgethan
, welche ſich auf dieſen allgemeinen Gegenſtand be-
ziehen
und demzufolge in eine Provinz zuſammengeſtellt wer-
den
müſſen, und es bleibt uns blos noch die Aufgabe übrig,
dieſe
Wiſſenſchaften ganz unabhängig von den in jeder der-
ſelben
enthaltenen Wiſſenſchaften dritter Ordnung zu defini-
ren
, ihre Reihenfolge und Grenzen zu beſtimmen und ſie zu
claſſificiren
.
a) Aufzählung und Claſſification.
1) Allgemeine Phyſik.
In allen Wiſſenſchaften, welche der allgemeinen Phyſik
vorausgingen
, betrachtete man die Welt in ihrem Geſammt-
zuſammenhang
;
letztere Wiſſenſchaft aber unterſucht die
Eigenſchaften
der dieſes ungeheure Ganze ausmachenden
unorganiſchen
Körper im Beſondern, und wie groß auch die
Analogie
ſein mag, welche zwiſchen ihr und der Uranologie
beſteht
, ſo reicht doch das angegebene Merkmal vollkommen
hin
, zwiſchen dieſen beiden anſcheinend ſo nahe verwandten
Wiſſenſchaften
eine Grenzlinie zu ziehen, welche aber zu-
gleich
auch die Grenzlinie zwiſchen den Provinzen der ma-
thematiſchen
und der phyſikaliſchen Wiſſenſchaften iſt.
Der
Menſch
bekommt hier einen ganz neuen Gegenſtand für ſeine
Unterſuchungen
, und zu gleicher Zeit ſtellt ſich ihm ein neues
Mittel
zur Forſchung dar.
Bis jetzt hat er ſich nemlich auf
die
Beobachtung beſchränken müſſen, von jetzt an verbindet
er
damit den Verſuch.
1
11Siehe die Critik dieſer Claſſification weiter unten.
8975
2) Technologie.
In der allgemeinen Phyſik erforſchen wir die Körper
ganz
allein zu dem Zweck, ihre Eigenſchaften und Erſchei-
nungen
kennen zu lernen, in der Technologie dagegen ge-
ſchieht
dieß mit der Abſicht, die Vortheile ausfindig zu machen,
welche
wir aus denſelben ziehen können, und die Mittel
kennen
zu lernen, wodurch wir ſie unſern Bedürfniſſen dienſt-
bar
machen.
3) Geologie.
Die allgemeine Phyſik unterſcheidet ſich von der Geo-
logie
hinreichend durch den Umſtand, daß die erſtere die Kör-
per
nur im Allgemeinen betrachtet, während die letztere die-
ſelben
als Theile unſeres Erdballs unterſucht.
Man ſtößt
jedoch
auf einige Schwierigkeit, wenn man dieſen Unterſchied
bis
in das Detail entwickelt, und ich beſtimme deshalb den-
ſelben
auf folgende Weiſe näher:
der Inhalt der allgemeinen
Phyſik
iſt das Studium der Eigenſchaften und Erſcheinun-
gen
, welche wir an den Körpern zu allen Zeiten und an
allen
Orten bemerken;
während die Geologie nichts anderes
iſt
, als das vergleichende Studium aller der Modificationen,
welche
jene Eigenſchaften und Erſcheinungen zu verſchiedenen
Zeiten
und an verſchiedenen Orten erleiden können.
Die allgemeine Phyſik zum Beiſpiel muß uns belehren,
daß
die Magnetnadel nach Norden weißt und ſich bald mehr
bald
weniger nach Oſten und Weſten neigt;
daß der atmo-
ſphäriſche
Druck einer Queckſilberſäule, welche unter zahlreichen
Umſtänden
mancherlei Veränderungen unterworfen iſt, das
Gleichgewicht
hält;
daß Waſſer verdunſtet, ſich in Wolken ver-
dichtet
und als Regen wieder herunterfällt;
daß die verſchiedenen
Subſtanzen
, welche den Boden bilden, auf dem wir wandeln,
meiſt
in parallelen, mehr oder weniger geneigten Schichten
gelagert
ſind, u.
ſ. f. Die phyſiſche Geographie aber belehrt
uns
, wie ſtark die Abweichung der Magnetnadel, wie hoch der
Barometerſtand
, wie groß die Regenmenge an verſchiedenen
Orten
und zu verſchiedenen Zeiten iſt.
Ebenſo belehrt uns die
9076 Geonomie über die Natur und die Neigung der Boden-
ſchichten
in verſchiedenen Gegenden.
So macht die Me-
teorologie
nur einen Theil der allgemeinen Phyſik aus, wenn
ſie
die Erſcheinungen der Atmoſphäre blos in allgemeiner
Weiſe
behandelt;
ſobald ſie aber auf die Verſchiedenheiten
dieſer
Erſcheinungen an den verſchiedenen Orten eingeht, ſo
gehört
ſie in die phyſiſche Geographie.
4) Oryctotechnie.
Die Oryctotechnie unterſcheidet ſich von der Geologie
ebenſo
, wie die Technologie von der allgemeinen Phyſik.
Die Geologie unterſucht die Beſtandtheile des Erdballs nur
zu
dem Zweck, ſie kennen zu lernen, die Oryctotechnie aber
in
der Abſicht, ſie für unſere Bedürfniſſe herbeizuſchaffen.
Ampère zweifelte anfangs, ob die Technologie wirklich
vor
die Oryctotechnie zu ſtehen komme.
Auf den erſten
Anblick
glaubte er, zuerſt müſſe man die Mittel abhandeln,
mittelſt
deren man die Mineralien herbeiſchafft, ehe man die
Verarbeitung
derſelben zum Gegenſtand der Unterſuchung
macht
, und dann müßte nicht blos die Oryctotechnie vor
der
Technologie ſtehen, ſondern auch die auf Benutzung von
Pflanzen
und Thieren bezüglichen Wiſſenſchaften.
Er ſah
jedoch
bald ein, daß es ſich nicht ſo verhalte.
Man kann
offenbar
die techniſchen Arbeiten, durch welche die im Han-
del
vorkommenden Subſtanzen auf die angemeſſenſte Weiſe
verwandelt
werden, alle mit einander abhandeln, ohne ſich
um
die Mittel zu bekümmern, durch welche jene Subſtanzen
herbeigeſchafft
werden;
die Technologie dagegen liefert dem
Grubenarbeiter
alle nothwendigen Maſchinen, Inſtrumente
und
Apparate, deren Gebrauch unmöglich verſtanden wer-
den
kann ohne eine genügende Kenntniß von den techni-
ſchen
Arbeiten.
Dieſe Kenntniſſe ſind ebenſo nothwendig
für
die Cultur der Gewächſe und die Pflege der Hausthiere;
und wenn wir uns an die im Eingang dieſes Werks auf-
geſtellten
Principien erinnern, ſo genügt ſchon der einzige
9177 eben angeführte Grund, um ſich dafür zu entſcheiden, daß
die
Technologie vor allen denjenigen Wiſſenſchaften ſtehen
muß
, welche es mit der Herbeiſchaffung des denſelben noth-
wendigen
Materials zu thun haben.
Ie nachdem nun dieſe
Subſtanzen
aus dem Mineral-, Pflanzen- oder Thierreich
ſtammen
, müſſen auch die zu ihrer Herbeiſchaffung noth-
wendigen
Arbeiten verſchieden ſein und in verſchiedenen
Wiſſenſchaften
behandelt werden.
Eine ſolche Trennung
findet
aber in der Technologie nicht ſtatt, denn die in der-
ſelben
vorkommenden Arbeiten bieten keine weſentlichen Un-
terſchiede
dar, welches Urſprungs auch die benützten Sub-
ſtanzen
ſein mögen, und oft ſind in Einem Kunſtprodukt
Materialien
vereinigt, die aus allen drei Naturreichen ab-
ſtammen
.
b) Claſſification.
11
Provinz
. # Kreiſe. # Wiſſenſchaften erſter \\ Ordnung.
Phyſicaliſche \\ Wiſſenſchaften. # Phyſicaliſche Wiſſen- \\ ſchaften im engern \\ Sinn. # Allgemeine Phyſik.
# # Technologie.
# Geologiſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Geologie.
# # Oryctotechnie.
Ampère macht nun hier wieder die gewöhnliche An-
wendung
ſeiner vier Geſichtspunkte, welche aber, wie unten
gezeigt
werden wird, gänzlich verfehlt iſt.
Drittes Kapitel.
Cosmologiſche Wiſſenſchaften, die ſich auf lebendige Weſen,
Pflanzen und Thiere beziehen.
Auf das Studium des Erdballs und ſeiner Beſtand-
theile
muß der Natur der Sache nach das Studium der
9278 Pflanzen folgen, die aus ſeinem Innern hervorwachſen und
ſeine
Oberfläche bedecken;
dann das Studium der Thiere,
welche
die Erde bewohnen und ohne Pflanzen nicht exiſtiren
könnten
.
§. 1.
Wiſſenſchaften
britter Ordnung, enthaltend die Kenntniß der Pflanzen
und
der Lebenserſcheinungen dieſer zwar organiſirten, aber der Empfin-
dung
und freien Bewegung entbehrenden Weſen.
Wir haben es zunächſt nur mit der Erkenntniß der
Pflanzen
zu thun, und erſt ſpäter wird von den Wiſſen-
ſchaften
die Rede ſein, die ſich auf die Benützung der Ge-
wächſe
beziehen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Phytographie.
Dieſe Wiſſenſchaft lehrt ſämmtliche äußere Charactere
der
Pflanzen, die Bodenart, welche ſie trägt, die Climate,
in
denen ſie vorkommen, ihre Erhebung über die Meeres-
fläche
u.
ſ. f. kennen.
2) Phytctomie.
Dieſe Wiſſenſchaft ſucht die innere, der unmittelbaren
Anſchauung
entzogene Organiſation der Pflanzen auf, und
wie
die Objecte der Mineralogie ſich in zwei Hauptgruppen
theilen
, die homogenen Subſtanzen und die in ſich hetero-
genen
Conglomerate, ſo hat der Pflanzenanatom die homo-
genen
Gewebe und die aus mehreren ſolchen Geweben zu-
ſammengeſetzten
Organe dem Blick darzulegen.
3) Phytonomie.
Dieſe Wiſſenſchaft vergleicht die verſchiedenen Entwick-
lungsſtufen
einer und derſelben Pflanzenart, eben ſo die
verſchiedenen
Pflanzenarten unter einander und lehrt auf
die
Geſetze ſchließen, welche das Leben der einzelnen Pflan-
zen
und des ganzen Reichs in ſeinen verſchiedenen Abthei-
lungen
beherrſchen.
Hierher gehört auch die Pflanzengeo-
9379 graphie, welche aus der phyſiſchen Geographie hauptſächlich
ihr
Material zieht.
4) Pflanzenphyſiologie.
Dieſe Wiſſenſchaft ſucht die letzten Urſachen des Lebens
der
Pflanzen und der Bildung und Functionen ihrer Organe.
b) Claſſification.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Botanik. # Elementarbotanik. # Phytographie.
# # Phytotomie.
# Phytognoſie. # Phytonomie.
# # Pflanzenphyſiologie.
Folgt die gewöhnliche Application der vier Geſichts-
punkte
.
§. 2.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, enthaltend die Arbeiten, mittelſt deren
wir
die Pflanzenwelt zu unſerem Nutzen und Vergnügen tauglich machen.
Die vier Wiſſenſchaften, welche Ampère hier aufführt,
gleichen
nach ihrer Begriffsbeſtimmung und ihrem Verhält-
niß
unter einander ſo ſehr den technologiſchen und orycto-
techniſchen
Wiſſenſchaften, daß ich mich, mit Hinweiſung auf
dieſe
, begnüge, die Claſſification zu geben.
22
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Agricultur. # Elementaragri- \\ cultur. # Feld- und Gartenbau.
# # Landwirthſchaftliche Ge- \\ winnlehre.
# Vergleichende \\ Agricultur. # Agronomie.
# # Agriculturphyſiolgie.
Folgt wieder das Schema der vier Geſichtspunkte.
9480
§. 3.
Wiſſenſchaften
der dritten Ordnung, ſich beziehend auf die Kenntniß der
Thiere
und ſämmtliche Lebenserſcheinungen dieſer mit Empfindung und
freier
Bewegung begabten Weſen.
Die Begriffsbeſtimmung dieſer Wiſſenſchaften gleicht
aufs
Wort der Begriffsbeſtimmung der botaniſchen Wiſſen-
ſchaften
;
ich verweiſe alſo auf dieſe und begnüge mich, die
Claſſification
hierher zu ſetzen.
11
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Zoologie. # Elementarzoologie. # Zoographie.
# # Zootomie.
# Zoognoſie. # Zoonomie.
# # Phyſiologie der Thiere.
Folgt das viertheilige Schema.
§. 4.
Wiſſenſchaften
dritter Ordnung, welche ſich auf die Benützung der Thiere
beziehen
.
Dieß ſind wieder ganz die gleichen Begriffsbeſtimmun-
gen
wie bei Technologie, Agricultur u.
ſ. f. Die Lehre
von
der Benützung der Thiere (Zootechnie) zerfällt in die
Beſchreibung
der verſchiedenen dabei nöthigen Handthierun-
gen
der Zucht, Iagd u.
ſ. f. (Zoochreſie), Gewinnlehre
(Zooriſtik), empiriſche Erforſchung der verſchiedenen Metho-
den
(Oecionomie) und wiſſenſchaftliche Beſtimmung der beſten
Methoden
(Trepſiologie).
22
Wiſſenſchaft
erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Zootechnie. # Elementarzootechnie. # Zoochreſie.
# # Zooriſtik.
# Vergleichende Zoo- \\ technie. # Oecionomie.
# # Threpſiologie.
Folgt wieder das viertheilige Schema.
9581
§. 5.
Definitionen
und Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter Ordnung, die ſich
auf
die lebenden Weſen, Pflanzen und Thiere beziehen.
a) Aufzählung und Definitionen.
1) Botanik.
Ampère gibt hier an, warum er die Wiſſenſchaft, deren
Zweck
Erkenntniß der Pflanze iſt, vor die Wiſſenſchaft der
Thiere
ſtellte;
die Erde, ſagt er, könnte mit Pflanzen bedeckt
ſein
, ohne daß auch nur ein einziges Thier zu exiſtiren
brauchte
, während umgekehrt die Thiere nicht ohne die Pflan-
zen
beſtehen können.
Ebenſo kann der Botaniker die Pflanze
ſtudiren
, ohne etwas vom Thier zu wiſſen, während der
Zoolog
die Kenntniß der Pflanzen (der Nahrung, ja manch-
mal
der Wohnſtellen der Thiere) nicht entbehren kann.
2) Agricultur.
Hiebei macht Ampère bemerklich, wie ſchwer die Grenzen
zwiſchen
Agricultur und Technologie zu ziehen ſeien, eine
Schwierigkeit
, welche bei der Grenzbeſtimmung zwiſchen Tech-
nologie
und Oryctotechnie ſtatt findet.
Er entſcheidet dieſe
Fragen
dahin, daß er die Handthierungen und Arbeiten in
die
Agricultur und Oryctotechnie verweiſt, ſo lang ſie noch
von
dem Landbauer und Grubenarbeiter verſehen werden;
in die Technologie aber, ſo bald die Producte in die Hände
des
Conſumenten und Fabrikanten übergehen.
Außerdem
hat
man die Agricultur bald mit der Zootechnie zuſammen-
geworfen
, bald ihren Begriff auf den bloſen Getreidebau
eingeſchränkt
, was Ampère beides dem ſelbſtſtändigen und
umfaſſenden
Begriff des Worts unangemeſſen findet.
3) Zoologie.
Ampère vergleicht das Verhältniß dieſer Wiſſenſchaft
zur
Botanik mit der Stellung der Mechanik zur Arithmo-
logie
und Geometrie.
Wie in der Mechanik zu den bloſen
Zahlen-
und Raumgrößen auch noch Kräfte hinzukommen,
9682 ſo iſt auch in der Botanik nur das einfachſte Leben Object
der
Unterſuchung, in der Zoologie aber ein vollſtändigeres
Leben
, ein Leben, das zu der Vegetation auch noch Empfin-
dung
und freie Bewegung hat.
Auch macht Ampère darauf
aufmerkſam
, daß jetzt zum erſten Mal der Menſch als Ob-
ject
der Wiſſenſchaft auftrete, zwar blos erſt nach ſeiner
phyſiſchen
Seite und neben andern Naturweſen;
bei den
pſychologiſchen
Wiſſenſchaften werde er als Hauptobject er-
ſcheinen
und die übrigen Naturweſen nur als Nebenſachen.
Wir werden ſpäter den tiefern Sinn dieſer Bemerkungen
des
geiſtreichen Ampère näher darlegen.
4) Zootechnie.
Bei dieſer Wiſſenſchaft macht Ampère ganz dieſelbe
Grenzbeſtimmung
gegenüber der Technologie, wie bei der
Agricultur
und Oryctotechnie.
b) Claſſification.
Ampère faßt dieſe Wiſſenſchaften unter dem gemeinſa-
men
Begriff „naturhiſtoriſche Wiſſenſchaften” zuſammen und
gibt
die Etymologie des Wortes Natur von „nasci, ent-
ſtehen
, werden
, um den angeführten Namen als die
Bezeichnung
der Wiſſenſchaften von lebenden Weſen (welche
entſtehen
, ſich bilden, ſich fortpflanzen) zu rechtfertigen.
Auf
dieſen
Grund hin bringt er wieder die Ausſchließung der
Mineralogie
von den naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften zur
Sprache
, indem er ſagt, wenn man an die Etymologie des
Wortes
Natur gedacht hätte, würde man wohl nicht die
Mineralien
zur Naturgeſchichte gezogen haben, als ob nicht
auch
die Mineralien ein Entſtehen, ein Werden hätten.
11
Provinz
. # Kreiſe. # Wiſſenſchaften erſter \\ Ordnung.
Naturgeſchichte. # Phytologiſche Wiſ- \\ ſenſchaften. # Botanik.
# # Agricultur.
# Zoologiſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Zoologie.
# # Zootechnie.
9783
Gegen die Anwendung der vier Geſichtspunkte auf
dieſe
vier Wiſſenſchaften erſter Ordnung werde ich ſpäter
daſſelbe
ſagen, was ich gegen die Provinz der phyſicali-
ſchen
Wiſſenſchaften ſagen werde.
Intereſſant iſt aber die
naturphiloſophiſche
Auffaſſung der Botanik und Zoologie.
Ampère muß nemlich in dem viertheiligen Schema die Bo-
tanik
unter die Categorie des autoptiſchen, die Zoologie
unter
die des troponomiſchen Geſichtspunkts ſtellen.
Er
ſucht
die Analogie der Pflanzen mit dem autoptiſchen Ge-
ſichtspunkt
darin, daß ſie ſich ohne eigene freie Bewegung,
ohne
Widerſtand der Beobachtung des Forſchers darbieten.

In
der Zoologie, ſagt Ampère, ſieht man lebende Weſen,
die
ſich bewegen, thätig ſind, das Nützliche ſuchen, das
Schädliche
fliehen, immerwährend Ort und Lage verändern,
und
mit ihren Umgebungen in weit zahlreicheren Beziehun-
gen
ſtehen, als die Pflanzen, daher man den troponomiſchen
Geſichtspunkt
an ihnen nicht verkennen kann.
Wir werden
ſpäter
nachweiſen, daß dieſe Analogie für die Zoologie zu-
trifft
und ſehr wichtig iſt, für die Botanik jedoch muß ſie
anders
gewendet werden, um auch für ſie eine ebenſo über-
raſchend
richtige Anwendung des Ampère’ſchen Parallelis-
mus
zu finden.
Die Vergleichung der Agricultur mit dem
cryptoriſtiſchen
, der Zootechnie mit dem cryptologiſchen Ge-
ſichtspunkt
dagegen grenzt ans Kindiſche.
9884
Viertes Kapitel.
Mediciniſche Wiſſenſchaften, oder Cosmologiſche Wiſſenſchaften,
melche theils auf die äußern und innern Einflüſſe und Um-
ſtände ſich beziehen, durch welche in den Thieren der normale
Hergang der Lebenserſcheinungen erhalten, verändert, wieder-
hergeſtellt oder zerſtört wird, theils auch von den durch dieſe
Einflüſſe hervorgebrachten Abweichungen ſelbſt handeln.
Wenn ſchon im Bisherigen die Aufnahme der techni-
ſchen
Wiſſenſchaften als ſelbſtſtändiger Theil des Einthei-
lungsorganismus
die Symmetrie deſſelben bedeutend geſtört hat,
ſo
iſt dieß noch in weit höherem Maas durch das Kapitel
der
mediciniſchen Wiſſenſchaften der Fall, die ja ſelbſt nichts
ſind
als ein Aggregat von Corollarien vorher ſchon abge-
handelter
Wiſſenſchaften.
Dieß iſt auch der Grund, warum
man
eine organiſch-gerundete Durchführung in Ampère’s
Gliederung
der Medicin in ſechszehn Wiſſenſchaften kaum
wieder
erkennt.
Aus dieſen Gründen begnügen wir uns,
blos
der Vollſtändigkeit halber das geſammte Schema der
mediciniſchen
Wiſſenſchaften zu geben und das minder ver-
ſtändliche
durch Bemerkungen zu erklären.
998511
# # Wiſſenſchaften erſter \\ Ordnung. # Wiſſenſchaften zweiter Ord- \\ nung. # Wiſſenſchaften dritter \\ Ordnung.
Mediciniſche \\ Wiſſenſchaf- \\ ten. # Phyſiſch-medici- \\ niſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Mediciniſche Phyſik. # Mediciniſche Phyſik im \\ engern Sinn. # Pharmaceutik.
# # # # Traumatologie.
# # # Biotologie. # Diätetik.
# # # # Phrenygietik.
# # Seſundheitslehre (Hy- \\ gicine). # Craſiologie oder Lehre \\ von den Tempera- \\ menten. # Craſiographie.
# # # # Craſioriſtik.
# # # Geſundheitslehre im \\ engern Sinn. # Hygionomie.
# # # # Prophylactik.
# Mediciniſche \\ Wiſſenſchaften \\ im engern Sinn. # Noſologie. # Noſologie im engern \\ Sinn. # Noſographie.
# # # # Pathologiſche Anatomie.
# # # Heillehre. # Allgemeine Therapie.
# # # # Mediciniſche Phyſiologie.
# # Practiſche Medicin. # Semiologie. # Semiographie.
# # # # Diagnoſtik.
# # # Practiſche Medicin im \\ engern Sinn. # Spezielle Therapie.
# # # # Prognoſtik.
10086
Die vier Wiſſenſchaften dritter Ordnung, welche Ampère
unter
der „mediciniſchen Phyſik” begreift, enthalten der Reihe
nach
die verſchiedenen Einwirkungen, welche der Organismus
erleiden
kann;
Ampère faßt alle Arten von Einflüſſen, ſie
mögen
heilende oder ſchädliche ſein, in dieſen vier Gruppen
zuſammen
;
in der erſten die chemiſch-dynamiſchen Mittel,
Arzneien
und Gifte, φάρμακα, in der zweiten die mechani-
ſchen
, welche zufällig oder zu Heilzwecken abnorme Tren-
nungen
und Vereinigungen im Körper hervorbringen, in
der
dritten, der Diätetik, die verſchiedenen Lebensweiſen und
ihre
Einflüſſe, Folge von übermäßigen Anſtrengungen von
Organen
u.
ſ. f. , in der Phrenygietik die Einflüſſe, welche
die
geiſtige und moraliſche Seite des Menſchen auf den
Körper
übt.
Er vindicirt dieſe ausdrücklich den auf den
Körper
bezüglichen Wiſſenſchaften und ſagt, daß umgekehrt
die
Betrachtung der Einflüſſe, welche der Körper auf das
geiſtige
und gemüthliche Leben des Menſchen äußert, in den
Wiſſenſchaften
des Geiſtes betrachtet werden müſſen.
Die vier Wiſſenſchaften der Geſundheitslehre lehren die
Temperamente
und Conſtitutionen kennen, die Craſiographie
beſchreibt
ſie, die Craſioriſtik gibt ihre Diagnoſe, die Hygio-
nomie
lehrt die Geſetze, nach welchen die verſchiedenen in-
nern
und äußern Urſachen bald ſo, bald anders auf die
verſchiedenen
Conſtitutionen wirken, und die Prophylactik
zeigt
, wie man ſich davor zu ſchützen hat.
Bei Ampère’s Noſologie iſt zu bemerken, daß er auch
hier
beide Geſichtspunkte, Betrachtung der Krankheit an ſich,
und
Beobachtung der heilenden oder ſchädlichen Einwirkun-
gen
, welche Arzneien ausüben, als gleich weſentlich feſt hält;
er verlangt z. B. in der Noſographie, daß die einzelnen
Krankheitsfälle
, welche ſie lieferten, Alles enthalten ſollen,
was
angewendet worden iſt, ſammt allen wahrſcheinlichen
Folgen
davon;
in der allgemeinen Therapie (welche er zu
der
Noſographie in daſſelbe Verhältniß ſtellt, in welchem die
Zoonomie
zur Zoographie, überhaupt immer ſein dritter
10187 Geſichtspunkt zum erſten ſteht) ſollen die allgemeinen Ge-
ſetze
entwickelt werden, nach welchen die einzelnen Krank-
heiten
bei verſchiedenen Conſtitutionen und unter der An-
wendung
verſchiedener Arzneien verlaufen, ferner die Geſetze
des
Vorkommens der verſchiedenen Krankheiten in verſchie-
denen
Klimaten und Gegenden, die Eintheilung der Krank-
heiten
in natürliche Gruppen, Familien, Ordnungen u.
ſ. f.
Die mediciniſche Phyſiologie endlich hat dieſelbe Stellung
zu
den Krankheiten, welche die Phyſiologie in der Botanik
und
Zoologie zu den Schilderungen des geſunden Lebens hat.
Die vier Wiſſenſchaften endlich, in welche die practiſche
Medicin
bei Ampère zerfällt, ſind nichts als die techniſche
Anwendung
alles Vorhergehenden auf den einzelnen concre-
ten
Fall.
Die Anwendung des viertheiligen Schema’s auf die
vier
Wiſſenſchaften der dritten Ordnung iſt nur in der No-
ſologie
glücklich, in den drei andern Fällen, der mediciniſchen
Phyſik
, der Geſundheitslehre und der practiſchen Medicin,
iſt
die Anwendung ſehr unrein und gezwungen.
Glücklicher iſt die Anwendung der vier Geſichtspunkte
auf
die vier Wiſſenſchaften erſter Ordnung der mediciniſchen
Provinz
, des autoptiſchen Geſichtspunkts auf die unmittelbaren
Beobachtungen
der mediciniſchen Phyſik, des cryptoriſtiſchen
auf
die bei dieſen Wechſelwirkungen mit den Außendingen her-
vortretenden
verſchiedenen Temperamenten und Conſtitutionen,
was
allerdings etwas dem Auge Verborgenes iſt, des tro-
ponomiſchen
auf die Noſologie, welche die Geſetze des vom
geſunden
abweichenden, eines veränderten Zuſtandes des
Organismus
lehrt, endlich des cryptologiſchen Geſichtspunktes
auf
die practiſche Medicin, welche die Mittel ſucht, das
hinter
dem abgeirrten Zuſtand verborgene geſunde Leben
wieder
hervorzuziehen und herzuſtellen.
10288
Fünftes Kapitel.
Definitionen und Eintheilung der verſchiedenen Provinzen der
cosmologiſchen Wiſſenſchaften.
A. Aufzählung und Definitionen.
In dieſem das Ganze der Naturwiſſenſchaften umfaſ-
ſenden
Kapitel ſucht Ampère von den allgemeinſten Ge-
ſichtspunkten
aus die verſchiedenen Zweifel zu löſen, die
über
die Grenzverhältniſſe der verſchiedenen Wiſſenſchaften
herrſchen
.
1) Die mathematiſchen Wiſſenſchaften.
Er beſtimmt ſie als die Wiſſenſchaften, welche aus der
Anſchauung
nur die Begriffe von Größe und Maas ent-
nehmen
.
Er findet ſich bewogen, die lächerliche Meinung
zu
widerlegen, als ob die mathematiſchen Wiſſenſchaften in
das
Gebiet der noologiſchen Wiſſenſchaften gehörten;
dieſe
Meinung
, ſagt er, komme von der Anſicht, daß das mathe-
matiſche
Wiſſen nichts Objectives, Reales zu ſeinem Gegen-
ſtand
habe, als ob es ſich ganz allein auf geiſtige An-
ſchauungen
gründe;
dieſe Anſicht, welche ihren Urſprung
von
dem Uebergewicht des logiſchen Elements in der Ma-
thematik
nimmt, iſt, wie Ampère richtig bemerkt, ein Irr-
thum
, indem die Mathematik ſo gut wie irgend eine Natur-
wiſſenſchaft
auf der Vorausſetzung gegebener Anſchauung
beruht
.
Müſſen nicht ſchon Zahlen beobachtet ſein, um
nur
den Begriff der Zahl zu haben;
ebenſo ſind bei der
Geometrie
die Eigenſchaften des Raums als unbeweisbare
Vorausſetzung
gegeben.
Die ſcharfe Abgrenzung gegen die phyſikaliſchen Wiſ-
ſenſchaften
macht ihm einige Verlegenheit.
Er fühlt, daß die
mechaniſchen
Wiſſenſchaften eine mittlere, ſelbſtſtändige Stel-
10389 lung zwiſchen Mathematik und Phyſik haben, wovon ich
ſpäter
reden werde.
2) Die phyſicaliſchen Wiſſenſchaften.
Dieſe Wiſſenſchaften haben mit denen der vorhergehen-
den
Provinz das Gemeinſchaftliche, daß ſie die Eigenſchaften
der
Körper zum Inhalt haben, welche dieſelbe unabhängig
von
dem organiſchen Leben an ſich tragen.
Sie beſchränken
ſich
jedoch nicht mehr auf diejenigen Eigenſchaften, welche
der
Beobachtung blos die Vorſtellungen von Größe und
Maas
, welche allen Körpern gemeinſam ſind, darbieten,
ſondern
ſie haben es mit den beſondern Eigenſchaften zu
thun
, durch welche ſich die Körper von einander unterſchei-
den
;
ferner ſind die phyſicaliſchen Wiſſenſchaften nothwendig
auf
ein ſpecielles Studium der Körper beſchränkt, welche im
Bereich
des Menſchen ſtehen und die nicht außerhalb unſe-
res
Planeten liegen, während die mathematiſchen Wiſſen-
ſchaften
das ganze Weltall umfaſſen.
Die Stelle, welche die Chemie in unſerer Eintheilung
einnimmt
, ſcheint der gewöhnlichen Annahme zu widerſpre-
chen
;
denn in unſerem Zuſammenhang iſt ſie eine der vier
Wiſſenſchaften
dritter Ordnung, welche zuſammen die allge-
meine
Phyſik ausmachen, während man gewöhnlich von
dieſen
beiden Wiſſenſchaften ſpricht, als ob ſie zwar nahe
mit
einander verwandt, aber doch gewiſſermaßen von einan-
der
unabhängig wären.
Nun iſt es klar, daß zu jenen unorganiſchen Eigen-
ſchaften
, welche die allgemeine Phyſik erforſcht, auch die
Zuſammenſetzung
homogener Subſtanzen gehört, mögen die-
ſelben
aus organiſchen oder unorganiſchen Körpern ihren
Urſprung
nehmen.
Der Chemiker, welcher dieſe Zuſammen-
ſetzung
ſtudirt, hat es alſo mit einer von den Eigenſchaften
zu
thun, deren Geſammtheit der Gegenſtand der Phyſik iſt,
und
die Chemie muß ſomit als Theil der Phyſik angeſehen
werden
.
10490
Nichts deſto weniger nimmt die Chemie wegen der
Wichtigkeit
und Mannigfaltigkeit der auf die Zuſammen-
ſetzung
homogener Körper bezüglichen Thatſachen eine Haupt-
ſtelle
unter den Wiſſenſchaften dritter Ordnung ein.
Ie
weiter
dieſe Wiſſenſchaft vorwärts ſchritt, je mannigfaltiger
ihre
Beziehungen zu andern Wiſſenszweigen wurden, um
ſo
ſchwieriger wurde es, die Grenzen gegen dieſelben ſcharf
zu
ziehen, und ich muß deßhalb noch einige nähere Bemer-
kungen
über dieſe Sache beifügen.
Unterſuchen wir fürs erſte, wie ſich die Chemie von
der
Experimentalphyſik unterſcheidet.
Dieſelbe hat es mit
ſämmtlichen
Eigenſchaften der Körper zu thun, inſoweit bei
letztern
die Art der Zuſammenſetzung unverändert bleibt.
Die Chemie dagegen unterſucht einen Körper, entweder um
ihn
in ſeine Elemente zu trennen, oder um einen Theil
dieſer
Elemente unter ſich oder mit andern Körpern neue
Verbindungen
eingehen zu laſſen, oder endlich um ein neues
Produkt
dadurch zu bilden, daß man zwei oder mehrere
Subſtanzen
, ohne irgend eine vorgängige Zerſetzung mit
einander
verbindet.
Dieß war lange Zeit die einzige Art,
die
beiden genannten Wiſſenſchaften zu unterſcheiden;
in
einigen
neueren Werken jedoch hat man dieſelbe mißkannt
und
verworfen.
Wie man nemlich bei dem Unterricht in
der
Experimentalphyſik mit der Unterſuchung der allgemei-
nen
Eigenſchaften der Körper beginnt, ſo hegt man ſeit
einiger
Zeit den Gedanken, jene Wiſſenſchaft ganz auf die
ebengenannte
Unterſuchung zu beſchränken und der Chemie
die
beſondern Eigenſchaften der Körper zuzuweiſen.
Dieſe
Abtheilung
der in dieſen beiden Wiſſenſchaften enthaltenen
Wahrheiten
kann nur unter der Bedingung zugelaſſen wer-
den
, daß man aus der Experimentalphyſik den größten Theil
der
Forſchungen verbannt, welche doch weſentlich zu derſel-
ben
gehören.
Oder geht es wohl an, in die Chemie die
Unterſuchung
der magnetiſchen Eigenſchaften zu verſetzen,
welche
wir doch nur an einer geringen Anzahl von Metallen
10591 beobachten? und ebenſo iſt es mit den Eigenſchaften der
Härte
, der Zähigkeit, welche nur feſten Körpern zukommen;
ferner mit den Eigenſchaften der Dehnbarkeit, der Hämmer-
barkeit
, den Wirkungen der Härtung und des Schmiedens,
was
alles wieder nur bei einigen Metallen vorkommt.
Dieß
ſind
offenbar keine allgemeinen Eigenſchaften, aber ſie ge-
hören
nichtsdeſtoweniger in die Experimentalphyſik.
Nicht
alle
Körper ſind durchſichtig, und diejenigen, welche es ſind,
zeigen
nicht alle doppelte Strahlenbrechung.
Dieß ſind alſo
wieder
keine allgemeinen Eigenſchaften, und doch wird kein
Menſch
läugnen, daß ſie Gegenſtände des Phyſikers ſind.

Ebenſo
iſt es ſeine Aufgabe, die Tabellen der ſpecifiſchen
Gewichte
und aller durch Zahlen darſtellbaren Eigenſchaften
der
Körper zu verfertigen;
Sache des Chemikers aber iſt
die
Beſtimmung, ob dieſe Körper einfach oder zuſammenge-
ſetzt
ſind, und in letzterem Fall die Angabe der Elemente
und
Stoffe, aus denen ſie beſtehen, und der Proportionen,
nach
denen ſich dieſe Elemente und Stoffe verbinden.
Gibt
es
ferner nicht umgekehrt bei den Eigenſchaften, die ganz
allein
nur zu dem Inhalt der Chemie zu rechnen ſind, ge-
wiſſe
allgemeine Thatſachen, welche noch kein Menſch aus
der
Chemie in die Phyſik verſetzt hat?
und das müßten doch
folgerechter
Weiſe diejenigen thun, welche die Betrachtung
aller
beſondern Eigenſchaften aus der Phyſik verbannen
wollen
, um derſelben nur die Unterſuchung der allgemeinen
zu
laſſen.
Eine andere Verwirrung beſteht hinſichtlich der That-
ſachen
, welche der Wahrheit nach der Chemie angehören,
von
den Mineralogen jedoch in das Gebiet ihrer Wiſſen-
ſchaft
gezogen wurde.
Dieſe Verwirrung iſt viel älter und
ſogar
bis auf einen gewiſſen Grad durch die Gewohnheit
geheiligt
, und gerade deßhalb um ſo ſchwerer ins Gleiche
zu
bringen.
In dieſer Beziehung muß man die Grundſätze
im
Auge behalten, welche wir aufgeſtellt haben, um diejeni-
gen
Wahrheiten, welche der allgemeinen Phyſik (die auch
10692 das chemiſche Wiſſen in ſich begreift) zugehören, von den
in
den geologiſchen Wiſſenſchaften enthaltenen Wahrheiten
zu
unterſcheiden.
Wir haben nemlich geſehen, daß alles,
was
ſich auf die unorganiſchen Eigenſchaften der Körper
bezieht
, ſoweit dieſelben von räumlichen und zeitlichen Ver-
hältniſſen
unabhängig ſind, in die allgemeine Phyſik gehört, während alle Veränderungen, welche dieſe Eigenſchaften an
verſchiedenen
Orten und zu verſchiedenen Zeiten erleiden,
in
der Geologie betrachtet werden müſſen.
Nach derſelben
Regel
muß bei den auf die Zuſammenſetzung der Körper
bezüglichen
Forſchungen, dasjenige, was zur Chemie gehört,
getrennt
werden, von dem, was den Inhalt anderer Wiſſens-
zweige
ausmacht.
Wenn es ſich um homogene Verbindungen handelt,
wobei
aber die Proportion der Beſtandtheile unbeſtimmt iſt,
ſo
beſitzt der Chemiker offenbar nur allgemeine Mittel, um
die
Analyſe jener Verbindungen zu machen, und dieſe Ana-
lyſen
gehören in den Bereich der nachfolgenden Wiſſen-
ſchaften
, je nach dem Bedürfniß, welches dieſelben haben
können
, die Zuſammenſetzung der fraglichen Körper kennen
zu
lernen.
So ſind zum Beiſpiel die im Handel vorkom-
menden
verſchiedenen Arten von Pottaſche ſolche unbeſtimmte
Zuſammenſetzungen
, deren Preis je nach dem Inhalt der-
ſelben
an reiner Pottaſche wechſelt.
Der Chemiker hat nun
die
Aufgabe, eine allgemeine Methode zur Beſtimmung dieſer
Quantität
aufzuſtellen;
iſt dieſelbe aber einmal feſtgeſetzt, ſo
1
11Anmerkung Ampère’s. Den Namen allgemeine Phy-
ſik
habe ich eben darum gewählt, um die obenbezeichnete Unab-
hängigkeit
von räumlichen und zeitlichen Verhältniſſen, den Grund-
character
der in jener Wiſſenſchaft enthaltenen Wahrheiten, auszu-
drücken
, im Gegenſatz z. B. zu der Geologie, welche man als die
beſondere
Phyſik jedes Orts betrachten kann, welche ihre nähere Be-
ſtimmung
vollends durch die verſchiedenen Epochen erhält, durch die
eine
Abänderung in die Erſcheinungen kommt, welche die an einem
beſtimmten
Ort befindlichen Körper bemerken laſſen.
10793 gehört die Anwendung der Methode auf dieſe oder jene be-
ſtimmte
, im Handel vorkommende Pottaſche, in das Gebiet
der
induſtriellen Gewinnlehre.
Ebenſo gibt uns die Chemie
eine
allgemeine Methode der Analyſe der Mineralwaſſer;
aber die Anwendung dieſer Methode auf die Beſtimmung
der
näheren Zuſammenſetzung der in den verſchiedenen Län-
dern
vorkommenden Mineralquellen gehört in die phyſiſche
Geographie
, welche uns die Eigenthümlichkeiten dieſer ver-
ſchiedenen
Länder ſchildert.
Ebenſo wird das Verhältniß
der
Chemie zur Probirkunſt beſtimmt, welche die Art und
die
Menge der in einem Mineral enthaltenen Metalle zu
unterſuchen
hat;
ebenſo ihr Verhältniß zur landwirthſchaft-
lichen
Gewinnlehre, welche die chemiſchen Proceſſe auf die
Analyſe
der verſchiedenen Bodenarten anwenden muß.
Anders verhält es ſich jedoch, wenn es ſich um eine
beſtimmte
Zuſammenſetzung handelt, die ſich unter allen
Umſtänden
gleich bleibt;
in dieſem Fall gehört die Beſtim-
mung
der Proportionen der einzelnen Beſtandtheile ganz
allein
der Chemie an.
Es iſt dabei ganz gleichgültig, ob
die
Verbindung mineraliſchen, pflanzlichen oder thieriſchen
Urſprungs
iſt;
denn den Fortſchritten, welche die Chemie
durch
die Entdeckungen eines Bercelius, Chevreul, Dumas
u
.
ſ. f. gemacht hat, verdankt man es, daß man weiß, eine
ſolche
Verbindung ſei entweder eine Säure, oder ein Orid,
oder
eine Chlor- oder Schwefelverbindung, oder ein Salz
u
.
ſ. f. ; und aus welchem Naturreiche dieſe Verbindung
auch
abſtammen mag, ſo muß der Chemiker die Stellung
derſelben
in der Reihe der übrigen nachweiſen, gerade wie
es
ſeine Aufgabe iſt, die Eigenſchaften der Salpeterſäure,
des
Eiſenorids, der Eſſigſäure, des Zuckers, des Weingeiſtes,
der
Harnſäure, der Margarinſäure u.
ſ. w. zu beſchreiben;
deßwegen hat auch die Chemie und nicht die Mineralogie
das
Geſchäft, die Zahl der Atome des Sauerſtoffs und Si-
liciums
zu beſtimmen, aus welcher die Kieſelerde beſteht;
ſie,
die
Chemie, muß angeben, daß die primitive Geſtalt der
10894 kryſtalliſirten Kieſelerde ein Rhomboid iſt, deſſen Kantenwinkel
94°
24′ und 85° 36′ betragen;
daß der ſogenannte Quarz
nichts
iſt, als dieſe Erde, u.
ſ. w. Dagegen überläßt ſie
einerſeits
der Moleculärgeometrie das Geſchäft, die verſchie-
denen
Secundärformen aus der Primitivgeſtalt abzuleiten,
andrerſeits
bleibt es Sache der Mineralogie, die verſchiedenen
Quarzvarietäten
aufzuzählen und den Character der ver-
ſchiedenen
Terrainverhältuiſſe, unter welchen er vorkommt,
je
nachdem er kryſtalliniſch, als compacte geſtaltloſe Maſſe
oder
als Sand erſcheint.
Zieht man auf ſolche Art die Grenzlinien zwiſchen den
beiden
ebengenannten Wiſſenſchaften, ſo iſt klar, daß man
bei
meiner Auffaſſungsweiſe manche Thatſachen, die man
bis
jetzt der Mineralogie zutheilte, in die Chemie herüber-
nehmen
muß, und dieß iſt allemal dann der Fall, wenn ſich
die
Thatſachen auf Körper von beſtimmter Zuſammenſetzung
beziehen
, welche in jeder Beziehung denen gleichzuſtellen ſind,
die
man von jeher als den Inhalt der Chemie angeſehen hat.
Der Irrthum, in welchen man in dieſer Beziehung ver-
fallen
iſt, ſchreibt ſich von dem Umſtand her, daß man die
mineraliſchen
Subſtanzen lange vorher analyſirte, ehe die
Chemie
weit genug gekommen war, um über die Natur
ſolcher
Subſtanzen richtige Anſichten zu haben.
Zwar muß
zugegeben
werden, daß man bei der chemiſchen Unterſuchung
der
nächſten Beſtandtheile der aus Pflanzen und Thieren
genommenen
zuſammengeſetzten Körper noch ebenſowenig zu
den
Theorieen durchgedrungen war, denen gemäß jene Be-
ſtandtheile
als Säuren, Oride, Salze u.
ſ. w. angeſehen
werden
müſſen;
als jedoch die Chemiker dieſe Unterſuchungen
anſtellten
, beging man bei dieſen Subſtanzen nicht mehr den
gleichen
Irrthum;
man ſah ein, daß es der Chemie über-
laſſen
bleiben müſſe, die Verhältniſſe der urſprünglichen Be-
ſtandtheile
ſolcher Körper, ihre ſaure, baſiſche, ſalzige Neutral-
natur
und die primitiven Formen ihrer Kryſtalle zu beſtim-
men
, u.
ſ. w. Es iſt nun Zeit, die ganz entſprechenden
10995 Unterſuchungen, welche man bei mineraliſchen Subſtanzen
von
beſtimmter und unter allen Umſtänden ſich gleich blei-
bender
Zuſammenſetzung anſtellt, ebenfalls der angeführten
Wiſſenſchaft
zu vindiciren.
Der Stellung gemäß, welche ich der phyſiſchen Geo-
graphie
angewieſen habe, kommt ſie vor die Mineralogie zu
ſtehen
, und da ich das Studium der verſchiedenen Boden-
formen
und ihre Unterſcheidungsmerkmale auf die erſte der
beiden
vorhingenannten Wiſſenſchaften gründe, ſo muß dieſes
Studium
ganz unabhängig von den in der Mineralogie ent-
haltenen
Wahrheiten gemacht werden können.
Müßte man
freilich
die kryſtalliniſchen Formen, die Zuſammenſetzung der
Oride
, der Chlorverbindungen, der Salze u.
ſ. f. , woraus
die
verſchiedenen Bodenarten beſtehen, erſt in der letztge-
nannten
Wiſſenſchaft abhandeln, ſo befände man ſich in einer
großen
Verlegenheit;
aber alle dieſe Dinge finden, wie wir
geſehen
haben, ihre Stelle ſchon in der Moleculärgeometrie
und
in der Chemie;
ſo verſchwindet nun die ebenbezeichnete
Schwierigkeit
gänzlich, und wer ſich mit der phyſiſchen Geo-
graphie
abgibt, hat keine Kenntniſſe nöthig, welche erſt den
Inhalt
der Mineralogie bilden, um zu verſtehen, daß man
mit
dem Namen Granit ein Conglomerat von kleinen
Kieſelerdekryſtallen
(Quarz), von Feldſpath, der Doppelver-
bindung
von Kieſelerde mit Alaunerde und Kali u.
ſ. w. be-
zeichnet
.
Wenn man von dem Studium der phyſiſchen Geo-
graphie
zu dem mineralogiſchen übergeht, ſo beſitzt man be-
reits
die Kunde von den verſchiedenen Bodenarten, welche
der
Mineralogie unentbehrlich iſt.
Die Mineralogie hat dann nichts weiter zu ſagen, als:
dieß oder jenes Bodenproduct oder Steinart
findet
ſich in dieſem beſtimmten Terrain und
zeigt
daſelbſt dieſe und jene Spielarten
.
Gerade
ebenſo
ſagt der Anatom z.
B. : das Knochengewebe
findet
man nur bei denjenigen Thieren, welche
ein
inneres Gerüſte haben, und hat bei den mei-
11096 ſten im Waſſer lebenden Thieren die beſondern
Eigenſchaften
der Fiſchgräte, im Gegenſatz zu
den
Knochen der übrigen Wirbelthiere
, oder:
das
Athmungsorgan
verſchwindet bei denjenigen
Thieren
, deren einfacherer Bau geſtattet, daß die
allgemeinen
Bedeckungen die Athmungsfunction
übernehmen
;
in dem einen Fall kommt das Ath-
mungsorgan
als Lunge, im andern als Kieme vor
.
3) Die naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften.
Der Character dieſer Wiſſenſchaften iſt durch den Ge-
genſatz
, welcher zwiſchen den Daſeinsformen organiſchlebendiger
und
unorganiſcher Körper ſtattfindet, ſo ſcharf beſtimmt, daß
ihre
Definition nicht der mindeſten Schwierigkeit unterliegt.
Die eigenthümliche Daſeinsform organiſchlebendiger Körper
beſteht
in den ununterbrochenen Veränderungen, welche jene
Körper
durchlaufen müſſen, indem ſie fortwährend neue
Stoffe
zur Erhaltung ihrer Eriſtenz aufnehmen, und alte,
welche
abgenützt ſind, abſtoßen.
Sie entſtehen immer aus
Individuen
, welche ihnen ähnlich ſind, wachſen, reproduciren
ſich
und ſterben, während ein unorganiſcher Körper ohne
Ende
fortexiſtiren kann, wenn nicht ein zerſtörender Einfluß
auf
ihn wirkt.
Wenn die unterſcheidenden Charactere der organiſchen
Weſen
keine Schwierigkeit machen, ſo iſt dieß auch nicht der
Fall
in Beziehung auf die Stellung, welche die auf die or-
ganiſchen
Körper bezüglichen Wiſſenſchaften in einer natür-
lichen
Claſſification annehmen müſſen.
Wenn man auch
davon
abſehen will, daß für dieſe Wiſſenſchaften die vorher-
gehenden
wichtige Hülfswiſſenſchaften ſind, ſo wird die von
uns
angenommene Ordnung ſchon durch die einfache Be-
trachtung
gerechtfertigt, daß ein organiſchlebendiger Körper
auch
alle mathematiſchen und phyſicaliſchen Eigenſchaften der
unorganiſchen
Materie an ſich trägt, und daß die Lebens-
erſcheinungen
gar nicht begriffen werden können, wenn man
11197 nicht wenigſtens allgemeine Begriffe von der geſammten
Außenwelt
hat, in welcher ſich die organiſchen Weſen be-
finden
, welche ihnen den Boden gewährt, woraus die Pflanze
ſich
nährt, auf dem das Thier ſich bewegt, welche ihnen die
Luft
gibt, in der beide athmen, das Licht, das beiden gleich
nothwendig
iſt, u.
ſ. f.
Von den beiden Kreiſen, welche zuſammen die Provinz
der
naturhiſtoriſchen Wiſſenſchaften ausmachen, bezieht ſich
der
erſte auf die Pflanzen, welche blos Leben beſitzen, d.
h.
welche blos entſtehen, wachſen, ſich reproduciren und ab-
ſterben
.
Der zweite Kreis bezieht ſich auf die Thiere, welche
außerdem
noch die Empfindung, die ſelbſtthätige Bewegung
und
die zur Erzeugung der letztern nothwendigen Muskel-
kräfte
haben.
Auch bei dieſer Provinz ſucht Ampère ſchwankende
Grenzen
ſchärfer zu beſtimmen, und ich hebe hier heraus,
was
er über das Verhältniß zwiſchen Anatomie und Phy-
ſiologie
, ſowie über die Beziehung der Zoologie und Zoo-
technie
zur Medicin ſagt.
Wenn er die Phyſiologie der
Pflanzen
und der Thiere ſo beſtimmt, daß ſie die Funktionen
der
einzelnen Theile lehren, ſo will er den Begriff von Funk-
tion
nicht ſo weit gefaßt wiſſen, daß die Phytographie und
Zoographie
, ebenſo die Anatomie der Pflanzen und Thiere
nicht
ſollte ſagen dürfen, was die Thätigkeit und der Zweck
der
von ihnen geſchilderten Organe iſt.
Er faßt vielmehr
Erkenntniß
der Funktion in dem engern Sinn, daß die
Phyſiologie
die Aufgabe habe, die Urſachen zu unterſuchen,
welche
erklären, daß Organe von einer beſtimmten Form und
Miſchung
gerade dieſe und keine andere Thätigkeit äußern.
Bei dem Verhältniß der Zoologie und Zootechnie zur
Medicin
wirft er ſich die Frage auf, warum die mediciniſchen
Wiſſenſchaften
ganz getrennt von den zoologiſchen abge-
handelt
werden, während bei den phytologiſchen Wiſſen-
ſchaften
keine ſolche Trennung ſtattfinde.
Wir thun an Am-
père
die gleiche Frage:
die Antwort, welche er ſich und uns
11298 ertheilt, iſt rein aus äußerlichen Motiven genommen, „die
mediciniſchen
und veterinären Wiſſenſchaften haben einen
ſolchen
Umfang, daß man ſie als ſelbſtſtändige Wiſſenſchaften
behandeln
muß;
auch werden die in ihnen gelehrten Ver-
fahrungsarten
von einer andern Claſſe von Menſchen geübt,
als
die, welche die Zootechnie in Ausübung bringen.
Wir
werden
ſpäter dieſe äußerlichen Gründe einer Kritik unter-
werfen
.
4) Die mediciniſchen Wiſſenſchaften.
Hier gibt Ampère unter Wiederholung des Ebengeſagten
die
Gründe an, warum er nicht die Phyſiologie und Ana-
tomie
unter die mediciniſchen Wiſſenſchaften geſtellt habe,
da
man doch gewöhnlich jene beiden nur im Zuſammen-
hang
mit der Medicin ſtudire.
Er ſieht in dem Zeitmangel
der
Medicinſtudirenden den Grund, daß das Studium jener
beiden
Wiſſenſchaften nicht als ſelbſtſtändiges Studium der
Zoologie
, ſondern als bloſer Anhängſel des mediciniſchen
Studiums
erſcheine, und ſagt ganz richtig, daß ſolche äußer-
lichen
Gründe ihn nicht zur Trennung der Anatomie und
Phyſiologie
von den zoologiſchen Wiſſenſchaften bewegen
können
;
ſind denn aber ſeine Gründe für die Trennung der
ganzen
Medicin, als einer ſelbſtſtändigen Wiſſenſchaft, we-
niger
äußerlich?
B. Claſſification.
11
Reich
. # Gebiete. # Provinzen.
Cosmologiſche \\ Wiſſenſchaften. # Cosmologiſche Wiſ- \\ ſenſchaften im en- \\ gern Sinn. # Mathematiſche Wiſſen- \\ ſchaften.
# # Phyſicaliſche Wiſſen- \\ ſchaften.
# Phyſiologiſche Wiſ- \\ ſenſchaften. # Naturhiſtoriſche Wiſ- \\ ſenſchaften.
# # Mediciniſche Wiſſen- \\ ſchaften.
Ampère wendet auch auf dieſe Eintheilung die vier
Geſichtspunkte
an, was wir gleich ausführlich beſprechen
11399 werden. Von ſeinen Schlußbemerkungen heben wir folgende
aus
:
Weil es ſo tief in dem Weſen unſeres Geiſtes ge-
gründet
iſt, bei einem ſtufenweiſen Studium ſämmtlicher
Wiſſensgegenſtände
jenen vier Geſichtspunkten zu folgen, ſo
erklärt
es ſich, warum die erſten Gründer der Wiſſenſchaft,
ihnen
ſelber unbewußt, ſich von denſelben leiten ließen,
warum
die Gruppen von Wahrheiten, welche man von
jeher
als beſondere Wiſſenſchaften anſah, dieſen verſchiedenen
Geſichtspunkten
entſprachen, ohne daß man ihre Eriſtenz
ahnte
, gerade wie ſich der Menſch ſeiner körperlichen Organe
bedient
, und ſeine geiſtigen Vermögen auf mancherlei Ge-
genſtände
anwendet, ohne weder den innern Bau der einen,
noch
die Natur der andern zu kennen.
Fand ſich einer dieſer
ſchöpferiſchen
Geiſter getrieben, einen Gegenſtand unter ei-
nem
gewiſſen Geſichtspunkt zu erforſchen, ſo entſprang aus
dieſem
Unternehmen eine dem genannten Geſichtspunkt ent-
ſprechende
Wiſſenſchaft, ohne daß er deßhalb von demſelben
eine
Vorſtellung gehabt hätte.
Faßte man denſelben Gegen-
ſtand
unter einem andern Geſichtspunkt auf, ſo entſtand eine
andere
Wiſſenſchaft.
Wären dieſe Arbeiten ſchon vollendet,
ſo
würden alle Zweige unſeres Wiſſens, die ich bis jetzt auf-
gezählt
habe, bereits ihre Namen bekommen haben, und meine
Eintheilung
wäre ſo zu ſagen, ganz von ſelbſt entſtanden.
Ich hätte blos noch die bereits benannten Wiſſenſchaften
in
die durch die vier Geſichtspunkte beſtimmte natürliche
Ordnung
einreihen dürfen.
So verhielt es ſich jedoch nicht,
und
obgleich alle, von welchen ich bis jetzt geſprochen habe,
wirklich
bearbeitet worden ſind, ſo hatten doch mehrere noch
keine
Namen, und waren gewiſſermaßen ganz verkannt.

Nur
durch Analogie kam ich zur Entdeckung ſolcher noch
nicht
bekannten Wiſſenſchaften;
denn von den Geſichtspunkten
hatte
ich ſelbſt noch nicht die mindeſte Ahnung.
Auch war
ich
ſelbſt von der genauen Symmetrie überraſcht, welche ich
in
allen Theilen des in dieſem Werke auseinandergeſetzten
Syſtems
bemerkte;
ja für mehrere Perſonen, denen ich daſſelbe
114100 mittheilte, gab eben dieſe Symmetrie einen Grund ab, das
Syſtem
als ein künſtliches anzuſehen.
Nun aber ſieht man
den
Urſprung dieſer Symmetrie ein;
man ſieht, warum gerade
eine
Vierzahl von Provinzen ſein muß, warum jede Provinz
ſich
in eine gleiche Anzahl von Kreiſen und von Wiſſen-
ſchaften
der erſten, zweiten, dritten Ordnung abtheilt;
man
ſieht
, daß alles dieß ſeinen Grund darin hat, daß jene Ge-
ſichtspunkte
, von welchen ſich die Gründer der verſchiedenen
Wiſſenſchaften
, ihnen ſelbſt unbewußt, leiten ließen, der Zahl
nach
immer dieſelben bleiben, weil ſie ſich auf die Natur
unſeres
Denkens gründen.
Gibt man ſich ſolchergeſtalt
Rechenſchaft
von jener Symmetrie, ſo erkennt man leicht, wie
irrig
es ſei, aus derſelben auf die Künſtlichkeit des Syſtems
zu
ſchließen, in welchem ſie vorkommt, und daß man im
Gegentheil
hätte vorauswiſſen können, daß ſie ſich in einem
natürlichen
Syſtem des menſchlichen Wiſſens geltend machen
müſſe
, ſobald nur daſſelbe eine vollſtändige Liſte aller Wiſſen-
ſchaften
enthält, und jede Gruppe von Wahrheiten, die eine
ſolche
in der That und Wahrheit iſt, gemäß der Natur
unſerer
Geiſtesthätigkeiten und der Gegenſtände derſelben,
ihren
gehörigen Namen erhalten hat.
Reiht ſich eine neue
Wiſſenſchaft
nicht ein in die bereits gemachten Abtheilungen
und
Unterabtheilungen, ſo wird ſie eine Lücke ausfüllen in
einer
noch unvollendeten Claſſification.
Dieſe Lücke muß
ſich
aus der Analogie ergeben, und wenn die Wiſſenſchaft,
welche
dieſelbe ausfüllen ſoll, auch nur im Umriß vorhanden
iſt
, ſo muß man ihr doch einen Namen geben, um die Blicke
derer
auf ſie zu richten, welche im Stand ſind, ſie nach
allen
möglichen Seiten hin zu entwickeln und zu vollenden.
Wenn man nun dieſen Weg einſchlägt, den auch ich, und
wie
ich glaube, mit Recht eingeſchlagen habe, ſo gibt es ſich
ganz
von ſelbſt, daß man für die verſchiedenen Zweige unſeres
Wiſſens
neue Wiſſenſchaften aufſtellt, welche gerade wegen
ihrer
Abkunft von der Analogie, jene Symmetrie erzeugen,
welche
man mir zum Vorwurf machen zu müſſen glaubte,
115101 Ich bin freilich weit entfernt, dieſelbe als einen Grund für
die
Annahme meiner Claſſification geltend zu machen;
ich
wollte
vielmehr nur einem Vorwurf begegnen, indem ich
nachwies
, daß dieſelbe ihren natürlichen Grund in dem Weſen
unſerer
geiſtigen Thätigkeiten hat.
Ehe wir die Critik über Ampère’s Syſtem beginnen,
wird
es gut ſein, den Ueberblick ſeines Syſtems, wenigſtens
bis
zu den Wiſſenſchaften erſter Ordnung vor Augen zu
haben
.
11610211
Reich
. # Gebiete. # Provinzen. # Kreiſe. # Wiſſenſchaften erſter \\ Ordnung.
Cosmologiſche \\ Wiſſenſchaf- \\ ten. # Cosmologiſche \\ Wiſſenſchaften \\ im engern Sinn. # Mathematiſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Mathematiſche Wiſſen- \\ ſchaften im engern Sinn. # Arithmologie.
# # # # Geometrie.
# # # Phyſicaliſchmathemati- \\ ſche Wiſſenſchaften. # Mechanik.
# # # # Uranologie.
# # Phyſicaliſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Phyſicaliſche Wiſſenſchaf- \\ ten im engern Sinn. # Allgemeine Phyſik.
# # # # Technologie.
# # # Geologiſche Wiſſenſchaf- \\ ten. # Geologie.
# # # # Oryktotechnie.
# Phyſiologiſche \\ Wiſſenſchaften. # Naturhiſtoriſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Phytologiſche Wiſſenſchaf- \\ ten. # Botanik.
# # # # Agricultur.
# # # Zoologiſche Wiſſenſchaf- \\ ten im weitern Sinn. # Zoologie.
# # # # Zootechnie.
# # Mediciniſche Wiſſen- \\ ſchaften. # Phyſiſchmediciniſche Wiſ- \\ ſenſchaften. # Mediciniſche Phyſik.
# # # # Geſundheitslehre.
# # # Mediciniſche Wiſſenſchaf- \\ ten im engern Sinn. # Noſologie.
# # # # Practiſche Medicin.
117
Critik der Ampère’ſchen Claſſification.
Wir haben in dieſer Eintheilung eine Reihe von
64
Wiſſenſchaften, welche alle in einer beſtimmten Ordnung
auf
einander folgen und in Gruppen abgetheilt ſind, von
denen
wieder daſſelbe gilt.
Ampère legt auf die richtige
Aufeinanderfolge
denſelben Werth, wie auf die richtige Ein-
theilung
in beſondere Gruppen;
und bei der Beurtheilung
müſſen
wir auf beides gleiche Rückſicht nehmen.
Laſſen wir alſo für’s Erſte alle Einſchnitte weg, durch
welche
die Reihenfolge unterbrochen und die ganze Kette
in
beſondere Haufen getrennt iſt, und fragen wir;
iſt nicht
etwas
ausgelaſſen?
ſteht nichts vorne, was ſpäter kommen
ſollte
, und umgekehrt?
Ich glaube, daß alle meine Leſer
einſtimmen
werden, daß die Reihenfolge vollkommen tadellos
iſt
;
ſie iſt ebenſo methodiſch in wiſſenſchaftlicher Beziehung
als
übereinſtimmend mit der Natur der Dinge.
Von der
Arithmographie
an hinauf bis zur letzten Wiſſenſchaft der
practiſchen
Medicin iſt das Geſetz feſtgehalten, daß man nie
auf
ein Späterkommendes verwieſen wird, iſt immer das
Einfachere
, das Niedere, welches im Höheren und Ver-
wickelteren
als Bedingung enthalten iſt, vorangeſtellt, und
dieſe
Aufgabe einer natürlichen Claſſification iſt in genialer,
ſchlichter
Weiſe gelöſt.
Man kann dieſe Aufeinanderfolge in einem ſubjectiven
Sinn
(der wiſſenſchaftlichen Methode) und in einem ob-
jectiven
Sinn, als Verhältniß der Dinge ſelbſt unter ein-
ander
, auffaſſen;
und wiewohl Ampère den erſtern Sinn
voranſtellt
, ſo verkennt er doch die objective Bedeutung
118104 ſeiner natürlichen Methode keineswegs. Dieß beweiſen ver-
ſchiedene
Andeutungen, z.
B. man könne ſich recht wohl das
Pflanzenreich
ohne Thierreich, nicht aber umgekehrt denken,
und
erſt aus dieſem objectiven Verhältniß folgert er auch
die
ſubjectivmethodiſche Beziehung, der Botaniker brauche
nichts
von der Zoologie zu wiſſen, wohl aber müſſe der
Zoolog
auf die Botanik ſich beziehen.
Man kann dieſe objective Seite der methodiſchen Reihen-
folge
ganz leicht als allgemeines Geſetz ſich zur An-
ſchauung
bringen.
Der Menſch trägt als Werkzeug und
Bedingung
ſeiner geiſtigen Thätigkeit den Leib an ſich, mit
dem
animaliſchen Lebensproceß, Sinnesempfindung und freier
Bewegung
;
das Thier trägt den vegetativen Lebensproceß in
ſich
;
das Leben der Pflanze iſt bedingt durch den Beſtand
ihrer
einzelnen Organe und Gewebtheile, welche durch eine
Art
von Kryſtalliſation entſtehen;
dem Kryſtall, dem Stein,
überhaupt
jeglichem Ding, ſofern es einen gewiſſen Form-
beſtand
hat, dient als nothwendige Grundlage ein Sein mit
gewiſſen
phyſiſchen Qualitäten.
Ebenſo kann man ſich dieſe
phyſiſchen
Oualitäten nicht denken, ohne daß ſie einer Ma-
terie
adhäriren;
man kann ſich dieſe Materie und ihre Ac-
tion
, die Bewegung, nicht denken, ohne einen Raum, den
ſie
ausfüllt, ohne eine Zeit, in der Ruhe und Bewegung
verläuft
.
In die höheren Seinsformen involviren alſo alle
reſpectiven
niedern Formen, aber nicht umgekehrt.
Wird
von
einer Lebensform eine der in ihr ſteckenden Unterlagen
oder
alle hinweggedacht, ſo denkt man etwas Unmögliches,
während
man nichts Unmögliches denkt, wenn man die
höchſte
Seite einer Lebensform hinwegdenkt, ſobald nur über-
haupt
noch ein Formbeſtand und nicht ein bloßes Abſtract
übrig
gelaſſen wird.
Dieß iſt das Geſetz der organi-
ſchen
Stufenverhältniſſe
, welches wir unten noch
näher
betrachten werden, und das der Methodik Ampère’s
unläugbar
und ausgeſprochener Maaßen zu Grunde liegt.
Wir gehen nun zu einer Beurtheilung der Am-
119105père’ſchen Gruppen über; ſind die einzelnen Gruppen
richtig
gebildet, und ſind die richtig gebildeten Gruppen
auch
naturgemäß zuſammengeſtellt?
An der Bildung
ſeiner
Wiſſenſchaften dritter Ordnung
wird man
kaum
etwas ausſetzen können, und wir fragen nun zunächſt,
ſind die Wiſſenſchaften dritter Ordnung auf
richtige
Weiſe in den Wiſſenſchaften erſter Ord-
nung
zuſammengefaßt
?
Iſt nichts in einer Wiſſen-
ſchaft
erſter Ordnung, was nicht in dieſelbe gehört, oder
aber
, fehlt nicht etwas, was weſentlich in eine ſolche gehört?
Die erſte Frage wird man @ohl zu Gunſten Ampère’s ver-
neinen
müſſen;
dagegen die Frage nach der Vollſtändigkeit
der
Wiſſenſchaften erſter Ordnung kann man nicht durch-
gängig
zu ſeinen Gunſten bejahen.
Zur Beantwortung dieſer Frage gibt uns Ampère ſelbſt
den
Maaßſtab in ſeinem viertheiligen Schema, in den vier
Geſichtspunkten
.
Dieſer Eintheilungsgrund, welcher
das
ganze Syſtem regiert, iſt von ungemeinem Intereſſe.
Ich ſpreche hier nur vorläufig die Ueberzeugung aus, welche
ich
nachher, wenn auch nur auf ſkizzenhafte Weiſe begründen
werde
, daß in dieſen vier Geſichtspunkten die Grundlage
gegeben
iſt, für den richtigen Organismus der Categorieen
des
Denkens, und weil es ein und daſſelbe Urweſen iſt,
welches
die Welt und unſern Geiſt, und in dieſem Geiſt
die
Fähigkeit, die Welt in Gedanken zu ergreifen, ſchuf, ſo
ſind
jene vier Geſichtspunkte auch die Categorieen alles
Seins
, und die Mittel, daſſelbe zu verſtehen und zu begreifen.

In
dieſer Uebereinſtimmung unſeres Denkens mit dem Sein
liegt
auch das Recht Ampère’s, das er, ohne lange ſich zu
beſinnen
, ſich vindicirt, die vier Geſichtspunkte nicht blos
auf
die Eintheilung der Wiſſenſchaften dritter Ordnung,
ſondern
auch auf die Eintheilung der Wiſſenſchaften erſter
Ordnung
und der Provinzen anzuwenden.
Die Anwendung
auf
je vier Wiſſenſchaften dritter Ordnung zeigt blos die
ſubjectivmethodiſche
Seite der vier Geſichtspunkte;
denn es
120106 iſt ein und derſelbe Gegenſtand, der in vier zu-
ſammengehörigen
Wiſſenſchaften dritter Ordnung nur von
verſchiedenen
Geſichtspunkten aus abgehandelt wird.
Werden
aber
auch vier Wiſſenſchaften erſter Ordnung, ja vier Pro-
vinzen
auf dieſelbe Weiſe eingetheilt, dann werden den ver-
ſchiedenen
Geſichtspunkten auch verſchiedene Gegenſtände zu-
getheilt
, es wird vorausgeſetzt, dieſe verſchiedenen Ge-
genſtände
ſeien ſelbſt wieder nur vier verſchie-
dene
Auffaſſungsweiſen eines gemeinſamen
allgememeinen
Objectes
, ſie ſeien die vier Gedanken-
ſtufen
, nach welchen ein höherer Geiſt die Gebiete der
Eriſtenzen
hervortreten laſſe.
Wir reden nun zuerſt von der ſubjectiven methodiſchen
Seite
, welche in der Eintheilung der Wiſſenſchaf-
ten
dritter Ordnung allein
hervortritt, und legen an
dieſe
Eintheilung den Maaßſtab der vier Geſichtspunkte, die
wir
, wie bereits geſagt, als erſchöpfend anſehn.
Iſt einem
der
vier Geſichtspunkte eine Wiſſenſchaft dritter Ordnung
zugetheilt
, welche ihm nicht entſpricht, ſondern einem andern
Geſichtspunkt
zugehört, ſo hat der erſtere keine entſprechende
Wiſſenſchaft
, und da bei jedem Objecte alle vier Auffaſſungs-
arten
vorkommen müſſen, ſo iſt für den genannten Fall
eine
Lücke nachgewieſen.
Gehen wir zu dem Ende die ver-
ſchiedenen
Wiſſenſchaften dritter Ordnung durch, ſo ſind,
unſeres
Erachtens, bei den rein mathematiſchen Wiſſen-
ſchaften
, bei den Wiſſenſchaften der allgemeinen Phyſik und
bei
einer Wiſſenſchaft erſter Ordnung der mediciniſchen Pro-
vinz
, die vier Geſichtspunkte nicht rein durchgeführt, und
zwar
iſt ſonderbarer Weiſe gerade der vierte, der cryptolo-
giſche
Geſichtspunkt, meiſtens der verunglückte.
Die vierte
Wiſſenſchaft
, welche Ampère unter der Arithmologie begreift,
die
Wahrſcheinlichkeitsrechnung, enthält nur eine Ahnung
von
dem, was dieſe Wiſſenſchaft ſein ſollte.
Die Frage nach
der
Wahrſcheinlichkeit eines oder mehrerer Fälle berührt aller-
dings
die höchſte Grenze der Mathematik, jenſeits welcher
121107 die Herrſchaft der letztern aufhört. Die Mathematik kann
z
.
B. beſtimmen, wie oft ein gewiſſer Umſtand eintreten
kann
, gegenüber von der Zahl der Fälle, in welchen
er
nicht eintreten kann.
Dieſe quantitative Seite der Frage
kann
ſie löſen, und die Antwort iſt eine Wahrſcheinlichkeit;
daß aber ein Umſtand auf dieſe oder jene Weiſe eintreten
wird
, die Gewißheit davon haben wir nur, wenn es
uns
möglich iſt, über die bloſe Quantität hinaus, die Oua-
lität
der Dinge, ihr Weſen und reellen Zuſammenhang zu
wiſſen
.
Dieſes Wiſſen iſt kein mathematiſches Wiſſen mehr,
und
die Fragen nach Wahrſcheinlichkeit und Gewißheit müſſen
ſomit
aufgeworfen werden in einer Wiſſenſchaft, welche die
Begriffe
der Größe nach ſeinem ganzen Umfang, ſeinen
Grenzen und ſeinen Beziehungen zu andern Begriffen
unterſucht
.
Dieſe Wiſſenſchaft allein, eine Philoſophie
der Größenlehre, kann dem vierten Geſichtspunkt der
Arithmologie
entſprechen;
denn der vierte Geſichtspunkt einer
Wiſſenſchaft
erſter Ordnung ſoll ja die letzten weſentlichen
Urſachen
, in welchen alle Beziehungen und Geſetze eines
Gegenſtandes
erklärt und zuſammengefaßt ſind, unterſuchen.

Was
aber Ampère als letzte Wiſſenſchaft der Arithmologie
aufſtellt
, iſt nur eine einzelne Beziehung dieſer poſtulirten
Wiſſenſchaft
.
Gine ähnliche Ahnung hatte Ampère bei Auf-
ſtellung
der Moleculärgeometrie;
dieſe ſcheint nichts
zu
ſein, als eine ſtereometriſche Frage, wie auch die Wahr-
ſcheinlichkeitsrechnung
an ſich nur eine Seite der Combina-
tionenlehre
iſt;
und doch berührt die Moleculärgeometrie,
nach
Ampère’s Begriffsbeſtimmung, denſelben höchſten Punkt,
wie
ſeine vierte arithmologiſche Wiſſenſchaft.
Wenn er nem-
lich
der Moleculärgeometrie geradezu die Aufgabe ſtellt, die
Primitivformen
kryſtalliſationsfähiger Körper aus den durch
die
Beobachtung gegebenen Secundärformen, und umgekehrt,
abzuleiten
, ſo iſt klar, daß hier wiederum die Beziehung des
bloſen
quantitativen Wiſſens auf ein Gebiet von reellen
Dingen
ausgeſprochen iſt.
Nun iſt bekannt, daß die Ste-
122108 reometrie ſich mehr Formſyſteme möglich denken kann, als
die
Kryſtallwelt aufweiſt.
Es ſind alſo einige ſtereometriſche
Möglichkeiten
durch das Geſetz des Lebens zu Wirklichkeiten
erhoben
, andere ſind dadurch ausgeſchloſſen;
es iſt alſo auch
hier
wieder die Frage nach der Grenze aufgeworfen und
ſomit
die Unterſuchung des Grundbegriffs der quantitativen
Beſtimmung
zur Aufgabe gemacht.
Was hier von der Aus-
ſchließung
mehrerer Möglichkeiten und der Einſchränkung
auf
eine beſtimmte Zahl wirklicher Fälle geſagt iſt, gilt auch
von
den verſchiedenen Größenbeſtimmungen einer und der-
ſelben
Sache.
Iedes lebendige Ding hat ein gewiſſes Maaß,
d
.
h. es kann eine gewiſſe räumliche Ausdehnung erreichen,
und
größere Ausdehnungen ſind ihm durch ſeine Natur ver-
ſagt
.
Was iſt für eine jede Gattung von Dingen der
Grund
, der ihnen ihre Quantität beſtimmt;
man könnte
ſchon
a priori ſagen, der Grund müſſe im eigenthümlichen
Quale des Dinges liegen, wenn man nicht auch a posteriori
darauf
geführt wäre.
Man ſieht nemlich, daß ein Ding ſo
lang
ſeine Quantität ändert, als es nach ſeinem eigenthüm-
lichen
Quale noch nicht vollſtändig ausgebildet iſt.
Iſt aber
dieß
geſchehen, ſo hört auch das Wachsthum auf.
Mit der
Erreichung
der qualitativen Eigenthümlichkeit hat ein Leben-
diges
auch das ihm eigene Quantum erreicht, das es nun
auch
nicht weiter verändert.
Alſo auch hier wird man wieder
an
die Grenzſcheide der Mathematik geführt, und dieſe
muß
dieſelbe aus dem allgemeinen Begriff der Größe be-
ſtimmen
.
Schon Hegel hat eine Wiſſenſchaft der Maaße
poſtulirt
, welche noch nicht eriſtire;
und ſo weit auch bis jetzt
die
Mathematik ihre Arme und Füße in alle Weiten des
Univerſums
ausſtreckt, ſo fehlt ihr noch der Kopf.
Ampère
hat
dieß geahnt bei der Aufſtellung der beiden letzten Wiſſen-
ſchaften
in der Arithmologie und Geometrie.
Die gleiche Ausſtellung müſſen wir bei der vierten
Wiſſenſchaft
der allgemeinen Phyſik machen.
Auch hier hat
Ampère
gefühlt, daß die phyſicaliſchen und chemiſchen Wiſſen-
123109 ſchaften einer Wiſſenſchaft bedürfen, welche die Mannig-
faltigkeit
der in ihnen gelehrten Erſcheinungen in einem er-
klärenden
Mittelpunkt zuſammenfaßt und um die ſich bis jetzt
Phyſiker
und Chemiker ungemein wenig bekümmert haben.
Nach welchen Geſetzen theilt ſich die Geſammtheit der Elemente
in
gewiſſe Gruppen, nach welchen Geſetzen theilen ſich die
beſonderen
Gruppen in die einzelnen Elemente?
welches
ſind
die Gründe ihrer electriſchen und galvaniſchen Bezie-
hungen
und ihrer chemiſchen Affinitäten unter einander?

Dieſe
Fragen drängen ſich nothwendig auf, nachdem man
das
Detail aller dieſer Erſcheinungen durchlaufen.
Schon
die
Conſtanz der Miſchungsgewichte, welche die einzelnen
Elemente
in allen Verbindungen behaupten, führen auf die
Annahme
, daß alle dieſe Elemente zuſammen ein Ganzes
mit
einander bilden, deſſen Gliederung von einem einfachen
Geſetz
beherrſcht ſein muß, wie die Wechſelwirkungen ſeiner
Theile
.
Dieſe philoſophiſche Phyſik fehlt noch ebenſo, wie die Philoſophie der Größe. Ampère hat das Bedürfniß
einer
ſolchen Wiſſenſchaft gleichfalls empfunden, aber ſeine
Atomologie wird daſſelbe ſchwerlich befriedigen, denn
nicht
durch Zerlegung der Elemente in ihre
kleinſten
Theile, ſondern durch Betrachtung des
Zuſammenhangs
, in dem jedes Element mit der
Geſammtheit
aller übrigen Elemente ſteht,
findet
man das Geſetz, das das Ganze und das
Einzelne
beherrſcht
.
Bei den mediciniſchen Wiſſenſchaften könnte man bei
der
Prophylactik und Prognoſe zweifeln, ob ſie wohl
den
cryptologiſchen Geſichtspunkt vollſtändig repräſentiren,
da
man gewöhnlich beide Wiſſenſchaften nur in einem be-
ſchränkten
Sinn auffaßt und faſt wie Nebenſachen behandelt.
Man kann jedoch in der That in dieſen Wiſſenſchaften das
1
11Siehe hierüber meine Schrift: „Weſen der Natur. Bei Ebner
und
Seubert, Stuttgart 1839.
124110 zuſammenfaſſende Reſultat der ihnen vorausgegangenen Wiſ-
ſenſchaften
dritter Ordnung ſehen, in der Prophylactik die
Zuſammenfaſſung
der ganzen Hygieine, in der Prognoſe
das
Geſammtreſultat des ärztlichen Urtheils über einen
practiſchen
Fall.
Ganz unrein ſind die vier Punkte durchgeführt in Am-
père’s
mediciniſcher Phyſik.
Hier gehören offenbar
alle vier Wiſſenſchaften, die Ampère aufſtellt, ihrem Object
nach
, in den erſten Geſichtspunkt, der alle die ſchädlichen
oder
heilſamen Einflüſſe, mögen nun chemiſche oder mecha-
niſche
oder geiſtige Urſachen auf den Organismus einwirken,
ſemiographiſch
zu betrachten hat.
Der zweite Punkt muß
ſie
anatomiſch-diagnoſtiſch unterſuchen.
Die Wiſſenſchaft des
dritten
Punkies muß die Geſetze aufſuchen, nach welchen die
verſchiedenen
Einflüſſe auf verſchiedene Art wirken müſſen,
und
die Wiſſenſchaft des cryptologiſchen Geſichtspunktes muß
dieſe
Geſetze auf einen letzten gemeinſamen Grund zurück-
führen
.
An Stoff für dieſen vierten Punkt hätte es Am-
père
ſchwerlich gefehlt, wenn er Arzt geweſen wäre und
geſehen
hätte, welcher Wirrwarr in den Begriffen über or-
ganiſche
Reaction herrſcht, wo der eine alle Symptome als
Heilſymptome
auffaßt, während Andere den Organismus
zum
paſſiven Zuſchauer eines in ihn eingedrungenen fremden
Lebensproceſſes
macht.
Die Grundgeſetze der organiſchen
Reaction
müſſen in dieſer vierten Wiſſenſchaft der medicini-
ſchen
Phyſik abgehandelt werden, weil nur hier, wo die
Einwirkungen
ſcharf vor Augen liegen, etwas Klares über
die
Wechſelwirkungen zwiſchen Organismus und krankhafter
Affection
geſagt werden kann.
Dieſe hier von uns poſtulirte
vierte
Wiſſenſchaft der mediciniſchen Phyſik iſt unerläßliche
Vorausſetzung
der mediciniſchen Phyſiologie, welche Ampère
ganz
richtig als die vierte Wiſſenſchaft der Noſologie auf-
geſtellt
hat.
Nachdem wir nun die Frage beantwortet, ob die Wiſſen-
ſchaften
dritter Ordnung auf richtige Weiſe in den Wiſſen-
125111 ſchaften erſter Ordnung zuſammengeſtellt ſind, fragen wir
daſſelbe
in Betreff der Wiſſenſchaften erſter Ordnung
und
ihrer Zuſammenſtellung in Provinzen.
Iſt in
keiner
Provinz weder zu viel noch zu wenig?
iſt jede Wiſſen-
ſchaft
erſter Ordnung ihrem entſprechenden Geſichtspunkt zu-
getheilt
?
Dieſe Fragen werden beantwortet ſein, wenn wir
jede
Wiſſenſchaft erſter Ordnung unterſuchen, ob ſie dem
ihr
zugetheilten Geſichtspunkt entſpricht, und, wenn dieß nicht
der
Fall iſt, ſie ihrem richtigen Geſichtspunkt unterordnen.
Da wir aber hier die Vergleichung objectiver Gebiete mit
den
vier Geſichtspunkten beabſichtigen, ſo müſſen wir auch
die
letztern von dem ausſchließlich ſubjectiven Sinn entklei-
den
, den ſie bei der Eintheilung der Wiſſenſchaften dritter
Ordnung
haben mußten, und wonach ſie nur die vier Stufen
der
Erkenntniß bezeichnen;
wir müſſen ſie nachweiſen als
nothwendige
Seiten eines jeden Daſeins.
Iedes Ding läßt
ein
doppeltes in ſich unterſcheiden.
1) Es beſteht. 2) Es
beſteht
auf eine gewiſſe Art.
Das Beſtehen ſowohl,
als
die Art des Beſtehens laſſen eine doppelte Auffaſſung
zu
, man betrachtet ſie entweder nach ihren einzelnen
Seiten
und Momenten, oder man betrachtet beide in
ihrer Totalität.
Beiſpiele für dieſe vier möglichen
Grundanſchauungen
werden wir nachher bekommen;
die
Uebereinſtimmung
mit den vier Geſichtspunkten aber liegt
klar
vor Augen.
Das Beſtehen eines Dings in einem
Moment
, nach einer zufälligen Außenſeite
ge-
nommen
, iſt der autoptiſche Geſichtspunkt, welcher die
Stufe
des Erkennens iſt, das bei der unmittelbaren
Wahrnehmung
ſtehen bleibt.
Das Beſtehen eines
Dings
nach ſeiner Totalität genommen
ſtimmt
zuſammen
mit dem cryptoriſtiſchen Geſichtspunkt, wel-
cher
auch das hinter der unmittelbaren Wahrnehmung Ver-
ſteckte
, alſo das Ganze einer Sache empiriſch er-
forſcht
.
Eine Sache beſteht aber unter verſchiedenen
Umſtänden
und zu verſchiedenen Zeiten auf ver-
126112 ſchiedene Arten. Die Geſetze dieſer verſchiedenen Er-
ſcheinungsformen
zu entwickeln, iſt die Aufgabe des tro-
ponomiſchen
Geſichtspunktes
.
Die Erkenntniß dieſer
Wechſelbeziehungen
und der in ihnen herrſchenden Geſetze
ſetzt
natürlich die empiriſche Kenntniß dieſer beſondern nach
ihrem
gemeinſamen Totalbeſtand voraus, gerade wie ein
Ding
auf eine gewiſſe Art nur beſtehen kann,
wenn
das Beſtehen deſſelben überhaupt möglich
iſt
, der troponomiſche Geſichtspunkt ſetzt den cryptoriſti-
ſchen
voraus.
Wird die Art des Beſtehens eines
Dings
nach der Totalität
ihrer Seiten genommen,
ſo
iſt dieß der objective Ausdruck des cryptologiſchen
Geſichtspunktes
und entſpricht ganz dem ſubjectiven Ausdruck
deſſelben
, welcher die den mannigfaltigen Erſchei-
nungsweiſen
eines Dings zu Grund liegenden
Geſetze
auf
Eine Grundurſache zurückführt.
Die
Wechſelbeziehung
der ſubjectivmethodiſchen und der objectiven
Auffaſſung
der vier Geſichtspunkte iſt alſo folgende:
die
zwei
erſten Geſichtspunkte (von Ampère oft die elementaren
Wiſſenſchaften
genannt) verhalten ſich, bei der ſubjecti-
ven
Faſſung
, zu den beiden höheren Geſichtspunkten,
wie
empiriſches Material zu den allgemeinen
Geſetzen
, welche daraus entwickelt werden
, wie
Material der Erkenntniß zur wirklichen Erkenntniß
der
darin enthaltenen Wahrheiten
;
dieſer Unter-
ſchied
iſt nichts anderes, als der von uns aufgeführte ob-
jective
Gegenſatz des bloſen Beſtehens zu den For-
menverhältniſſen
deſſelben;
daß nun dieſe Wahrheiten
bald
als eine Vielheit, bald als reducirt auf eine oberſte
Einheit
erſcheinen;
daß jenes Material entweder theilweis
oder
vollſtändig iſt, gibt auf einfache Art die vier Geſichts-
punkte
.
Gehen wir nun zu der oben bezeichneten Anwendung
der
vier Geſichtspunkte über, ſo kann bei der Arithmologie
kein
Zweifel ſein, daß ſie dem autoptiſchen Geſichtspunkt
127113 zugehört, denn die Zahl, in welcher eine Sache erſcheint,
iſt
gewiß das äußerlichſte und ganz an der Oberfläche lie-
gende
Moment des Beſtehens einer Sache.
Die Geometrie wird von Ampère dem cryptori-
ſtiſchen
Geſichtspunkt zugetheilt, aber mit welchem Recht?
Was iſt denn die räumliche Beziehung eines Dinges, daß
ſie
das Recht gäbe, den Raum als ein hinter einem Aeußern
verborgen
Liegendes anzunehmen?
Iſt nicht vielmehr der
Raum
eine ebenſo oberflächliche Beziehung an den Dingen,
wie
die Zahl?
Hinter einer Zahl liegt das, was gezählt
wird
;
hinter dem Ort, dem Raum, liegt die Ma-
terie
, die ihn ausfüllt
, die ſich in ihm bewegt.
Der
Raum iſt alſo ebenſo dem autoptiſchen Geſichtspunkt
zugehörig
, wie die Zahl;
und was iſt denn Zahl anders,
als
discretgedachte Raum- und Zeittheile?
Durch die bisherigen Bemerkungen iſt bereits auch
über
die Stellung entſchieden, welche Ampère der Mechanik
gibt
;
ſchon deßhalb, weil die zwiſchen der Arithmologie und
Mechanik
gelegene Geometrie dem autoptiſchen Geſichtspunkt
zufällt
, kann man a priori annehmen, daß die Wiſſenſchaft,
welche
der natürlichen Reihefolge nach auf die Geometrie
kommt
, nemlich die Mechanik, dem cryptoriſtiſchen, und nicht
wie
Ampère glaubt, dem troponomiſchen Geſichtspunkt zu-
fallen
muß.
Doch die Gründe hierfür müſſen aus der
Sache
ſelbſt genommen werden.
Ampère nennt die Me-
chanik
eine troponomiſche Wiſſenſchaft, weil ſie von Bewe-
gungen
, alſo von Veränderungen handelt, und dieſes der
Grundcharacter
des troponomiſchen Geſichtspunkts ſei.
Dieß
iſt
aber, ſeinen eigenen Begriffsbeſtimmungen gegenüber,
viel
zu flach aufgefaßt.
„Der troponomiſche Geſichtspunkt”
ſagt
Ampère, „bezieht ſich auf die allmähligen Veränderungen,
die
ein und derſelbe Gegenſtand theils für die unmittelbare
Wahrnehmung
, theils in Hinſicht auf das, was erſt durch
weitere
Zerlegung gefunden werden kann, erleidet;
u. ſ. f.
Man
ſieht, daß hier von weſentlichen Veränderungen
128114 die Rede iſt; iſt denn aber die Bewegung eine weſentliche
Veränderung
?
Das Weſen der Bewegung iſt ja ge-
rade
das, daß der Körper im Wechſel der Orte ſich
ganz
gleich bleibt
, ſich nicht verändert, und eben deß-
halb
iſt die Mechanik nicht, wie Ampère meint, eine tro-
ponomiſche
Wiſſenſchaft, ſondern eine cryptoriſtiſche,
denn
die Materie iſt das hinter dem Raum Stehende;
eben weil ſie das Daſein iſt, das im Wechſel des Orts
identiſch
bleibt;
ſie verhält ſich zum einzelnen Ort, wie das
totale Beſtehen einer Sache zum einzelnen Moment.
Daß Ampère die Uranologie von der Mechanik
als
eine ebenſo ſelbſtſtändige Wiſſenſchaft erſter Ordnung
trennt
, wie die Mechanik von den mathematiſchen Wiſſen-
ſchaften
im engern Sinn, iſt ſo wenig zu rechtfertigen, als
die
Trennung der Arithmologie von der Geometrie.
Es
herrſchen
in der Uranologie ganz dieſelben Geſetze der Attrac-
tion
und Repulſion, wie in der Mechanik, und ſie gehören
auch
zu Einem Geſichtspunkt, indem die Materie in Form
des
Planeten und der übrigen Himmelskörper um nichts
weniger
cryptoriſtiſch ſich verhält, als jede andere Materie,
und
der Unterſchied, daß die Mechanik es nur mit möglichen
(ſollte heißen zufälligen), die Uranologie mit wirklichen (ſollte
heißen
nothwendigen) Bewegungen zu thun habe, iſt gar
zu
gering, als daß er einen ſo großen Unterſchied recht-
fertigen
könnte.
Wir haben nun die vier Wiſſenſchaften erſter Ordnung,
welche
Ampère in der Provinz der mathematiſchen Wiſſen-
ſchaften
vereinigt, in zwei Wiſſenſchaften zuſammengezogen,
die
mathematiſchen Wiſſenſchaften im engern Sinn,
welche
den autoptiſchen Geſichtspunkt repräſentiren, und
die
mechaniſchen Wiſſenſchaften, welche dem cryptori-
ſtiſchen
Geſichtspunkt entſprechen.
Ehe wir aber zu den
weiteren
Provinzen Ampère’s übergehen, müſſen wir eine
allgemeine
Bemerkung über dieſelben einſchieben.
Ampère
führt
von nun an auch ſolche Wiſſenſchaften als weſentliche
129115 Beſtandtheile der Eintheilung auf, welche nur die techni-
ſche
Anwendung
des in andern Wiſſenſchaften Gelehrten
für
gewiſſe practiſche Zwecke des Menſchen enthalten.
Dieſe
techniſchen
Wiſſenſchaften hinderten nicht, die Reihenfolge,
in
welcher man von den Gruppirungen der Wiſſenſchaften
abſieht
, richtig aufzuſtellen.
Für die Frage nach der bloſen
Reihenfolge
iſt es ganz gleichgültig, ob eine Wiſſenſchaft
als
bloſes Corollarium einer andern oder als ſelbſtſtändiger
weſentlicher
Theil erſcheint.
Wenn aber Gruppen gebil-
det
werden, ſo wird das ganze Netz der Eintheilung ver-
ſchoben
, wenn man eine Wiſſenſchaft als ein weſentliches
Glied
der Eintheilung nimmt, welche in der That kein ſol-
ches
iſt.
Sie verſperrt einem weſentlichen Theil den Platz,
und
dieſer weſentliche Theil kommt an eine falſche Stelle.
Daß aber bei einer Eintheilung der Naturwiſſenſchaften, in
welcher
auch der objective Naturzuſammenhang hervortreten
ſoll
, die techniſchen Wiſſenſchaften ungehörige Beigaben ſind,
und
blos als unſelbſtſtändige Corollarien angeſehen werden
müſſen
, iſt von ſich ſelbſt klar, da ſie nichts als die Wie-
derholung
und detaillirteren Conſequenzen von früher Vor-
gebrachtem
ſind.
Die Wichtigkeit, welche dieſe Corollarien
für
den Menſchen haben, gehen den Naturzuſammenhang
nichts
an.
Dieſer iſt in ſich ſelbſt ſymmetriſch und harmo-
niſch
.
Will Ampère die techniſchen Wiſſenſchaften als ſelbſt-
ſtändig
gelten laſſen, ſo muß er darauf verzichten, ein Ab-
bild
der Natur zu geben.
Will er die Natur in ſeinem
Syſtem
wiederſpiegeln, ſo darf alles techniſche Wiſſen nur
als
Corollar auftreten (was nicht hindert, daß dieſe Corol-
larien
in ſich ſelbſt ganz organiſch geordnet ſind).
Ampère
iſt
ſich dieſes Dilemma’s nicht bewußt
;
wenn er
die
mathematiſchen Wiſſenſchaften dem autoptiſchen, die
Thierwelt
dem troponomiſchen Geſichtspunkt zutheilt, ſo ſind
dieß
ſolche glückliche Blicke in den objectiven Gang der Na-
turſtufen
, daß man nicht zweifeln kann, er wolle die reale
Natur
wiederſpiegeln;
und doch zerſtört er dieſe Symmetrie
130116 wieder vollſtändig durch die Aufnahme der techniſchen Wiſſen-
ſchaften
.
Wir werden nun bei der weiteren Critik die tech-
niſchen
Wiſſenſchaften gänzlich außer Augen laſſen, und die
andern
Wiſſenſchaften ſo ordnen, daß ihr Geſammtzuſammen-
hang
der Natur entſpricht.
Ampère hat mit der Uranologie eine Provinz von vier
Wiſſenſchaften
erſter Ordnung abgeſchloſſen und er gibt
dieſer
Provinz, welche nach ihm nur das mathematiſche und
mechaniſche
Wiſſen in ſich begreift, in ihrer Geſammtheit
genommen
den Charakter des autoptiſchen Geſichtspunkts,
der
nächſten Provinz, welche nach ihm die allgemeine Phyſik
und
die Geologie in ſich begreift, theilt er den cryptoriſti-
ſchen
Geſichtspunkt zu, und innerhalb dieſer cryptoriſtiſchen
Provinz
repräſentirt die allgemeine Phyſik bei Ampère den
autoptiſchen
Geſichtspunkt.
Da wir genöthigt waren, die
vier
Wiſſenſchaften von Ampère’s erſter Provinz auf zwei
zu
reduciren, welche nur den autoptiſchen und cryptoriſti-
ſchen
Geſichtspunkt repräſentiren, ſo iſt dieſe erſte Provinz
bei
unſerer Auffaſſung noch nicht vollſtändig, und wir müſſen
die
Feſtſtellung des allgemeinen Charakters der erſten Pro-
vinz
aufſchieben, bis wir ſie vervollſtändigt und ihre Be-
ziehung
zur zweiten Provinz feſtgeſetzt haben.
In der natürlichen Reihenfolge der Wiſſenſchaften kommt
nach
der Mechanik und Uranologie die allgemeine Phyſik.
Der gemeinſame Begriff, welcher den beiden mechaniſchen
Wiſſenſchaften
zu Grunde liegt, iſt die Materie, die den
Raum
ausfüllt und ſich in ihm bewegt.
Dieß iſt die all-
gemeine
Eigenſchaft jeder Materie.
Aber es gibt nicht blos
Eine
Materie, die überall ſich ſelbſt gleich iſt.
Außer dieſer
gemeinſchaftlichen
Grundeigenſchaft, wodurch die Materie als
ſolche
iſt und beſteht, gibt es auch noch unendliche Unter-
ſchiede
, eine Menge verſchiedener Eigenſchaften, die ſich ge-
genſeitig
ausſchließen, welche auf die verſchiedenen Theile
der
Materie vertheilt ſind, durch welche dieſe ſich von einan-
der
unterſcheiden, aber auch wieder in Wechſelbezug kom-
131117 men, ja welche an einer und derſelben Materie zu verſchie-
denen
Zeiten verſchieden ſind.
Der Geſichtspunkt aber,
welcher
, nachdem der allgemeine Beſtand einer Sache er-
gründet
iſt, nun auch die verſchiedenen Erſcheinungsarten
derſelben
zu verſchiedenen Orten und Zeiten unterſucht, iſt
unverkennbar
der troponomiſche, und dieß iſt der Ge-
ſichtspunkt
, unter welchen die Phyſik fällt.
Der Haupt-
fehler
Ampère’s in Betreff der Phyſik liegt darin, daß er
ſie
ſchon in eine höhere Provinz aufnimmt, während ſie
noch
in die erſte gehört.
Daß er ihr dann in dieſer höhe-
ren
Provinz den autoptiſchen Geſichtspunkt zutheilt, war
nun
freilich notwendig und auch dem Charakter der Ge-
ſichtspunkte
nicht allzuwiderſprechend, da in der That der
troponomiſche
Geſichtspunkt eine Analogie mit dem autop-
tiſchen
hat (wie ſchon Ampère auf die Analogie des cryp-
toriſtiſchen
mit dem cryptologiſchen hingewieſen hat), und,
wenn
einmal die wahre Eintheilung ins Schiefe verſchoben
iſt
, eine troponomiſche Wiſſenſchaft einer niederen Provinz
ohne
vielen Zwang als autoptiſche Wiſſenſchaft der nächſt
höhern
Provinz gedeutet werden kann.
Die Technologie laſſen wir weg, da wir ſie in dieſer
objectiven Eintheilung der Naturwiſſenſchaften nur als
Corollarium
der Phyſik anſehen können, und laſſen ſomit
auf
dieſe ſogleich die Geologie als ſelbſtſtändige Wiſſenſchaft
folgen
.
Die Geologie hat ein doppeltes Object, wie auch
die
Mechanik, nemlich den einzelnen zufälligen Körper
und
den Planeten.
Die hierher gehörigen Wiſſenſchaften
betrachten
den einzelnen Körper nicht blos im Zuſam-
menhang
mit dem Ganzen
als Object der Geologie
und
Mineralogie, ſondern auch ganz für ſich allein genom-
men
hat der einzelne Körper ſeine mineralogiſche Seite,
welche
keineswegs durch die phyſicaliſchen Betrachtungen er-
ſchöpft
iſt.
Dieß iſt die Geſtalt und das Gefüge des Kör-
pers
, die auch die Grundlage eines natürlichen mineralogi-
ſchen
Syſtems ſind.
Die Geſtalt iſt bei allen chemiſch-phy-
132118 ſicaliſchen Unterſuchungen eine unweſentliche Sache, aber
bei
der Mineralogie iſt ſie die Hauptſache.
Auch Ampère
ſieht
dieß ſo an, doch überwiegt bei ihm der Gedanke, daß
in
der Geologie die beſondern Körper in ihrem Verhältniß
zum
planetariſchen Ganzen nach ihrem verſchiedenen Vor-
kommen
an verſchiedenen Orten und zu verſchiedenen Zeiten
betrachtet
werden;
deßhalb beſtimmt er die Geologie als die
troponomiſche
Wiſſenſchaft der zweiten Provinz.
Hätte er
aber
, wie man nicht anders kann, den Hauptaccent auf die
Eigenthümlichkeit
gelegt, durch welche ſich auch ſchon das
einzelne
Mineral über die bloſe phyſicaliſche Auffaſſung er-
hebt
, nemlich die Form, ſo hätte er ſehen müſſen, daß der
troponomiſche
Geſichtspunkt keineswegs der durchherrſchende
Charakter
der geologiſchen Wiſſenſchaften iſt, ſondern daß er
nur
in derſelben untergeordneten Weiſe vorkommt, wie er
in
der Phytonomie und der Zoonomie ſich darſtellt;
wenn
aber
der troponomiſche Geſichtspunkt nicht der charakteriſti-
ſche
iſt für die geologiſchen Wiſſenſchaften, welcher iſt es
dann
?
Nach unſerer Auffaſſung iſt die Antwort nicht mehr
ſchwer
.
Wir hatten die Phyſik als eine troponomiſche Wiſ-
ſenſchaft
erkannt, und müſſen ſchon aus der natürlichen
Reihenfolge
vermuthen, daß das unmittelbar darauf folgende
geologiſch-mineralogiſche
Wiſſen dem vierten Geſichtspunkt
entſprechen
werde;
die Unterſuchung deſſen, was Form iſt,
wird
dieſe Vermuthung beſtätigen.
In der Form iſt
der
Körper vollendet
, was er noch nicht war, ſo lang
man
ihn blos als Materie mit gewiſſen phyſikaliſchen Qua-
litäten
betrachtete.
In der Form iſt die phyſicaliſch-qualifi-
cirte
Materie in ein individuelles Sein, in eine Einheit
zuſammen
gefaßt.
Form iſt der Artbeſtand eines Dings
in ſeiner Totalität aufgefaßt, was wir als den
cryptologiſchen Geſichtspunkt dargeſtellt haben, welcher
gleichfalls
den übrigen drei Geſichtspunkten als Schlußpunkt
und
Krone dient.
Nun wird man mir aber einwenden, daß dieſe Seite,
133119 Vollendung durch die Form, nicht blos an den Mineralien,
ſondern
auch an Pflanzen, Thieren, Menſchen u.
ſ. f. vor-
kommt
, und in dieſen Gebieten allen noch in weit vollkomm-
nerem
Maas.
Ich gebe dieß zu und verlege, wegen dieſer
gemeinſchaftlichen
Grundlage, die Geſammtheit aller geſtal-
teten
Körper in den cryptologiſchen Geſichtspunkt.
Die
Arten
dieſer geſtalteten Weſen ſind aber ſelbſt wieder vierer-
lei
, Mineral, Pflanze, Thier und Menſch.
In Allen iſt phyſicaliſche Materie in einer gewiſſen
Geſtalt
, aber die Geſtalt ſelbſt iſt in vier verſchiedenen Stufen
geordnet
.
Auch dieſe vier Stufen ſtehen in dem oben er-
wähnten
organiſchen Stufenverhältniß, wo das höhere jede
niedere
Stufe in modiſicirter Form in ſich enthält, das
niedere
aber auch ohne das höhere ſein kann.
Vergleichen
wir
die Stufen näher mit einander:
Bei dem Mineral
iſt
die Flüſſigkeit, woraus daſſelbe entſtanden, ganz in
dem Solidum abſorbirt;
der Stoff des Minerals
iſt
nicht fähig, heterogene Materien zu aſſimi-
liren
und ſich auf Koſten der umgebenden Welt zu ver-
größern
, zu wachſen, ſeine Form zu verändern;
ſeine Form bleibt ſo, wie ſie im Anfang war,
nach
der erſten Bildung, und bleibt gebunden
an
denſelben phyſicaliſchen Stoff
.
Da es für die
Form
ganz unweſentlich iſt, ob ſie aus dieſem oder jenem
Theil
einer gewiſſen phyſicaliſchen Materie beſteht, ſo iſt
alſo
in dieſem Fall die Form an einen einzelnen zufälligen
Stoff
gebunden, wie eine Materie an den zufälligen Ort,
in
dem ſie ſich gerade in einem Moment befindet.
Die
Analogie
dieſer erſten Stufe der Formen mit der erſten
Stufe
, in der wir die ſtoffliche Grundlage auffaßten, iſt
nicht
zu verkennen.
Der Stein repräſentirt alſo die
autoptiſche
Unterabtheilung des cryptologi-
ſchen
Geſichtspunkts
.
Bei der Pflanze geht das
Bildungsfluidum
nicht in den ſoliden Formen
auf
.
Dieß Pflanzenfluidum iſt fähig, hetero-
134120 gene Materien zu aſſimuliren und ſich auf Koſten
der
umgebenden Welt zu vermehren
, und in Folge
dieſer
Vermehrung der Bildungsflüſſigkeit werden zu den
alten hin immer neue feſte Theile gebildet,
alſo
die Form verändert
.
Hier iſt alſo ein Geſtal-
tungsproceß
, welcher auch in Berührung mit verſchiedenen
Stoffen
ſich erhält, der über die erſte Bildung hinaus-
tritt
, der hinter und mittelſt der bereits vorhandenen Ge-
ſtalt
ins Unendliche immer wieder neue Bildungen hervor-
treibt
, analog der Materie, welche ſich durch verſchiedene
Oerter
bewegt, alſo frei iſt von jedem einzelnen Ort.
Die
Analogie
dieſer zweiten Stufe der Formen mit der zweiten
Stufe
, in der wir die ſtoffliche Grundlage auffaßten, iſt
nicht
zu verkennen.
Die Pflanze repräſentirt alſo
die
cryptoriſtiſche Unterabtheilung des crypto-
logiſchen
Geſichtspunktes
.
Wie in der Mechanik erſt
das
materielle Beſtehen eines Körpers, abgeſehen von ſeinen
phyſicaliſchen
Eigenſchaften, betrachtet wurde, ſo geht auch
bei
der Pflanze alle Thätigkeit in der Erzeugung neuer
Pflanzentheile
auf.
Iſt einer erzeugt, ſo iſt er wieder Un-
terlage
für neue Bildungen, und darin iſt ſeine ganze Thä-
tigkeit
erſchöpft.
Bei dem Thier aber ſind außer der
Thätigkeit
, welche blos auf Beſtehen und Er-
zeugen
gerichtet iſt, noch andere Thätigkeiten vor-
handen
.
Der Zeugungsproceß, in welchem ſich
das
Pflanzenleben endlos ergießt, iſt bei dem Thier auf
die
Bildung individueller ſelbſtiſcher Körper
zuſammengezogen
, welche nun die Träger höhe-
rer
Actionen werden können, der Empfin-
dung
und freien Bewegung
, mittelſt welcher ſich dieſe
Individuen
gegen alles außer ihnen als ein beſonderes ab-
ſcheiden
, und auf eben dieſes Andere wirken, wie der phyſi-
caliſche
Körper mittelſt ſeiner Eigenſchaften ſich von Anderm
unterſcheidet
und auf Anderes wirkt;
und wie die phyſica-
liſche
Materie in ihren Eigenſchaften ſich gleich bleibt trotz
135121 allem Wechſel des Orts, ſo bleibt ſich das Thier mit ſeinen
individuellen
Kräften gleich trotz allem Wechſel des Stoffs.
Das Thier iſt die troponomiſche Unterabthei-
lung
in der Stufenreihe der Formen
, welche unſer
cryptologiſcher
Geſichtspunkt unter ſich begreift.
Die Zuſammenfaſſung aller dieſer einzelnen Lebens-
gefühle
, Empfindungen, Triebe in der Einheit
eines
Bewußtſeins iſt erſt im
geiſtigen Leben mög-
lich
, und dieß verhält ſich alſo zur thieriſchen Seele wie
die
Form eines Körpers überhaupt zu den mannigfaltigen
Eigenſchaften
, welche in jener zur Einheit zuſammengefaßt
ſind
.
Das geiſtige Leben iſt alſo die cryptologi-
ſche
Unterabtheilung des cryptologiſchen Ge-
ſichtspunktes
;
es iſt die Form auf der Stufe der
Form
;
die Form, die ſich ſelbſt erreicht hat.
Das Schema unſerer Eintheilung iſt alſo folgendes:
11
Das
geiſtige \\ Leben # Menſch.
Organiſches
\\ Leben # Thier. # (Organik) Form.
# Pflanze.
# Mineral.
# Unorganiſches \\ Sein. # Phyſik (Qualitäten).
# # Mechanik (Materie und Bewegung).
# # Mathematik (Raum und Zeit).
Betrachten wir nun dieß Schema näher, ſo bemerken
wir
außer den Beziehungen, die wir im Bisherigen zwiſchen
den
beiden Seiten des Schema’s nachgewieſen haben, auch
noch
folgende Unterſchiede:
In allen beiden Seiten ſetzt das
Höhere
ſämmtliche niedern Stufen voraus;
wie auch die
2
22Dieſe ganze Analogie der drei Stufen der unorganiſchen Natur mit
den
drei Reichen der organiſchen iſt in allen ihren merkwürdigen
Details
entwickelt in meinen „Weſen der Natur; wie z. B. der
phyſicaliſche
Körper leuchtet, klingt u. ſ. f., ſo hat das Thier Aug,
Ohr
, Stimme u. ſ. f.
136122 organiſche Seite die unorganiſche vorausſetzt. Aber wäh-
rend
auf der organiſchen Seite eine niedere Stufe für ſich
exiſtiren
kann, ohne die höhere, iſt ein Gleiches auf Seite
der
unorganiſchen Stufenleiter nicht der Fall.
Hier kann
eine
niedere Stufe ohne die höhere nicht exiſtiren.
Es gibt
keinen
Raum, der nicht ausgefüllt wäre, keine ausfüllende
Materie
, die nicht irgend welche Eigenſchaften hätte, es gibt
keine
ſolche Materie, die gar keine Art von Form beſäße;
dieſe Unterſchiede haben ihren einfachen Urſprung in den
allgemeinen
Grundſätzen:
1) Bei jeder Sache iſt ein Sub-
ſtrat
und eine Form;
alſo 2) kann man weder von einer
Sache
alle ihre Subſtrate oder eines ihrer Subſtrate weg-
laſſen
, noch auch kann man vom Subſtrat ſelbſt irgend eine
und
die andere Seite weglaſſen;
3) ebenſowenig aber kann
man
ein Subſtrat ohne alle Form denken;
aber 4) dieſe
Form
kann bald blos eine niedere, bald eine höhere ſein,
welche
die niedere in ſich ſchließt.
Eine unorganiſche Natur
neben einer organiſchen gibt es alſo gar nicht, das Un-
organiſche
iſt blos eine beſondere Seite am Organiſchen,
die
Unterlage deſſelben.
Daß nach Abſtraction von der
Form
die Materie noch in drei Erſcheinungsweiſen ſich
darſtellt
, die aber nicht in der Eriſtenz, ſondern nur im Ge-
danken
getrennt ſich zeigen, daß ferner die Form in drei
Naturreiche
und ein geiſtiges Reich, das über ihnen ſteht, ſich
gliedert
, das kommt von den vier Geſichtspunkten, den we-
ſentlichen
Categorien alles Seins, die ſich in der Form, wie
in
der Materie ausdrücken müſſen.
Man wäre auf dieſe
Eintheilung
gekommen, auch wenn man oben angefangen
hätte
, und nicht von unten, wie wir gethan haben.
Dann
hätte
man durch Analyſe des Menſchen das geiſtige Gebiet
und
die drei organiſchen Formen gefunden, die ſich auch
1
11Man wendet vielleicht Luft und Waſſer ein; aber auch dieſe haben
eine
Form im weitern Sinn, und beide bleiben ſich gegen Aeußeres
mit
einer gewiſſen Selbſterhaltung gleich.
137123 außerhalb des Menſchen ſelbſtſtändig realiſiren; und als
Grundlage
dieſer ſämmtlichen organiſchen Formen hätte man
die
Materie nach ihren drei Auffaſſungsweiſen auseinander
gelegt
.
Auf dieſe wie auf die andere Art wäre die Ein-
theilung
auf gleiche Weiſe zu Stande gekommen, nur in
verſchiedener
Form;
war das erſte Mal die Ableitung dieſe:
11
# cryptologiſch # Organiſches Leben.
# troponomiſch
# cryptoriſtiſch
cryptologiſch
# autoptiſch
troponomiſch
# Unorganiſche \\ Seite.
cryptoriſtiſch

autoptiſch

ſo wäre ſie das zweite Mal umgekehrt geweſen:
22
Organiſches
Leben # cryptologiſch
# troponomiſch
# cryptoriſtiſch
# autoptiſch # cryptologiſch
# Unorganiſche \\ Seite # troponomiſch
# # cryptoriſtiſch
# # autoptiſch.
In beiden Fällen aber iſt es eine einfache Einthei-
lung
, eine einmalige Gliederung der vier Geſichtspunkte,
welche
das ganze endliche Daſein umfaßt, denn die andere
Gliederung
iſt keine coordinirte, ſondern einem beſon-
dern
Geſichtspunkt untergeordnet, während bei Ampère
die
beiden Gebiete vollkommen coordinirte Eintheilungen
beſitzen
, was nicht nur gegen die organiſche Rundung der
Eintheilung
, ſondern auch gegen die Naturwahrheit iſt.
Wir wollen nun von dem gewonnenen Standpunkt
aus
noch eine kurze Critik des Reſtes der Ampère’ſchen
Eintheilung
geben.
Ampère theilt die Provinzen gerade
ſo
wie die Wiſſenſchaften erſter Ordnung den verſchiede-
nen
Geſichtspunkten zu, und bringt vier Provinzen heraus,
die
mathematiſche, phyſicaliſche, naturhiſtoriſche und medici-
138124 niſche, und damit ſchließt ſich die Reihe der Naturwiſſen-
ſchaften
bei ihm rund, nach den vier Geſichtspunkten ab.
Wir haben den Grund angegeben, warum wir die medici-
niſchen
Wiſſenſchaften in einem objectiven Syſtem unter die
naturhiſtoriſchen
Wiſſenſchaften einreihen müſſen;
dieſe vierte
Provinz
fällt alſo weg;
um jedoch uns leichter mit Ampère
verſtändigen
zu können, wollen wir an die Stelle der me-
diciniſchen
Wiſſenſchaften ſein ganzes noologiſches Reich
ſetzen
, die Wiſſenſchaft des Menſchen, der ja ohnehin auch
als
Theil der Naturwiſſenſchaften durch die Medicin reprä-
ſentirt
iſt.
Dieſes iſt um ſo nöthiger, da bei jeder Frage
über
Eintheilungen das Ganze, was eingetheilt werden
ſoll
, vor Augen liegen muß.
Betrachten wir nun dieſe vier großen Gruppen bei Ampère, ſo wäre ſomit das ganze Sein
nach
den vier Geſichtspunkten geordnet.
Dieß iſt jedoch
anders
:
Ampère’s phyſicaliſche Provinz haben wir getrennt,
die
geologiſch-mineralogiſchen Wiſſenszweige haben wir dem
organiſchen
Gebiete zugetheilt, darf nun wohl die allgemeine
Phyſik
noch als eine Provinz für ſich zwiſchen den mathe-
matiſchen
und mechaniſchen Wiſſenſchaften einerſeits, und
den
Wiſſenſchaften des organiſchen Lebens andererſeits da-
ſtehen
?
Iſt die Mechanik nicht eben ſo ſcharf von der Ma-
thematik
unterſchieden als von der Phyſik?
Wenn aber die
Mechanik
zu der Mathematik gerückt wird, ſo iſt kein Grund,
die
Phyſik von beiden zu trennen.
Ampère nennt die ma-
thematiſch-mechaniſche
Provinz eine autoptiſche Provinz,
und
die allgemeine Phyſik führt er als die erſte Wiſſenſchaft
einer
zweiten (cryptoriſtiſchen) Provinz auf.
Er thut dieß,
weil
die Phyſik das, was man in der Mathematik und
Mechanik
nur nach einer allgemeinen Eigenſchaft (Größe, Maas,
mechaniſche
Kräfte) kennen gelernt habe, nun im Beſondern
kennen
lehre.
Aber dieß iſt nicht der Schritt der Erkenntniß,
welche
das Eigenthümliche des cryptoriſtiſchen Geſichtspunkts iſt.
1
11Vergleiche die Tabelle Seite 102.
139125
Der cryptoriſtiſche Geſichtspunkt dringt von einer zu-
fälligen
Wahrnehmung zur Geſammtheit der Wahrnehmun-
gen
, die man über eine Sache machen kann, vom Theil zum
Ganzen
;
der troponomiſche Geſichtspunkt aber iſt es, welcher
nach
vollſtändiger allgemeiner Erkenntniß einer Sache nun
auch
die Unterſchiede, die Beſonderheiten und ihre Geſetze
aufſucht
.
Dieß iſt das Geſchäft der Phyſik; darum iſt ſie
uns
die dritte Wiſſenſchaft des unorganiſchen Gebiets, und
ſie
als Theil einer cryptoriſtiſchen Provinz aufzufaſſen, dazu
iſt
, wie erwähnt, kein Grund da.
Wollen auch wir ganze
Provinzen
eintheilen, ſo fällt auf, daß in die erſte Provinz
nur
drei Wiſſenſchaften fallen können, denn der vierte Ge-
ſichtspunkt
iſt es ja gerade, deſſen Unterabtheilungen eine
höhere
Provinz bilden, nemlich die organiſchen Reiche und
den
Menſchen;
und dieſer, die vierte Unterabtheilung, ſammt
ſeinen
weiteren Unterabtheilungen iſt ſelbſt wieder eine höhere
Sphäre
gegen die Naturreiche, und ſo kommt das ſonder-
bare
Reſultat heraus, daß jedesmal der cryptologiſche Ge-
ſichtspunkt
eine höhere Sphäre bildet gegen die drei ihm
vorausgehenden
Stufen, und daß ſomit eine Provinz, will man nicht ganz Heterogenes zuſammen werfen, nur aus
drei
Stufen beſtehen kann.
Da nun Ampère’s phyſicaliſche
Provinz
zertrennt und ein Theil, die allgemeine Phyſik, in
die
Provinz der unorganiſchen Wiſſenſchaften, der andere
Theil
, die Geologie und Mineralogie, zu den organiſchen
Wiſſenſchaften
geſtellt wurde, ſo haben wir nur noch fol-
gende
drei Hauptabtheilungen:
1) die Provinz der unorganiſchen Wiſſenſchaften;
2) die Provinz der organiſchen Wiſſenſchaften;
3) die Wiſſenſchaften des geiſtigen Lebens.
Verſuchen wir auch hier die vier Geſichtspunkte, ſo iſt
die
unorganiſche Seite aller Weſen eine Wechſel-
1
11Daſſelbe Geſetz finden wir auch bei den Wiſſenſchaften dritter Ord-
nung
, wo die cryptologiſche Wiſſenſchaft auf ein höheres Gebiet
überführt
.
140126 wirkung nach dem bloßen, unmittelbaren, materiellen Be-
ſtand
, autoptiſch.
In den organiſchen Reichen
ſtreben
die Naturdinge dieß materielle Subſtrat dem geſtal-
tenden
Einfluß eines innewohnenden Lebens zu unterwerfen,
welches
hinter der äußern materiellen Erſcheinung liegt
der cryptoriſtiſche Geſichtspunkt.
Die höchſte Form
iſt
der Geiſt;
dieſer iſt dem Menſchen gegeben, aber in
mannigfacher
Vertheilung, den verſchiedenen Menſchen auf ver-
ſchiedene
und daher für jeden auf beſchränkte Weiſe der
troponomiſche
Geſichtspunkt.
Der cryptologi-
ſche
Geſichtspunkt
muß dahin fallen, wo alle Materien,
alle
Formen, alle Beſeelung und geiſtiges Leben ihren Ur-
ſprung
haben, in den Urgrund aller Dinge, in Gott.
Wollte man analog dem Gebiet des unorganiſchen Seins
und
der organiſchen Reiche auch in der Menſchenwelt Stufen
und
Grade machen, ſo müßte ſich auch hier das Geſetz nach-
weiſen
laſſen, daß der, welcher in den oberſten Grad tritt,
aus
ſeiner Sphäre in eine höhere ſich erhebt, d.
h. ein
Menſch
, welcher den höchſten Punkt der Menſchheit erreicht
hat
, würde ein göttliches Leben in ſich haben, mit Gott
ſelbſt
verbunden ſein.
So ſind alſo bei unſerer Auffaſſung
die
vier Geſichtspunkte auch an der geſammten Welt ge-
rechtfertigt
, was Ampère nicht that;
er hat ſie blos auf die
beiden
großen Reiche, der Natur und des Geiſtes, auf jedes
ins
Beſondere, nicht aber auf den Zuſammenhang beider in
einem
größeren Ueberblick angewendet, wie wir;
faſſen wir
das
Schema blos nach reellen Exiſtenzen, ſo iſt es ſo:
11
Endliche
Welt. # Gott.
# Der Menſch.
# Die organiſchen Naturreiche.
# Nichts
2
22Denn die unorganiſche Seite iſt in der That ein Nichts, ſie iſt gar
nichts
Reelles, für ſich Beſtehendes, ſie iſt nur an einem Andern,
an
dem Organiſchen, und doch von dieſem Andern zu un-
terſcheiden
.
141127
So weit die critiſche Umgeſtaltung des Ampère’ſchen
Syſtems
.
Sein Grundprincip iſt vollkommen richtig und
durch
die weiteren Anwendungen, die wir hier nur theil-
weiſe
geben konnten, von der größten Wichtigkeit;
nur in
der
Anwendung hat es Ampère verfehlt, und dieſe allein
haben
wir geändert.
Ampère nennt mehrere Gründe für
die
Richtigkeit ſeines Syſtems:
1) er verweiſt auf die lange
Zeit
, die er darauf verwendet, da nur künſtliche Syſteme
ſchnell
aufgebaut werden können;
2) er behauptet, er ſei
nicht
eigenſinnig darauf beſtanden, Analogieen, die er an
einigen
Punkten des Syſtems bemerkt, durch das Ganze
durch
geltend zu machen;
er ſei vielmehr oft, geleitet durch
die
empiriſche Wahrheit, von den Analogieen abgegangen.
Dieſe beiden Punkte beweiſen nur, daß er das natürliche
Syſtem
geſucht hat, aber noch nicht, daß er es gefunden
hat
.
Er ſagt endlich 3), er ſei auf verſchiedenen Wegen
zu
demſelben Reſultate gekommen, auf Wegen, welche alle
gänzlich
von einander unabhängig ſeien.
Die Zuſammen-
ſtimmung
im Reſultate ſoll alſo die Richtigkeit jedes ein-
zelnen
Wegs beweiſen.
Dieß iſt aber nicht richtig. Aus
der
Richtigkeit jedes einzelnen Wegs folgt allerdings, daß
ſie
alle im Reſultat zuſammenſtimmen müſſen, aber umge-
kehrt
gilt die Folgerung nicht, denn es könnten ja möglicher-
weiſe
die einzelnen Wege alle falſch ſein und doch zufällig
im
Reſultate zuſammenſtimmen.
Ebenſowenig folgt aus der
Symmetrie
einer Eintheilung ihre Richtigkeit;
aber ebenſo
richtig
iſt, wie Ampère ſagt, daß man nicht aus der Sym-
metrie
auf Unrichtigkeit und Künſtlichkeit ſchließen darf, daß
vielmehr
das natürliche Syſtem, ſobald es nur vollſtändig
iſt
, auch ſymmetriſch ſein muß, und dieß nehmen wir auch
für
unſere Umgeſtaltung in Anſpruch.
Ueber das Verhältniß dieſer Philoſophie zu der deut-
ſchen
bedarf es nur weniger Worte.
Ich erinnere an das
in
der Einleitung Geſagte;
die deutſche Philoſophie beſtrebte
ſich
, den richtigen Organismus der Categorieen zu finden
142128 und von dieſem aus die Welt zu begreifen. Die franzöſi-
ſche
Philoſophie hatte ſich auf die Empirie geworfen, ſuchte
dieſe
ſyſtematiſch zu ordnen und zu den oberſten Principien
aufzuſteigen
.
Wir haben gezeigt, daß ſie ein ſolches gefun-
den
, wir haben auf andere Art, als Ampère, ſeine Anwen-
dung
nachgewieſen, und halten es für das Wahre.
In
der
deutſchen Philoſophie hat man Anfangs, als der richtige
Organismus
der Categorieen noch nicht gefunden war, die
objective
Welt, die mit den angenommenen Categorieen nicht
zuſammenſtimmte
, auf die Seite geſchoben (Kant, Fichte);
da dieß in die Länge nicht ging, verſuchte man es, die ob-
jective
Welt mit den Categorieen gewaltſam in Ueberein-
ſtimmung
zu bringen.
Man that der Welt der Objecte
Gewalt
an, bis die Categorieen darauf paßten (Schelling,
Hegel
).
Viele haben den Widerſtreit eingeſehen, der zwi-
ſchen
der wirklichen, unverſchrobenen Welt und der in das
Syſtem
eingeſpannten Welt herrſchte.
Sie haben auf den
Widerſpruch
hingewieſen, haben „Freiheit, „Leben, „per-
ſönlicher
Gott” u.
ſ. f. im Munde geführt, als Dinge, die
gegenüber
von dem gewaltſamen Syſtem gerettet werden
müſſen
.
Aber es blieb bei den Nothrufen, und man ſagte
ihnen
ganz mit Recht, „wenn Euch die einzelnen Conſe-
quenzen
des Syſtems nicht gefallen, ſo macht Euch ein
anderes
.
Doch die lauteu Rufer waren mit Unfruchtbar-
keit
geſchlagen, je durchgebildeter die Gliederung jener fal-
ſchen
Syſteme war, um ſo kläglicher trat die Unfähigkeit
der
lauten Opponenten hervor, einen vollgenügenden Erſatz
zu
geben, und ſie mögen ſich die einfache Weisheit merken,
geduldig
zu warten, bis Einer kommt, der Kraft hat, jenen
Erſatz
zu geben.
Meiner Anſicht nach iſt ein Solcher ge-
kommen
.
Daſſelbe Princip, das Ampère gefunden und nicht
anzuwenden
verſtand, wurde im Iahr 1836 in einer Reihe
philoſophiſcher
Theſen in ſeiner einfachſten Grundlage aus-
geſprochen
(Anfang und Ende der Speculation von Friedrich
Rohmer
, München, 1836).
Daſſelbe wurde ſeitdem von
143129 demſelben zu der umfangreichſten, in alle Fragen der Zeit
aufs
Tiefſte eingreifenden Lehre entwickelt, welche in dieſem
Augenblick
mit ihren practiſchen Conſequenzen hervorzutre-
ten
beginnt.
Ich nenne dieß Werk, um einem Mißver- ſtändniß vorzubeugen, welches aus der Zuſammenſtellung
der
in dieſem Werke gegebenen Analyſe der vier Lebens-
alter
mit den vier Grundcategorieen entſtehen könnte.
Beide
ſind
durchaus verſchieden, hängen aber auf das Engſte zu-
ſammen
:
die vier Grundcategorieen geben das Geſetz der
allmähligen
Compoſition höherer Eriſtenzformen aus
niedern
;
die vier Lebensalter ſind die Entwicklungsſtufen
einer ſolchen Eriſtenzform, als componirtes Ganze betrach-
tet
.
Der Zuſammenhang beſteht darin, daß in der erſten
Stufe
der Keimung und anfänglichen Bildung die auf das
Aeußerliche
und Einzelne gerichteten Thätigkeiten des erſten
und
dritten Punktes, in der Zeit jugendlicher Vollkraft und
männlicher
Conſolidirung die ein Ganzes erfaſſenden Kräfte
des
zweiten und vierten Punktes hervortreten, während in
der
Zeit der Altersreife das Leben wieder in die aufs
Aeußerliche
gehenden Actionen zurückſinkt.
In beiden Fällen
ſind
dieſelben Grundcategorieen wirkſam, aber wie verſchie-
den
die Compoſition von der Entwicklung des componirten,
ſo
verſchieden iſt auch die Ordnung der wirkenden Catego-
rieen
im erſten und zweiten Fall.
Ich ſelbſt habe, ohne dieß richtige Grundprincip zu
haben
, vor vier Iahren auf empiriſcher Baſis eine Natur-
philoſophie
(in meinem mehrfach erwähnten Werke) ſkizzirt,
deren
Grundanſchauung mit dem genannten Princip ganz
übereinſtimmt
.
Wenn ich von den wenigen Punkten ab-
ſehe
, welche durch die Anſichten dieſer Blätter eine Modifi-
cation
erleiden, iſt das in jener Schrift Ausgeſprochene noch
jetzt
meine Ueberzeugung, und man mag daſſelbe als einen
1
11Friedrich Nohmers Lehre von den politiſchen Parteien, Zürich bei
Chriſtian
Beyel, 1844.
144130 Verſuch anſehen, an die Stelle der früheren Naturphiloſo-
phie
, der Schellingiſchen wie der Hegeliſchen, eine andere
zu
ſetzen, welche die Idee mit der Erfahrung in zwanglo-
ſerer
, geſunderer Form vereinigt, als dieſe.
145
In demſelben Verlag erſchienen früher, und iſt durch alle Buch-
handlungen
zn beziehen:
Die moderne Philoſophie
oder

Die Perſönlichkeit Gottes.
Eine Kritik der Gottes-Lehre der modernen Philoſophie und
ihrer
Angriffe auf das chriſtliche Dogma
von
Immannel Paulus,
Mitvorſteher
und Lehrer der Philophie an der wiſſenſchaftl. Bildungsanſtalt auf dem
Salon
bei Ludwigsbnrg.
gr. 8. geheftet. Preis fl. 2. oder Rthlr. 1. 6 ggr.
Dieſe Schrift widerlegt die Angriffe, welche von Seiten der moder-
nen
Philoſophie auf das chriſtliche Dogma von der Perſönlichkeit Gottes
gemacht
worden ſind, ſie weist die Unfähigkeit dieſer Schule, die in dieſem
Dogma
vorkommenden Begriffe aufzufaſſen nach, und beleuchtet die un-
auflösbaren
Widerſprüche, die die poſitive Lehre dieſer Philoſophie neben
angeborner
Unklarheit und Verworrenheit in Betreff dieſer Begriffe in
ſich
vereinigt.
Sie gibt zugleich eine umfaſſende Kritik der Grundtheo-
rieen
des Hegel’ſchen Syſtems und dürfte ihren Leſern neben einer ge-
drängten
und gediegenen Kenntniß dieſes Syſtems, neben einem freien
und
gegründeten Urtheil über daſſelbe auch weiterhin überhaupt ein ge-
ſchärftes
Bewußtſeyn über das Weſen der Grundbegriffe der Philoſophie
und
Theologie gewähren.
Die ſechs Schöpfungstnge.
Ein Beitrag
zu

Förderung wahrer Bildung
von

E. Ph. Paulus,
Direktor
der wiſſenſchaftlichen Bildungsanſtalt auf dem Salon bei Ludwigsburg.
gr. 8. geheftet. Preis fl. 1. 12 kr. oder 18 ggr.
Die vorliegende Schrift beabſichtigt erſtens die Wahrheit und Rich-
tigkeit
der erſten Urkunde, womit in der heil.
Schrift die ganze Reihe der
göttlichen
Offenbarungen eröffnet wird, ſo weit es möglich iſt, nachzu-
weiſen
, und namentlich gegen die Angriffe des modernen Unglaubens zu
vertheidigen
;
zweitens den Zweck und die Bedeutung der Schöpfungsge-
ſchichte
in der Bibel zum Bewußtſeyn zu bringen, und endlich drittens
die
Naturwiſſenſchaften im Verhältniß zur Schöpfungsgeſchichte, im
146 Gegenſatz gegen den Mißbrauch, welchen der moderne Unglaube zur Be-
kämpfung
der bibliſchen Darſtellung davon macht, ſo zu benützen, wie ſie
allein
benützt werden können, nemlich nicht um für oder wider die Rich-
tigkeit
der moſaiſchen Urkunden zu beweiſen, ſondern um einen vernünf-
tigen
Blick in die einzelnen Gebiete, welche an den einzelnen Tagen der
Schöpfung
ins Leben traten, zu eröffnen.
Durch dieſen letzten Theil wird
ſodann
aber dieſes Werk nicht blos in religiöſer Beziehung werthvoll,
ſondern
es wird zugleich dadurch auch ein reeller Beitrag zur Förderung
wahrer
Bildung überhaupt, indem diejenigen, deren Beruf es nicht mit
ſich
brachte, mit den Naturwiſſenſchaften, mit Phyſik, Chemie, Geognoſie,
Botanik
und Zoologie, näher ſich zu beſchäftigen, hier die Reſultate dieſer
Wiſſenſchaften
auf eine ſolche Weiſe angewendet finden, daß ſie dadurch
einen
vernünftigen Blick in dieſe Wiſſenſchaften ſelbſt erhalten, und ſo
viel
als für einen gebildeten Mann überhaupt zu wiſſen nöthig iſt, auf
eine
leichtfaßliche und zugleich anziehende Weiſe lernen können.
Paulus, Gebrüder (Vorſteher der Bildungsanſtalt auf dem
Salon
bei Ludwigsburg), Die Principien des Unter-
richts
und der Erziehung
.
Wiſſenſchaftlich unter-
ſucht
und beleuchtet.
Nebſt einem Anhange über die
beſtehenden
Einrichtungen der Anſtalt.
2 Hefte. gr. 8.
geh. fl. 3. 12 kr. oder 2 Thlr.
Schon von verſchiedenen Seiten iſt auf die wiſſenſchaftliche Bedeut-
ſamkeit
, ſo wie auf die allgemeine Wichtigkeit dieſer Schrift aufmerkſam
gemacht
worden, namentlich iſt dieſelbe in dieſer Beziehung in der päda-
gogiſchen
Revue von Dr.
Mager, in dem Literaturblatt von Dr. Menzel,
im
Repertorium von Gersdorf als ein, aller Beachtung höchſt wichtiges
Werk
anerkannt und empfohlen worden.
Paulus, E. Ph., Die Vorſehung oder über
das
Eingreifen Gottes in das menſchliche
Leben
.
gr. 8. geh. Preis fl. 1. 36 kr. oder 1 Thlr.
Auch dieſe Schrift iſt ſchon in mehreren Zeitſchriften, namentlich im
Chriſten
boten, im Sonntagsblatt von Pfarrer Wucherer und in Guerike’s
Zeitſchrift
für die lutheriſche Theorie und Kirche angezeigt und auf@s
Günſtigſte
beurtheilt worden, namentlich wird in denſelben ihr wahrhaft
ſpeculativer
Gehalt, ſo wie ihre praktiſche Wichtigkeit neben einer anzie-
henden
Form der Darſtellung hervorgehoben.
Paulus, E. Ph., Die wiſſenſchaftliche Bil-
dungsanſtalt
der Gebr. Paulus auf dem
Salon
bei Ludwigsburg
.
Eine Schilderung der
in
ihr beſtehenden Einrichtungen und des Lebens der
Zöglinge
in ihr.
Mit einer Anſicht der Anſtalt. 8. geh.
Preis 24 kr. oder 6 ggr.
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